Für Julia Bryan-Wilson
Es zählt trotzdem, auch wenn er bewusstlos war, als es dazu kam. Es zählt doppelt, denn das bewusste Denken kann irren, fällt oft auf den falschen Menschen herein. Doch am Grund des Brunnens ist kein Licht und nur tausend Jahre altes Wasser, nichts, was einen Mann veranlassen könnte, sich zu irren. Gott befiehlt es dir, und du tust es. Er sagt, Liebe sie, und so geschieht es. Es geht um meinen Nachbarn. Er ist koreanischer Abstammung. Sein Name ist Vincent Chang. Nein, Hapkido macht er nicht. Wenn man ›Korea‹ sagt, denken manche Leute automatisch an Großmeister Kim Jin Pal, den südkoreanischen Hapkido-Lehrer von Jackie Chan; ich denke an Vincent.
Was ist das Furchtbarste, das Ihnen je zugestoßen ist? Hatte es mit einem Auto zu tun? War es auf einem Schiff? War ein Tier beteiligt? Wenn Sie eine dieser Fragen mit Ja beantwortet haben, wundert mich das nicht. Mit Autos gibt es Unfälle, Boote sinken, und Tiere sind einfach unheimlich.
Warum tun Sie sich nicht den Gefallen, sich von diesen Dingen fernzuhalten?
Vincents Ehefrau heißt Helena. Sie ist Griechin und hat blondes Haar. Es ist gefärbt. Ich wollte eigentlich höflich darüber hinweggehen, dass es gefärbt ist, aber ich glaube, es stört sie nicht, wenn es jemand weiß. Ich glaube, dieser gefärbte Look, bei dem man den Haaransatz sieht, ist sogar beabsichtigt. Was, wenn sie und ich enge Freundinnen wären? Wenn ich mir von ihr etwas zum Anziehen leihen und sie sagen würde: Dir steht es besser, behalt es doch! Wenn ich zu ihr rüberkommen und sie in der Küche trösten müsste nach einem Anruf unter Tränen, und Vincent in die Küche käme und wir sagen würden: Raus hier, das ist ein Gespräch unter Frauen! So etwas habe ich schon im Fernsehen gesehen. Zwei Frauen unterhielten sich über gestohlene Unterwäsche, da kam ein Mann rein, und sie sagten: Raus hier, das ist ein Gespräch unter Frauen! Helena und ich könnten schon deshalb nie Freundinnen sein, weil ich nur halb so groß bin wie sie. Die gleich Großen bleiben lieber unter sich, das schont die Nackenmuskeln. Außer es sind romantische Gefühle im Spiel, da ist der Größenunterschied sexy. Dann bedeutet er: Für dich ist mir kein Weg zu weit.
Wenn Sie traurig sind, fragen Sie sich, warum Sie traurig sind. Dann nehmen Sie das Telefon, rufen jemanden an und erzählen ihm oder ihr, was Ihnen auf diese Frage eingefallen ist. Wenn Sie niemanden kennen, rufen Sie die Vermittlung an und erzählen es ihm oder ihr. Die meisten Menschen wissen nicht, dass die Vermittlung zuhören muss, dazu sind die gesetzlich verpflichtet. Und übrigens darf der Postbote Ihr Haus nicht betreten, aber auf öffentlichem Grund und Boden dürfen Sie bis zu vier Minuten lang mit ihm reden, beziehungsweise so lange, bis er gehen will, je nachdem, was zuerst kommt.
Vincent war auf der gemeinsamen Terrasse. Ich erkläre Ihnen das mit der Terrasse. Sie wird gemeinsam genutzt. Wenn man die Terrasse sieht, denkt man, sie sei nur für Helena und Vincent da, weil deren Hintertür auf die Terrasse führt. Aber als ich einzog, sagte der Hausbesitzer, die Terrasse sei ebenso für die obere wie für die untere Wohnung da. Ich wohne oben. Er sagte: Genieren Sie sich nicht, sie zu benutzen, denn Sie zahlen die gleiche Miete. Allerdings weiß ich nicht, ob er auch Vincent und Helena gesagt hat, dass die Terrasse zur gemeinsamen Nutzung vorgesehen ist. Ich habe gelegentlich versucht, Besitzansprüche geltend zu machen, indem ich etwas unten liegen ließ, meine Schuhe zum Beispiel, einmal auch einen Osterwimpel. Außerdem versuche ich, haargenau so viel Zeit auf der Terrasse zu verbringen wie sie. So weiß ich, dass niemand übervorteilt wird. Jedes Mal, wenn ich sie da draußen sehe, vermerke ich es im Kalender. Bei der nächsten Gelegenheit, wenn die Terrasse leer ist, setze ich mich dort hin. Dann streiche ich die Markierung aus. Manchmal bin ich im Rückstand und muss gegen Monatsende sehr lange draußen sitzen, um aufzuholen.
Vincent war auf der gemeinsamen Terrasse. Ich erkläre Ihnen das mit Vincent. Er ist das Musterbeispiel eines ›neuen Manns‹. Sie haben vielleicht den Artikel über den ›neuen Mann‹ in der Zeitschrift True vom letzten Monat gelesen. Der neue Mann steht zu seinen Gefühlen, noch mehr als eine Frau, und der neue Mann weint. Der neue Mann will Kinder bekommen, er sehnt sich danach, Kinder zu gebären, und wenn er weint, dann manchmal deshalb, weil er das nicht kann. Wo sollte da auch ein Baby herauskommen? Der neue Mann ist hingebungsvoll, er gibt immer mehr, als er kriegt. So ist Vincent auch. Einmal habe ich gesehen, wie er Helena auf der gemeinsamen Terrasse massierte. Eine Ironie, denn eigentlich müsste sich eher Vincent massieren lassen. Er leidet unter einer leichten Form von Epilepsie. Mein Vermieter hat es mir erzählt, als ich einzog, eine Sicherheitsvorkehrung. Neue Männer sind oft nicht sehr robust, außerdem ist Vincent Art Director, was ganz typisch ›neuer Mann‹ ist. Er hat mir das einmal erzählt, als wir zufällig zur gleichen Zeit aus dem Haus gingen. Er ist Art Director bei einer Zeitschrift namens Punt. Das ist ein ungewöhnlicher Zufall, denn ich bin Abteilungsleiterin in einer Druckerei, und manchmal drucken wir auch Zeitschriften. Punt drucken wir nicht, aber wir drucken ein Magazin mit einem ähnlichen Namen, Positiv. Eigentlich ist es eher eine Art Newsletter. Für Menschen, die HIV-positiv sind.
Sind Sie wütend? Boxen Sie in ein Kissen. War das befreiend? Kein bisschen. Heutzutage ist man zu wütend, als dass es mit Kissenboxen getan wäre. Vielleicht versuchen Sie es mal mit Stechen. Nehmen Sie ein altes Kissen und legen Sie es auf den Rasen vor Ihrem Haus. Stechen Sie mit einem großen, spitzen Messer darauf ein. Immer wieder. Stoßen Sie so fest zu, dass die Klinge in den Boden fährt. Stoßen Sie zu, bis nichts mehr von dem Kissen übrig ist und Sie wieder und wieder in die Erde stechen, als könnten Sie die Erde dafür umbringen, dass sie sich weiterdreht, als wollten Sie sich dafür rächen, dass Sie Tag für Tag auf diesem Planeten leben müssen, mutterseelenallein.
Vincent war auf der gemeinsamen Terrasse. Ich lag bei der Terrassenbenutzung bereits im Rückstand, daher machte es mich etwas unruhig, ihn so spät im Monat dort zu sehen. Dann kam mir eine Idee: Ich könnte mich ja zu ihm setzen. Ich zog Bermudashorts an, setzte die Sonnenbrille auf und rieb mich mit Sonnencreme ein. Es war zwar schon Oktober, aber ich fühlte mich noch sommerlich. Ein sommerliches Tableau schwebte mir vor. Doch in Wirklichkeit war es recht windig, und ich musste zurücklaufen, um mir einen Pullover zu holen. Ein paar Minuten später lief ich noch mal zurück, um mir eine lange Hose anzuziehen. Schließlich setzte ich mich auf der gemeinsamen Terrasse neben Vincent in einen Liegestuhl und sah zu, wie die Sonnencreme durch meine Kakihose sickerte. Er sagte, den Geruch von Sonnencreme habe er schon immer gemocht. Das war eine sehr taktvolle Art, auf meine missliche Lage einzugehen. Der neue Mann, das ist ein Mann mit Taktgefühl. Ich fragte ihn, wie es bei Punt liefe, und er erzählte mir eine lustige Geschichte über einen Zwiebelfisch. Weil wir in derselben Branche arbeiten, musste er mir nicht erklären, dass mit ›Zwiebelfisch‹ ein typografischer Fehler gemeint ist. Wäre Helena nach draußen gekommen, hätten wir aufhören müssen, uns in unserem Fachchinesisch zu unterhalten, damit sie uns versteht, aber sie kam nicht heraus, weil sie noch nicht von der Arbeit zurück war. Sie ist Arzthelferin – kann sein, dass es dasselbe wie Krankenschwester ist, oder auch nicht.
Ich stellte Vincent weitere Fragen, und seine Antworten wurden immer länger, bis sie sozusagen Reisehöhe erreicht hatten und ich nicht mehr fragen musste, er redete einfach drauflos. Das war unerwartet, so als fände man sich am Wochenende plötzlich im Büro wieder. Was hatte ich hier verloren? Wo war für mich Ein Herz und eine Krone? Wo war mein Amerikaner in Paris? Es war dasselbe wie immer, ein Amerikaner in Amerika. Schließlich machte er eine Pause und blinzelte in den Himmel, und ich nahm an, jetzt dächte er sich die perfekte Frage für mich aus, eine fantastische Frage, die mich wirklich fordern würde, für die ich mein gesamtes Wissen über mich, über Mythologie und unsere schwarze Erde zurate ziehen müsste. Aber er machte die Pause nur, um zu unterstreichen, was er gerade gesagt hatte, nämlich, dass die Panne mit dem Titelbild nicht seine Schuld gewesen sei. Dann stellte er mir zu guter Letzt doch eine Frage. Er fragte: Ob ich fände, es sei seine Schuld gewesen, nach allem, was er mir gerade darüber gesagt habe? Ich schaute zum Himmel, nur so, um zu wissen, wie das ist. Ich tat so, als zögerte ich nur, um ihm dann von dem heimlichen Glücksgefühl zu erzählen, das ich in meinem Herzen berge, während ich warte und warte, immer darauf warte, dass jemand zur Kenntnis nimmt, dass ich morgens aufstehe, vermeintlich ohne einen Lebenssinn zu haben, aber ich stehe trotzdem auf, und das nur wegen dieses heimlichen Glücks, der Liebe Gottes, in meinem Herzen. Ich wandte den Blick vom Himmel nach unten in seine Augen und sagte: Es war nicht Ihre Schuld. Ich vergab ihm das Titelbild und alles andere auch. Dass er bis jetzt noch kein ›neuer Mann‹ war. Dann verfielen wir in Schweigen. Er stellte mir keine weiteren Fragen. Ich war dennoch glücklich, dort neben ihm zu sitzen, wenn auch nur, weil ich an die meisten Menschen sehr, sehr geringe Erwartungen habe. Und für mich war er nun einer mehr davon geworden.
Dann kippte er vornüber. Mit einer abrupten Bewegung klappte er in einem gar nicht menschlich wirkenden Winkel nach vorn und blieb so. Dieses Verhalten entsprach weder dem der meisten Menschen noch dem des ›neuen Manns‹; so etwas würde man eher bei einem alten Mann erwarten, einem älteren Mann. Ich sagte: Vincent, Vincent. Ich schrie: Vincent Chang! Aber er blieb stumm nach vorne geknickt, den Brustkorb fast auf den Knien. Ich kniete mich hin und sah in seine Augen. Sie waren offen, aber geschlossen wie ein Geschäft nach Ladenschluss, das gespenstisch aussieht ohne Licht. Erst jetzt, nachdem das Licht erloschen war, sah ich, wie hell er noch im Moment zuvor gestrahlt hatte, sogar in seiner Selbstsucht. Und mir kam der Gedanke, True könnte falschgelegen haben. Vielleicht gibt es den ›neuen Mann‹ gar nicht. Vielleicht gibt es nur die Lebenden und die Toten, und alle Lebenden verdienen einander und sind einander ebenbürtig. Ich drückte gegen seine Schultern, um ihn wieder im Stuhl aufzurichten. Ich wusste nichts über Epilepsie, hatte aber mehr Zuckungen erwartet. Ich strich ihm die Haare aus dem Gesicht. Ich hielt meine Hand unter seine Nase und spürte sanfte, regelmäßige Atemzüge. Ich presste meine Lippen an sein Ohr und wiederholte flüsternd: Es ist nicht deine Schuld. Das war vielleicht wirklich das Einzige, was ich je zu jemandem sagen und von jemand anderem hören wollte.
Ich zog meinen Liegestuhl heran und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Und obwohl mich dieser epileptische Anfall unter meiner Obhut wirklich ängstigte, schlief ich ein. Warum tat ich etwas so Riskantes und Unangemessenes? Ich würde gerne glauben, dass ich es gar nicht selbst tat, sondern dass es mir geschah. Ich schlief und träumte, Vincent schöbe langsam seine Hände unter mein Shirt, während wir uns küssten. Die Krümmung seiner Hände sagte mir, dass meine Brüste klein waren. Größere Brüste hätten einen weniger spitzen Winkel erfordert. Er hielt sie, als hätte er das schon lange tun wollen, und plötzlich sah ich die Dinge, wie sie wirklich waren. Er liebte mich. Er war ein komplexer Mensch mit vielschichtigen, aufwallenden Emotionen, einige davon spiritueller, andere eher peinigend weltlicher Natur, und er war für mich entbrannt. Diese komplizierte Lebensflamme war mein. Ich hielt sein glühendes Gesicht umfangen und stellte ihm die Gewissensfrage.
Was ist mit Helena?
Das ist schon in Ordnung, denn sie arbeitet in der Medizinbranche. Die müssen alles tun, was der Gesundheit dient.
Ja, stimmt, der hippokratische Eid.
Sie wird traurig sein, aber wegen ihres Eids wird sie uns nicht dazwischenfunken.
Bringst du deine Sachen hoch in meine Wohnung?
Nein, ich muss weiter mit Helena zusammenleben, wegen unseres Ehegelübdes.
Euer Ehegelübde? Und was ist mit dem Eid?
Das macht doch nichts. All das ist bedeutungslos neben dem, was zwischen uns ist.
Hast du sie je wirklich geliebt?
Nein, nicht wirklich.
Mich aber schon?
Ja.
Obwohl ich so unscheinbar bin?
Was redest du da, du perfektes Geschöpf?
Du kannst mir ansehen, dass ich perfekt bin?
Es zeigt sich in allem, was du tust. Ich beobachte dich, wenn du deinen Hintern zum Waschen über den Badewannenrand hängst, ehe du ins Bett gehst.
Du kannst mir dabei zusehen?
Jeden Abend.
Es ist nur für den Fall.
Ich weiß. Aber es wird nie jemand in dich eindringen, während du schläfst.
Wie kannst du das versprechen?
Weil ich über dich wache.
Ich dachte, darauf müsste ich bis an mein Lebensende warten.
Von nun an bin ich dein.
Die ganze Zeit? Auch wenn du bei Helena bist und ich nur die kleine Frau ein Stockwerk höher bin, bin ich dann auch noch dein?
Ja, das ist zwischen uns abgemacht, auch wenn wir nie wieder davon sprechen.
Ich fasse es nicht, dass das hier wirklich geschieht.
Und dann war Helena da und schüttelte uns beide. Aber Vincent schlief weiter, darum fragte ich mich, ob er tot war, und wenn ja, ob er die Dinge in dem Traum vor oder nach seinem Ableben gesagt hatte, und was von beidem verbindlicher wäre. Außerdem – hatte ich mich strafbar gemacht? Würde man mich wegen unterlassener Hilfeleistung festnehmen? Ich blickte zu Helena auf. Sie wirbelte vor Betriebsamkeit in ihrer Arzthelferinnenkleidung. So viel Bewegung machte mich benommen. Ich schloss meine Augen wieder und wollte gerade in meinen Traum zurücktauchen, da schrie Helena: Wie lange dauert der Anfall schon? Und: Warum zum Teufel haben Sie geschlafen? Aber sie prüfte mit professioneller Bravour seine Vitalzeichen, und als sie das nächste Mal zu mir sah, wusste ich, dass ich auf diese Fragen nicht antworten musste, denn irgendwie war ich zu ihrer Helferin avanciert, zur Arzthelferinnen-Helferin. Sie befahl mir, in ihre Wohnung zu laufen und eine Plastiktüte zu holen, die auf dem Kühlschrank liege. Ich lief dankbar ins Haus und schloss die Tür.
Die Wohnung der beiden war sehr still. Ich ging auf Zehenspitzen durch die Küche, presste mein Gesicht an das Tiefkühlfach und atmete die vielfältigen Gerüche ihres Lebens. Sie hatten Fotos von Kindern an ihrem Kühlschrank. Sie hatten Freunde, und diese Freunde hatten weitere Freunde geboren. Ich hatte noch nie etwas so Intimes gesehen wie diese Kinderfotos. Ich wollte die Arme heben und die Plastiktüte vom Kühlschrank nehmen, aber ich wollte mir auch jedes einzelne Kind ansehen. Eines hieß Trevor und feierte an diesem Samstag eine Geburtstagsparty. Bitte komm!, sagte die Einladung. Wir werden geWALtigen Spaß haben!, dazu sah man das Bild eines Wals. Es war ein richtiger Wal, ein Foto von einem richtigen Wal. Ich schaute in sein kleines, kluges Auge und fragte mich, wo dieses Auge nun sein mochte. Lebte der Wal und schwamm herum, war er schon vor Langem gestorben, oder starb er vielleicht gerade in dieser Sekunde? Wenn ein Wal stirbt, sinkt er langsam auf den Grund des Ozeans, was einen ganzen Tag dauert. Die ganzen anderen Fische sehen ihn fallen, wie eine riesige Statue, wie ein Haus, aber ganz, ganz langsam. Ich konzentrierte mich auf das Auge. Ich wollte in das Auge hineinlangen, den wirklichen Wal berühren, den sterbenden Wal, und ich flüsterte: Es ist nicht deine Schuld.
Helena schlug die Terrassentür hinter sich zu. Sie presste kurz ihre Brüste gegen meinen Rücken, als sie über mich hinweg nach der Tüte griff, und rannte dann wieder hinaus. Ich drehte mich um und beobachtete sie durch das Fenster. Sie gab Vincent eine Spritze. Er kam zu sich. Sie küsste Vincent, und er rieb sich den Nacken. Ich fragte mich, woran er sich wohl noch erinnerte. Sie saß jetzt auf seinem Schoß und hatte ihre Arme um seinen Kopf geschlungen. Sie schauten nicht auf, als ich vorbeiging.
Das Interessante an Positiv ist, dass HIV darin nie erwähnt wird. Wären da nicht die Anzeigen – Retrovir, Sustiva, Viramune –, könnte man glauben, die Zeitschrift handle davon, positiv zu denken, im Sinne von optimistisch sein. Deshalb ist es meine Lieblingszeitschrift. Alle anderen bauen einen nur auf, um einen dann wieder fertigzumachen, aber die Redakteure bei Positiv wissen, dass man ohnehin schon fix und fertig ist, und dann braucht man wirklich nicht auch noch in einem Psychotest wie »Sind Sie sexy oder nur so lala?« zu versagen. Positiv bringt Tipps, wie man sich besser fühlt, so was wie »Fragen Sie Heloise«. Die machen den Eindruck, als könnte man sie mit links schreiben, doch das denkt man bei guten Ratschlägen immer. Gesunder Menschenverstand und die Wahrheit lesen sich im Idealfall so, als hätten sie keinen Autor, als seien sie geschrieben von der Zeit selbst. In Wirklichkeit ist es sehr schwer, etwas zu schreiben, das einen unheilbar kranken Menschen aufbaut. Zudem hat Positiv da sehr strikte Regeln, man darf seine Ratschläge nicht einfach der Bibel oder einem Buch über Zen entnehmen; man muss sich selbst etwas einfallen lassen. Bis jetzt ist noch kein Vorschlag, den ich eingereicht habe, angenommen worden, aber ich glaube, ich komme der Sache allmählich näher.
Zweifeln Sie am Leben? Fragen Sie sich, ob es überhaupt der Mühe wert ist? Schauen Sie in den Himmel: Er ist für Sie da. Schauen Sie jedem Menschen auf der Straße ins Gesicht: Diese Gesichter sind für Sie da. Und die Straße selbst, der Erdboden unter der Straße und die glühende Kugel aus Feuer unter dem Erdboden: All diese Dinge sind für Sie da. Sie sind genauso für Sie da, wie für alle anderen Menschen. Denken Sie daran, wenn Sie morgens aufwachen und glauben, Sie besäßen nichts. Stehen Sie auf und blicken Sie nach Osten. Und nun lobpreisen Sie den Himmel und lobpreisen Sie das Licht, das jeder Mensch unter dem Firmament in sich trägt. Verunsichert zu sein ist nicht schlimm. Aber seien Sie voll des Lobes.
Das ist die Geschichte, die ich nie erzählen wollte, als ich deine Freundin war. Du hast immer wieder gefragt, und deine Vermutungen waren so gespenstisch und präzise. Habe ich mich aushalten lassen? War Belvedere so wie Nevada, wo Prostitution legal ist? War ich das ganze Jahr lang nackt? Dagegen sah die Realität irgendwann armselig aus. Und mit der Zeit kam die Erkenntnis, dass ich, wenn die Wahrheit sich so hohl anfühlte, wahrscheinlich nicht mehr sehr viel länger deine Freundin sein würde.
Ich wollte eigentlich gar nicht in Belvedere wohnen, ich brachte es nur nicht über mich, meine Eltern um Geld für einen Umzug zu bitten. Es war jeden Morgen ein Schock, wenn mir wieder einfiel, dass ich allein in dieser Stadt lebte, die nicht mal eine Stadt war, so klein war sie. Sie bestand aus Häusern um eine Tankstelle, und etwa eine Meile weiter gab es noch einen Laden, das war alles. Ich hatte kein Auto, ich hatte kein Telefon, ich war zweiundzwanzig, und ich schrieb jede Woche an meine Eltern und verzapfte Geschichten über meine Arbeit beim sogenannten l.i.e.s.-Programm. Wir lasen gefährdeten Kindern vor. Es war ein bundesstaatlich gefördertes Pilotprojekt. Ich konnte mich nie festlegen, wofür die Buchstaben l.i.e.s. eigentlich standen, aber jedes Mal, wenn ich ›Pilotprojekt‹ schrieb, staunte ich ein wenig darüber, dass mir solche Ausdrücke einfielen. ›Frühzeitige Intervention‹ war auch nicht schlecht.
Diese Geschichte wird nicht sehr lang, das Erstaunliche an meinem Jahr in Belvedere ist nämlich, dass so gut wie nichts passierte. Die Menschen in Belvedere glaubten, ich hieße Maria. Ich hatte nie gesagt, ich hieße Maria, aber nachdem es einmal in Umlauf war, überforderte mich die Aufgabe, sämtlichen drei Menschen zu sagen, dass mein Name Melissa war. Diese drei Menschen hießen Elizabeth, Kelda und Jack Jack. Ich weiß nicht, warum zweimal Jack, und bei dem Namen Kelda bin ich nicht ganz sicher, aber es hörte sich so an, und so klang es, wenn ich ihren Namen rief. Ich kannte diese Menschen, weil ich ihnen Schwimmunterricht gab. Darum dreht sich meine Geschichte eigentlich, denn natürlich gibt es in der Nähe von Belvedere keine Gewässer, und Schwimmbäder auch nicht. Sie redeten eines Tages im Laden darüber, und Jack Jack, der mittlerweile tot sein muss, denn er war uralt, sagte, es käme sowieso nicht darauf an, weil er und Kelda nicht schwimmen könnten und darum wahrscheinlich ertrinken würden. Elizabeth war, glaube ich, Keldas Cousine. Und Kelda war Jack Jacks Frau. Sie mussten alle mindestens um die achtzig sein. Elizabeth sagte, sie sei als Kind einen Sommer lang viel geschwommen, als sie zu Besuch bei einer Cousine (offensichtlich nicht Cousine Kelda) war. Ich schaltete mich nur aus dem Grund in das Gespräch ein, weil Elizabeth behauptete, man müsse beim Schwimmen unter Wasser atmen.
Das stimmt nicht, platzte ich heraus. Es waren die ersten Worte seit Wochen, die ich laut aussprach. Mein Herz hämmerte, als bäte ich jemanden um ein Date. Man hält einfach die Luft an.
Elizabeth guckte wütend und sagte dann, das habe sie nicht ernst gemeint.
Kelda sagte, sie würde es nie wagen, die Luft anzuhalten, denn ein Onkel von ihr sei daran gestorben, dass er in einem Luftanhalte-Wettbewerb zu lange die Luft angehalten hätte.
Jack Jack fragte, ob sie das tatsächlich glaube, und Kelda sagte, ja, das glaube ich, und Jack Jack sagte, dein Onkel ist an einem Schlaganfall gestorben, ich weiß nicht, wie du auf diese Geschichten kommst, Kelda. Dann standen wir alle eine Weile schweigend da. Ich freute mich, Gesellschaft zu haben, und hoffte, die Unterhaltung würde weitergehen, was sie auch tat, weil Jack Jack sagte: Sie sind also schon mal geschwommen.
Ich erzählte ihnen, dass ich in der Schule im Schwimmteam gewesen und sogar bei staatlichen Meisterschaften angetreten, dann aber frühzeitig gegen Bishop O’Dowd, eine katholische Schule, ausgeschieden war. Sie schienen sich wirklich sehr für meine Geschichte zu interessieren. Ich hatte es bis dahin nicht mal als Geschichte betrachtet, aber jetzt sah ich, dass die Geschichte im Grunde sehr aufregend war, voller Dramatik, Chlor und anderer Dinge, die Elizabeth und Kelda und Jack Jack nur vom Hörensagen kannten. Es war Kelda, die sagte, sie wünschte, es gäbe ein Schwimmbad in Belvedere, da sie offensichtlich das Glück hätten, eine Schwimmlehrerin in der Stadt zu haben. Ich hatte nie gesagt, ich sei Schwimmlehrerin, aber ich wusste, was sie meinte. Es war ein Jammer.
Dann geschah etwas Seltsames. Ich schaute nach unten auf meine Schuhe und den braunen Linoleumboden, dann dachte ich, ich wette, dieser Boden ist seit einer Million Jahren nicht geputzt worden, und plötzlich war mir zumute, als müsste ich sterben. Aber anstatt zu sterben, sagte ich: Ich kann Ihnen das Schwimmen beibringen. Und ein Schwimmbad brauchen wir nicht.
Wir trafen uns zweimal die Woche in meiner Wohnung. Als sie eintrafen, hatte ich drei Schüsseln mit warmem Leitungswasser nebeneinander auf den Boden gestellt, und gegenüber eine vierte Schüssel, die Schüssel der Lehrerin. Ich tat Salz ins Wasser, weil es sehr gesund sein soll, warmes Salzwasser durch die Nase zu ziehen, und ich mir dachte, sie würden bestimmt versehentlich etwas einatmen. Ich zeigte ihnen, wie man Nase und Mund ins Wasser steckt und wie man seitlich Atem holt. Dann nahmen wir die Beine und schließlich die Arme dazu. Ich gab zu, dass die Bedingungen nicht ideal waren, um Schwimmen zu lernen, aber, machte ich geltend, so trainierten auch die Schwimmer der Olympiamannschaft, wenn gerade kein Becken in der Nähe war. Ja, ja, ja, es war eine Lüge, aber wir brauchten sie, weil hier vier Menschen auf dem Küchenboden lagen und geräuschvoll mit allen vieren strampelten – als wären sie wütend, als wären sie wild geworden, als wären sie enttäuscht und frustriert und scheuten sich nicht, es zu zeigen. Ihrer Freude am Schwimmen musste mit markigen Worten nachgeholfen werden. Kelda brauchte mehrere Wochen, bis sie lernte, ihr Gesicht ins Wasser zu stecken. Das macht nichts, ist in Ordnung!, sagte ich. Wir geben dir für den Anfang ein Schwimmbrett. Ich hielt ihr ein Buch hin. Die Scheu vor der Schüssel ist ganz natürlich, Kelda. Damit sagt dir dein Körper, dass er nicht sterben will. Will er nicht, sagte sie.
Ich brachte ihnen alle Schwimmstile bei, die ich kannte. Schmetterling war einfach unglaublich, so was hast du noch nicht gesehen. Ich dachte, der Küchenboden würde zuletzt nachgeben und sich verflüssigen, und sie würden davonschwimmen, Jack Jack vorneweg. Er war dafür wie geboren, und das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Er robbte tatsächlich über den Fußboden, mitsamt Wasserschüssel und allem. Nach einer Runde durchs Schlafzimmer kam er in die Küche zurückgerudert, verschwitzt und staubbedeckt, und Kelda schaute ihn an, ihr Buch fest in beiden Händen, und strahlte vor Stolz. Komm zu mir hergeschwommen, sagte er dann, doch sie hatte zu viel Angst, und man braucht ja auch enorm viel Kraft im Oberkörper, um an Land herumzuschwimmen.
Ich war eine der Lehrerinnen, die lieber am Beckenrand stehen, als selbst ins Wasser zu gehen, doch ich war ständig gefordert. Ich, darf ich in aller Bescheidenheit sagen, war das Wasser. Ich hielt alles in Bewegung. Ich redete pausenlos, wie eine Aerobictrainerin, und blies in genau bemessenen Intervallen auf der Trillerpfeife, um das Ende des Beckens anzuzeigen. Daraufhin warfen sich alle gleichzeitig herum und schwammen in die entgegengesetzte Richtung. Wenn Elizabeth mal wieder ihre Armarbeit vernachlässigte, rief ich: Elizabeth! Deine Füße sind oben, aber dein Kopf geht unter!, und sie begann, wild mit den Armen zu kraulen und schleunigst wieder auszugleichen. Dank meines akribischen und zupackenden Coachings begannen alle Kopfsprünge in tadelloser Haltung sprungbereit auf meinem Schreibtisch und endeten in einem Bauchklatscher auf meinem Bett. Aber das nur zur Sicherheit. Es waren trotzdem richtige Sprünge, es hieß dennoch, seinen Landsäugerstatus aufzugeben und sich der Schwerkraft in die Arme zu werfen. Elizabeth führte die Regel ein, dass jeder im Fallen irgendein Geräusch machen müsse. Für meinen Geschmack ein bisschen sehr kreativ, aber ich war Neuerungen gegenüber aufgeschlossen. Ich wollte eine Lehrerin sein, die von ihren Schülern lernte. Kelda machte das Geräusch eines stürzenden Baums, eines fallenden weiblichen Baums, wenn man genau sein wollte. Elizabeth gab »ganz spontane Laute« von sich, die immer genau gleich klangen, und Jack Jack sagte Bomben los! Am Ende jeder Trainingsstunde frottierten wir uns alle ab, Jack Jack schüttelte mir die Hand, und Kelda oder Elizabeth ließen mir eine warme Mahlzeit da, beispielsweise Auflauf oder Spaghetti. Das war unsere Abmachung und reichte, dass ich mir keinen anderen Job suchen musste.
Es waren nur zwei Stunden pro Woche, doch alle anderen Stunden orientierten sich an ihnen. Wenn Dienstag oder Donnerstag war, dachte ich morgens beim Aufwachen: Schwimmtraining. An den anderen Tagen dachte ich: kein Schwimmtraining. Wenn ich einen meiner Schüler in der Stadt sah, an der Tankstelle oder vor dem Laden, sagte ich zum Beispiel: Hast du den Kopfsprung geübt? Und dann hieß es: Ich arbeite dran, Coach!
Ich weiß, du kannst dir mich schwer als jemanden vorstellen, den andere Leute ›Coach‹ rufen, aber ich hatte in Belvedere wirklich eine vollkommen andere Identität. Darum war es immer so schwer, mit dir darüber zu reden. Ich hatte dort nie einen Freund und machte auch keine Kunst; ich hatte mit Kunst nichts am Hut. Ich war eher der sportliche Typ. Ich war die Sportskanone schlechthin, ich war Cheftrainerin des Schwimmteams. Wenn ich gedacht hätte, es würde dich überhaupt interessieren, hätte ich es dir früher erzählt, vielleicht wären wir dann noch zusammen. Nun ist es gerade drei Stunden her, dass ich dich und diese Frau im weißen Mantel vor dem Buchladen getroffen habe. Was für ein fabelhafter weißer Mantel. Du bist offensichtlich schon wieder rundum glücklich und hast, was du willst, obwohl unsere Trennung erst zwei Wochen her ist. Ich war mir nicht einmal vollkommen sicher, dass wir uns wirklich getrennt hatten, bis ich dich mit ihr sah. Du scheinst mir unglaublich weit weg, wie jemand am anderen Ufer eines Sees, nicht mehr als ein kleiner Punkt, von dem man nicht sagen kann, ob Mann oder Frau, ob jung oder alt. Wer mir – jetzt? heute Abend? – wirklich fehlt, das sind Elizabeth, Kelda und Jack Jack. Sie sind tot, das weiß ich immerhin sicher. Was für ein kolossal trauriges Gefühl; ich muss wohl die traurigste Schwimmtrainerin aller Zeiten sein.