Nachts ist es leise in Teheran

Inhaltsverzeichnis

Behsad

 

 

 

 

 

 

 

 

Unseren Eltern hatte man gesagt, Das Öl, die Amerikaner, die Engländer, alle gehören zusammen, gehören zum Schah, sind gegen uns. Unsere Eltern haben aufgehört zu arbeiten, sind auf die Straßen gegangen und zurückgekehrt, sie hatten Angst vor dem Geheimdienst, haben nichts mehr gesagt, haben nie wieder etwas gegen den Schah gesagt. Haben uns zur Schule geschickt und gesagt, Wir lieben dieses Land, liebt ihr die Schulen.

Über dem Lehrerpult sein stolzer Blick, wir haben gelernt, was wir lernen mussten, wir sind älter geworden, und wir haben beschlossen, Egal, was in unseren Schulbüchern steht, wir wollen das Gegenteil davon. Wir lasen Es lebe der Schah und dachten, Tod dem Schah. Wir hörten Alle Arbeit gebührt dem König und sagten, Die Arbeit gehört den Arbeitern. Und wenn dort steht Er führt uns zu Wohlstand, dann spucken wir auf seine Paläste, auf die Engländer, auf die Amerikaner, und schmuggeln die Bücher, kopieren sie, lernen sie auswendig, geben sie von Hand zu Hand zu Hand. Wir haben gelesen, haben gelesen, haben gelesen, haben zu Hause geschwiegen und auf den Straßen geschrien, haben unsere Eltern verflucht und sind für unsere Kinder gestorben. Der Schah ist gegangen, weil er krank war, die Statuen sind gefallen, weil das Volk nicht daran glaubte. Die Revolution wird jede Woche älter, und wir lieben dieses Land, mehr noch als zuvor. Die Schulbücher wurden geändert, in kürzester Zeit, wir rissen

Die Revolution wird jede Woche älter, und sie hat doch noch längst nicht angefangen. Der Schah ist weg, und wir sind am Beginn einer neuen Zeit, eines neuen Systems, einer neuen Freiheit, die wir nun vorbereiten.

Was bleibt, sind die Tumulte auf den Straßen, immer noch euphorisch, aber jede Woche weniger euphorisierend. Was bleibt, sind die Sitzungen unserer Bewegung, die Pläne, die Pamphlete, die Lerneinheiten, die Guerillaübungen. Waren sie mal geheim, werden sie nun immer öffentlicher, werden wir immer siegessicherer, mal nachdenklicher, mal radikaler, immer mit dem Blick auf jene, die sich auch Revolutionäre nennen und Gläubige sind. Wo die wirkliche Revolution doch noch kommt, die Revolution des Volkes in den Institutionen, wo doch alles, was bis jetzt passiert ist, nur der erste Schritt war. Lang lebe der Sozialismus, lang lebe unsere Heimat, unsere Perle, unser Iran!

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Die Revolution ist einen Monat alt, und Dajeh macht gefüllte Weinblätter. Sie sitzen alle auf dem Boden, meine Mutter, meine Schwestern, meine Cousinen, meine

Dajeh schickt mich mittlerweile nicht mehr hinaus, obwohl sie möchte, dass ich gehe. Alles an ihrem Blick, an ihrer Körperhaltung sagt, dass ich hier nichts zu suchen habe, dass ich mit den Weinblättern erst ab dem Moment, in dem sie heiß und gekocht und rund und glänzend auf dem Sofreh landen, in Kontakt kommen und auch vorher nicht über sie reden soll, denn vorher haben sie in meiner Welt

Meine Nichten und Neffen tollen zwischen den Frauen umher, wissen um den Moment, in dem man erst mich und dann sie vertrieben haben wird und sie sich ein neues Spiel suchen müssen. Es gibt nicht viel zu naschen, wenn Weinblätter gefüllt werden, die Reismasse ist uninteressant, die Weinblätter schmecken ohne Füllung nicht. Wenn es nichts zum Naschen gibt, kann man sich einmischen. Meine Nichte ist die Kleinste, sie will das kleinste Dolmeh. Mein Bruder Mehrdad ist der Dickste, er will das dickste Dolmeh. Die Frauen geben lachend nach, verteilen Küsse auf den Wangen der Kinder. Wäre ich eine Mutter, eine Schwester, eine Tante, ich würde dort sitzen und das Gleiche tun, würde jede Gelegenheit nutzen, diese kleinen Wesen zu küssen, weil sie so fröhlich sind, denn egal, was draußen passiert, egal, was sie in der Schule lernen, egal, ob die Schulbücher innerhalb von wenigen Wochen plötzlich gegenteilige Dinge gutheißen als zuvor, egal, ob die Eltern

Dajehs Blick hat sich verändert, seit ich nicht mehr Behsad, der naschende Dieb bin. Ich war schneller im Naschen als meine Nichten und Neffen jetzt, ich habe schneller gestört, habe immer gestört. Er stört, aber was soll ich machen, er ist zu schlau, als dass man ihm böse sein kann, haben sie gesagt. Dajeh hatte uns Kindern gegenüber einen bestimmten Blick, früher, einen strengen Blick, der zu ihrer aufrechten Körperhaltung passte. Sie hatte den Kopf immer leicht erhoben, majestätisch, hatte zugleich geschäftig die Lippen aufeinandergepresst, trug ein kleines, sanftes,

Behsadjan, geh, hilf deinem Vater im Geschäft, ruft meine Mutter mir zu. Die Frauen schauen zu mir herüber, ich lache, schüttle den Kopf, asche in den Glasbehälter neben meinen Füßen. Und nimm die Kleinen mit, sagt meine Tante, mit einem leidvollen Blick, der zu Gelächter führt. Seit wann rauchen wir eigentlich, wenn das Essen bereitet wird, sagt meine älteste Tante, aber nicht, um die anderen zu amüsieren, sondern um einmal mehr zu zeigen, was sie von mir hält, sie, die ihr Kopftuch selbst nach dem Verbot durch Reza Schah nicht ablegte. Die Frauen schmunzeln weiter, schmunzeln in ihre Weinblätter hinein, während ihre Hände die flinken, zarten Wickelbewegungen vollführen. Wie viele Hände wickeln Tag für Tag in diesem Land auf die gleiche Art, frage ich mich, wie viele kneten, wie viele knüpfen, wie viele graben, wie viele schießen, wie viele verlieren ihre Fingernägel im Kampf um Namen. Klein und flink und faltig sind die Hände der Frauen. Meine älteste

Im Hof ziehe ich meine Schuhe an, die alten, abgetretenen, Dajeh schimpft jedes Mal, wenn sie sie sieht. Was willst du von mir, sage ich dann, das sind die gleichen Schuhe wie sie meine Schüler tragen. Und da ist dann ihr neuer Blick, jedes Mal. Den Körper immer noch in einer sehr geraden Haltung, sieht sie plötzlich so viel kleiner aus als ich, macht sie plötzlich kein Geheimnis mehr daraus, dass sie es inzwischen auch ist. Ich bin

 

Sohrab und ich treffen uns vor der Uni. Unsere Treffpunkte haben sich geändert, Orte, an denen wir früher nie waren, wurden im vergangenen Monat immer wichtiger für uns. Ich sehe ihn von Weitem. Klein, dünn, die Hände in den Hosentaschen, das Militärhemd hinten verschwitzt, die Haare etwas länger, als seine Mutter es mag. Er dreht sich um und lächelt nicht. Wir geben nicht zu erkennen, dass wir Genossen sind, dass wir zusammengehören, dass wir miteinander kämpfen, dass wir schon früher von der Mutter des jeweils anderen Schelte bekamen, von dem Vater des jeweils anderen zum Friseur mitgenommen wurden. Der Bürgersteig ist voll von Plastikkanistern. Man stellt sich an, für Petroleum, man trifft sich mit den Freunden und Nachbarn, während die Kanister die Stellung halten, buntes Plastik in Reih und Glied. Peyman ist heute dran mit Petroleum, er, der auch bei unseren Eltern ein und aus ging, dabei aber irgendwie immer langsamer war als

 

Man geht schnell auf den Demonstrationen, man ging auch an dem Tag schnell, der Tag vor dem Tag, an dem der Schah ging und die Revolution ihren Sieg feierte. Ein Tag, von dem wir sagten, wir würden unseren Kindern erzählen, wo wir waren, was wir taten, als wir erfuhren, dass der Schah das Land verließ, wir haben unsere Häuser verlassen, wie jeden Tag in jener Zeit, wir sind rausgegangen mit der Wucht, die uns rauszog, die uns immer noch rauszieht, das ist keine bewusste Entscheidung mehr gewesen, in einer Revolution löst die Masse dein Denken ab, ersetzt

 

Seit der Revolution begehen wir Häuser, die wir zuvor nicht kannten. Davor waren wir in den Wohnzimmern, manchmal in geheimen Büros, manchmal in Bussen, besuchten die Bewegungen in anderen Städten. Seit der Revolution scheinen sich sämtliche Tore geöffnet zu haben, um jeden überall hineinzulassen. Das Evin-Gefängnis, geöffnet für Besucher. Der Ort, an den wir all die Jahre im Kampf gegen die Monarchie unsere Schwestern und Brüder verloren, eigentlich ein Ort, der nie ein Ort war, sondern eine Parallelwelt, eine Parallelhölle, wer rauskam, erzählte nicht, was drinnen passiert war, wer rauskam, hatte drinnen erzählt, und das war fast das Unheimlichste daran. Das Evin-Gefängnis, ein Ort, der Menschen frisst, fast ein Ort, zu oft besprochen, um wahr zu sein. Plötzlich waren die Tore offen. Plötzlich gingen wir hinein. Plötzlich war es kein Ort des Folterns

 

Heute also die Universität. Sohrabs Bein ist wieder völlig verheilt. Er bewegt sich stolz und gemächlich auf den Wegen des Campus entlang, ich mache es genauso. Wir haben hier nie studiert, wir haben unseren Militärdienst gemacht, weil der Staat es von uns wollte und weil unsere Eltern dadurch Geld bekamen. Wir haben gelernt, wie man Waffen bedient, und haben es uns gemerkt. Wir haben alles genutzt, was das Militär hatte, haben die anderen Soldaten aufgeklärt, haben uns gegen den Obersten aufgelehnt, haben gefeiert, als es hieß: Das Militär steht nicht mehr aufseiten des Schahs, das Militär ist fortan neutral, denn dass sich das Militär von innen verändert hat, das war auch unser Verdienst. Wir haben das Militär benutzt, um Lehrer zu werden, um all das zu lernen, was wir lernen wollten, um die Erlaubnis zu erhalten, in die Dörfer zu gehen und zu lehren, was wir die Kinder lehren wollten. Jedes Mal so lange, wie der SAVAK es eben zuließ. Wir haben für all das keine Universität gebraucht, aber wir brauchen sie jetzt, wo die Tore geöffnet sind, damit wir stolz und gemächlich hier entlanggehen können. Ich weiß nicht, ob Sohrab so geht, weil ich so gehe, ob wir beide so gehen, weil die anderen in unserer Bewegung so gehen, ob die Mitglieder anderer Bewegungen auch so gehen wie unsere Genossen, und eigentlich glaube ich sogar, ich bin schon so gegangen, bevor es die anderen gab in meinem Leben. Bevor das Auto, der weiße, glänzende Paykan, vor meiner Schule hielt und ein künftiger Genosse mich einsteigen ließ und ich nicht misstrauisch war, denn ich habe gefühlt und gespürt, dass das

Die Texte auf den Flugblättern so unterschiedlich in dem, was sie meinen, und so gleich in dem, wie sie klingen. Und ich muss sie nicht lesen, denke ich, das ist ungefähr die gleiche Zeitverschwendung, wie Petroleum holen zu gehen, um sich Gerüchte über uns anzuhören. Wir müssen nicht lesen, was wir einander zeigen, wir müssen einfach nur weiterkämpfen, um ein neues Kuba zu schaffen, eine neue Sowjetunion. Sohrab gibt die Richtung vor, ich gehe hinterher, Sohrab wählt die Gruppen aus, denen wir zuhören, die Anhänger des Ayatollahs, die Tudeh, die Mudschahedin. Sie waren im Kampf und auf den Straßen unsere Brüder und Schwestern, vereint gegen die Monarchie, die Unterdrückung, den amerikanischen Imperialismus. Wir waren viele, und wir waren stark, und wir sind es noch immer. Wenn auch die einen an eine göttliche Kraft und an den bewaffneten Kampf glauben und die anderen an das Manifest der und den Pazifismus. Zusammenzuarbeiten war der erste Schritt, doch als Nächstes gehen wir voran. Sohrab hört den Rednern eine Weile zu, lässt keine Regung erkennen, geht weiter, ich gehe hinterher, wir verlassen die Universität. Draußen rauchen wir eine Zigarette. Wie geht es deinem Bein, könnte ich fragen, aber wir fragen solche Dinge nicht. Wie fandest du es dadrin, könnte er mich fragen, aber wir fragen so etwas nicht. Welche Gruppe fandest du am überzeugendsten, könnte ich fragen, aber so etwas fragen wir erst recht nicht. Wir fragen nicht mehr. Seit der Revolution fühlt es sich so an, als hätten alle uns damals Fragen gestellt, und die Revolution war unsere Antwort. Schimpft deine Mutter wegen der Schuhe?, höre ich mich fragen. Sohrab schaut auf seine Füße. Über Kleidung zu sprechen, ist bourgeois, sagt er und drückt seine Zigarette an der grauen Hauswand aus. Was kommt eigentlich nach einer Revolution?, könnte ich fragen, aber darauf haben wir die Antwort schon zu oft gegeben, als dass sich die Frage noch stellen würde: der Klassenkampf, der Umbruch in den Institutionen, die Diktatur des Proletariats. Aber eigentlich sind Sohrab und ich in den letzten Tagen nur durch Gefängnisse und Universitäten gelaufen, und eigentlich haben die Genossen und ich in den letzten Wochen die gleichen Sitzungen abgehalten wie zuvor. Eigentlich haben wir nur wenige Tage gehabt, in denen unsere Lieder und Gesänge öffentlich liefen, und eigentlich ist jedes Programm nun voll von Ayatollah Khomeini. Den geistlichen Führer damals zu vertreiben, war der wohl schwerwiegendste Fehler des Schahs, aus dem Ausland führte er seine und unsere Leute, und nun ist er zurück und lässt sich Führer der Revolution nennen. Wie eine Revolution geht, können mich meine Kinder später fragen, und

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Peyman macht Fotos. Seine Kamera ist groß und lässt ihn umso kleiner wirken. Wir tun, als würde es uns stören, dass er Fotos von unseren Sitzungen macht, als wäre das Kitsch, Eitelkeit. Trotzdem hält ihn niemand davon ab; wo die Abzüge landen, weiß ich nicht. Ich weiß nur, Che Guevara und Castro würden nicht an unseren Wänden hängen, wenn nicht auch einer ihrer Genossen die Kamera zur Hand gehabt hätte. Die heutige Sitzung ist vorüber, es ging um die aktuellen Aktivitäten der Geistlichen, Sohrab und ich haben kurz von den Kundgebungen an der Universität berichtet, und wie so oft ist der Abschluss der Sitzung noch lange nicht das Ende des Abends. Da gibt es keine schlafenden Familienangehörigen, auf die man Rücksicht nehmen muss, gibt es keinen, der uns zum Wohle der Revolution den gesunden Schlaf nahelegt. Da gibt es nur uns, die Zigaretten, das Reden, welches für kurze Momente seinen Ernst verlieren darf, das Lachen, den schwarzen Tee. Manchmal sitzen die Frauen in einer Ecke für sich, tuscheln und kichern. Peyman, der Schüchterne, macht mit seinem Blitzlicht einen Bogen um sie, obwohl sie ihm immer wieder Blicke zuwerfen. Dieselben Frauen, die vor einer Weile noch Dauerwellen und

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Sohrab, Peyman und ich lassen die Tage auf dem Dach ausklingen. Als ich Kind war, sah die Stadt anders aus. Hatte weniger Lichter, weiter auseinanderstehende Häuser, man hörte mehr Menschenstimmen, weniger Autos. Auf den Straßen waren mehr Verkäufer mit Linseneintopf, Maronen und gekochter Roter Bete, die später abgelöst wurden von den amerikanischen Cafés, den Kinos und Tanzlokalen, den Limousinen und Cabrios. Bis uns die Straßen

Sohrab schneidet sich die Fingernägel. Er knipst sie durch die Dunkelheit, während die Zigarette in seinem Mundwinkel steckt. Peyman summt ein Lied. Er kann nicht singen und tut es ständig. Eigentlich können wir alle nicht singen und tun es trotzdem. Was ist eigentlich los mit deinem Gesicht?, fragt er plötzlich, unterbricht sein Lied, um das Kinn in Sohrabs Richtung zu recken. Was ist mit meinem Gesicht?, sagt Sohrab, ohne aufzuschauen. Er hat sein Glas schon leer getrunken, wirft die abgeschnittenen Nägel hinein, sodass sie im Teesatz schwimmen. Bist du wieder beim Rasierboykott, oder was sind das für Härchen?, fragt Peyman. Das Wort Rasierboykott ist schon lange nicht mehr gefallen. Peyman hängt immer so sehr an alten Sachen, nennt sie plötzlich und wirft uns damit in eine Zeitkapsel an Erinnerungen, die wir eigentlich nicht brauchen. Der Rasierboykott war beim Militär unser erstes gemeinsames kollektives Aufbegehren gegen die Autorität. Jetzt, nach der Revolution, kämmen wir unsere Haare

 

Ich muss an meinen Vater vor dem Spiegel denken, einen kleinen, dickborstigen Pinsel in der einen, eine scharfe Klinge in der anderen Hand. Als Kind dachte ich immer, es müsste Joghurt sein, den er sich an die Wangen schmiegt, feiner Rahm, der an der Oberfläche der weißen Masse in Dajehs Topf schwamm, nachdem sie ihn drei Tage in der Sonne hatte stehen lassen. Wenn man den Rahm mit Wasser mischt und weitere Tage in der Sonne stehen lässt, gärt er zu frischem Dugh mit Kohlensäure, worauf die Kinder sich stürzen. Ich stellte mir vor, wie mein Vater den Rahm abschöpft, um ihn zum Rasieren zu verwenden, weil eine gute Rasur wichtiger ist als ein gekühltes Getränk. Vater jeden Morgen vor dem Stück Spiegel, das er auf die kleine Regalablage klemmt. Niemals lässt er sich von jemand anderem den Bart rasieren, und er sagt: Behsad, merk dir das, niemand ist dazu verpflichtet, so etwas für dich zu