In Berlin verreisen
Der Rentier Schellbogen
Die Stadt zu verlassen, war, so lange ich denken kann, eine der wichtigsten Beschäftigungen der Berliner. Sie kennen, sagt man, die Welt und ihren Kiez, aber nicht das, was dazwischen liegt: die Stadt Berlin, fünfzig Kilometer in der Ost-West-Richtung, dreißig zwischen Norden und Süden, zwölf Großbezirke, jeder davon, zumindest seiner Bevölkerungszahl nach, eine mittlere Großstadt. Vielleicht eine Zumutung, sie kennen und durchwandern zu wollen. Eine Zumutung erst recht für die Neuberliner, die in Mitte mittlerweile die absolute Mehrheit erreicht haben. Sie kennen den Hackeschen Markt und die Kastanienallee, und wenn von der Jüden- oder der Neuen Roßstraße die Rede ist, dann könnte das genauso gut in Duderstadt sein. Erklärt man ihnen, wo diese Straßen liegen, dann sagen sie erleichtert: Aha, am Alexanderplatz. Daß sie damit Jahrhunderte und halbe oder ganze Kilometer überspringen, egal. Um so weniger zieht es sie in die Tiefen des Stadtkörpers, in das ausgeruhte, fast unzerstörte Berlin des 19. Jahrhunderts. Werden sie je die Laubacher Straße, das Kissingenviertel, den Eichborndamm oder den Johannaplatz kennen lernen? Die Konrad-Wolf-Straße, den Nöldnerplatz, die Kaiserin-Augusta-Allee, den Südstern, die Gerichtsstraße, den Mirbachplatz? Vermutlich nicht, es sei denn, es packte sie irgendwann die große Neugierde.
Ganz anders der Rentier Schellbogen. Da sind wir mitten im 19. Jahrhundert. Jedes Jahr brach er zu einer großen Ferienreise auf. Dem Droschkenkutscher rief er zu: Zum Stettiner Bahnhof! Aber auf halbem Wege ließ er ihn umkehren, er habe es sich anders überlegt, und fuhr zu einem Gasthof am Hohen Steinweg, mitten in der Berliner Altstadt und wenige Schritte vom Berliner Rathaus entfernt, das damals noch nicht das heutige war. Dort stieg er ab und machte drei Wochen Ferien, indem er von hier aus täglich Exkursionen in das Stadtgebiet unternahm, Jahr um Jahr.
Den Hohen Steinweg gibt es allerdings nicht mehr, er ist unter der leeren Fläche begraben, die sich derzeit zwischen Rotem Rathaus und Marienkirche erstreckt, und der Rentier Schellbogen ist nur eine Erfindung des Schriftstellers Julius Rodenberg[3]. Als solche kam er noch dazu erst 1890 zur Welt, da war seine Zeit schon um. Es wäre wohl auch nicht im Sinne des Erfinders gewesen, ihn als modernen Flaneur zu verstehen. Dazu zeigt die Figur zu viel altberlinischen Bodensatz, zu viel Seßhaftigkeit und Bodenständigkeit, zu wenig Weltgewandtheit und intellektuelle Zerrissenheit. Er war eher das, wonach der Flaneur sich sehnt – wohl auch Julius Rodenberg selber, und erst recht, eine Generation später Franz Hessel[4], die Inkarnation schlechthin des Flaneurs. Beide jüdische Berliner, geübt in der Aufmerksamkeit der Heimatlosen.
Die Figur des Rentiers Schellbogen hat eher etwas Philosophisches. Zur Philosophie gehört ja nicht nur eine gewisse Portion Sitzfleisch, sondern, nach Kant, auch die Fähigkeit, sich die Welt zu rekonstruieren nicht nur im eigenen Kopf, sondern auch in der eigenen Stadt. Wozu also in die Ferne? Die Nähe – das ist das Philosophische an der Sache – ist ausreichend unbekannt. Die Philosophie hat ja oft genug in eher unbeholfenen Körpern oder Mentalitäten gesteckt, nicht nur in weltläufigen. Das Gehen paßt auch besser zur Denkbewegung als das Reisen; Ideenfindung geschieht nicht im Anblick der Akropolis, sondern eher auf dem Weg zum Bäcker. Und drittens, wo steckt das Unbekannte, Unheimliche, dem das Denken auf der Spur ist, wenn nicht im Gewöhnlichsten – z. B. in Lankwitz oder Reinickendorf? Das Gehen ist heute allerdings aus der Mode, und das Berlin Franz Hessels ist so gründlich verschwunden wie das von 1860, in dessen Rahmen man sich den Rentier Schellbogen vorstellen muß. Die Philosophie ist tot, und der Flaneur ist endgültig in den Jagdgründen der Kulturwissenschaft verschwunden. In Berlin zu verreisen, das will, als Thema wie als Rolle, neu erfunden sein.
Um was zu finden?
Man kann sich ja ruhig so viel Zeit nehmen wie Julius Rodenberg oder Franz Hessel und täglich, aus seiner Haustüre tretend, einen anderen Weg nehmen. Man sollte das zu Fuß tun – das Fahrrad ist oft für die Wahrnehmung schon zu schnell –, so kann man sich endlich einmal das absichtslose Schauen und Entdecken leisten. Das Zeitgenössische, der Unterschied zu Rodenberg und Hessel, stellt sich sowieso her: daß der Versuch, im eigenen Laufen einen erzählenden Zusammenhang der zerrissenen Stadt zu weben, heute unweigerlich irgendwo von der Geschichte unterbrochen wird. Da hört die Behaglichkeit auf.
In den achtziger Jahren, als das alte West-Berlin die verschüttete Geschichte ausgrub, waren die sichtbaren Brüche das Thema, die Fassungslosigkeit angesichts des Ausmaßes von Abbruch und Zerstörung, von Menschenmord, Krieg und Untergang, von Spaltung und plumpen Versuchen schaufelbaggerartigen Zuschüttens der Gruben. So kann man heute vom vereinigten Berlin nicht mehr reden. Der größte sichtbare Bruch, die Mauer, ist weg, und die Anstrengungen der Stadtregierung, den Touristen ein Freiluftmuseum der Berliner Mauer zu bieten, haben mit der Selbsterfahrung und Innenperspektive der Stadt nichts mehr zu tun. Aber neben den sich schließenden Wunden der Stadt dauern die Brüche an vielen Stellen noch fort, und die Zerstörungen und Gräber des 20. Jahrhunderts sind ja damit, daß in den vergangenen zwanzig Jahren ein zweiter, Ost und West wieder zusammennähender Wiederaufbau stattgefunden hat, nicht aus der Welt geschafft, sie wirken weiter und bleiben der Untergrund auch allen neuen Glanzes. Man wird sie nicht los, hinter aller Helligkeit scheinen die Trümmer der Geschichte durch. Inzwischen gibt es längst auch die neuen Spaltungen und Brüche.
Etwa um die Wendezeit war ich schriftlich der Frage nachgegangen, „warum … die deutsche Architektur so subaltern“ sei. Unbeabsichtigt hatte ich damit einen Maßstab ausgelegt. An ihm könnte man inzwischen vermutlich ablesen, was aus Berlin geworden ist, bzw. ob sich Vorhaben und Akteure bewährt haben. Denn nirgendwo ist in Deutschland in den vergangenen Jahren so ausdehnend, so ehrgeizig, so öffentlich diskutiert und in so weit ausholender Konkurrenz der Akteure gebaut worden – Staat, internationales Kapital, westdeutsche und lokale Baulöwen, Konzerne und Verbände, die Wohnungsbaugesellschaften, das Land Berlin, Bezirke, private Bauherren und Bauherrengruppen, Großproduzenten der Architektur und ehrgeizige Einzelarchitekten. Was seitdem entstanden ist, wird daraufhin doch wohl einiges zu sagen haben, was mit dem bloßen Fotografieren oder Beschreiben des, wie man so schön ahnungslos sagt, neuen Berlin noch nicht abgefragt ist: über den Stand der Selbstfindung dieser geköpften, gespaltenen, zerschlagenen Stadt, die jetzt erstmals wieder die Chance hat, zu sich zu kommen, und nicht zuletzt über Staat und Gesellschaft der Deutschen, insbesondere auch darüber, wie es mit der beklagten Subalternität ihrer Architektur steht – ob und wie weit also die politische Souveränität auch kulturelle geworden ist, und wer sie trägt, der bauende Staat oder die Masse der Produzenten, Nutzer, Bewohner, Besucher.
Etwas viel auf einmal? Aber das sucht man sich nicht aus, es ist das, was die zerrissene Stadt Berlin jedem aufträgt, der sich auf sie einläßt. Weniger aber würde auch ich, der Auftragnehmer, nicht aushalten. Ich mag wohl wieder und wieder das Stadtzentrum zu Fuß oder auf dem Fahrrad durchstreifen und auf nichts anderes gespannt sein als darauf, Neugebautes zu entdecken und mich der Öffnung neuer Stadträume, der Schließung jahrzehntelanger Brachen, der Wiederkehr von Straßen und Plätze zu erfreuen. Es hilft nichts, das Wissen um die Verluste ist, wenn man ein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hat, nicht zu betrügen.
Die im Folgenden vorgeschlagenen Wege werden also bevorzugt an Orte führen, wo für den eingewohnten Blick die Bruchkanten verlaufen und die historischen Schichten sich, sichtbar oder unsichtbar, zu neuen Formen verkeilen – wie die Caspar David Friedrich’schen Eisschollen, die schon im Theater der siebziger Jahre zum Emblem von Stadt- und Nationalschicksal gemacht wurden. Es werden also innerstädtische Orte sein, Orte vor allem des Zentrums bzw. der Zentrumskonkurrenz. Denn noch ist vieles offen, und jede Auseinandersetzung, wohin eine neue Großinvestition soll und was sie herbeibringt, ist ein Scharmützel in der großen, auf Jahrzehnte hochzurechnenden Auseinandersetzung darüber, ob und wo und wie die Stadt sich wieder eine Mitte schaffen und damit zu sich finden wird. Und schließlich nützt es einer zukünftigen Trümmervermeidung, im Realisierten auch das mitzudenken, was an planender Vernunft versäumt wurde.
Abb.2
Stadtreisen?
Eine ganz andere Frage ist, welche soziale Gestalt ein solcher Blick beansprucht. Flaneur kann man in der globalen Welt nicht mehr sein. Das ist auch schon fast so weit weg wie die Behaglichkeit des Berliner Rentiers um 1860, der sich mit vierzig Jahren zur Ruhe gesetzt hat und seinen Alltag damit zubringt, sein Haus zu verwalten, die Miete einzuziehen, in der Armenkommission seines Stadtviertels tätig zu sein, vielleicht auch für die Wahl zum Stadtverordneten seines Bezirks zu kandidieren – und dann Ferien in Berlin zu machen.
Heute hat so etwas eine organisierte Form. Es gibt die Firma Stadtreisen, und Kundige verdienen sich ihr Geld damit, Neuberliner oder Bewohner anderer Stadtbezirke in die historischen Örtlichkeiten und Unörtlichkeiten Berlins einzuweisen, nicht zu vergessen die beliebten Berliner Unterwelten. Das ist, für den Stadtführer, Arbeit und nicht Reisen. Kein ausreichendes Äquivalent für die untergegangene historische Rolle des Rentiers Schellbogen. Denn, offen gesagt, die ist um einiges attraktiver als die modernere des ewig unglücklichen, von innerer Heimatlosigkeit und Zerrissenheit getriebenen Flaneurs, für den die Stadtoberflächen, an denen er entlang streift, eher Fluchtort sind denn Heimat. Es sollte schon so etwas wie Ankommen und Bleiben dabei sein, und es müsste eine individuelle Rolle sein – in diesem Fall meine.
Was kann, nach den Zerstörungen des 20. Jahrhunderts, Bleiben heißen? Die Unruhe von Abriß und Neubau werden wir nicht mehr los. Man sehe sich den Potsdamer Platz an. Ist da irgendetwas ausgeruht oder nach Bleiben riechend? Das ganze Paket sieht aus wie vorübergehend geparkt, und niemand würde sich wundern, wäre es eines Morgens mit seinen Silhouetten aus dem Amerika der dreißiger Jahre wieder verschwunden, und Kräne und andere Arbeitsmaschinen grüben wieder und legten die Fundamente schon für die nächste Kapitalanlage. Der Stadtbummler, der ich gerne wäre, wäre jedenfalls ein Abriß- und Neubauspezialist, ein Experte untergegangener oder verpaßter Orte, bestenfalls auch der hoffnungsfrohe Liebhaber des Neuen. Für diese zunehmend glaubwürdige Rolle des postmodernen Stadtbummlers allerdings bin ich zu ungeduldig und zu arbeitssüchtig.
Aber auch zu sehr beteiligt. Nachdem ich selber acht Jahre planend an der Umsteuerung mitgearbeitet habe, kann ich nicht mehr bloß zusehen, was denn alles so kommt oder gekommen ist. Der Akteur ist Teil dessen, was rollt, steckt mit drin im Geglückten oder Mißlungenen des Ergebnisses, würde sich als bloßen Zuschauer also mißverstehen. Dumm wäre, diese Beteiligung zu verschweigen – als müßte man, um die Priorität von Stadt und Geschichte vor dem eigenen Selbst zu gewährleisten, so tun, als wäre man neutral und wollte bloß einmal besehen, was die anderen so gemacht haben, Staat, Kapital, Verwaltungen, Planer, Lobbyisten, Architekten, Journalisten, engagierte Bürger … Besonders pflegen ja Architekturkritiker Planungen von der obersten Schicht her zu beurteilen, als Architektur, und damit so zu nehmen, als wären sie ein Werk der freien Künste und nicht endloser Kompromisse zwischen Politik, Verwaltung, Verbänden, Investoren. So leicht darf ich es mir nicht machen. Ich kenne die Mühlen, durch die jede Idee hindurch muß, und trotzdem kann das kein Anlaß sein, auf Ungeduld zu verzichten und mit allem, was bisher entstand, zufrieden zu sein.
Und wem sagt man das?
Dies ist der kritischste Punkt. Schon der Rentier Schellbogen gehört in eine Stadt, die vom Zuzug riesiger Mengen von Neubürgern aus allen möglichen Gegenden Deutschlands und Polens geprägt war und laufend vorstädtische Gärten und umliegende Dörfer unter neu erbauten Stadtvierteln und fünfgeschossigen Mietshäusern begrub. Aber damals gab es einen festen Kern, die Großstadt schon des 18. Jahrhunderts, und ein halbwegs gefestigtes Bürgertum. Inzwischen haben zweimal riesige Aderlässe stattgefunden. Nach 1945 verlor die Stadt weit über eine Million Einwohner, und von den verbleibenden Berlinern der fünfziger Jahre des 20.Jahrhunderts war ein Drittel neu hinzugekommen. Nach der Wende fand noch einmal ein großer Austausch statt: Wiederum ein Drittel der Bevölkerung von 1989 hat seitdem die Stadt verlassen und ist durch Zuwanderer ersetzt worden. Die, die blieben, teilen sich perspektivisch in Ost- und Westberliner und unterscheiden sich nach wie vor von den griechischen, italienischen, türkischen, libanesischen, vietnamesischen Migranten der sechziger bis achtziger Jahre. Die Zuwanderung hält an, nicht nur Westdeutsche, sondern neue Kriegs- und Wirtschaftflüchtlinge, Zuwanderer aus den EU-Staaten, aus Rußland, Ukraine oder USA. Die Stadt wäre auch nicht das, was sie ist, ohne die als Touristen oder Zweitwohner nur sporadisch Anwesenden.
Diese ständige Neuvermischung hat nicht nur zur Folge, daß die Berliner heute ganz andere sind – eine Banalität, über die man eigentlich kein Wort verlieren muß –, sondern auch – und das ist alles andere als banal –, daß die Innenperspektive, die für Julius Rodenberg und ebenso noch für Franz Hessel selbstverständlich war, verloren gegangen ist. Immer mehr ist es ein Blick von außen, mit dem die Stadt gesehen und aus dem über sie geredet wird.
Damit könnte man leben, wenn nicht auch Politik und Verwaltung sich immer mehr diesen Blick zu eigen machten. Berlin wird von Touristen überrollt? – offenbar ist also alles gut so wie es ist, wozu sich noch mit den schwierigen Aufgaben der Stadtrekonstruktion befassen. Der Asphalt auf der Breiten Straße ist neu und glatt, gebaut wird geradeaus und im rechten Winkel, alles andere ist Luxus. Berlin hat es nicht nötig, sich um die Sperlingsgasse zu kümmern.
Aber wie dem auch sei – machen wir uns erst einmal auf den Weg.
Abb.3