Für meine Eltern
1979
König der Könige haben sie ihn genannt und gesagt, Wir feiern ihn, wir feiern seine Frau, die Schönheit, sie haben gesagt, Wir lieben dieses Land, und dann haben wir gesagt, Wir lieben dieses Land. Wir mussten seinen Neugeborenen feiern, länger als wir es je bei einem unserer Geschwisterkinder getan hätten, seinen Neugeborenen weit drüben, im Palast der Blumen.
Unseren Eltern hatte man gesagt, Das Öl, die Amerikaner, die Engländer, alle gehören zusammen, gehören zum Schah, sind gegen uns. Unsere Eltern haben aufgehört zu arbeiten, sind auf die Straßen gegangen und zurückgekehrt, sie hatten Angst vor dem Geheimdienst, haben nichts mehr gesagt, haben nie wieder etwas gegen den Schah gesagt. Haben uns zur Schule geschickt und gesagt, Wir lieben dieses Land, liebt ihr die Schulen.
Über dem Lehrerpult sein stolzer Blick, wir haben gelernt, was wir lernen mussten, wir sind älter geworden, und wir haben beschlossen, Egal, was in unseren Schulbüchern steht, wir wollen das Gegenteil davon. Wir lasen Es lebe der Schah und dachten, Tod dem Schah. Wir hörten Alle Arbeit gebührt dem König und sagten, Die Arbeit gehört den Arbeitern. Und wenn dort steht Er führt uns zu Wohlstand, dann spucken wir auf seine Paläste, auf die Engländer, auf die Amerikaner, und schmuggeln die Bücher, kopieren sie, lernen sie auswendig, geben sie von Hand zu Hand zu Hand. Wir haben gelesen, haben gelesen, haben gelesen, haben zu Hause geschwiegen und auf den Straßen geschrien, haben unsere Eltern verflucht und sind für unsere Kinder gestorben. Der Schah ist gegangen, weil er krank war, die Statuen sind gefallen, weil das Volk nicht daran glaubte. Die Revolution wird jede Woche älter, und wir lieben dieses Land, mehr noch als zuvor. Die Schulbücher wurden geändert, in kürzester Zeit, wir rissen die Seiten mit dem Schah heraus, wir hängten sein Foto ab. Auf dass nie wieder ein Foto eines Einzelnen in den Klassenräumen hängt, sagt Peyman. Auf dass dort bald der Ayatollah, zurück aus dem Exil, hängt, sagt seine Mutter. Auf dass bald Marx und Engels, Che Guevara und Castro, Mao und Lenin in den Räumen hängen, sagen Sohrab und ich in den Pausen, sagen es inzwischen sogar im Lehrerzimmer, sagen es lauter, als wir es jemals durften. Und warten auf den Moment, in dem wir bestimmen werden, wer die leeren Wände füllt.
Die Revolution wird jede Woche älter, und sie hat doch noch längst nicht angefangen. Der Schah ist weg, und wir sind am Beginn einer neuen Zeit, eines neuen Systems, einer neuen Freiheit, die wir nun vorbereiten.
Was bleibt, sind die Tumulte auf den Straßen, immer noch euphorisch, aber jede Woche weniger euphorisierend. Was bleibt, sind die Sitzungen unserer Bewegung, die Pläne, die Pamphlete, die Lerneinheiten, die Guerillaübungen. Waren sie mal geheim, werden sie nun immer öffentlicher, werden wir immer siegessicherer, mal nachdenklicher, mal radikaler, immer mit dem Blick auf jene, die sich auch Revolutionäre nennen und Gläubige sind. Wo die wirkliche Revolution doch noch kommt, die Revolution des Volkes in den Institutionen, wo doch alles, was bis jetzt passiert ist, nur der erste Schritt war. Lang lebe der Sozialismus, lang lebe unsere Heimat, unsere Perle, unser Iran!
Die Revolution ist einen Monat alt, und Dajeh macht gefüllte Weinblätter. Sie sitzen alle auf dem Boden, meine Mutter, meine Schwestern, meine Cousinen, meine Tanten. Die Ehefrauen meiner älteren Brüder. Sie haben die Sofrehs auf den Wohnzimmerboden gelegt und mit Schüsseln voll Reis mit Hackfleisch, mit Kräutern, mit Linsen bedeckt, haben sich darumgesetzt und falten Weinblätter, ein ums andere, legen sie in einen Topf und reden und lachen und reden und lachen. Als wir klein waren, waren es genauso viele Frauen, wenn auch andere. Meine Schwestern und ich wurden von unserer Dajeh hinausgeschickt, sollten die Frauengespräche nicht hören, sollten den Nachbarschaftstratsch nicht unterbrechen. Wir sollen nicht beim Kochen stören, wurde uns gesagt, sonst dauere es länger, bis es Essen gebe, und wir gingen nach draußen, wo wir mit Murmeln spielten oder so taten, als würden wir den Mörder des großen und ach so ehrwürdigen Imam Hossein abknallen. Das war Sohrabs Lieblingsspiel. Sohrab, der noch keine Geschwister hatte, der damals immer vor dem Haus rumlungerte, damit wir und die anderen Kinder kamen und ihn von der Langeweile erlösten, und der in einigen Stunden wieder auf mich warten wird. Nicht mehr gelangweilt, sondern von einer Unruhe getrieben, die wir seit den Anfängen der Revolution und seit ihrem Ausbruch und dem ganzen vergangenen Monat in uns tragen und zu verstecken wissen. Unruhe ist Unsicherheit, und die künftigen Anführer dürfen keine Unsicherheit zeigen. Nur wer Sohrab von klein auf kennt, merkt sie ihm an.
Dajeh schickt mich mittlerweile nicht mehr hinaus, obwohl sie möchte, dass ich gehe. Alles an ihrem Blick, an ihrer Körperhaltung sagt, dass ich hier nichts zu suchen habe, dass ich mit den Weinblättern erst ab dem Moment, in dem sie heiß und gekocht und rund und glänzend auf dem Sofreh landen, in Kontakt kommen und auch vorher nicht über sie reden soll, denn vorher haben sie in meiner Welt nichts zu suchen. Dajeh hat einen eigenen Blick für mich. Für mich, der in der Ecke sitzt und raucht, der endlich gehen soll, damit die Frauen die interessanten Gespräche beginnen können, auf die sie sich schon den halben Tag lang gefreut haben. Schon als Kind hatte ich ziemlich schnell verstanden, dass es bei den Frauen interessanter ist. Bei den Männern ging es entweder um Politik, die längst vergangen war, oder es wurde Karten gespielt, und ich durfte nicht mitspielen. Bei den Frauen hingegen ging es um echte Menschen und um echte Probleme. Welche Nachbarin sich mit ihrer Schwiegermutter gestritten hatte, welche Tochter mit welchem Sohn verlobt worden war und sich als unsittlich erwiesen hatte, welche Familien in einen amerikanisierten Lebensstil abdrifteten, welcher Händler die schmackhaftesten Auberginen verkaufte.
Meine Nichten und Neffen tollen zwischen den Frauen umher, wissen um den Moment, in dem man erst mich und dann sie vertrieben haben wird und sie sich ein neues Spiel suchen müssen. Es gibt nicht viel zu naschen, wenn Weinblätter gefüllt werden, die Reismasse ist uninteressant, die Weinblätter schmecken ohne Füllung nicht. Wenn es nichts zum Naschen gibt, kann man sich einmischen. Meine Nichte ist die Kleinste, sie will das kleinste Dolmeh. Mein Bruder Mehrdad ist der Dickste, er will das dickste Dolmeh. Die Frauen geben lachend nach, verteilen Küsse auf den Wangen der Kinder. Wäre ich eine Mutter, eine Schwester, eine Tante, ich würde dort sitzen und das Gleiche tun, würde jede Gelegenheit nutzen, diese kleinen Wesen zu küssen, weil sie so fröhlich sind, denn egal, was draußen passiert, egal, was sie in der Schule lernen, egal, ob die Schulbücher innerhalb von wenigen Wochen plötzlich gegenteilige Dinge gutheißen als zuvor, egal, ob die Eltern vor einiger Zeit noch die Nächte auf den Dächern und die Tage auf den Straßen verbrachten, um mit blutigen Kleidern zurückzukehren, die Kinder verbringen ihre Tage lachend, fragend, essend, störend, schlafend. Sie haben alle Küsse der Welt verdient, denke ich, aber vielleicht ist das Leben, das vor der Tür steht und das noch ein wenig zögert, das viel größere Geschenk. Ich könnte mir meinen Bruder Mehrdad schnappen, den Dicken, könnte ihn küssen und ihm sagen, Das neue Leben zögert nicht, wir zögern nicht, es braucht nur noch ein bisschen Zeit, das ist alles. Aber Mehrdad zieht gerade an den Zöpfen seiner Schwester und wird von unserer Mutter mit lauter Stimme zurechtgewiesen. Er wird erst später verstehen, was er uns zu verdanken hat, später, in ein paar Jahren, in ein paar Jahrzehnten, wenn er das freie und gerechte Leben führt, das ihm gebührt. Wenn nicht sein schlichtes Elternhaus, sondern sein eigenes Tun und Lernen den Weg zu seinem Platz in der Gesellschaft ebnen, wenn er Bildung fernab der Propaganda genießt und seine freien Gedanken leben kann; wenn er arbeitet und unser Land voranbringt, ohne in die Taschen eines Diktators zu zahlen; wenn niemand unter oder über ihm steht.
Dajehs Blick hat sich verändert, seit ich nicht mehr Behsad, der naschende Dieb bin. Ich war schneller im Naschen als meine Nichten und Neffen jetzt, ich habe schneller gestört, habe immer gestört. Er stört, aber was soll ich machen, er ist zu schlau, als dass man ihm böse sein kann, haben sie gesagt. Dajeh hatte uns Kindern gegenüber einen bestimmten Blick, früher, einen strengen Blick, der zu ihrer aufrechten Körperhaltung passte. Sie hatte den Kopf immer leicht erhoben, majestätisch, hatte zugleich geschäftig die Lippen aufeinandergepresst, trug ein kleines, sanftes, fast unkenntliches Lächeln in den großen und warmen Augen. Sie schaut mich auch jetzt an, seit ich mir die zweite Zigarette angezündet habe, die zweite, die andeutet, dass ich noch nicht vorhabe zu gehen, und ihr Blick ist der einer Frau, die ihren Gästen alles recht machen möchte, und ich bin das Staubkorn, das sie beim Putzen übersehen hat, ich bin der Geruch des Essens von vorgestern, der sich einfach nicht übertünchen lässt, ich bin das Gerücht, welches über uns in der Luft hängt und das auszusprechen sich niemand traut. Aber Gerüchte über die Bewegung sind nicht dazu da, um tagsüber mit den Nachbarinnen besprochen zu werden, sie sind nicht dazu da, um auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft zu werden. Sie werden unter vorgehaltener Hand in vertrauten Kreisen geflüstert, denn noch weiß niemand, was kommen wird.
Behsadjan, geh, hilf deinem Vater im Geschäft, ruft meine Mutter mir zu. Die Frauen schauen zu mir herüber, ich lache, schüttle den Kopf, asche in den Glasbehälter neben meinen Füßen. Und nimm die Kleinen mit, sagt meine Tante, mit einem leidvollen Blick, der zu Gelächter führt. Seit wann rauchen wir eigentlich, wenn das Essen bereitet wird, sagt meine älteste Tante, aber nicht, um die anderen zu amüsieren, sondern um einmal mehr zu zeigen, was sie von mir hält, sie, die ihr Kopftuch selbst nach dem Verbot durch Reza Schah nicht ablegte. Die Frauen schmunzeln weiter, schmunzeln in ihre Weinblätter hinein, während ihre Hände die flinken, zarten Wickelbewegungen vollführen. Wie viele Hände wickeln Tag für Tag in diesem Land auf die gleiche Art, frage ich mich, wie viele kneten, wie viele knüpfen, wie viele graben, wie viele schießen, wie viele verlieren ihre Fingernägel im Kampf um Namen. Klein und flink und faltig sind die Hände der Frauen. Meine älteste Tante streicht sich sorgsam die Haare unter ihr Kopftuch, ein betont gelangweilter Blick wandert in meine Richtung, und sie sagt in die Runde, Behsadjan, du hast uns noch nicht gesagt, wie dir die Tochter meiner Freundin gefallen hat! Zweimal habe ich sie mitgebracht, so ein höfliches, freundliches Mädchen, und ich bin sicher, sie wartet schon auf deinen Antrag. Meine Tanten und Cousinen schmunzeln in ihre Weinblätter. Khalejan, sage ich, ich weiß überhaupt nicht, wen du meinst, die ehrwürdigsten und aufrichtigsten Frauen sitzen doch heute hier an diesem Sofreh, wie hätte ich da ein anderes Mädchen bemerken sollen? Meine Tante schimpft in die Runde. Ich lächle und sage, Du musst sie vielleicht noch mal einladen, und Dajeh schnalzt mit der Zunge, Nehmt ihn nicht ernst, sagt sie, er hat nichts außer seinen Büchern und seinen Freunden im Kopf, keine Frau wird ihn wollen, und die anderen Frauen lachen. Ich drücke meine Zigarette aus, stehe auf, richte mein Hemd, nicke in die Runde und sage, Mit eurer Erlaubnis, und man zischt mich hinaus. Es geht zulasten des Kampfes, in diesen Zeiten an romantische Gefühle zu appellieren, aber wenn sie mir schon Frauen einladen möchten, warum dann nicht die Frau mit den ernsten Augen und dem lauten Lachen, die mir in letzter Zeit öfter begegnet ist und deren Namen ich noch herauszufinden versuche?
Im Hof ziehe ich meine Schuhe an, die alten, abgetretenen, Dajeh schimpft jedes Mal, wenn sie sie sieht. Was willst du von mir, sage ich dann, das sind die gleichen Schuhe wie sie meine Schüler tragen. Und da ist dann ihr neuer Blick, jedes Mal. Den Körper immer noch in einer sehr geraden Haltung, sieht sie plötzlich so viel kleiner aus als ich, macht sie plötzlich kein Geheimnis mehr daraus, dass sie es inzwischen auch ist. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, der einzige ihrer vier erwachsenen Söhne, der noch zu Hause wohnt, der Geld mitbringt, der auf die Mädchen aufpasst, der die Jungen ohrfeigt. Sie hat den Kopf stolz erhoben, wie damals, nur dass sie es jetzt tun muss, um zu mir aufzuschauen. Als würde sie sich merken wollen, wie ich aussehe, als würde sie sich wünschen, ich würde nur in ein anderes Zimmer, nicht auf die Straßen der Stadt hinausgehen, als würde sie das Blut sehen, all das Blut, von dem wir ihr nicht erzählen, von dem sie aber trotzdem weiß. Khodā negahdar, sagt sie dann, wie man zum Abschied eben sagt, Gott behüte dich, aber sie sagt es nicht wie alle anderen, sie sagt es wie eine neue Erkenntnis, bemüht, nicht auf meine abgetragenen Schuhe zu schauen, sondern in meine Augen.
Sohrab und ich treffen uns vor der Uni. Unsere Treffpunkte haben sich geändert, Orte, an denen wir früher nie waren, wurden im vergangenen Monat immer wichtiger für uns. Ich sehe ihn von Weitem. Klein, dünn, die Hände in den Hosentaschen, das Militärhemd hinten verschwitzt, die Haare etwas länger, als seine Mutter es mag. Er dreht sich um und lächelt nicht. Wir geben nicht zu erkennen, dass wir Genossen sind, dass wir zusammengehören, dass wir miteinander kämpfen, dass wir schon früher von der Mutter des jeweils anderen Schelte bekamen, von dem Vater des jeweils anderen zum Friseur mitgenommen wurden. Der Bürgersteig ist voll von Plastikkanistern. Man stellt sich an, für Petroleum, man trifft sich mit den Freunden und Nachbarn, während die Kanister die Stellung halten, buntes Plastik in Reih und Glied. Peyman ist heute dran mit Petroleum, er, der auch bei unseren Eltern ein und aus ging, dabei aber irgendwie immer langsamer war als Sohrab und ich. Langsamer die Schuhe auszog, langsamer meine Mutter grüßte, langsamer ins Zimmer gestolpert kam. Peyman trifft sich mit niemandem, wenn er Petroleum holen geht, er steht nur da und schnappt auf, was die Menschen reden. Nirgends ist man ihnen so nah, sagt er danach, wir können nicht immerzu in unseren Wohnzimmern sitzen und über das Volk reden, wenn wir das Volk nicht kennen. Ich nicke dann immer nur kurz und denke, wenn du das brauchst, Peyman, wenn du dir all den Kram anhören willst, der die Runde macht und den all jene glauben, denen man die Bildung von vornherein vorenthalten hat, dann mach das, geh das Petroleum holen und mische dich unter die Leute und hör dir das Geschwätz an. Dass Mossadegh Mitglied der Tudeh-Partei war, dass die Kommunisten alles teilen wollen, in erster Linie ihre Frauen, dass das Attentat auf Ayatollah Khomeini schiefging, weil plötzlich all seine Leibgarden sich in ihn verwandelten, hör dir das gerne an, Peyman. Dabei glaube ich sogar, dass es nicht so verkehrt ist, was er sagt, wir sollten wissen, was über unsere Bewegung geredet wird. Aber es gibt gerade Wichtigeres zu tun. Und überhaupt. Wie könnten wir das Volk nicht kennen? Wir sind das Volk. Peymans Eltern können nicht lesen, meine Großeltern wohnen noch immer auf dem Land ohne Wasseranschluss, und meine Schüler haben Läuse, ganz gleich, wie oft ich ihnen den Kopf schere, wer ist denn das Volk, wenn nicht wir? Peyman ist, wie so viele, bis zur Revolution kein politischer Mensch gewesen. Als Sohrab und ich nach der Schulzeit neue Freunde gefunden haben, hat er sich nicht für deren Ideen interessiert, als wir heimlich Gorki und Rousseau lasen, hat er sich nicht für deren Bücher interessiert, als wir noch kurz vor der Revolution die Flugblätter verfassten, hat er sich nicht für deren Forderungen interessiert. Er hat immer nur gelächelt und gesagt, Wir müssen dafür sorgen, dass es Essen gibt, dass es Wasser gibt, dass die Kinder zur Schule gehen, dann kann ein Volk auch eine Revolution machen. Wir müssen dafür sorgen, dass es Bücher gibt, habe ich geantwortet, Bücher, in denen wir erfahren, wie es andere vor uns gemacht haben, und wir müssen dafür sorgen, dass die Waffen nicht in den Händen der Soldaten bleiben. Peymans Lächeln, das Lächeln von einem, der irgendwas verstanden hat, es aber nicht schafft, es allen anderen auch verständlich zu machen. Und weil er still und gewissenhaft für Petroleum ansteht, sind es heute nur Sohrab und ich, die zu den Kundgebungen an der Teheraner Uni gehen, und diese Treffen zu zweit unterscheiden sich von den Treffen zu dritt, denn auch wenn nach der Revolution alle, selbst Peyman, irgendwie politisiert sind, Sohrab und ich sind zuerst Teil der Bewegung gewesen und werden es bis zu unserem Tod sein. Ich nähere mich Sohrab, er schaut mich aus dem Augenwinkel an, schaut wieder weg, auf seine Füße vielleicht, die gleichen Schuhe wie ich, sein Bein ist wieder völlig verheilt.
Man geht schnell auf den Demonstrationen, man ging auch an dem Tag schnell, der Tag vor dem Tag, an dem der Schah ging und die Revolution ihren Sieg feierte. Ein Tag, von dem wir sagten, wir würden unseren Kindern erzählen, wo wir waren, was wir taten, als wir erfuhren, dass der Schah das Land verließ, wir haben unsere Häuser verlassen, wie jeden Tag in jener Zeit, wir sind rausgegangen mit der Wucht, die uns rauszog, die uns immer noch rauszieht, das ist keine bewusste Entscheidung mehr gewesen, in einer Revolution löst die Masse dein Denken ab, ersetzt die Masse dein Abwägen. Sohrab und ich vor dem Haus, ich weiß nicht einmal mehr, ob wir uns verabredet hatten, wir sahen aus wie immer, die Straßen sahen aus wie immer, aber über allem lag ein Zauber, lag ein Lied, wie an Eyde Nowrus vielleicht, nur dass ich schon lange denke, schade, dass Eyde Nowrus nur noch die Erinnerung daran ist, wie es als Kind war, der Geruch der Hyazinthen, der Zauber der neuen Kleider, des Frühlingsanfanges und der Beginn eines neuen Jahres. Eine Revolution ist anders, hat alles in mir geschrien, eine Revolution berührt nicht nur die Kinder. Sohrab und ich, im Gleichschritt, wir gehen immer schnell, wir haben es immer eilig, sind auf den Straßen unserer geliebten Stadt den anderen begegnet, den Frauen und Männern aus der Nachbarschaft, die wir vorher nicht kannten, die alle unsere Geschwister wurden, in den Tagen und Wochen, in denen alles einfacher wurde, in denen alles weniger heimlich wurde. Küsse und Süßigkeiten auf den Straßen, und man merkte gar nicht den Übergang von eben noch still nebeneinander zu Hause und plötzlich Teil der Menge, Teil der tosenden, grölenden Menge, Teil der Bewegung, Teil des Kampfes, und wir schleuderten unsere Fäuste gen Himmel. Wie als Belohnung für all die Male davor, wie ein Sprint, den man zum hundertsten Mal rennt, und plötzlich bricht man den Rekord, wie zum hundertsten Mal den gleichen Mann beim Koshti niederzureißen, aber diesmal hat er es einem nicht absichtlich leicht gemacht, weil er dein Vater oder dein Onkel ist, sondern du hast gewonnen, weil du endlich alt genug und stark genug geworden bist, um ein richtiger Ringkämpfer zu sein. Sohrabs und meine Stimme schleuderten die Parolen in den kalten Winterhimmel, unsere rauchigen Stimmen, die keine Kinderstimmen mehr sind, die es so gewohnt sind, gemeinsam zu ertönen, ich erhob meinen Arm, und mein Arm war sein Arm, überall um uns herum Arme, schwarze Köpfe vor uns, hinter uns, Militärhemden und Schweiß, Vollbärte und Schnurrbärte, Kopftücher und gefärbtes Haar, Zigarettenrauch und Parfüm, ein Gleichschritt Richtung Freiheit, keine Fragen mehr, nirgends Fragen, überall nur die Antwort, die wir doch schon so lange prophezeit hatten. Ich habe es prophezeit, schrie eine Stimme in meinem Kopf, ich habe es nach der ersten Seite Marx gesagt, habe es nach der ersten Seite Lenin gesagt und sage es, bis ich sterbe, bis sie mich in der Hölle schmoren lassen oder bis sie einsehen, dass es keinen anderen Weg gibt als den, den die Geschichte vorgibt, dass es sinnlos ist, sich gegen uns zu wehren, dass wir stärker sind, meine Faust schoss in die Höhe, Hoch, die Internationale Solidarität. Doch da war Sohrabs Faust plötzlich nicht mehr meine Faust, war Sohrabs Faust plötzlich nicht mehr in der Höhe, dann erst hörte ich den Nachhall des Schusses, der ihn zu Boden fallen ließ, wie klein jemand ist, wenn er in der Menge zu Boden fällt. Er schaute nicht zu mir, schaute nur schmerzerfüllt auf sein Bein und schrie, Khodā!, und ich habe ihn später nie darauf angesprochen, und vielleicht hat er es schon selbst vergessen, dass er im Augenblick des größten Schmerzes nach einem Gott schrie, an den wir nicht glauben. Und wenn es etwas gibt, das wir in all den Tagen auf den Straßen Teherans gelernt haben, dann, dass irgendwer immer Arzt ist. Der Schuss in Sohrabs Bein wie ein Schuss in mein Herz, und um mich herum Menschen mit Bärten, die ein wenig vereist waren, Sohrabs Bein hörte nicht auf zu bluten, und ganz kurz dachte ich, vielleicht ist das der Moment, in dem jemand neben mir gestorben ist, in dem der Märtyrer, den wir auf unseren Fotos hochhalten, nicht ein unbekannter Held ist, sondern einfach nur Sohrab, aber Sohrab sollte nicht Märtyrer werden, Sohrab stand auf, gestützt auf fremde Menschen, die ihn in einen Hauseingang brachten. Genosse, rief Sohrab, lauf weiter, wir brauchen mehr von uns unter den Leuten. Und er hat das gesagt, obwohl seine Helfer ihn hören konnten, seine Helfer mit den Khomeini-Bildern. Ich habe den Männern zugenickt, geschäftig, habe Sohrab zugenickt und bin davongeeilt. Wir sind Brüder, wir sind Genossen, habe ich gedacht, aber die Kämpfe werden nicht in den Hauseingängen von Seitenstraßen gefochten, und ich suchte die anderen, die zwei Tage zuvor die Kaserne ausgeräumt hatten, die ihre Barrikaden verteidigten, und ich dachte, wenn ich heute eine Granate werfe, wenn ich heute einen Molotow schmeiße, wenn ich heute eine Waffe kriege, dann werfe ich, dann schieße ich, jedem in die Füße.
Seit der Revolution begehen wir Häuser, die wir zuvor nicht kannten. Davor waren wir in den Wohnzimmern, manchmal in geheimen Büros, manchmal in Bussen, besuchten die Bewegungen in anderen Städten. Seit der Revolution scheinen sich sämtliche Tore geöffnet zu haben, um jeden überall hineinzulassen. Das Evin-Gefängnis, geöffnet für Besucher. Der Ort, an den wir all die Jahre im Kampf gegen die Monarchie unsere Schwestern und Brüder verloren, eigentlich ein Ort, der nie ein Ort war, sondern eine Parallelwelt, eine Parallelhölle, wer rauskam, erzählte nicht, was drinnen passiert war, wer rauskam, hatte drinnen erzählt, und das war fast das Unheimlichste daran. Das Evin-Gefängnis, ein Ort, der Menschen frisst, fast ein Ort, zu oft besprochen, um wahr zu sein. Plötzlich waren die Tore offen. Plötzlich gingen wir hinein. Plötzlich war es kein Ort des Folterns mehr, sondern ein Ort des größten Hohns. Dieser Schah würde nicht mehr wiederkommen, schrie jede Mauer, jede Tür.
Heute also die Universität. Sohrabs Bein ist wieder völlig verheilt. Er bewegt sich stolz und gemächlich auf den Wegen des Campus entlang, ich mache es genauso. Wir haben hier nie studiert, wir haben unseren Militärdienst gemacht, weil der Staat es von uns wollte und weil unsere Eltern dadurch Geld bekamen. Wir haben gelernt, wie man Waffen bedient, und haben es uns gemerkt. Wir haben alles genutzt, was das Militär hatte, haben die anderen Soldaten aufgeklärt, haben uns gegen den Obersten aufgelehnt, haben gefeiert, als es hieß: Das Militär steht nicht mehr aufseiten des Schahs, das Militär ist fortan neutral, denn dass sich das Militär von innen verändert hat, das war auch unser Verdienst. Wir haben das Militär benutzt, um Lehrer zu werden, um all das zu lernen, was wir lernen wollten, um die Erlaubnis zu erhalten, in die Dörfer zu gehen und zu lehren, was wir die Kinder lehren wollten. Jedes Mal so lange, wie der SAVAK es eben zuließ. Wir haben für all das keine Universität gebraucht, aber wir brauchen sie jetzt, wo die Tore geöffnet sind, damit wir stolz und gemächlich hier entlanggehen können. Ich weiß nicht, ob Sohrab so geht, weil ich so gehe, ob wir beide so gehen, weil die anderen in unserer Bewegung so gehen, ob die Mitglieder anderer Bewegungen auch so gehen wie unsere Genossen, und eigentlich glaube ich sogar, ich bin schon so gegangen, bevor es die anderen gab in meinem Leben. Bevor das Auto, der weiße, glänzende Paykan, vor meiner Schule hielt und ein künftiger Genosse mich einsteigen ließ und ich nicht misstrauisch war, denn ich habe gefühlt und gespürt, dass das nicht der SAVAK war, der mit mir hinausfuhr ins Gebirge, mit dem ich auf die Wälder schaute und der sagte, Überleg es dir, Genosse. Und eigentlich hätte ich mich auch gewundert, wenn sie mich nie gefragt hätten. Das Universitätsgelände ist groß und unübersichtlich, wir gehen die Mauern ab, schauen uns die Plakate und Pamphlete an, wie aus dem Nichts sind all diese Gruppen vor ein paar Wochen plötzlich erkennbar geworden. Und verkünden, wie es mit unserem Land nun weitergehen könne und was ihre Ziele sind, ihre Ideale, und was für ein Staat entstehen soll, jetzt, wo alles möglich scheint. Sohrab und ich lassen beim Gehen und Beobachten keine Regung an uns erkennen. Die Tage des Untergrundes sind vorbei, aber niemand hat den Startschuss gesetzt, niemand hat unserer Bewegung gesagt, Gebt euch zu erkennen, niemand hat uns die Erlaubnis gegeben.
Die Texte auf den Flugblättern so unterschiedlich in dem, was sie meinen, und so gleich in dem, wie sie klingen. Und ich muss sie nicht lesen, denke ich, das ist ungefähr die gleiche Zeitverschwendung, wie Petroleum holen zu gehen, um sich Gerüchte über uns anzuhören. Wir müssen nicht lesen, was wir einander zeigen, wir müssen einfach nur weiterkämpfen, um ein neues Kuba zu schaffen, eine neue Sowjetunion. Sohrab gibt die Richtung vor, ich gehe hinterher, Sohrab wählt die Gruppen aus, denen wir zuhören, die Anhänger des Ayatollahs, die Tudeh, die Mudschahedin. Sie waren im Kampf und auf den Straßen unsere Brüder und Schwestern, vereint gegen die Monarchie, die Unterdrückung, den amerikanischen Imperialismus. Wir waren viele, und wir waren stark, und wir sind es noch immer. Wenn auch die einen an eine göttliche Kraft und an den bewaffneten Kampf glauben und die anderen an das Manifest der kommunistischen Partei und den Pazifismus. Zusammenzuarbeiten war der erste Schritt, doch als Nächstes gehen wir voran. Sohrab hört den Rednern eine Weile zu, lässt keine Regung erkennen, geht weiter, ich gehe hinterher, wir verlassen die Universität. Draußen rauchen wir eine Zigarette. Wie geht es deinem Bein, könnte ich fragen, aber wir fragen solche Dinge nicht. Wie fandest du es dadrin, könnte er mich fragen, aber wir fragen so etwas nicht. Welche Gruppe fandest du am überzeugendsten, könnte ich fragen, aber so etwas fragen wir erst recht nicht. Wir fragen nicht mehr. Seit der Revolution fühlt es sich so an, als hätten alle uns damals Fragen gestellt, und die Revolution war unsere Antwort. Schimpft deine Mutter wegen der Schuhe?, höre ich mich fragen. Sohrab schaut auf seine Füße. Über Kleidung zu sprechen, ist bourgeois, sagt er und drückt seine Zigarette an der grauen Hauswand aus. Was kommt eigentlich nach einer Revolution?, könnte ich fragen, aber darauf haben wir die Antwort schon zu oft gegeben, als dass sich die Frage noch stellen würde: der Klassenkampf, der Umbruch in den Institutionen, die Diktatur des Proletariats. Aber eigentlich sind Sohrab und ich in den letzten Tagen nur durch Gefängnisse und Universitäten gelaufen, und eigentlich haben die Genossen und ich in den letzten Wochen die gleichen Sitzungen abgehalten wie zuvor. Eigentlich haben wir nur wenige Tage gehabt, in denen unsere Lieder und Gesänge öffentlich liefen, und eigentlich ist jedes Programm nun voll von Ayatollah Khomeini. Den geistlichen Führer damals zu vertreiben, war der wohl schwerwiegendste Fehler des Schahs, aus dem Ausland führte er seine und unsere Leute, und nun ist er zurück und lässt sich Führer der Revolution nennen. Wie eine Revolution geht, können mich meine Kinder später fragen, und ich serviere ihnen die Antwort auf einem mit Sichel und Waffen eingravierten Silbertablett. Wie es nach einer Revolution eigentlich wirklich weitergeht, das habe ich noch niemanden laut fragen hören. Dajeh hat heute Dolmeh gemacht, sage ich. Sohrab nickt. Meine Mutter liebt ihn wie einen eigenen Sohn. Peyman wird das Petroleum bestimmt schon bei ihr abgeliefert haben. Ich bin hungrig.
Peyman macht Fotos. Seine Kamera ist groß und lässt ihn umso kleiner wirken. Wir tun, als würde es uns stören, dass er Fotos von unseren Sitzungen macht, als wäre das Kitsch, Eitelkeit. Trotzdem hält ihn niemand davon ab; wo die Abzüge landen, weiß ich nicht. Ich weiß nur, Che Guevara und Castro würden nicht an unseren Wänden hängen, wenn nicht auch einer ihrer Genossen die Kamera zur Hand gehabt hätte. Die heutige Sitzung ist vorüber, es ging um die aktuellen Aktivitäten der Geistlichen, Sohrab und ich haben kurz von den Kundgebungen an der Universität berichtet, und wie so oft ist der Abschluss der Sitzung noch lange nicht das Ende des Abends. Da gibt es keine schlafenden Familienangehörigen, auf die man Rücksicht nehmen muss, gibt es keinen, der uns zum Wohle der Revolution den gesunden Schlaf nahelegt. Da gibt es nur uns, die Zigaretten, das Reden, welches für kurze Momente seinen Ernst verlieren darf, das Lachen, den schwarzen Tee. Manchmal sitzen die Frauen in einer Ecke für sich, tuscheln und kichern. Peyman, der Schüchterne, macht mit seinem Blitzlicht einen Bogen um sie, obwohl sie ihm immer wieder Blicke zuwerfen. Dieselben Frauen, die vor einer Weile noch Dauerwellen und Stöckelschuhe trugen und sich in die amerikanischen Spielfilme setzten. Ob es gut ist, dass sie den Geist der Revolution verstanden haben und sich nun so kleiden wie wir, oder ob es ein Zeichen von Schwäche ist, frage ich mich manchmal, denn was können wir mit Schafen anfangen, die der Herde hinterherlaufen, wie können wir einen neuen Staat und ein neues System aufbauen, mit Leuten, die jederzeit zu einem anderen Lager wechseln könnten? Sohrab neben mir unterhält sich mit einem Dicken, einem, der zu den Führern der Bewegung gehört, und der uns, die Basis, auf dem Laufenden hält. Nächstes Mal solle ich, als Sprecher unserer Gruppe, nach Ilam fahren, um den Austausch der Lokalgruppen aufrechtzuerhalten, hat er gesagt, und ich habe mich kurz gefragt, ob das nicht die Gruppe wählen sollte, wer der Sprecher der Gruppe ist, habe Sohrabs sich aufeinanderpressende Kiefer wahrgenommen, seinen stolzen, in die Ferne gerichteten Blick. Sohrab, der niemals zu den Frauen schaut, sie nicht grüßt, nicht über sie reden möchte. In der Revolution sind alle von Bedeutung, sagt er dann nur, Aber alles, was über die politische Handlung hinausgeht, lenkt vom revolutionären Geist ab. Sie reden von der geplanten Abstimmung über die Regierung der Geistlichkeit, Sohrab und der dicke Genosse, und ich höre an Sohrabs Stimme, dass er sich nicht ganz glaubt, was er da sagt, dass er es aber gerne glauben möchte, dass er innerlich jedoch voll von Angst ist, voll von beißender, nagender, panischer Angst, dass all das, was wir uns wünschen, schneller verschwinden könnte, als wir denken. Dass eine geistliche Regierung immer noch eine Regierung gegen den Imperialismus sei, sagt er zum hundertsten Mal. Ich höre ihm und dem dicken Genossen zu, immer noch stolz über die Benennung zum Sprecher der Gruppe, bemüht, Sohrab die Aufmerksamkeit zu geben, die er für sich einfordert, abgelenkt von der Frau, die lauter lacht als die anderen, die die sanfteste Stimme und die meisten Zuhörerinnen hat. Die die schulterlangen, hennagefärbten Haare nicht nach hinten wirft, die nicht in unterschiedliche Richtungen linst, die einfach laut lacht, wenn ihr danach ist. Ashraf wird sie genannt, und ich gäbe so vieles, um ihren echten Namen zu erfahren, doch wer sich über die Bewegung kennt, kennt sich nur unter Decknamen. Brav und bedacht sieht sie aus, mit ihren glatt gekämmten Haaren und dem gebügelten Militärhemd, aber wenn sie lacht, ist sie voller Energie. Nur verlässt sie leider die Abende meist früh, weil sie lernen muss, weil sie lesen muss, weil sie Literaturwissenschaften studiert, weil sie die persische Sprache liebt, weil sie die Gedichte von Hafis liebt, weil sie so oft von all dem spricht, was sie liebt, ohne zu bemerken, dass ich zuhöre, um dann ihre Tasche zu packen, sich stolz und ruhig von allen zu verabschieden und zu gehen, mit ihren geröteten Wangen und ernsten, klugen Augen. Das wird ein schönes Foto von dir werden, sagt Peyman, der sich neben mich auf den Teppich setzt, den Aschenbecher vorher wegschiebt, ein paar Zigarettenstummel dabei herausfallen lässt, sie eiligst wieder aufhebt, bevor der Gastgeber etwas bemerkt. Von mir?, frage ich, und Peyman lacht schelmisch, vielleicht hat er das gelernt, weil er immer der Kleinste war in unserem Viertel, immer der Kleinste, aber bei Weitem nicht der Dümmste, und er lacht und sagt, Das Foto, das ich gerade von dir gemacht habe, werde ich Revolutionär, sehr verliebt nennen. Ich lache nicht, und Peyman kann Witze dieser Art nur machen, weil wir uns von klein auf kennen und weil er für mich ein Unterstützer ist, den ich schätze. Nenn es besser Revolutionär, kurz vor dem Heimweg, sage ich, und Peyman lächelt sein stummes, schlaues Lächeln und nickt. Ich packe meine Sachen zusammen. Lass uns gehen, sage ich. Peyman ist dünner geworden, sieht müde aus. Peyman, du siehst müde aus, sage ich, und er winkt ab, während er aufsteht. Er ist nachdenklich geworden, in den letzten Tagen und Wochen, und auch, wenn ich das, was er seine politischen Ansichten nennt, für viel zu unradikal und vorsichtig halte, erleichtern sie ihm vielleicht gerade den Umgang mit der Veränderung, die sein Bruder seit der Revolution durchlebt hat. Peyman liebt seinen Bruder, liebt Amin, der sich gerade einen Vollbart wachsen lässt. Nie habe ich darüber nachgedacht, dass diese kleinen Bengel, die wir nie haben mitspielen lassen, überhaupt schon Bartwuchs haben. Doch plötzlich ist mir Amin wieder aufgefallen, auf den Demonstrationszügen, nicht bei uns, sondern bei den anderen, deren Frauen ihre Haare mit Kopftüchern bedecken und deren Männer Vollbärte tragen. Ich habe Amins strahlendes Gesicht vor Augen, als wir Khomeini bei seiner Rückkehr aus dem Exil bejubelten. Peyman, Sohrab und ich, weil er eine Figur der Revolution ist. Amin, weil er ihn für den Vater der Revolution hält. Amin würde uns vermutlich recht geben, was den Einsatz von Waffen und Gewalt angeht, aber nur im Sinne eines Gottes, an den er vorher nie geglaubt hat, im Sinne seiner neuen Freunde, die uns Tag für Tag dazu bringen, doch wieder leiser zu reden, wenn wir auf der Straße sind. Seine neuen Freunde, auf die unsere Mütter mehr hören als auf uns, weil der Glaube an einen Gott so viel einfacher ist als der Glaube an neue Ideen. Diese Geistlichen denken, sie haben das Volk und wir den Intellekt, wir könnten voneinander profitieren, sagen sie immer öfter, und ich weiß nicht, ob ich mit ihnen zusammenarbeiten möchte, wenn sie jemanden wie Peymans Bruder ohne Weiteres bei sich aufnehmen und mit Waffen ausstatten. Siebzehnjährige, die eben noch durch Teherans staubige Straßen liefen und die nicht wussten, was sie mit all ihrer Energie anfangen sollten. Ist Amin zu Hause?, frage ich, und Peyman schüttelt den Kopf, Wahrscheinlich nicht, warum? Ich schweige, aber ich denke, wahrscheinlich, weil ich wissen will, was sie treiben, die anderen. Die immer öfter an den Straßen Spalier stehen, die meine jüngeren Brüder kontrolliert haben, vergangene Woche, vermutlich, weil alle mich kennen und alle wissen, wer meine Brüder sind. Mitten auf der Straße, in der Nähe des Basars, haben sie Menschen ausgefragt, als hätte man sie dazu befugt. Ob es stimme, dass ich mich öffentlich über den Propheten lustig gemacht habe, ob der Witz von mir kam. Dieser Witz über den Propheten, den ich nicht mal kenne, den man aber mir in die Schuhe schiebt. Wo Atheist sein und respektlos sein doch zwei Paar Schuhe sind, aber das Gerücht hat gereicht, um mir ein Moscheeverbot zu erteilen. Dabei ist es mir gleich, ob ich in die Moschee darf oder nicht. Und vielleicht hat jemand anderes den Witz gemacht, oder es gab diesen Witz nie, völlig gleich, man möchte mich und meine Familie im Auge behalten, ich kann damit leben, wir sind stark, stärker als die anderen, die Peymans Bruder mit ihrer Propaganda gewonnen haben. Dabei ist Peymans Bruder doch noch ein Kind, auf die Kinder müssen wir aufpassen, wir machen doch alles für die Kinder, nur für die Kinder. Um Amin müssen wir uns nicht sorgen, sagt Peyman jetzt, er scheint zu ahnen, was ich denke, Das ist nur eine Phase, er hat neue Freunde gefunden und fühlt sich wohl.
Wir verabschieden uns von allen außer von Sohrab, den wir später noch sehen werden, verlassen das Haus und gehen in Richtung unseres Viertels. Dass es nur eine Phase ist, versteht sich von selbst, sage ich, Diese ganze religiöse Bewegung ist nur eine Phase. Peyman dreht den Kopf zu mir, nickt, sein Gesichtsausdruck hellt sich auf, er geht etwas schneller. Amin probiert eben ein bisschen was aus, sagt er noch, Wir haben mit siebzehn doch auch Sachen ausprobiert. Ich zünde mir eine Zigarette an und denke, dass nur Sohrab und ich mit siebzehn Sachen ausprobiert haben. Peyman war schon als kleiner Junge immer zu vorsichtig, zwar immer dabei, aber nur Wache stehend, Ratschläge gebend, das Risiko verringern wollend, uns hinterher anerkennend auf die Schulter klopfend. Bei den ersten Katzen, deren Pfoten wir in Walnussschalen steckten, um sie anschließend durch die Straßen zu jagen, den ersten Murmelspielturnieren, die wir trotz des strikten Verbotes hinter der Schule veranstalteten, um den jüngeren Schülern ihr Taschengeld abzuknöpfen, bei den ersten Zigaretten, die wir von den Einnahmen kauften und heimlich rauchten.
Sohrab, Peyman und ich lassen die Tage auf dem Dach ausklingen. Als ich Kind war, sah die Stadt anders aus. Hatte weniger Lichter, weiter auseinanderstehende Häuser, man hörte mehr Menschenstimmen, weniger Autos. Auf den Straßen waren mehr Verkäufer mit Linseneintopf, Maronen und gekochter Roter Bete, die später abgelöst wurden von den amerikanischen Cafés, den Kinos und Tanzlokalen, den Limousinen und Cabrios. Bis uns die Straßen gehörten. Zerstört die Banken, habe ich gedacht, und trotzdem mit den Steinen auf die anzüglichen Kinos geworfen. Vielleicht ist das der richtige erste Schritt, erst müssen wir die Amerikanisierung der Gesellschaft aufhalten und dann den Imperialismus. Wir haben die Barhocker aus den Fensterscheiben geworfen, die gefliesten Wände glänzten, trotz unserer Zerstörungswut. Hier saßen mal Menschen und waren glücklich, dachte ich, wie hat sich das wohl angefühlt, hier drin glücklich zu sein? Wie fühlt sich das an, wenn man ignoriert, dass die Hälfte des Landes hungert, wenn man ignoriert, dass unser Land sein Öl verschenkt, damit ein einziger Mann im Luxus schwelgen kann, wenn man ignoriert, dass die Gefängnisse voll sind von Menschen, die mal deine Nachbarn waren.
Sohrab schneidet sich die Fingernägel. Er knipst sie durch die Dunkelheit, während die Zigarette in seinem Mundwinkel steckt. Peyman summt ein Lied. Er kann nicht singen und tut es ständig. Eigentlich können wir alle nicht singen und tun es trotzdem. Was ist eigentlich los mit deinem Gesicht?, fragt er plötzlich, unterbricht sein Lied, um das Kinn in Sohrabs Richtung zu recken. Was ist mit meinem Gesicht?, sagt Sohrab, ohne aufzuschauen. Er hat sein Glas schon leer getrunken, wirft die abgeschnittenen Nägel hinein, sodass sie im Teesatz schwimmen. Bist du wieder beim Rasierboykott, oder was sind das für Härchen?, fragt Peyman. Das Wort Rasierboykott ist schon lange nicht mehr gefallen. Peyman hängt immer so sehr an alten Sachen, nennt sie plötzlich und wirft uns damit in eine Zeitkapsel an Erinnerungen, die wir eigentlich nicht brauchen. Der Rasierboykott war beim Militär unser erstes gemeinsames kollektives Aufbegehren gegen die Autorität. Jetzt, nach der Revolution, kämmen wir unsere Haare nicht, waschen unsere Haare nicht, wollen alles, nur nicht so aussehen wie die vom Schah gewünschte amerikanisierte Jugend. Rasieren tun wir uns zwar so schlecht wie möglich, aber wir rasieren uns, um nicht auszusehen wie die bärtigen Gläubigen. Peyman hat recht. Sohrabs Gesicht sieht nicht so aus, als würde er bewusst das Stadium zwischen glatt und Vollbart halten wollen, man sieht kaum noch seine Gesichtshaut, es ist sicher mehrere Wochen her, dass er sich mit einem Rasierer vor den Spiegel gestellt hat. Dabei hat Sohrab vor zehn Jahren das Rasieren zu seiner Lieblingsbeschäftigung ernannt, er war der Erste von uns dreien, der sich damals überhaupt rasieren musste, der so stolz war, als er sich vor den Spiegel im Bad seiner Eltern stellte und vor unseren Augen die Bewegungen unserer Väter und Brüder imitierte.
Ich muss an meinen Vater vor dem Spiegel denken, einen kleinen, dickborstigen Pinsel in der einen, eine scharfe Klinge in der anderen Hand. Als Kind dachte ich immer, es müsste Joghurt sein, den er sich an die Wangen schmiegt, feiner Rahm, der an der Oberfläche der weißen Masse in Dajehs Topf schwamm, nachdem sie ihn drei Tage in der Sonne hatte stehen lassen. Wenn man den Rahm mit Wasser mischt und weitere Tage in der Sonne stehen lässt, gärt er zu frischem Dugh mit Kohlensäure, worauf die Kinder sich stürzen. Ich stellte mir vor, wie mein Vater den Rahm abschöpft, um ihn zum Rasieren zu verwenden, weil eine gute Rasur wichtiger ist als ein gekühltes Getränk. Vater jeden Morgen vor dem Stück Spiegel, das er auf die kleine Regalablage klemmt. Niemals lässt er sich von jemand anderem den Bart rasieren, und er sagt: Behsad, merk dir das, niemand ist dazu verpflichtet, so etwas für dich zu tun, auch, wenn du ihn dafür bezahlst, und keinem Menschen solltest du so sehr vertrauen, dass du ihm eine Klinge in die Hand gibst, damit er sich damit über dich beugt. Mein Vater vor dem Spiegel hat Lieder aus seiner Jugend gesummt. Väter haben keine Jugend, denke ich, Väter haben allenfalls Haarstoppel im Gesicht, die von Zeit zu Zeit weißer werden, spitzer werden. Mein Vater rasierte sich jeden Morgen, außer im Ramadan, dann stach sein Gesicht bei jedem Kuss, den er uns Kindern gab, roch sein Mund nach Abstinenz von Essen und Wasser, waren seine Augen kleiner, sein Gesang leiser. Morgens steht er immer noch vor dem Spiegel. Singt nicht mehr so viel, redet nicht mehr von der Klinge und dem Geld. Behsad, sagte er vor einiger Zeit, was sind das für Kinder, mit denen du dich triffst? Er hätte sagen können, Behsad, du siehst ungepflegt aus und deine Freunde auch. Ich hätte sagen können, Das sind Linke, das sind Kämpfer, das sind die mutigsten und entschlossensten Menschen, die diese Welt je gesehen hat, und an jedem Tag, den ich mit ihnen verbringe, werde ich ein Stück mehr wie sie. Ich habe gesagt, Es sind dieselben Kinder, die seit meiner Geburt in diesem Haus ein und aus gehen, mit deren Vätern du manchmal nach der Arbeit Tee trinkst und Backgammon spielst. Vater hat nicht genickt, denn er war damit beschäftigt, mit dem scharfen Metall über seinen Adamsapfel zu streifen, und das Geräusch auf den harten Stoppeln ersetzte jedes weitere Wort. Behsad, hat er einige Wochen danach gesagt, in der Nachbarschaft reden sie über dich, und er hätte es besorgt sagen können und war es nicht, und er hätte es stolz sagen können und war es nicht. Ich saß in derselben Ecke des gekachelten Raumes, in der ich auch früher meinen Beobachtungsposten eingenommen hatte. Früher hat er manchmal das Baba,