DIE BERÜHMTESTEN
WISSENSCHAFTLER
JOHN FARNDON
ALEX WOOLF ANNE ROONEY LIZ GOGERLY
Umschlagmotiv: Das Orrery, Gemälde von Joseph Wright (1734–1797), einem Maler von Wissenschaftsbildern aus dem britischen Ort Derby, erstmals im Jahr 1766 ausgestellt. Ein „Orrery“ ist ein Miniaturplanetarium und einer der vielen Wegbereiter des heutigen Planetariums. Seine Bezeichnung geht auf Charles Boyle zurück, Graf von Cork und Orrery, der im 18. Jahrhundert bedeutender Sammler astronomischer Geräte war. Museum and Art Gallery / The Bridgeman Art Library, UK.
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Aus dem Englischen von AMS/Dirk Oetzmann
Produktion der deutschsprachigen Ausgabe:
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ISBN 10: 3-86706-009-6
ISBN 13: 978-1-78212-038-4
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Niels Bohr
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Linus Pauling
Das DNS-Team: Francis Crick, James Watson und Rosalind Franklin
Stephen Hawking
Naturwissenschaftliche Forschung war schon in der griechischen Antike kein neues Thema. Ausgrabungen belegen, dass bereits Babylonier und Sumerer fundierte Kenntnisse der Medizin, Astronomie, angewandten Mathematik und Technik hatten.
Etwa ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. zeigen sich in der griechischen Kultur jedoch erste Anzeichen einer fast wissenschaftlichen Revolution. Einige Gelehrte waren nicht mehr bereit, die Götterwelt als universelle Antwort auf alle Fragen über das Wesen der Welt zu akzeptieren, und begannen, nach einer grundlegenden Formel zu suchen, die als Basis für eine etwas zufriedenstellendere Erklärung dienen sollte. Thales von Milet schlug Wasser als Ursubstanz vor, Anaxagoras dagegen Luft, und Xenophanes zog sogar ganz profanen Schlamm in Erwägung. Demokrit war es, der das erste Atommodell entwickelte – „Atom“, vom griechischen Wort atomon, bedeutet „unteilbar“. (Wie unzutreffend dieser Begriff war, sollte später im 20. Jahrhundert auf spektakuläre Weise von Ernest Rutherford gezeigt werden.) In den Schriften der Philosophen vor Sokrates ist zwar keine echte Naturwissenschaft zu erkennen, doch in ihrer Ablehnung einer von höheren Instanzen diktierten Wahrheit zeigen sich Anfänge methodischen Denkens. Die Suche nach Ursachen und Prinzipien sollte auf Beobachtungen und Schlussfolgerungen basieren, und die Wahrheit war nun nicht mehr die Domäne der geistlichen, sondern der weltlichen Gelehrten.
Euklid und Archimedes, deren außerordentliche Arbeiten u.a. über Geometrie und Trigonometrie noch heute Standardwerke der Mathematik sind, markieren schließlich den Beginn der wissenschaftlichen Forschung.
Die Entwicklung der Wissenschaft gestaltete sich äußerst wechselhaft. Häufig geriet sie mit der Religion in Konflikt, was für die Wissenschaftler meist fatale Konsequenzen hatte, da die Vertreter der Kirche bevorzugt zu Mitteln wie Drohungen, Einschüchterungen und sogar Mord griffen, um unliebsame Ansichten im Keim zu ersticken. Astronomische, erd- und vor allem menschheitsgeschichtliche Forschung wurde von den etablierten Kirchen über Jahrhunderte hinweg immer wieder der Häresie bezichtigt.
Trotz zahlreicher Übergriffe hat sich die Naturwissenschaft gegen Ende des 20. Jahrhunderts durchgesetzt und gilt nun als wichtigstes Forschungsgebiet der Gegenwart und Zukunft. Der Grund für diesen Erfolg lässt sich mit zwei Worten erklären: Naturwissenschaft funktioniert. Die gesamte wissenschaftliche Forschungsarbeit, das Testen, Überprüfen und Ablehnen von Hypothesen, die sorgfältige Entwicklung von Theorien auf der Basis von Fakten sowie deren Überarbeitung bzw. Widerlegung angesichts neuer Erkenntnisse, kurz gesagt, die methodische Wissenschaft, führt zu Ergebnissen: Ergebnisse, die man prüfen, verifizieren oder falsifizieren kann und die Vorhersagen ermöglichen. Astrologie, Handlesekunst, Zukunfts- oder Traumdeutung, Parapsychologie, Telepathie, Ufologie, Schöpfungswissenschaft und die Wettervorhersage mithilfe der Innereien geopferter Tiere erzielen solche Ergebnisse nicht. Es ist daher kein Zufall, dass der Forschung zugeneigte Gesellschaften sich durchsetzen konnten, während Gesellschaften, die sich stärker auf Aberglauben, Übersinnliches und Religion stützten, gescheitert sind.
Alle Frauen und Männer, die in diesem Buch beschrieben werden, haben auf ihren jeweiligen Fachgebieten Außergewöhnliches geleistet, Lösungen für scheinbar unlösbare Probleme gefunden und damit den Wissensfundus der Menschheit bereichert.
Die Liste der aufgeführten Wissenschaftler erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Es hätten noch viele weitere Erwähnung verdient, was allerdings den Rahmen dieses Buchs gesprengt hätte. Ebenso wenig soll darüber spekuliert werden, was tatsächliche „Größe“ ausmacht – diese Diskussion sollen andere führen. Vielmehr soll dieses Buch einige der wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen und Entdecker vorstellen und den Leser dazu ermutigen, sich näher mit ihnen zu befassen. Ob dies gelingt oder nicht, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden.
ca. 300 v. Chr.
Ausgehend von den Arbeiten früher griechischer Naturphilosophen wie Thales von Milet und Anaximander, zeigte Euklid, wie sich Phänomene und Ereignisse auch ohne Anrufung der Götter durch angewandte Logik erklären ließen.
Euklids Hauptwerk, die Elemente, gilt als der am häufigsten übersetzte, veröffentlichte und gelesene mathematische Text der westlichen Welt. Zweifellos gehört es zu den einflussreichsten Abhandlungen aller Zeiten.
Das Thema der Elemente ist die Geometrie, die Mathematik der Formen. Das profunde und umfassende Werk gilt bis heute, Jahrtausende nach seiner Niederschrift, als Grundlage der Geometrie. Mathematiker sprechen noch immer von Euklidscher Geometrie, wenn sie sich mit geometrischen Gebilden mit flachen Oberflächen wie Geraden und Punkten oder Figuren und Körpern befassen. Die Elemente fassen die wichtigsten grundlegenden Gesetze der Geometrie von Dreiecken, Rechtecken, Kreisen und Parallelen zusammen, die noch heute in der Schule gelehrt werden.
Euklids Werk markiert darüber hinaus den Beginn einer neuen Denkweise, die Lösungen durch Logik, deduktive Schlussfolgerungen und Beweisführung zu erlangen suchte und nicht einfach durch Glaube und Intuition. Plötzlich war der Weltenlauf nicht mehr nur den Launen der Götter unterworfen, sondern folgte Naturgesetzen, die man mithilfe von Euklids Vorgehensweise nach und nach erklären konnte.
Diesen Fortschritt verdanken wir allerdings nicht allein Euklid. Sein Werk stützt sich auf mehrere Jahrhunderte griechischer Philosophie, die bis zu dem berühmten Thales von Milet im 7. Jahrhundert v. Chr. zurückreicht. Dennoch war es Euklid, der diese Arbeiten so gründlich und verständlich zusammenfasste, dass ihr bleibender Einfluss gewährleistet war. Benedictus de Spinoza, Immanuel Kant und Abraham Lincoln sind nur einige von vielen, die von Euklid beeinflusst wurden.
Über den Menschen Euklid ist nur wenig bekannt. Vermutlich lebte Euklid um 300 v. Chr. in Alexandria, der bedeutenden Stadt an der ägyptischen Mittelmeerküste, die nicht lange zuvor von Alexander dem Großen gegründet worden war. Der erste griechische Herrscher, Ptolemaios I. Soter (ca. 367–283 v. Chr.), ließ das Museum und die Bibliothek von Alexandria erbauen, die sich zur bedeutendsten Institution für Lehre und Forschung des Altertums entwickeln sollte, und Euklid war dort wahrscheinlich der führende Mathematiker. Möglicherweise hat er bei Platon studiert. Archimedes kam kurze Zeit nach Euklids Tod nach Alexandria.
Was über seine Persönlichkeit bekannt ist, ist eher anekdotisch. Euklid scheint ein freundlicher und motivierender Lehrer gewesen zu sein. Einer Quelle zufolge war er „äußerst zuvorkommend und all denen zugetan, die sich mit Mathematik befassten, stets bemüht, niemanden zu beleidigen, und trotz seiner Gewissenhaftigkeit keineswegs von sich selbst eingenommen“.
König Ptolemäus soll Euklid einmal gefragt haben, ob er denn die Elemente vollständig durchlesen müsse, um die Geometrie zu erlernen, worauf Euklid diplomatisch entgegnete: „Es gibt keinen Königsweg zur Geometrie.“
Damit sind die Überlieferungen jedoch schon fast erschöpft. Sie stammen übrigens hauptsächlich aus den Schriften des griechischen Philosophen Proklos, der fast 800 Jahre später gelebt hat.
Dieser Informationsmangel hat in wissenschaftlichen Kreisen bereits zu der Vermutung geführt, die Elemente seien das Ergebnis der Arbeit einer ganzen Gruppe von Forschern, die von Euklid geleitet wurde, oder „Euklid“ sei der Name, den sich eine Gruppe von Mathematikern in Alexandria gegeben habe. Was auch immer stimmt, unbestritten bleibt der Einfluss der Elemente und der weniger bekannten Werke Euklids auf die Nachwelt.
Euklids besondere Leistung war die Integration damals bestehender geometrischer Lehrsätze in ein schlüssiges System der Grundlagentheorie und Beweisführung, das bis heute als Basis der Naturwissenschaft dient.
Die Geometrie war zu Euklids Zeit bereits relativ weit entwickelt. Ihren Ursprung hat die Mathematik der Formen vermutlich schon Jahrtausende früher, als die Menschen begannen, ihren Grundbesitz abzustecken. Die Ägypter entwickelten sie weiter, um sie beim Pyramidenbau anzuwenden. Sie bezeichneten ihre Methode als „Erdvermessung“, und genau dies ist auch die Übersetzung des Begriffs Geometrie, wie er später von den Griechen übernommen wurde. Im Jahr 1858 entdeckte der schottische Historiker Alexander Rhind eine Papyrusrolle, die um 1650 v. Chr. von dem ägyptischen Schreiber Ahmose aufgesetzt worden war. Aus diesem wie auch aus einem anderen, heute in Moskau befindlichen Papyrus ging hervor, dass die Ägypter fortgeschrittene Kenntnisse der Trigonometrie hatten. So waren sie z.B. in der Lage, die Höhe eines Gebäudes anhand der Länge seines Schattens zu bestimmen.
Vermutlich wussten die Ägypter sogar um die meisten Techniken und Methoden, die das Werk Elemente beschreibt. Euklid und andere griechische Wissenschaftler des Altertums entwickelten daraus jedoch ein theoretisches System, d. h., sie nahmen sozusagen die „angewandte Mathematik“ und schufen daraus eine Form von „reiner Mathematik“.
Anfangs bemühten sich die Griechen hauptsächlich aus Eigeninteresse um allgemeine, abstrakte Erkenntnisse, doch ihre Entdeckungen machten daraus weit mehr als nur einen intellektuellen Zeitvertreib. Sie entwickelten eine umfassende Theorie, die auf jede erdenkliche Situation anwendbar war. Was für Dreiecke in einer Situation galt, traf auch in jeder anderen Situation zu. So versetzte Thales von Milet die Ägypter während einer Reise durch das Land in Erstaunen, als er demonstrierte, wie man mit ähnlichen Dreiecken nicht nur die Höhe einer Pyramide, sondern auch die Entfernung eines Schiffs auf See bestimmen konnte.
Euklids Windmühlenbeweis
Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel für die Wirksamkeit Euklidscher Beweisführung ist der „Windmühlenbeweis“ zu Pythagoras’ Theorie über rechtwinklige Dreiecke. Seinen Namen verdankt er den Windmühlen ähnelnden Diagrammen. Noch im Jahr 1821 erklärte ein deutscher Physiker, dieser Beweis sei vermutlich die beste Möglichkeit, außerirdischen Lebewesen die Existenz menschlicher Intelligenz zu demonstrieren.
Den Ägyptern wie auch den Babyloniern war wohl bekannt, dass die Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks immer im gleichen Verhältnis zueinander stehen. Sie wussten, dass die Länge jeder Seite immer im gleichen Verhältnis zu den „Quadraten“ – also der Länge mit sich selbst multipliziert – der anderen beiden Seiten steht. Im Grunde kannten sie den „Satz des Pythagoras“ lange vor Pythagoras.
Der Satz des Pythagoras besteht darin, dass die Quadrate über beiden Seiten des rechten Winkels addiert dem Quadrat über der dritten, Hypotenuse genannten Seite entsprechen. Pythagoras führte im 6. Jahrhundert v. Chr. zwar den Beweis dafür, doch war dieser recht umständlich. Euklids Windmühlenbeweis ist einfach und elegant:
1. Zeichne Quadrate über den Seiten des Dreiecks ΔABC.
2. BCH und ACK sind gerade Seiten, da <ACB = 90°.
3. <EAB = <CAI = 90°, gemäß Aufbau.
4. <BAI = <BAC + <CAI = <BAC + <EAB = <EAC, wie Schritt 3.
5. AC = AI und AB = AE, gemäß Aufbau.
6. Deshalb ΔBAI = ΔEAC, wie in Figur a) farblich gekennzeichnet.
7. Zeichne DF parallel zu BD.
8. Rechteck AGFE = 2ΔACE. Dieses bemerkenswerte Ergebnis leitet sich aus zwei Prämissen ab: a) die Flächen aller Dreiecke über einer Grundlinie, deren dritter Scheitelpunkt auf einer unendlichen Geraden parallel zu dieser Grundlinie liegt, sind gleich; und b) die Fläche eines Dreiecks entspricht der Hälfte jedes Parallelogramms (auch Rechtecke) mit derselben Grundlinie und Höhe.
9. Das Quadrat AIHC = 2ΔBAI, gemäß dem Parallelogramm-Theorem aus Schritt 8.
10. Daraus folgt, Rechteck AGFE = Quadrat AIHC, gemäß den Schritten 6, 8 und 9.
11. <DBC = <ABJ, wie in Schritt 3 und 4.
12. BC = BJ und BD = AB, gemäß Aufbau wie in Schritt 5.
13. ΔCBD = ΔJBA, gemäß Schritt 6 und farblich in Figur b) gekennzeichnet.
14. Rechteck BDFG = 2ΔCBD, wie in Schritt 8.
15. Quadrat CKJB = 2ΔJBA, wie in Schritt 9.
16. Daraus folgt, Rechteck BDFG = Quadrat CKJB, wie in Schritt 10.
17. Quadrat ABDE = Rechteck AGFE + Rechteck BDFG, gemäß Aufbau.
18. Daraus folgt, Quadrat ABDE = Quadrat AIHC + Quadrat CKJB, gemäß Schritten 10 und 16.
Euklid und die alten Griechen verschafften der Mathematik großen Einfluss, indem sie sie zu einem logischen System umwandelten. Sie führten den mathematischen Beweis ein und demonstrierten, wie sich von bestimmten Voraussetzungen Regeln ableiten ließen, z.B. „die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist eine Gerade“. Diese Voraussetzungen bilden die Basis einer Regel, einen Lehrsatz, der daraufhin bewiesen oder widerlegt wird.
Fünf Lehrsätze oder Axiome bilden den Kern der Elemente Euklids. Sie lauten im Einzelnen:
1. Zwei vorgegebene Punkte können durch eine Teilgerade verbunden werden.
2. Eine solche Teilgerade kann in jede Richtung unendlich verlängert werden.
3. Um jeden gegebenen Punkt kann ein beliebig großer Kreis gezeichnet werden.
4. Alle rechten Winkel sind gleich.
5. Wenn eine Gerade zwei andere Geraden so schneidet, dass die Summe der inneren Winkel auf derselben Seite kleiner ist als die zweier rechter Winkel, dann müssen sich diese beiden Geraden irgendwann kreuzen.
Die ersten vier dieser Lehrsätze erscheinen uns heute selbstverständlich. Das galt allerdings nicht für Euklids Zeit, und es war gerade Euklids Bemühen, die grundlegenden Regeln festzulegen, das seine Arbeit so einflussreich machte. Nur absolut eindeutige Definitionen unterscheiden ein mathematisches Gesetz von einer vagen Vorstellung. Nur eindeutige Definitionen ermöglichen eine logische und überzeugende Vorgehensweise – die geringste Unsicherheit entkräftet die logische Beweiskette sofort.
Das fünfte Axiom handelt von Parallelen und ist weniger offenkundig. Wenn zwei Geraden von einer anderen so gekreuzt werden, dass die inneren Winkel auf einer Seite genau zwei rechten Winkeln entsprechen, müssen die Geraden parallel sein. Dieses Axiom nennt man daher auch Parallelenaxiom. Es galt als grundlegendes Gesetz und findet auch in der Praxis zahllose Anwendungen, z. B. bei Bahngleisen.
Euklid war von diesem Axiom jedoch nicht vollständig überzeugt, und es zeigte sich, dass seine Zweifel berechtigt waren. Seine Geometrie ist problemlos auf Ebenen, Flächen und Körper sowie die meisten Alltagssituationen anwendbar. Doch die Erdoberfläche ist nicht flach, obwohl es so aussieht, und auch der Raum ist tatsächlich gekrümmt und besitzt eine vierte Dimension: die Zeit. Nach Euklids Axiom kann durch einen gegebenen Punkt exakt eine Gerade parallel zu einer anderen gezeichnet werden, im gekrümmten Raum sind jedoch noch viele weitere Geraden möglich. Ebenso soll die Summe der Innenwinkel eines Dreiecks genau 180° ergeben, zeichnet man ein Dreieck aber auf einen Ball, ist die Summe größer.
Mathematiker wie Carl Friedrich Gauß erkannten im 19. Jahrhundert die Grenzen der Euklidschen Geometrie und entwickelten eine neue Geometrie für den gekrümmten, multidimensionalen Raum. Dennoch gilt Euklids Arbeit auch nach 2200 Jahren noch immer als Grundlage für die meisten geometrischen Fragestellungen, und Euklids Verfahren, grundlegende Regeln durch eindeutige Beweisführung – streng logisch und deduktiv – festzulegen, ist so überzeugend, dass es uns heute als selbstverständlich erscheint.
ca. 287–212 v. Chr.
Archimedes gehört zu den erfolgreichsten Erfindern aller Zeiten, hielt persönlich jedoch seine theoretische Arbeit für bedeutender. Auf seinem Grabstein sind eine Kugel und ein Zylinder abgebildet; die Volumenberechnung dieser Körper zählte Archimedes selbst zu seinen größten Leistungen.
Gebt mir einen festen Platz zu stehen, und ich werde die Erde bewegen“, soll Archimedes um 260 v. Chr. zu König Hieron II. von Syrakus auf Sizilien gesagt haben. Zum Erstaunen der Zuschauer, so die Legende, hatte Archimedes gerade die „Syrakosia“, mit 4064 Tonnen eines der größten und luxuriösesten Schiffe des Altertums, mit nur einer Hand zu Wasser gelassen. In ganzen Gruppen hatten Männer zuvor vergeblich versucht, das Schiff mit Seilen zu bewegen, doch Archimedes gelang diese Aufgabe mithilfe einer brillanten Konstruktion aus Hebeln und Flaschenzügen mit Leichtigkeit ganz allein.
Archimedes war der größte Erfinder der Antike. Er entwickelte nicht nur Flaschenzüge, mit denen man Schiffe bewegen konnte, sondern auch die erste Wasserpumpe, die „Archimedische Schraube“, die noch heute zum Einsatz kommt. Er erbaute ein großartiges Planetarium, um die Bewegungen der Sterne zu erklären, und erfand eine Maschine, die brennendes Pech auf feindliche Schiffe schoss. Als seine Heimatstadt Syrakus von einer römischen Flotte belagert wurde, baute er Katapulte, um die Schiffe mit Felsbrocken zu bombardieren, einen Brennspiegel, um sie in Brand zu setzen, Haken, mit denen die Leitern der Belagerer umgeworfen wurden, und die so genannte eiserne Hand, die große, feindliche Schiffe aus dem Wasser zog und kentern ließ.
Dennoch gehören die Erfindungen im Grunde nicht zu Archimedes’ größten Leistungen. Tatsächlich hielt er selbst nicht viel davon. Wie den meisten griechischen Gelehrten waren ihm abstrakte und mathematische Theorien wichtiger als deren praktische Anwendung. Der griechische Schriftsteller Plutarch erklärte, dass Archimedes
sich nicht dazu herabließ, Schriften [über praktische Anwendungen] zu hinterlassen; der Bau von Instrumenten galt ihm als niedrig und unwürdig wie auch jede Tätigkeit, die dem Profit diente, denn er strebte nach den Dingen, die durch ihre Schönheit und Vorzüglichkeit jenseits der gewöhnlichen Bedürfnisse des Alltags lagen.
Nach allem, was wir über Archimedes wissen, hat Plutarch wohl stark übertrieben, denn Archimedes zögerte im Gegensatz zu zeitgenössischen Denkern nicht, seine Ideen in die Praxis umzusetzen und damit zu experimentieren. Außerdem war er von seinen eigenen Fähigkeiten ehrlich begeistert. Dennoch waren es hauptsächlich seine theoretischen Arbeiten, die ihn für die Nachwelt bis in die Zeit von Isaac Newton, einem seiner Bewunderer, zum größten Erfinder der Geschichte machten.
Archimedes war in der Tat der erste große Naturwissenschaftler der Menschheit. Zwar hatten sich schon früher kluge Köpfe mit naturwissenschaftlichen Fragen beschäftigt, und es gab eine Reihe von weniger berühmten griechischen Gelehrten, die zu erwähnen wären, doch Archimedes war der Erste, der einen wissenschaftlichen Zugang wählte, wie wir ihn heute für selbstverständlich halten.
Archimedes wurde 287 v. Chr. in Syrakus auf Sizilien geboren, damals eine griechische Kolonie. Er war also kein Sizilianer, sondern Grieche. Syrakus lag als Grenzstadt zwischen den kriegführenden Mächten Rom und Karthago, war aber keineswegs intellektuelles Brachland. König Hieron II. und sein Sohn König Gelon waren aufgeklärte, aufgeschlossene Herrscher. Möglicherweise war Archimedes sogar Gelons Lehrer.
Wer jedoch eine gute Ausbildung genießen wollte, musste ins ägyptische Alexandria gehen, und genau dies tat Archimedes schon als junger Mann. Damals war Alexandria das wichtigste Bildungszentrum der Antike. Obwohl das Museum und die Universität kaum 20 Jahre alt waren – die Stadt war etwa ein halbes Jahrhundert zuvor von Alexander dem Großen gegründet worden –, verfügte sie bereits über eine einzigartige Bibliothek mit mindestens 100 000 Schriftrollen, darunter die unschätzbare Sammlung der Schriften des Aristoteles. Hier lehrte der große Euklid Geometrie, hier zeigte Aristarch, dass die Erde um die Sonne kreist, und hier erstellte Hipparch den ersten Sternenkatalog, in dem die Sterne nach Helligkeit geordnet waren. Und an diesem Ort sollte Ptolemäus viel später sein heute unter dem arabischen Titel Almagest bekanntes Werk verfasssen, für 1500 Jahre das wichtigste Handbuch über die Beschaffenheit des Universums. Euklid war vermutlich bereits tot, als Archimedes eintraf, doch er machte mit Sicherheit die Bekanntschaft von Eratosthenes, jenem brillanten Gelehrten, der den Erdumfang, gemessen an heutigen Zahlen, auf 4 Prozent genau berechnete und der die Dauer eines Jahres so exakt bemaß, dass seine Zahlen erst vor ca. 50 Jahren korrigiert wurden. Archimedes erlernte in Alexandria zwar die Grundlagen der Naturwissenschaft und Mathematik, beschäftigte sich jedoch auch mit weniger theoretischen Dingen. Berichten zufolge arbeitete er als Ingenieur für große Bewässerungsprojekte im Nildelta und erfand seine berühmte Wasserschraube vermutlich dort in Ägypten.
Nach seiner Rückkehr verließ er Syrakus jedoch nie wieder – er verbrachte sein langes Leben mit Erfindungen, dem Studium und der Philosophie. Überlieferte Geschichten beschreiben ihn als den typischen, zerstreuten Gelehrten, der häufig so in seine Gedanken vertieft war, dass er die kleinen Dinge des täglichen Lebens vergaß.
Die berühmteste Anekdote über ihn betrifft eine Entdeckung, die er in der Badewanne machte. König Hieron hatte einen Goldschmied beauftragt, eine Krone aus Gold anzufertigen. Nach deren Fertigstellung verdächtigte Hieron den Goldschmied, einen Teil des gelieferten Goldes gestohlen und durch billigeres Metall ersetzt zu haben. Die Krone wog jedoch genauso viel wie das Ausgangsmaterial. Wie sollte der Betrug nun nachgewiesen werden?
Hieron befragte Archimedes, doch auch er wusste zunächst keine Antwort. Als er eines Tages in der Badewanne darüber nachdachte, bemerkte er plötzlich, wie der Wasserspiegel stieg, je tiefer er in die Wanne einsank.
Der Legende nach sprang Archimedes sofort aus der Badewanne, rannte nackt durch die Straßen zum König und rief aus vollem Hals „Heureka! Heureka!“ („Ich habe es gefunden“!). Später demonstrierte er dem König seinen Gedankengang. Er tauchte zunächst ein Stück Gold in Wasser, das ebenso viel wog wie der Kranz, und verwies auf den steigenden Pegel. Danach tauchte er den Kranz selbst ein und zeigte, dass der Pegel höher stieg. Archimedes erläuterte, dass das Volumen des Kranzes bei gleichem Gewicht also größer sein müsse als das des Originalgoldstücks und dass dieser folglich nicht aus reinem Gold sein könne. Der betrügerische Goldschmied wurde hingerichtet.
Ob diese Geschichte stimmt oder nicht, sie zeigt, wie präzise und dennoch elegant Archimedes wissenschaftliche Lösungen für komplizierte Probleme fand – und wie Kleinigkeiten ihn zu fundamentalen theoretischen Erkenntnissen führten. Vielleicht war dies der Ausgangspunkt für seine bahnbrechende Arbeit über Hydrostatik und schwimmende Körper (siehe hier).
Archimedes bemühte sich auch um mathematische Lösungen für Probleme. Er war vielleicht nicht der Erste, dem auffiel, dass von zwei Gewichten, die an den entgegengesetzten Enden einer Waage befestigt sind, das leichtere der beiden weiter vom Mittelpunkt entfernt sein muss, um die Balance herzustellen. Archimedes ging jedoch weiter und zeigte, dass sich die Entfernung vom Mittelpunkt proportional zum Gewichtsverhältnis verhielt – und lieferte den mathematischen Beweis. Ebenso erkannte er, dass jeder Körper einen Schwerpunkt besitzt, und führte wiederum den mathematischen Nachweis.
Archimedes sah jedoch nicht nur praktische Alltagsprobleme mit den Augen des Mathematikers, er sah auch mathematische Probleme mit den Augen des Praktikers, was im Grunde noch eine größere Leistung war.
Einige seiner mathematischen Arbeiten waren gemäß der griechischen Tradition rein theoretischer Art. So bewies er z. B., dass die Oberfläche einer Kugel viermal so groß ist wie die Fläche ihres „größten Kreises“, d.h. die vierfache Fläche eines Kreises mit demselben Radius. Ferner zeigte er, dass das Volumen einer Kugel zwei Drittel des Volumens eines sie genau umschließenden Zylinders beträgt.
Seine wichtigsten Erkenntnisse erzielte er jedoch durch die Praxis. In der griechischen Tradition war alles Praktische verpönt. Platon zufolge hielten die Griechen die reine Mathematik für den Schlüssel zur perfekten Wahrheit, die der nicht perfekten Welt zugrunde lag, sodass alles, was nicht mithilfe eines Lineals, eines Zirkels und eleganter Berechnungen erklärt werden konnte, auch nicht wahr sein konnte. Archimedes sah die Beschränktheit dieser Theorie und erkannte, wie viel man durch Annäherungen in der Praxis, oder wie die Griechen es nannten, der Mechanik, erreichen konnte. Offenbar war ihm dieser Widerspruch zur griechischen Tradition bewusst, als er an einen Kollegen in Alexandria über die Lösung eines Problems schrieb: „Es handelt sich um einen geometrischen Grundsatz, den vor mir noch niemand untersucht hat. Ich erkannte diesen Grundsatz zunächst durch die Mechanik und führte dann den Nachweis mithilfe der Geometrie.“
Die Darstellung zeigt Sonnenstrahlen und einen Spiegel, den Archimedes angeblich 214 v. Chr. erfand, um die Syrakus belagernden römischen Schiffe während des Zweiten Punischen Krieges zwischen Rom und Karthago in Brand zu setzen.
Dieses Vorgehen erwies sich für Archimedes als äußerst erfolgreich. So gelang es ihm, die Fläche eines Kreises annähernd zu bestimmen, indem er zunächst die Fläche des größten innerhalb des Kreises möglichen Sechsecks berechnete und danach die Fläche des kleinsten außerhalb liegenden Sechsecks. Seine Überlegung war, dass die Fläche des Kreises ziemlich genau dem Mittelwert entsprechen musste. Indem er statt der Sechsecke Vielecke mit 96 Seiten verwendete, konnte er sich dem richtigen Ergebnis weiter annähern – und berechnete so Pi als 22/7, ein Wert, der für die meisten mathematischen Berechnungen heute noch exakt genug ist.
Auf dieselbe Weise berechnete er annähernde Flächen verschiedener Kurven, indem er Rechtecke innerhalb der Kurven anlegte. Je kleiner und zahlreicher die Rechtecke waren, desto exakter war das Ergebnis. Heute bezeichnet man diese Vorgehensweise als Integralrechnung, sie wurde für Newton und seine Nachfolger zu einem der wichtigsten mathematischen Verfahren.
Archimedes stirbt in Syrakus von der Hand eines mathematisch unbedarften römischen Soldaten.
Die Sandzahl
In einem berühmten, heute „die Sandzahl“ genannten Brief an seinen Schüler König Gelon zeigte Archimedes, dass die Mathematik in der Lage ist, auch mit unvorstellbar großen Zahlen zu agieren. Er schrieb: „Es gibt viele, König Gelon, die glauben, dass es unendlich viele Sandkörner gibt … Ich aber werde mittels der Mathematik beweisen, dass … es Zahlen gibt, die selbst die Anzahl der Körner eines mit Sand gefüllten Universums noch übertreffen.“ Archimedes zeigte, wie man mit erhöhten Zahlen, heute Hochzahlen genannt, gewaltige Zahlen schreiben konnte. 2 mal 2 entspricht 2 hoch 2, also 4; 2 mal 2 mal 2 entspricht 2 hoch 3, also 8; 2 mal 2 mal 2 mal 2 entspricht 2 hoch 4, also 16. Archimedes schrieb nun die Zahl P hoch 100 Millionen, eine riesige Zahl, insbesondere wenn P selbst für eine große Zahl steht, und erklärte, dass sogar noch größere Zahlen möglich wären.
Schwimmen oder untergehen
Zu den größten Entdeckungen von Archimedes gehören Auftrieb und Schwimmfähigkeit. Er erkannte, dass Körper im Wasser ein geringeres Gewicht haben als in der Luft. Auch ein schwerer Mensch kann auf dem Wasser treiben, dank des natürlichen Auftriebs durch das Wasser. Wenn ein Körper aber in Wasser eingetaucht wird, zieht ihn sein Gewicht nach unten. Archimedes erkannte weiter, dass das Wasser daraufhin eine Gegenkraft entwickelt, die genau dem Gewicht des Wassers entspricht, den der Körper beim Eintauchen verdrängt. Daher sinkt der Körper genau so tief, bis sein Gewicht exakt dem der Aufwärtskraft entspricht, und bleibt dann in der Schwebe. Körper, deren Gewicht geringer ist als das des verdrängten Wasser, treiben auf dem Wasser, und Körper, deren Gewicht höher ist, sinken. Archimedes bewies, dass dies mathematisch ganz einfach und präzise zu berechnen ist.
Diese bahnbrechende Erkenntnis ermöglichte es Schiffsbauern vorherzusagen, ob ihre Schiffe schwimmen würden, statt weiterhin einfach zu experimentieren, was oft genug zu Katastrophen geführt hatte. Archimedes ging jedoch noch weiter und berechnete die Schwimmfähigkeit von ganz unterschiedlich geformten Körpern sowie in welchem Winkel zur Wasseroberfläche sie noch schwimmfähig blieben.
Bei der Belagerung von Syrakus 212 v. Chr. durch die Römer war Archimedes bereits ein alter Mann – vermutlich fast 80 Jahre –, arbeitete aber noch immer an praktischen und theoretischen Problemlösungen. Als sich die römischen Schiffe näherten, stürzte sich Archimedes in die Arbeit und konstruierte verschiedene technische Apparate, die den Feind aufhalten sollten. Doch selbst der geniale Archimedes konnte die Römer nicht auf Dauer aufhalten.
Der römische Feldherr Marcellus war von Archimedes’ Geräten so beeindruckt, dass er beim Einmarsch in die Stadt befahl, den Wissenschaftler zu verschonen. Leider hatte der Offizier, der auf Archimedes traf, diesen Befehl nicht erhalten. Angeblich brach er die Tür auf und fand Archimedes bei der Arbeit vor, Kreise zeichnend und Berechnungen anstellend. „Störe meine Kreise nicht“, rief er. Der kampfesmüde Soldat war nicht in der Stimmung zu diskutieren und befahl Archimedes, mit ihm zu kommen. Archimedes bestand darauf, zuerst seine Arbeit fertig zu stellen – und so zog der Soldat sein Schwert und tötete ihn.
Trotz seiner Berühmtheit ging ein Großteil von Archimedes’ Werk verloren. Im Jahr 1906 fand der dänische Sprachwissenschaftler J. L. Heiberg durch Zufall eine der wichtigen Schriften von Archimedes, als er erkannte, dass es sich bei einer mittelalterlichen Schriftrolle aus einem Jerusalemer Mönchskloster um ein Palimpsest handelte, also eine antike Schriftrolle, deren Text teilweise ausradiert worden war, um sie neu beschreiben zu können. Unter den neueren griechischen Schriftzeichen verbargen sich mehrere Schlüsselwerke Archimedes’.
Ein Teil der Arbeiten Archimedes’ wurde während des Mittelalters von arabischen Mathematikern vor dem Vergessen bewahrt. Galileo Galilei dankte dem außergewöhnlichen Griechen, indem er sagte: „Ohne Archimedes hätte ich gar nichts erreicht“, während Newton bekannte: „Wenn ich weiter sehen konnte als andere, dann nur, weil ich auf den Schultern von Riesen stand“ – und für Newton war der größte von ihnen Archimedes.