Res Perrot
Tells Grab
Ein tiefgründiger Fall für Grossenbacher
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Tells Söhne (2014)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2016
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung und Foto: © U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
ISBN 978-3-8392-4916-1
»… dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden …«
In Erinnerung an meinen ganz persönlichen Guru Jean-Jacques Potterat
Der Wind zerrte am rostigen Wellblechdach. Regenwasser sammelte sich unter den undichten Stellen und tropfte in regelmäßigen Abständen vom Dachbalken in den bereitgestellten Eimer neben der Feuerstelle. Es roch nach feuchtem Staub und kalter Asche im einzigen Raum der Hütte. Regen trommelte geheimnisvolle Rhythmen auf die baufällige Überdachung. Das hypnotische Geräusch wirkte beruhigend auf den Knaben, der wach neben seiner Schwester auf dem Schlaflager lag. Müde schloss er die Augen und fiel zurück in einen tiefen Schlaf.
Aufheulende Motoren rissen die Geschwister jäh aus ihren Träumen. Kieselsteine prasselten gegen die mit Blech verkleidete Fassade. Aufgeschreckt durch den ungewohnten Lärm rieben sich die Kinder die verschlafenen Augen und lauschten gespannt in den anbrechenden Morgen hinaus. Mehrere Wagen waren mit hoher Geschwindigkeit am Haus vorbeigerast. Dann war es wieder still. Die Kinder lauschten in den anbrechenden Morgen, konnten aber nichts mehr hören. Es war so still im Dorf, als ob Markttag im Tal unten wäre. So plötzlich wie der Lärm über das kleine Nest hereingebrochen war, so unerwartet schnell war es wieder ruhig. Vom Dorfplatz her vernahmen sie jetzt das Tuckern der leer drehenden Dieselmotoren.
Das Gehör des Jungen war trainiert und er konnte sich die unterschiedlichen Töne und Laute gut merken. Besonders diejenigen, welche irgendwie Gefahr bedeuteten. So hatte er auch gelernt, den Klang verschiedener Motorentypen auseinanderzuhalten. Er wusste sofort, dass das Knattern, welches leise vom Platz herüberwehte, nichts Gutes bedeuten konnte, denn es waren keine japanischen oder südkoreanischen Motoren. Also keine Isuzu oder Toyota, wie sie von den Bauern in der Gegend gefahren wurden. Es waren Triebwerke von Militärfahrzeugen. Er hatte es sofort gewusst, denn er hatte vor einiger Zeit auf der Straße im Tal einen Militärkonvoi vorbeibrausen gesehen und die Motoren, die er jetzt hörte, klangen genau gleich.
Die letzte Maschine wurde ausgeschaltet, sodass wieder Totenstille in der Siedlung herrschte. Eine gespenstische Ruhe schlich durch die Häusergruppe, die akrobatisch am äußersten Rand eines Felsens über der Schlucht klebte. Das Geprassel des Regens auf dem Wellblech und das leise Platschen des Eimers neben dem Herd waren wieder die einzigen Geräusche, die der Junge hören konnte, und er fragte sich, ob er sich vielleicht getäuscht hatte. Angestrengt versuchte er einen fremden, ungewohnten Laut auszumachen. Doch es waren nur die gewohnten Dorfgeräusche zu vernehmen. Krähen stritten auf dem Miststock hinter dem Haus um einen Happen und ein Hund bellte irgendwo. Ein Schaf blökte unglücklich, eine lose Jalousie quietschte in den Angeln und entfernt wurde eine Türe zugeschlagen. Der Junge war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er tatsächlich von vorbeibrausenden Fahrzeugen geweckt worden war. Vielleicht hatte er sich geirrt und je länger er darüber nachdachte, desto unrealistischer erschien ihm der Motorenlärm. Vielleicht hatte ihn etwas ganz anderes aus dem Schlaf geholt? Vielleicht hatte er nur schlecht geträumt?
Angespannt lauschte er noch einmal. Doch außer den regelmäßigen Atemzügen seiner kleinen Schwester, die wieder eingeschlafen war, und den Tropfen im Blecheimer hörte er nichts mehr. Aber die Anspannung blieb.
Der fahle Lichtstreifen, der durch einen Spalt zwischen der mit rohen Brettern schlecht verschlossenen Fensteröffnung, in den kargen Raum drang, zeigte ihm, dass es sehr früh am Morgen war. Er wollte wieder schlafen. Für einige Zeit studierte er die feinen Staubfetzen, die durch den fahlen Lichtstrahl tanzten, dann drehte er sich mit dem Rücken zur Schwester und schloss die Augen. Er musste noch etwas schlafen, bevor er aufstehen, die Hühner versorgen und mit den Schafen und Ziegen zu den Weideplätzen, oben über den Felsen, hinaufklettern musste. Er dachte an das weiße Lamm, das vor zwei Tagen zur Welt gekommen war. Er versuchte sich vorzustellen, wie es auf seinen wackeligen Beinchen neben der Mutter stand, sie mit dem Kopf hartnäckig schubste, um an die Milch zu kommen. Endlich schlief er wieder ein.
Der Junge wurde erneut jäh aus dem Schlaf gerissen. Diesmal waren es Männerstimmen, die zwischen den Häusern zu vernehmen waren. Er konnte sogar einzelne Worte und Gesprächsfetzen verstehen.
»Hadi, hadi be!«, schrie eine Männerstimme.
Er hörte schwere Schritte. Männer rannten die Straße entlang, bevor ein riesiger Lärm losbrach. Es donnerte und rumpelte, dazu ein wildes Stimmengewirr, berstendes Holz, ein Poltern und Hämmern. Immer wieder wurde laut geschrien. Dann brüllte jemand Befehle durchs Dorf, doch der Junge konnte immer nur vereinzelte Wort verstehen.
»… vallahi!«, hörte er eine verängstigt klingende Stimme. Dann brüllte jemand: »Ağz-ın-ı kapat …« Dazwischen machte er kläglich jammernde Frauenstimmen aus. Ein Mann schrie: »… defol! Allah kahret-sin!«
Der Lärm entfernte sich. Plötzlich vernahm er eine klägliche Stimme direkt vor der Hütte: »Rahat bırak beni! … lütfen.«
Der Junge erkannte sie. Es war die von Aras, dem Vetter. Aber warum schrie er so? Obwohl der Bub einzelne Worte hören konnte, verstand er nichts von dem, was vor dem Haus gesprochen, gerufen und geschrien wurde. Denn die Männer, die ins Dorf gekommen waren, brüllten alle in einer fremden Sprache. Er wusste, dass es diese Sprache gab, ebenso verstand er einige Worte, doch war es eine Sprache, die er im Dorf nie oder nur selten zu hören bekam. Aber trotz allem begriff er, was draußen vor sich ging. Es klang nach Angst und Furcht. Es war die Panik in der Stimme seines Vetters, die dem Knaben bange machte. Es klang so, als ob Aras wirklich Angst hatte, ausgerechnet er, der noch nie Furcht gezeigt hatte.
Obwohl er in Decken eingewickelt war, begann er zu zittern. Nach einiger Zeit, in der er sich die Ohren zugehalten hatte, streckte er vorsichtig den Kopf heraus, um zu sehen, wo die Eltern waren. Das Lager, auf dem Mutter und Vater schliefen, war leer. Sofort ergriff ihn Panik. Im Dorf war es wieder ruhig. Er nahm allen Mut zusammen und kroch unter den Tüchern hervor, stützte sich auf die Ellenbogen, um besser sehen zu können. Die Hütte war leer. Hatten sie die Eltern im Stich gelassen? Die Bestürzung schnürte ihm zum Glück die Kehle zu, sonst hätte er wohl laut geschrien und sie womöglich verraten. Auf einmal hatte der Junge begriffen, was geschehen war. Mit den Händen wischte er sich Tränen aus den Augen. Als er wieder etwas klarer sah, entdeckte er die Mutter, die sich hinter dem Herd verkrochen hatte. Vom Vater fehlte jede Spur.
Der Regen hatte etwas nachgelassen und vom Dorfplatz drang wieder Gebrüll herüber. Er versuchte, die einzelnen Stimmen zu unterscheiden. Einige erkannte er wieder. Zum Glück war diejenige des Vaters nicht dabei. Waren sie gekommen, die, vor denen sie im Dorf schon lange gezittert hatten? Der Vater hatte doch immer behauptet, dass sie den Weg bis zu ihnen in die Berge nie finden würden. Doch das stimmte anscheinend nicht. Das wusste er jetzt besser. Sie hatten den Weg, das Dorf und die Männer gefunden. Ein Schrei gellte durch das Morgengrauen! Plötzlich knallte ein Schuss auf dem Dorfplatz. Er hörte, wie eine Frau jämmerlich schrie. Hysterisch. Ein zweiter Schuss krachte. Er konnte den Widerhall von der anderen Talseite hören. Zwischen den Häusern überschlug sich der Explosionslärm. Von der Straße herauf, die ins Dorf führte, knallten nun ganze Salven.
Der Junge hatte sich die Decken wieder über den Kopf gezogen. Seine Schwester strampelte neben ihm. Sie bekam keine Luft und begann zu husten. Verzweifelt presste er ihr die Hand auf den Mund. Er drückte sie schützend an sich. Aus der Ecke, in der die Mutter hockte, drang ein Wimmern zu ihm.
Später an diesem unglücklichen Tag, der Spuk vom frühen Morgen war schon lange vorbei, die Soldaten abgerückt und eine lähmende Ruhe hatte sich über das Dorf gelegt, wagten sich die Bewohner wieder aus den Häusern. Der Regen hatte aufgehört und die Sonne drückte durch die tief hängenden Wolken. Die Dorfbevölkerung stand in kleinen Gruppen, steckte die Köpfe zusammen und unterhielt sich im Flüsterton, als ob die Militärs noch vor Ort wären. Die Kinder hatten sich am unteren Dorfrand versammelt, um das hastig von den Soldaten zugeschüttete Massengrab zu bestaunen. Zwölf Männer und drei Frauen waren verschwunden und niemand wusste, wie viele von den Soldaten verschleppt und wie viele davon hier begraben lagen. Die Angst kroch immer noch um die Häuser und die Kinder starrten stumm auf den Erdhaufen. Die einzige erkennbare Bewegung kam von einer Krähe, die auf dem Grabhügel herumstocherte. Sie hackte mit dem Schnabel in den Erdhaufen und zerrte an einem dicken Wurm. Sonst stand alles still. Alles schien wie eingefroren. Es schien sogar, dass die langsam vorwärtskriechenden Schatten hinter den schmutzigen Häusern blieben, wo sie waren. Die Zeit stand still und zurück blieb eine unerträgliche Trauer und eine unbändige Wut. Die Freiheit war begraben und alles, was den Jungen in diesem Augenblick erfüllte, war sein Stolz, seine Ehre und ein unbändiger Hass.
Freitag, 14. Oktober 2014, Nachmittag
Der Barmann stellt Wachtmeister Grossenbacher ein frisches Bier vor die Nase und wischt kurz mit einem Tuch über die Steinplatte. »Zum Wohl!«
Es ist ein düsterer Nachmittag, der mehr an einen Novembertag erinnert, als an einen stahlblauen Tag im Spätherbst. Der Barmann schaltet das Licht an. Seit Tagesanbruch ist es nie richtig hell geworden und zu allem Überfluss bleibt es für den Rest des Tages kalt und nass. Regenwolken verhüllen den Üetliberg. Der rote Punkt am Sendeturm blinkt unscharf.
Wachtmeister Paul Grossenbacher blickt auf seine Uhr. Halb vier. Jahrelange Erfahrung hat ihn gelehrt, wie man als Staatsbeamter das Wochenende verlängern kann. Zum Beispiel mit dem Besuch der Helvti-Bar. Und fürs Wochenende haben sie größere Pläne. Anna, seine Frau, hat ihn für ein verlängertes Weekend ins Hotel Castell nach Zuoz eingeladen. Damit sie gleich nach seiner heutigen Sitzung Richtung Oberengadin losfahren können, hat sie schon gestern Abend gepackt. Anna wird ihn oben im Balgrist abholen.
Grossenbacher steht schon seit einiger Zeit am Tresen und beobachtet die Regentropfen, welche über die großen Scheiben laufen, und sinniert nach dem zweiten Bier darüber, ob er vor seinem Besuch in der Klinik noch ein drittes bestellen soll. Er überlegt sich, wie es wohl wäre, wenn er dafür kein Geld zahlen müsste und stattdessen der Tauschhandel wiedereingeführt werden würde. Am Morgen hat er in der Zeitung gelesen, dass das Tauschen in vielen Internet-Communities wieder total hip ist. Tauschen hat gewiss auch seine Vorteile, denkt Grossenbacher. Warum sonst gibt es wohl Fernsehsendungen, die ›Frauentausch‹ oder ähnlich heißen.
Aber was könnte er zum Tausch anbieten?
Vielleicht Gauner, Ganoven und Verbrecher?
Ganz fasziniert von diesem Einfall versucht er sich vorzustellen, wie viele Biere wohl ein erwischter Verbrecher wert wäre. Und ob er den Schurken über die Theke schieben müsste, wenn er noch ein drittes Bier bestellen will. Wie viel wohl ein Einbrecher wert ist? Zehn, zwölf Stangen vielleicht? Wenn er jeden zweiten Tag einen Dieb fangen würde, so wäre sein Bierkonsum gesichert. Ein befriedigender Gedanke. Was bekäme er wohl für einen Mörder? Grossenbacher ist überzeugt, dass ein gefasster Mörder mindestens ein Fass Bier wert sein muss. Aber was wäre, wenn eine Ermittlung nun länger dauern würde? Und das geschieht bekanntlich oft. Also, nehmen wir einmal an, denkt er, so zwei Wochen oder so, was ja immer noch schnell ist. Aber würde er während dieser Zeit kein Bier bekommen, weil er eben nicht bezahlen konnte? Müsste er, wenn er den Bösewicht nicht schnell genug ergreifen konnte, kläglich verdursten? Je länger er über diese Theorie nachdenkt, desto klarer wird ihm, dass der Tauschhandel wohl nur zum Nutzen der Verbrecher wäre. Und da es ja sein Job und der des Staates ist, genau gegen diese anzukämpfen, wird sich der Staat sicher hüten, das Tauschgeschäft wiedereinzuführen.
Schmunzelnd leert er die drei Zentimeter Restbier in sich hinein und versucht sich vorzustellen, wie in diesem Fall eine Finanzkrise aussehen würde.
Unvermittelt bricht Grossenbacher in lautes Gelächter aus. Die Barbesucher werfen ihm mehr als erstaunte Blicke zu.
»Man stelle sich das einmal vor«, prustet Grossenbacher los und kann sich kaum beruhigen. Wenn alle Gauner hinter Gitter gebracht sind und keiner mehr auf der Straße herumlaufen würde, so ergäbe sich sozusagen eine Verknappung des Geld-, sprich des Tauschflusses. Dies wiederum würde die Zinsen für ein Verbrechen in die Höhe schnellen lassen. Es ginge immer so weiter. Es würde eine Blase entstehen. Sie würde immer größer und größer bis zur Explosion. Was dann wiederum zu einer Negativspirale in den Geld- oder Tauschmärkten führen würde, die alles um sie herum mit sich reißen, bis schlussendlich die Weltwirtschaft in Trümmern am Boden liegen würde. Grossenbacher kommt zum Schluss, dass alles, was er von Wirtschaft versteht, sich hier vor ihm auf dem Tresen abspielt: Der Wirt schafft das Bier heran!
»Kann ich noch eine Stange haben?«
Der Wachtmeister dreht sich von der Theke weg, während er darauf wartet, dass der Wirt ein frisches Bier bringt, und stützt sich in klassischer Wildwestmanier mit beiden Ellenbogen auf die Bar. Etwas gelangweilt mustert er die Gaststube. Sein Blick fällt auf den kleinen runden Tisch unter der geschwungenen Holztreppe, die quer vor dem Fenster in den Essbereich des Restaurants hinaufführt. Wohl als Bestellanimation sind auf dem Tischchen leere Rotweinflaschen aufgereiht. Aber wer bestellt eine leere Flasche? Wieder einmal bricht der scharfsinnige Polizist in ihm durch. Er schafft es einfach nicht, auch sein Hirn ins Weekend zu schicken. Wie eben jetzt, wenn er die dicke Staubschicht auf den Flaschen betrachtet, die sowieso mehr Lust auf Bier macht. Der Treppenabsatz endet neben dem Windfang. Noch weiter im Raum hängen große, mit Stuckatur verzierte Lampenschirme und beleuchten besonders kleine Tische. Den Wänden entlang angeblich moderne, darum unbequeme niedrige Lounge-Möbel. Auch vor den großen Fenstern zur Sihlbrücke hinaus sind diese Yogamatten aufgereiht. Durch die verspritzten Scheiben kann man die sich gegeneinander verschiebenden Trams und den stehenden Verkehr beobachten. Über die Dächer der Autokolonne hinweg erkennt man durch den Regenschleier kaum das kleine Restaurant, das jedes Mal, wenn man hinguckt, anders heißt. Einmal Tramstation, dann Bubu und im Augenblick Helvti-Diner. Auch wenn sich der Name dauernd ändert, sieht es aus wie eine alte Tankstelle. Und dann erblickt Grossenbacher einen Mann, der, so scheint es, ihn ebenso anstarrt wie er ihn.
Ein hagerer, rauchender Mann mit im Wind flatterndem weißem Bart und fast noch helleren aber ebenso langen Haaren. Er steht an die Wand gelehnt unter dem Vordach der alten Tramstation und glotzt ihn ungeniert an. Die abgetragenen Kleider passen nicht so recht zu dieser Stadt, in der es mehr Kleidergeschäfte als Einwohner gibt. Und noch weniger zur Jahreszeit. Und dann erkennt Grossenbacher den Alten wieder, der beinahe seinen Zigarettenstummel frisst. Es ist Saxer, ein stadtbekannter Clochard. Und mit dem Erkennen tauchen auch die passenden Bilder wieder auf. Bilder, die mit dem bärtigen Alten und mit seinem anstehenden Besuch im Balgrist zu tun haben. Der Film läuft beängstigend schnell rückwärts und stoppt abrupt bei einer Szene, Tage bevor Grossenbacher vor vier Jahren Saxer kennengelernt hat.
Es war an einem Tag, genauso verregnet wie heute, nur dass inzwischen vielleicht drei oder vier Jahre vergangen sind. Vielleicht waren es auch fünf, Grossenbacher ist nicht so gut im Rechnen. Damals hatte es wie heute vom frühen Morgen an ununterbrochen geregnet. Wachtmeister Paul Grossenbacher von der Kriminalpolizei des Kantons Zürich stand, wenn auch nicht in der John-Wayne-Stellung, doch ebenso wie heute, seit einiger Zeit am Tresen der Helvti-Bar und beobachtete das Regentropfenrennen an den großen Scheiben. Er wunderte sich darüber, dass die einen aufprallten und gleich auseinanderspritzten und die anderen, nachdem sie auf dem Glas auftrafen, in langen dünnen Fäden nur der Schwerkraft folgten. Grossenbacher fragte sich, wer diese Entscheidung traf? Den Wasserperlen war das ziemlich egal und so schmierten sie in Bächen über das Glas, sodass der Verkehr auf dem Stauffacherquai aussah wie zähflüssiges Gel. Die riesigen Buchstaben des OBER-Schriftzuges auf dem Dach des Swiss Casinos an der Gessnerallee drüben konnte man nur erahnen. Dumpf durchdrang das Glockengeläut der St.-Jakobs-Kirche das Rauschen vor der Tür. Es war genau 16 Uhr. Grossenbacher hatte an diesem Nachmittag ausnahmsweise etwas früher Feierabend gemacht und versuchte, sich nach dem zweiten Bier darauf zu konzentrieren, ob er noch ein drittes bestellen sollte.
Bea Pelli parkte das Dienstfahrzeug vor der Helvti-Bar auf dem Trottoir und schaltete gewissenhaft die Warnblinkanlage ein. Durch das Seitenfenster konnte sie ihren Chef am Tresen stehen sehen. Unbeweglich und starr. Eine eingefrorene Bewegung. Genau wie die wilde Sammlung halb fertiger Gipsfiguren, welche sie neulich durch das offene Tor in einem Hinterhof an der Badenerstrasse erspäht hatte. Polizeigefreite Bea Pelli wartete eine Minute. Es passierte nichts. Die Gipsfigur am Tresen bewegte sich nicht. Sie warf einen Blick in den Innenspiegel und zwängte eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. Dann schaltete sie den Polizeifunk ein. Es war nur das Rauschen aus dem Orbit zu hören, darum drehte sie die Lautstärke aufs Minimum zurück. Im Außenspiegel sah sie den 2er am Stauffacher losfahren. Die Ampeln an der Kreuzung schalteten auf Rot. Ein Coop-Lastwagen bog in die Kasernenstrasse ein und eine Frau versuchte mit einem Regenschirm sich und den Kinderwagen, den sie vor sich herschob, trockenzuhalten. Pelli betätigte den Scheibenwischer und spähte wieder durchs Schaufenster in die Bar. Die Szene an der Theke hatte sich nicht verändert. Grossenbacher stand nach wie vor mit dem Rücken zum Ausgang. Nicht einmal die Hand mit dem halb vollen Bierglas hatte sich verschoben.
»Was ist denn jetzt schon wieder?« Grossenbacher grunzte in das Bierglas vor seinem Gesicht und nahm einen kräftigen Schluck, als ob er das Gesehene damit gleich wieder herunterspülen könnte. In der Spiegelung im Eiskübel auf der Theke hatte er einen gestreiften Dienstwagen entdeckt, der auf dem Gehsteig parkte und mit der Warnblinkanlage Aufmerksamkeit auf sich zog. Aus Erfahrung wusste er, das konnte nichts Gutes bedeuten. Stur schaute er darum in die der Eingangstür entgegengesetzte Richtung. Draußen hupte es. Grossenbacher ignorierte auch alle weiteren Versuche des Streifenwagens die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und starrte geradeaus auf die Regale mit den aufgereihten schottischen Köstlichkeiten. Nur nichts anmerken lassen, vielleicht ließ sich so das drohende Unheil, das vor der Tür lauerte, abwenden. Er begann die Flaschen zu zählen und wusste genau, dass nur Pelli, seine Assistentin, so lange im Wagen ausharren konnte.
Sich nichts anmerken lassen, war eine bewährte Technik, denn es wäre nicht das erste Mal, dass ihn eine Frau wegen seiner passiven Haltung einfach stehen lassen, ja sogar vergessen würde. Aber, wie es schien, hatte er sich in der Detektivin getäuscht.
»Ist er krank?«, fragte Pelli das Lenkrad. Grossenbachers Assistentin drückte ein weiteres Mal auf die Hupe und glaubte, ein leichtes Vibrieren in der Wirbelsäule des Wachtmeisters zu erkennen.
Langsam wie ein Bär, der beim Winterschlaf gestört wurde, drehte sich der Wachtmeister in Richtung Tür, um zu sehen, wer es wagte, so rücksichtslos den inneren Frieden von Helvetia zu stören. Als er nichts Verdächtiges zu bemerken schien, führte er bedächtig das Bierglas zum Mund. Statt zu trinken, starrte er mit trüben Augen so lange durch den Glasboden, bis er den Dienstwagen vor der Tür wahrnahm.
Durch die Wasserschlieren auf der Windschutzscheibe glaubte Pelli eine Reaktion in Grossenbachers Gesichtsausdruck zu erkennen und gestikulierte darum wild, um die Dringlichkeit zu unterstreichen. Doch die unregelmäßig ruckelnden Scheibenwischer fegten das Bild immer wieder fort.
Grossenbacher wurde von Bea Pelli aus der Helvti geholt. Aus Mangel an verfügbaren Einsatzkräften hatte der DC Grossenbacher kurzerhand zum Brandtour-Offizier erklärt und Pelli damit beauftragt, den Wachtmeister zu organisieren und zum Einsatzort zu bringen. Ein agT in der Baugrube des Opernhaus-Parkhauses. Pelli, ungeduldig und wie immer sehr kurz angebunden, diskutierte nicht lange, zog den Wachtmeister am Ärmel zum Wagen und chauffierte ihn für den ›Ersten Angriff‹ der ›Brandtouristen‹ durch den strömenden Regen zum Bellevue hinüber.
Dienstag, 10. April 2007
»Michi, du machst echt Probleme!« Er redete mit sich selbst und wusste dabei ganz genau, dass eben dieser Michi an allem schuld war. Oder nicht? Ohne weiter darüber nachzudenken, gab er sich die Antwort gleich selber: »Ich mache Probleme? – Nein, ich bin das Problem!«
Aber dieser Michi war schuld, dass es so weit gekommen war, wie es gekommen war. Und er war auch schuld daran, dass er jetzt diese üble Sache erledigen, sozusagen das Problem aus der Welt schaffen musste. Genauso war dieser Michi schuld, dass er machen musste, was er machen musste. Michi war ganz einfach an allem schuld. Das machte alles einfacher. Und er wusste auch, dass dieser Michi sie dazu gebracht hatte, sich von ihnen und von ihm abzuwenden.
»Aber wer bist du, Michi?« Der Mann hinter dem Steuer sprach jetzt mit der Windschutzscheibe seines parkierten Wagens. Er wusste es nicht, denn er hatte Michi noch nie gesehen. Nie hätte er gedacht, dass es so weit kommen würde. Er hatte angenommen, sogar fest daran geglaubt, dass sie die strengen Sitten zurückgelassen oder wenigstens überwunden hätten. Man hatte lange gewarnt und versucht, mit Argumenten und gutem Zureden etwas zu erreichen. Doch sie wollte nicht hören oder er hatte sich getäuscht.
Sie alle hatten sich getäuscht.
Wütend schlug er mit der Faust aufs Lenkrad.
Man kann Ehre nicht zurücklassen, da wo sie herkamen. Ehre besaß man oder eben nicht. Man konnte sie beleidigen, verteidigen, aber nie zurücklassen. Und das, was er jetzt machen musste, war Ehrensache, so hatte man es ihm erklärt.
So hatte man es ihm auch immer wieder gepredigt, bevor er den Auftrag erhalten hatte, diese Besorgung für die Familie zu erledigen. Und er wusste irgendwie, dass es richtig war, obwohl Zeit und Ort falsch waren oder sich zumindest verändert hatten.
Lange hatte er darüber nachgedacht, wie die Sache zu erledigen, zu lösen war. Aber je länger er darüber gebrütet hatte, desto aussichtsloser erschien es ihm, sich ihrer erfolgreich entledigen zu können. Doch dann hatte sie ihn eines Tages in ihr Geheimnis eingeweiht und er wollte und konnte es zuerst gar nicht glauben. Er tobte, drohte und schimpfte. Beinahe hätte er auch zugeschlagen. Erst etwas später war ihm klar geworden, dass sie ihn nicht angelogen hatte. Diese Einsicht bestärkte seinen Entschluss.
»Ich muss es tun!«
Regentropfen klatschten auf die Frontscheibe und trübten die Sicht auf die Lichter der schlafenden Stadt. Er betätigte den Scheibenwischer.
Er musste seinen Auftrag so schnell wie möglich erledigen. Jedoch durfte es nicht ganz endgültig sein, so viel war ihm klar. Er wollte sich noch eine Hintertür offen lassen, denn man wusste nie, was sich wie entwickeln würde. Aber das ging nicht allein, auch das war ihm klar. Er brauchte Hilfe. Aber wen konnte er ins Vertrauen ziehen? Wer kam für diese heikle Aufgabe infrage? Er hatte keine Ahnung.
Hin und wieder plagten ihn Zweifel. Durfte er das überhaupt tun? War das richtig? Er wusste, dass Recht, Plicht und Ehre für sein Vorhaben sprachen, und er wusste, dass Recht und Pflicht nicht überall das Gleiche waren. Er war es der Familie und der Tradition schuldig. Trotzdem hatte er ein mulmiges Gefühl, das sich noch verstärkte, je näher der Termin rückte.
Ging es nicht auch um ihn? Um sein Leben? Um seine Ehre? Seine Zukunft? Und das war dann doch etwas ganz anderes. Das Geständnis hatte für ihn die Wende gebracht. Die Bedenken waren einfach verschwunden.
Vor ein paar Tagen war ihm dieser Mann begegnet. Ein Kälteschauer hatte ihn durchfahren, als der kräftige Mann mit der ins Gesicht gezogenen Kapuze ihn angesprochen hatte. Nur das unrasierte Kinn lugte unter der Kopfbedeckung hervor. Und wenn der Mann sprach, musste er sich konzentrieren, um etwas aus den nasalen Lauten herauszufiltern.
»He, Mann!«, so hatte er ihn angesprochen, und er hatte natürlich nichts verstanden. »He, dich meine ich! Hast du etwas Geld für mich?«, näselte der Kapuzenmann noch einmal.
»Wieso sollte ich?«, gab er zur Antwort, als er endlich begriffen hatte, was der Verhüllte genau von ihm wollte.
»Wenigstens einen Stutz für die Notschlafstelle.«
»Wie kommst du darauf, dass ich Geld für dich habe?«
»Du siehst so aus!«
»Spinnst du oder was?« Er ärgerte sich, dass er überhaupt mit dem Fremden redete.
»Mit all deinen Goldkettchen!«
»Ich habe hart dafür gearbeitet. Geh doch selber arbeiten, verdammt!«
»Kann nicht.«
»Wieso?«
»Ich habe zu tun.«
»Na, dann verdienst du ja auch Geld.«
»Meine Arbeit besteht darin, Geld aufzutreiben.«
»Aha, und jetzt meinst du, dass du für deine Bemühung, mich anzusprechen, einfach mein Geld bekommst?«
»Das sag ich doch gar nicht. Aber der BMW da hinten, der gehört dir, oder?«
»Woher weißt du das?« Langsam wurde ihm der Mann unheimlich.
»Hab’s beobachtet, hab dich gesehen, wie du ausgestiegen bist.«
Er überlegte lange, ob er überhaupt eine Antwort geben sollte, meinte dann lakonisch: »Nebenverdienst!«
»Einfach so?«
»Klar, was meinst denn du!«
»Aha, wenn du schon kein Geld für mich hast, vielleicht hast du einen Job, der etwas einbringt? Weißt du, Nebenverdienst und so!«
Er konnte ihm nicht helfen, denn er war selbst immer wieder auf der Suche. Doch verwickelte ihn der Kapuzenträger in ein einseitiges Gespräch und er erzählte ihm mehr von sich, als er eigentlich wollte.
Als er sich später das Gespräch durch den Kopf gehen ließ, musste er zugeben, dass er überhaupt nichts von dem Fremden erfahren, von sich selbst aber viel preisgegeben hatte. Es schauderte ihn, als er an den Mann dachte. Er wusste nicht genau, warum und weshalb er dem Unbekannten von seiner heiklen Aufgabe erzählt hatte. Er kannte ihn ja nicht und der Kapuzenmann hätte mit der Information zur Polizei gehen oder ihn erpressen können. Doch er hatte es nicht getan. Von Polizei war weit und breit nichts zu sehen. Er hatte sich eben selbst davon überzeugt, als er zur Sicherheit eine Zusatzrunde gefahren war.
Sofort hatte ihm der Fremde seine Hilfe angeboten und auch gleich einen Plan entwickelt, wie sie die Sache sauber und einfach erledigen konnten. Die Bedingung, dass es kein finaler Akt sein durfte, akzeptierte die Kapuze, doch sagte sie auch, dass es deswegen nicht billiger würde. Es würden zusätzliche Unterhaltszahlungen anfallen. Aber die Möglichkeit, alles wieder rückgängig machen zu können, war Bedingung. Denn es bestand eine geringe Chance, so hoffte er jedenfalls, dass sich die Situation ändern würde. Darum versuchte er, möglichst viel Zeit herauszuschinden.
Nachdem sie alles im Detail besprochen und das Finanzielle geregelt hatten, wollten sie die Sache in der Nacht auf einen Montag erledigen, weil dann weniger Leute unterwegs waren und nicht mehr so viel Betrieb am geplanten Ort herrschte. Wieder versuchte er, auf Zeit zu spielen, und er verschob mehrmals den Termin. Sie einigten sich schließlich auf eine Sonntagnacht in drei Wochen.
2.36 Uhr zeigte seine Uhr an, als der Fremde endlich auf der Fahrerseite an die Scheibe klopfte. Sie begrüßten sich mit einem Kopfnicken und machten sich gleich an die Arbeit. Die Gefahr überrascht zu werden, war an diesem hochfrequentierten Ort auch zu dieser frühen Stunde immer noch groß. Trotzdem konnten die Umstände für ihr Vorhaben nicht besser sein. Es hatte vor ein paar Minuten aufgehört zu regnen und dichte Nebelschwaden zogen vom See über den weiten Platz. Er öffnete den Kofferraumdeckel seines Wagens. Ein Absperrgitter, welches er bei einer Baustelle entwendet hatte, wurde aufgeklappt und hinter dem Wagen über dem Gullydeckel aufgestellt. Gemeinsam hoben sie das unförmige Paket aus dem Kofferraum und legten es auf den nassen Asphalt.
Kurz schien es, als ob sich das gut verschnürte Bündel bewegen würde. Verunsichert fragte er sich, ob er sich mit der Dosierung verschätzt hatte, und ging in die Knie, um die Packung zu untersuchen. Blind hatte er dem Fremden vertraut, als er ihm ein kleines braunes Fläschchen in die Hand gedrückt hatte. Auf dem Etikett standen nur die Buchstaben Na-GHB.
»Sei vorsichtig mit dem Zeug«, hatte ihm der Kapuzenmann zugeraunt.
»Was ist das?«
»Keine Ahnung, aber man hat mir gesagt, dass es wirkt.«
»Aber es ist nicht tödlich, oder?« Angst klang in seiner Stimme.
»He, man, hast du Vertrauen?«
»Und was mach ich damit?«, gab er kleinlaut nach.
»Kipp genug von dem Zeug in ein Glas Saft und schau, dass es ausgetrunken wird.«
Und genau so hatte er es auch gemacht.
Beunruhigt starrte er auf das Bündel. Es mussten die Nerven sein.
Der Fremde grunzte.
Von unten herauf starrte er den Mann an. Auch jetzt blieb das Gesicht im Schatten.
Der Fremde grunzte wieder.
Aufgeschreckt zupfte er aus der Innentasche einen verschlossenen Briefumschlag und gab ihn dem Kapuzenmann. Dieser riss den Umschlag auf, vergewisserte sich, dass der Inhalt dem entsprach, was sie abgemacht hatten, und ließ den Umschlag in seiner Kleidung verschwinden. Wieder grunzte er. Und diesmal klang es beinahe freundlich.
Mit einem Stemmeisen machte sich der Kapuzenmann am Dolen-Deckel zu schaffen. Noch bevor er den Fremden zur Vorsicht mahnen konnte, war dieser im offenen Rohr verschwunden. Unbeholfen schob er das Paket an die Öffnung und ließ es an einem Strick befestigt in die Tiefe gleiten. Als er spürte, dass das Bündel unten angekommen war, warf er das Seil hinterher und schob den Deckel in die Halterung zurück.
Der Fremde hatte ihm versichert, dass es reine Ehrensache wäre, dass das Paket nie mehr auftauchen würde, außer wenn er es wiedersehen wollte. Ebenso hatte er ihm geschworen, dass es nichts von dem, was mit ihm passierte, mitbekommen würde.
Er hielt einen Moment inne. Es war hart. Es wollte ihn zerreißen. Endlich fasste er sich wieder, warf das Absperrgitter in den Kofferraum, schmiss den Deckel zu und vergewisserte sich, dass nichts auf der Straße liegen geblieben war. Zur Sicherheit ging er einmal um den Wagen, bevor er einstieg und langsam davonrollte.
Freitag, 14. Oktober 2014, Vormittag
»Was heißt schon Ehre?«, schnauzt Wachtmeister Paul Grossenbacher, der wieder einmal Zeit in einer überflüssigen Wochensitzung vergeudet. Missmutig löst sich sein Blick von den Wassertropfen auf der Fensterscheibe und wandert zurück in die Runde. Die Sitzung ist in seinen Augen überflüssig, weil seit Wochen nichts mehr los ist im Kanton. Denn das miese Wetter scheint den Bösewichten ebenso auf die Unternehmungslust zu drücken wie dem Polizisten. Um dem Tag doch noch etwas Freude abzuringen, übte er sich wieder einmal in einer seiner Lieblingstätigkeiten: Ärgern eines willkürlich ausgewählten Kollegen. Grundlos und einfach so aus Spaß an der Freude. Das derbe Spiel nennt sich Advocatus Diaboli und das Opfer Bea Pelli. Wie er aus Erfahrung weiß, bereitet das Spiel bei ihr immer besonders viel Vergnügen.
»Eben, es ist wie ich gesagt habe«, Pelli reagiert gereizt, »es ist eine Frage der Ehre. Ich sag ja nur, dass diese Scheininvaliden …«
»Und was genau sind denn deine sogenannten Scheininvaliden?«, fällt er ihr ins Wort.
»Scheininvalid ist jemand, der vorgibt krank oder eben behindert zu sein. Jemand, der sich ein ärztliches Attest erschleicht und in der Folge von der Invalidenversicherung eine Rente bezieht, obwohl er eigentlich arbeiten könnte.«
»Und woher willst du wissen, ob sie sich das Attest erschlichen haben oder nicht?«
»Die Versicherungen setzen Privatdetektive ein und lassen Verdächtige überwachen.«
»Eh … aber Detektive sind noch lange keine Ärzte, das sieht man auch bei uns, Frau Doktor.«
»Ach hör doch auf! Wir sprechen aber jetzt nicht von den Krankheiten, sondern davon, dass jemand, ebenso ein Scheininvalider, keine Ehre haben kann.«
»Aha«, grunzt Grossenbacher überheblich.
»Wer sonst lebt auf Kosten der Allgemeinheit? Eben nur ein Ehrloser. Ich glaube, nur wer keine Ehre hat, wird zum Schmarotzer, ob dir das nun passt oder nicht.«
»Und was ist denn Ehre?«
»Nun …« Pelli sucht nach passenden Worten.
»Kann man das aufs Brot streichen?«
»Ach, hör doch auf!«
»Nein, du hast angefangen mit der Ehre, nicht ich! Aber wie ich aus deinem Zögern heraushöre, hast du keine Ahnung, was Ehre ist. – Ehre ist nicht etwas, an das man nur fest glauben muss und sie trifft ein. Nein, nein, meine Liebe! Dafür kannst du lange beten. Ehre fällt einem nicht einfach in den Schoß. Ehre ist eine Lebenshaltung, Ehre ist etwas, wofür man kämpfen muss. Aber was du meinst, ist Anstand, nicht Ehre. Und Anstand kann man lernen, Ehre nicht …«
»Was hat denn das wieder mit Glauben zu tun?«, fährt Pelli aufgebracht dazwischen.
»So, jetzt lasst es gut sein mit eurer Zankerei!« Dienst-Chef Lüthi räumt seine Unterlagen zusammen und will endlich die Sitzung beenden.
Grossenbacher hält zum Zeichen, dass er noch nicht fertig ist, die Hand hoch. »Mit Glauben hat das eben nichts zu tun, da hast du völlig recht. Ehre ist die Konsequenz der eigenen Haltung und nicht des Glaubens. Man muss die richtigen Konsequenzen ziehen, das braucht Motivation, Mut und Tiefe, aber keinen Glauben. Man kann sie nur mit Taten begründen. Wenn sich die Gelegenheit bietet, muss man sie ergreifen, das heißt so viel wie: Ehre entsteht aus entsprechender Handlung. Aber noch einmal zurück zu deiner Behauptung. Ehre ist weder gut noch böse. Sie ist weder schwarz noch weiß. Gut, man hat sich daran gewöhnt, mit dem Wort Ehre den Einsatz von Gewalt zu beschönigen. Die Mafia, zum Beispiel, bezeichnet sich als ›ehrenwerte Gesellschaft‹. Dabei ist Ehre etwas Flüchtiges, eine flüchtige Substanz. Ehre ist ein ewiger Prozess, man hat sie oder eben nicht.«
»Aber«, Bea Pelli lässt nicht locker, »man muss doch ein Zeichen gegen diese Schmarotzer setzen!«
»Was soll denn das wieder bedeuten? Willst du alle brandmarken, die man dem Erschleichen von nicht zustehenden finanziellen Leistungen verdächtigt?«
»Ich finde einfach, dass dieses Verhalten gegen Treu und Glauben verstößt.«
»Was hat das jetzt mit Glauben zu tun?«
»Wir leben hier in einer westlichen Gesellschaft mit christlichen Werten.«
»Warum denn das? Ich habe den Verdacht, du bist der Meinung, dass diese Schmarotzer, wie du sie nennst, eh alle Muslime oder wenigstens keine Schweizer sind, denn ein echter christlicher Schweizer würde so etwas nie tun. Hab ich recht?«
»Wir leben hier, und das ist unser Land. Wer hier herkommt, sollte sich anpassen und integrieren. Wer das nicht akzeptieren kann, hat nichts unter unserem Schweizerkreuz zu suchen. Und wenn du so direkt fragst: Ja, ich finde, schmarotzen ist nicht christlich.« Bea Pelli fühlt sich von Grossenbacher in die Enge gedrängt, missverstanden und bloßgestellt. Sie ärgert sich gewaltig, auch darüber, dass sie ihm nicht Paroli bieten kann, und sucht beinahe verzweifelt nach einem Ausweg.
Aber auch Grossenbacher hat sich in Fahrt geredet. Nachdem die Ereignisse der vergangenen Woche und die für das anstehende Wochenende zu erwartenden in fünf Minuten erledigt und durchbesprochen waren, hatte das Gespräch im Sitzungszimmer eine merkwürdige Wendung genommen. Die Diskussion hatte sich von Zeichen, die am Tatort hinterlassen wurden, über die Zeichendeutung und die Symbolik hin zur Bedeutung von Zeichen entwickelt. Man sprach über die emotionale Symbolkraft von Zeichen, und als Beispiel dafür wurde das Kreuz Christi erwähnt. Ab da redete man plötzlich über christliche Grundwerte, über Vergebung, Brüderlichkeit und Ehre, und dass Schmarotzer von all dem nichts hätten.
Und je länger über das Thema gesprochen wurde, desto mehr erhitzten sich die Gemüter. Für die einen, die an die mystische Kraft von Zeichen glaubten, waren es Zeugen unserer Kultur und folglich deren Symbolik ein überlebenswichtiges Element, das man nicht verleugnen oder ungestraft verspotten durfte. Besonders Detektivin Pelli steigerte sich in eine hitzige Auseinandersetzung mit dem Wachtmeister, der es sichtlich genoss, die Polizistin zu provozieren und sie durch spitze Bemerkungen noch mehr in Rage zu bringen. Denn für Grossenbacher war das ganze Theater um die Symbolik nichts anderes als esoterischer Speck, der einem von Frauen in Batikröcken durch den Mund gezogen wurde.
»Paul, ich will dir ein anderes Beispiel nennen. Was die IS-Kämpfer, wenn sie mit Vorschlaghämmern in den Museen wüten, erreichen, ist doch nichts anderes, als wenn Kinder sich gegenseitig die Sandburgen zerstören. Ein kurzer Aufschrei! Sie wollen mittels Provokation möglichst viel Aufmerksamkeit erregen! Dabei ist es einfach nur barbarisch und zeigt, wie verachtend diese Leute ihrer eigenen Vergangenheit gegenüberstehen.«
»Denkst du? Ich bin überzeugt, dass der IS genau um die symbolische Wirkung weiß, wenn seine Kämpfer die Statuen und Monumente des Gegners zerstören. Denn sie stürzen damit die Sinnbilder einer alten Ordnung.«
»Und wenn schon, kulturverachtend ist es trotzdem!«
»Mag sein, aber ist es nicht das Gleiche wie der Bildersturm, mit dem die Reformatoren in den katholischen Kirchen wüteten? Laut Zwingli, unserem Zürcher Reformator, gehörte religiöse Kunst ins Museum. So unterzog er 1523 das Großmünster von Zürich einer gründlichen Aufräumaktion. Denn man vermutete hinter den bildlichen Darstellungen abergläubischen Götzendienst und somit Ablenkung von Gottes Wort. Darum ließ er alle christlichen Symbole, Kruzifixe und Heiligenstatuen entfernen und übertünchte wertvolle Wandgemälde. Also, ich denke, dass das durchaus eine vergleichbare Aktion ist. Oder«, Grossenbacher beißt kurz auf Zähne, um das Lachen zu verbergen, »wo ist denn deiner Meinung nach der Unterschied zwischen dem Kreuz deiner Christen und dem Firmenlogo von Shell?«
»Grossenbacher, du willst doch nicht behaupten«, schnaubt Pelli mit vor Wut gerötetem Kopf, »dass du zwischen einem Zeichen, welches für einen Viertel der Menschheit das Symbol ihres Glaubens und ihrer Gemeinschaft darstellt, und einem ordinären Firmenlogo keinen Unterschied siehst!«
»Das hast du gesagt«, kontert Grossenbacher, »ich sagte doch nur, dass ein Zeichen genau so viel bedeutet, wie man darin sehen will – oder eben glauben will. Wie du willst. Aber wie ich deiner Reaktion entnehme, gehst du davon aus, dass die Leute lieber gläubig im Gebet verharren, als ihr Auto zu betanken. Gut, dann frage ich dich: Wofür geben die Menschen mehr Geld aus, für den Glauben oder für ihr Auto?«
»Du bist einfach unmöglich«, mischt sich der Dienst-Chef Kaugummi kauend und sichtlich erregt ins Gespräch ein. Die Diskussion fordert auch bei ihm ihren Tribut. Nikotinmangel. Darum drückt Lüthi ein neues Dragee aus dem Nicorette-Blister und steckt es sich in den Mund, bevor er weiterspricht: »Paul, du glaubst ja selber nicht, was du da so daherredest!«
»Wieso denn nicht? Glaubst du nicht, dass es Leute gibt, die dafür beten, dass sich der Tank ihres Wagens wieder füllen mag?«
»Paul, das ist geschmacklos«, entnervt entsorgt Lüthi seinen ausgedienten Nikotinkaugummi.
»Okay, okay! Ich gebe ja zu, dass es ein paar Leute gibt, die freiwillig einen Zehnten ihres Lohnes an ihre Kirche oder Freikirche abgeben, aber alle anderen tanken am Sonntag lieber ihren Wagen, um eine Fahrt ins Grüne zu machen. Und dann fällt mir noch ein, dass man auch in nicht-christlichen Ländern bei Shell Benzin tanken kann. Also hat das Shell-Logo weltweit doch mehr Bedeutung.«
»Du spinnst!«, faucht Pelli. Die Wut drückt ihr die Röte ins Gesicht und die Stimmbänder zusammen.
»Aber das Kreuz ist doch ein heiliges Symbol, das ist gar nicht mit so profanen weltlichen Dingen vergleichbar.« DC Lüthi versucht, Pelli in ihrer Not beizustehen.
»Wie gesagt«, Grossenbacher lehnt sich in seinen Stuhl zurück und verschränkt genüsslich die Arme vor der Brust, »ich meine, das Kreuz des Christentums und die Firmenfarbe Purpur bilden zusammen eine perfekte Corporate Identity, wie man das in Marketingsprache so schön sagt. Aber schlussendlich ist es nichts anderes als ein Zeichen und wie der Begriff sagt, ein Zeichen zur Identifizierung. Und daran ist bestimmt nichts Heiliges.«
»Früher hat man Ketzer wie dich auf dem Scheiterhaufen verbrannt«, schnaubt Pelli über den Sitzungstisch. Sie duckt sich, als wolle sie Grossenbacher an die Kehle springen.
»Warum regst du dich so auf, Bea?« Grossenbacher lehnt sich mit einem bösen Grinsen über den Tisch. »Ich spreche ja nur von dem Zeichen. Zur Religion dahinter habe ich doch gar nichts gesagt. Von mir aus kann jeder glauben, was er will, er soll nur nicht versuchen, mich zu missionieren. Wir reden hier von Zeichen, nicht von Glauben. Da fällt mir noch ein anderer Vergleich ein …«
»Lass es jetzt gut sein, Paul«, nimmt Lüthi Anlauf zu einem weiteren Schlichtungsversuch.
»Nehmen wir doch ein anderes Beispiel.« Grossenbacher beachtet Lüthi nicht weiter, doch in seinen Augen ist kurz ein gefährliches Blitzen zu sehen. »Nehmen wir zum Beispiel die Frauen. Auch sie setzen Zeichen mit ihren geschminkten roten Lippen. Laden sie nicht zum Kusse? Oder ihre Hände. Was bedeuten denn die roten Fingernägel, wenn nicht …?«
»Paul, du bist so etwas von geschmacklos«, unterbricht Lüthi.
»Das ist nur so ein Gedanke, Christian.« Grossenbacher gibt sich jovial. Dann murmelt er mehr zu sich als zu den anderen: »Interessanter Name – aber das muss ich jetzt gleichwohl noch loswerden. Das Symbol des Christentums ist das Kreuz, ja?« Er richtet die Fragen jetzt an Lüthi.
»Ja, schon.«
»Gut. Und du gehst mit mir einig, dass der Gründer dieser Religion, oder Religionsstifter, oder wie man auch immer sagt, ans Kreuz genagelt wurde?«
Lüthi nickt und es ist ihm anzusehen, dass ihm nicht wohl ist in seiner Haut.
»Dann kann man sagen, dass das Kreuz eigentlich ein Folterwerkzeug ist …«
»Ach, was bist du doch für ein Arschloch!« Pelli windet sich auf ihrem Stuhl.
Grossenbacher tut so, als ob er nichts gehört hätte, und fährt weiter: »Also eine Waffe – und das würde heißen, dass das Christentum eine Waffe verehrt.« Pelli will aufbrausen, doch Grossenbacher lässt sie nicht zu Wort kommen: »Eigentlich wollte ich dies gar nicht sagen, sondern man stelle sich vor, die Römer hätten Jesus auf einen Kürbis genagelt, dann würden wir heute …«
Krachend fällt die Sitzungszimmertür ins Schloss. Pelli hat wütend das Zimmer verlassen.
Immer noch wütend über Grossenbacher und seine bodenlosen Unverschämtheit kommt Pelli am Nachmittag nach der missratenen Wochensitzung ins Büro zurück. Die Auseinandersetzung mit dem Wachtmeister hat ihr den Appetit verdorben und so war sie statt zum Mittagessen in die Muckibude am Stauffacher gegangen, um sich an den Gewichten abzureagieren. Gerade wie sie mit immer noch gerötetem Kopf, diesmal kommt die Farbe von der Anstrengung, die Treppe hochsteigt, wird sie von Grossenbacher beinahe überrannt. Wie ein Berserker stürmt er aus seinem Büro und stolpert an ihr vorbei, den Korridor hinunter Richtung Herrentoilette.
Pelli weiß nicht warum, aber sie folgt Grossenbacher bis zur angelehnten Toilettentür, welche wegen eines defekten Drückers nicht richtig schließt. Durch den Spalt horcht sie ins Innere. Eine ganze Weile bleibt es still, dann hört sie ein leises Stöhnen. Darauf folgt, auch dieses Geräusch glaubt sie eindeutig zuordnen zu können, ein Furz. Dann bleibt es still, bis ein anderes Geräusch aus der Toilette dringt. Nach einer Weile drückt Pelli von Neugierde getrieben die Tür zur Herrentoilette auf und steckt den Kopf hinein. Der für eine Toilette ungewöhnliche Laut ist jetzt stärker. Die Töne können nicht menschlichen Ursprungs sein, so scheint es ihr, als sie entschlossen in den gekachelten Toilettenraum schlüpft. Und was sie da entdeckt, zaubert sogar ein Lächeln auf ihre Lippen.