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Haupttitel

Erstmals erschienen 2008 unter dem Titel Gehet hin und tötet.

Der Autor

Claude Cueni, geboren 1956 in Basel. Nach dem frühzeitigen Abbruch der Schule reiste er durch Europa, schlug sich mit zwei Dutzend Gelegenheitsjobs durch und schrieb Geschichten. Mittlerweile hat er über fünfzig Drehbücher für Film und Fernsehen sowie Theaterstücke, Hörspiele und Romane verfasst, u.a. den Erfolgsroman Der Henker von Paris.

www.cueni.ch.

www.lenos.ch

ISBN EPUB-E-Book 978 3 85787 523 6

Der Bankier Gottes

VATIKANSTADT  »Es ist nur ein Gerücht«, versuchte Luigi Albertini den alten Mann zu beschwichtigen. Doch jetzt war es zu spät. Er hatte es ausgesprochen, dieses Gerücht, und nun saß der ausgemergelte Greis mit dem schütteren Haar wie eine Mumie in seinem Barocksessel. Er erhob mühsam die rechte Hand für eine abwehrende Geste, als wollte er andeuten, dass es nun genug sei. Die Hand sank kraftlos auf die Armlehne zurück. Die Augen in den tiefliegenden Höhlen waren starr auf die Wand gerichtet. Der alte Mann hatte Angst.

Vereinzelte Regentropfen klatschten gegen die hohen Glasfenster der päpstlichen Privatgemächer. Der Petersdom erwachte im Morgengrauen. Nichts würde mehr so sein wie vorher.

Luigi Albertini kniete neben dem Heiligen Vater nieder und wiederholte, dass es doch nur ein Gerücht sei. Albertini war ein gutaussehender Mann von knapp vierzig Jahren, sportlich durchtrainiert und kein gewöhnlicher Diplomat des Heiligen Stuhls. Er war als Nuntius mit Spezialauftrag direkt dem Papst unterstellt. Er war der Nunzio Apostolico Con Incarichi Speciali, der Geheimagent des Papstes.

»Ich dachte«, sprach der alte Mann mit heiserer Stimme, »ich würde diesen Sommer nicht mehr erleben. Der Herr würde mich vorher zu sich rufen. Er hat es nicht getan. Manchmal fragte ich mich, ob er mich wohl vergessen hat. Ob auch Gott Dinge vergisst. Doch jetzt ergibt alles einen Sinn.«

Dem Heiligen Vater versagte die Stimme. Er hustete, versuchte den Schleim aus den verklebten Bronchien zu lösen. Ein paar Speicheltropfen schlierten über die schmalen Lippen. Er ließ es geschehen. Er hatte ein Leben lang versucht, mit dem Rauchen aufzuhören, aber er hatte es nie geschafft. Weder Gebete noch Kehlkopfoperation, noch Chemotherapien hatten ihn zur Vernunft gebracht. Und dennoch gab es nicht ein einziges Foto, das ihn mit einer Zigarette zeigte.

Die beiden Männer schwiegen für eine Weile. Zwei Spatzen setzten sich auf den Fenstersims und schüttelten das kalte Nass aus ihrem Gefieder. Erst jetzt fiel dem Papst auf, dass die Spatzen oft zu zweit auf seinem Fenstersims landeten und dass er sein Leben allein verbracht hatte. Eine tiefe Melancholie erfasste ihn.

»Dann ist es jetzt so weit«, flüsterte der Heilige Vater.

»Es ist wirklich nur ein Gerücht, Eure Heiligkeit«, wiederholte Luigi Albertini, »es stammt von den Leuten, die sich in Rom in der Basilika San Clemente treffen.« Er erhob sich und trat einen Schritt zum Fenster. Eine Straßenkehrmaschine fuhr lärmend über den morgendlichen Petersplatz und verscheuchte die Vogelschwärme. Dann knatterte der Motor, und schwarzer Rauch entwich dem Auspuff. Die Maschine blieb stehen. Der Mann von der Straßenreinigung stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. In Italien gewöhnt man sich daran, dass nichts funktioniert. Schwarzer Rauch über dem Petersplatz, dachte Luigi Albertini. Er glaubte nicht an Vorzeichen. Er würde sich später an die Straßenkehrmaschine erinnern, die Vogelschwärme, die Glocken, die zur Frühmesse läuteten, den bröckelnden Kitt im Fensterrahmen, das Wasser, das sich innen auf dem Fenstersims sammelte und an der Tapete entlang hinuntertropfte und in den Teppich sickerte. Er würde sich erinnern, dass der Papst dagesessen hatte, mit offenem Mund, unbeweglich und mit düsterem Blick, als würde er von einer diabolischen Sinnestäuschung heimgesucht, als sehe er eine gewaltige Flutwelle auf sich zurollen, gigantische Wellen, die sich zu einem Berg auftürmen und ihn für immer wegspülen würden. Der Papst hatte Angst. War sein Glaube zu schwach?

Es gibt Nachrichten, die keine Reflexe mehr auslösen, keine Fluchtbewegung, kein Aufbäumen, keinen Protest, kein Flehen, kein Bitten. Es gibt Nachrichten, deren Tragweite man sofort begreift, weil sie endgültig sind. Irreversibel. Man begreift sie mit dem ganzen Körper. Albertinis Nachricht war eine solche. Der Heilige Vater wusste an jenem Morgen sofort um die Bedeutung von Albertinis Worten. Er erinnerte sich, wie man ihn als frisch gewählten Papst in den geheimen Archiven des Vatikans eingeschlossen und ihn gebeten hatte, die Siegel eines Dokuments zu brechen, um die letzten Geheimnisse zu erfahren. Er hatte alles gelesen, bis in die frühen Morgenstunden. Danach hatte er das knapp zweihundertseitige Dossier eigenhändig wieder versiegelt, zu Händen seines Nachfolgers. Doch jetzt fragte er sich, ob es nach ihm noch einen Nachfolger geben würde. Denn das Gerücht war in Umlauf gesetzt worden. Bald würde es sein blindwütiges Zerstörungswerk in Gang setzen.

O Herr, dachte der alte Mann, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Ihm war, als würde das Blut in seinen Adern gerinnen und seine Sinne lahmlegen. Eine fremde Gewalt schien sich seiner zu bemächtigen. Er begriff, was geschehen würde. Aber er konnte nichts mehr tun. Demütig senkte er den Kopf: »Ich wusste, dass sie es eines Tages wieder versuchen würden. Sie versuchen es immer wieder. Seit Jahrhunderten. Während der Französischen Revolution hätten sie es beinahe geschafft.«

Luigi Albertini kniete vor dem Nachfolger des Fürsten der Apostel, vor dem Pontifex maximus, vor dem Patriarchen des Abendlandes, vor dem Bischof von Rom, dem absolutistischen Herrscher über eine Milliarde Gläubige, er kniete vor der ältesten Institution der Menschheit, vor dem Stellvertreter Gottes. »Es ist nur ein Gerücht, Eure Heiligkeit. Ich werde die Basilika San Clemente aufsuchen und der Sache nachgehen.«

»Nein, Luigi«, sprach der Papst mit großer Anstrengung, »die Basilika San Clemente al Laterano ist ein düsterer Ort. Weißt du, auf welchem Fels diese Kirche erbaut ist? Steige nicht hinunter in das Labyrinth, das sich wie eine giftige Schlange unter dem Hochaltar windet. Schon mancher hat dort seinen Glauben verloren.«

Der Heilige Vater gab ihm ein Zeichen, näher zu kommen. Albertini erhob sich und beugte sich zum Heiligen Vater hinunter. Er nahm den fauligen Atem des kranken Mannes wahr.

»In der Basilika San Clemente al Laterano werden Päpste gekürt und Päpste vernichtet. Ich wusste, dass es so kommen würde. Die italienischen Familien dulden keinen Ausländer auf dem Thron Petri. Aber wenn der nächste Papst aus ihren Reihen kommt, wird keiner mehr da sein, um das letzte Geheimnis des Christentums zu hüten. Denn sie sind Teil des Geheimnisses.«

Seine Worte klangen wie aus den Tiefen der Erde: »Zur Zeit der Medici-Päpste haben es alle gewusst. Jeder gebildete Mensch wusste es damals. Doch wir haben dieses Wissen all die Jahrhunderte über in den Verliesen des Vatikans eingekerkert, damit das Christentum obsiegt.« Er holte Luft. »Wenn sich das Gerücht bewahrheitet, Luigi, wird es niemanden mehr geben, der dieses Wissen schützt. Denn was war, wird nicht mehr sein. Der nächste Papst wird wieder ein Italiener sein, aber kein Nachfolger Petri.«

»Ich werde Sie beschützen, Heiliger Vater, ich bin Ihr Nunzio Apostolico.«

»Sie werden nicht wagen, mich anzurühren. Sie werden nur meine Pläne vereiteln. Das Sakrileg werden andere begehen. Geh nach Sizilien, Luigi, zu Don Antonio Calame. Er ist der Herr der zwei Welten. Er darf die Pläne des Heiligen Stuhls nicht vereiteln. Wir brauchen das Gold. Für das Har-Magedon …«

Der Papst starrte wieder ins Leere. Er wollte allein sein. Mit einer Handbewegung wies er seinem Nuntius die Tür.

»Harmagedon? Armageddon?«

»Die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse, Sonne und Finsternis. Es ist die Schlacht der Propheten um die Gunst des einzig wahren Gottes.«

Albertini warf dem Heiligen Vater einen prüfenden Blick zu. Wovon sprach der alte Mann? Hatte er nicht soeben Gold erwähnt?

»Wessen Gold, Heiliger Vater?«, fragte Albertini leise. Doch der Papst schien ihn nicht zu hören. Er starrte auf den Petersplatz hinunter. Seine Augen waren feucht.

Der Papst weinte.

NEW YORK  Es gab noch ein weiteres Gerücht. Es stammte von Cesare Lustrinelli, dem Präsidenten der italienischen Nationalbank. »Der Dottore wollte sich am Telefon nicht näher äußern«, sagte George Green, Vorstandsmitglied des Fed, der amerikanischen Notenbank Federal Reserve System, als er kurz vor Mitternacht seinem alten Freund John F. Cassidy in der obersten Business-Suite des Marriott-Hotels in der West Street in New York ein Glas Jack Daniel’s hinüberschob.

»Wieso kann Lustrinelli nicht einfach die amerikanische Botschaft aufsuchen und von einem abhörsicheren Apparat aus anrufen?«, fragte Cassidy aufbrausend. Er war früher Finanzexperte in CIA-Diensten gewesen, hatte sich mit der Firma überworfen und später das Fed bei einigen unwichtigen Sitzungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich vertreten. Seine Schwäche für junge Frauen und Tennessee-Whiskey hatte eine Festanstellung vereitelt. Aber als Freelancer hatten sie ihn immer wieder eingesetzt. Denn wenn er nicht gerade herumpolterte und sich bereitwillig in jedes Fettnäpfchen setzte, war er ein umgänglicher Kerl mit einer einnehmenden Baritonstimme.

»Das habe ich ihm auch vorgeschlagen«, sagte Green leise, »aber er wollte nicht. So einfach ist das.« Green brach abrupt ab. Er war mager geworden. Jetzt blickte er wie eine geheimnisvolle Sphinx auf das nächtliche New York hinunter. Er sprach sehr leise und bedächtig, als müsse er jedes Wort sorgfältig abwägen: »Lustrinelli sagte, es gebe da ein Gerücht …«

»Ein Gerücht?«, fragte Cassidy und beugte seinen breiten Oberkörper über den Tisch. Cassidy war ein großgewachsener, selbstbewusster Mann mit leichtem Übergewicht, solariumgebräunt, mit kurzen weißen Haaren und einem offensiven Charme, dem kaum jemand widerstehen konnte. Sein unbestrittenes Charisma hatte ihm viele Affären beschert, aber keine feste Beziehung, keine Familie, und so kam es ihm nicht ganz ungelegen, als ihn George Green letzte Nacht angerufen und um einen letzten inoffiziellen Gefallen gebeten hatte.

»Ja«, wiederholte Green, »ein Gerücht.« Nachdenklich strich er sich über den glattrasierten schmalen Schädel.

»Lustrinelli konnte am Telefon nicht darüber sprechen. Er sagte, wenn der Erste darauf reagiert, ist es zu spät.«

»Und das war alles?«, fragte Cassidy misstrauisch und lehnte sich zurück. Er legte den Arm auf die Lehne des Stuhls zu seiner Linken und grinste breit.

Green schwieg eine Weile, dann sagte er: »Lustrinelli war außer sich. Er sagte auch, Lady Liberty sei nicht Lady Liberty oder das, wofür wir sie halten.«

»Er sprach über die Freiheitsstatue?«, fragte Cassidy ungläubig. »Lustrinelli ruft Sie um Mitternacht an und spricht über die Freiheitsstatue?«

George Green nippte an seinem Cranberry Juice und sah wieder aus dem Fenster. Die Freiheitsstatue strahlte im nächtlichen Scheinwerferlicht wie eine stolze Göttin. Green war in düstere Gedanken versunken.

»Sie ist schön. Wie eine Göttin«, murmelte Cassidy.

»Sie ist eine Göttin«, entgegnete Green, »wussten Sie das nicht? Sie ist die Göttin Libertas, die Göttin der Freiheit, die Göttin des Lichts. Aber was kann er bloß damit gemeint haben? Die Freiheitsstatue ist nicht das, wofür wir sie halten …«

»Haben Sie ihn nicht gefragt?« Cassidy war ein Pragmatiker, ein Troubleshooter auf der Überholspur, ein Feuerwehrmann, der nur auf Touren kam, wenn die Alarmglocken schrillten. Was die Freiheitsstatue darstellte, interessierte ihn nicht. »Wieso haben Sie ihn nicht gefragt?«, wiederholte Cassidy ungeduldig und füllte sein Glas nach. Er brauchte dringend einen zweiten Drink, um in ruhigere Gewässer zu gelangen. Er schwitzte.

George Green rückte seine übergroßen Brillengläser zurecht und starrte Cassidy mit ratlosen Augen an: »Weil er betrunken war. Deshalb habe ich ihn nicht gefragt. Lustrinelli war in Panik. Don’t panic, but panic first, sagte er zum Schluss. Dann brach das Gespräch ab.«

»Dann brach das Gespräch ab?«

»Der Hörer fiel ihm aus der Hand.«

»Was? Der Hörer fiel ihm aus der Hand? Und Sie haben seitdem nichts mehr von ihm gehört?« Cassidy lachte laut heraus.

»Nichts«, antwortete Green leise. »Und kein Mensch weiß, wo er steckt.«

Cassidy wollte die Sache abschließen und sich irgendwo in Ruhe die Drinks genehmigen, die er heute Abend brauchte. »Okay, haben Sie seine Handynummer? Vielleicht ist er jetzt nüchtern.«

Green zog ein gelbes Couvert aus der Innentasche seines Anzugs und legte es auf den Tisch. Cassidy nahm es, spähte hinein. Es befand sich Geld darin.

»Ich sagte doch, er ist nicht zu erreichen. Er antwortet nicht.«

George Green fixierte Cassidy mit einem Blick, als wolle er prüfen, ob dieser bullige fünfundsechzigjährige Kerl wirklich der richtige Mann für die heikle Angelegenheit war. »Sie legen immer noch Wert auf gute Anzüge, Cassidy«, murmelte Green nachdenklich.

»Die Frauen mögen das«, grinste Cassidy, »aber Sie haben mich nicht in diese Suite bestellt, um über meinen Schneider zu sprechen.«

Green wertete es als gutes Zeichen, dass Cassidy trotz des Alkohols das Ziel nicht aus den Augen verlor. Cassidy schenkte sich noch einen Jack Daniel’s ein.

»Es heißt, Sie trinken zu viel«, sagte Green. Jetzt kam ihm die Unterleibsoperation von nächster Woche in den Sinn, und er war plötzlich bereit, alles platzen zu lassen.

Cassidy nahm einen Schluck. »Sehen Sie«, erwiderte Cassidy, »ich bin ein Offroader und keine solarbetriebene Seifenkiste, ich saufe mehr Sprit, aber ich komme schneller ans Ziel.« Cassidy legte das gelbe Couvert wieder hin und schob es in die Tischmitte. Er schaute Green dabei direkt in die Augen. Cassidy hatte Beamte immer verachtet, weil sie sich so aufblähten wie die Behörde, die sie vertraten. Ohne Behörde waren sie nichts. In der Wildnis der freien Marktwirtschaft würden sie keinen Tag überleben. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er Green für einen Freund gehalten. Sie hatten jahrzehntelang miteinander zu tun gehabt. Doch jetzt, wo er keinen Job mehr hatte, war Cassidy klar, dass er nie Freunde gehabt hatte. Nur Geschäftspartner, eine DVD-Sammlung und die Erinnerung an unzählige Mädchen, die er in den Hotelbars dieser Welt abgeschleppt hatte. Aber das war in Ordnung. Andere Männer in seinem Alter würgten jeden Tag um die gleiche Zeit fettarme, salzlose Diätkost hinunter, die ihnen ihre Frauen zwangsverordneten, und suchten vergebens hinter den Vorhängen nach den verschwundenen Whiskeyflaschen. Oder sie vermoderten auf dem Friedhof, was für Cassidy dasselbe war.

Green wusste nicht, wieso er plötzlich das Thema Alkohol angesprochen hatte. Er wusste, dass Cassidy trank, aber ihm war klar, dass man Cassidy vertrauen konnte. Dass er diskret war und seinen Job erledigte. Er hatte Cassidy immer als Profi geschätzt, auch wenn ihm seine aufbrausende, ordinäre Art und die pubertären Sexgeschichten stets missfallen hatten. Einen wie Cassidy hätte Green nie zu privaten Anlässen eingeladen. Dafür war seine Verachtung für Menschen, die sich angetrunken in ihre Straßenkreuzer setzten, zu groß. Wenn es sein Amt von ihm verlangte, sich am Rande der Legalität zu bewegen, war das für Green in Ordnung. Aber privat kannte er keine Nachsicht. Green war seit vierzig Jahren verheiratet. Es war eine vernünftige Partnerschaft, die er all den Affären, die Cassidy hatte, vorzog. Meistens jedenfalls. Aber mittlerweile beschäftigte ihn ohnehin vor allem seine eigene Gesundheit. Er hatte begonnen, mit dem Schicksal zu hadern. Jetzt, wo ihm die Unterleibsoperation bevorstand, dachte er an die Kinder, die er nie gezeugt hatte. Das war das Einzige, das er in seinem Leben wirklich falsch gemacht hatte. Aber woher in jungen Jahren diese Weisheit nehmen? Wenn man es weiß, sinnierte Green, ist es zu spät. Wohl ein kleiner Appetizer auf die Hölle. Cassidy riss ihn aus seinen düsteren Gedanken.

»Green, wenn Lustrinelli Sie um Mitternacht angerufen hat, war es in Europa sechs Uhr. Und er war immer noch blau …«

Green nickte: »Es war ziemlich wirres Zeug, erst dieses ominöse Gerücht, dann die Freiheitsstatue und schließlich diese abstrusen Goldtheorien. Er sagte, der Vatikan habe die italienische Nationalbank angewiesen, seine Goldreserven an einen Dritten weiterzuleiten.«

»Der Vatikan will sein Gold verkaufen?«, fragte Cassidy grinsend. Das Gerücht schien ihn nicht groß zu beunruhigen.

»Der Empfänger soll ein gewisser Dario Baresi sein, ein Bullion-Banker aus London. Er ist auf der schwarzen Liste. Er arbeitet mit Schurkenstaaten zusammen.«

»Was ist denn das für eine Geschichte?« Cassidy machte eine wegwerfende Bewegung. »Vielleicht war Lustrinelli einfach nur wütend, dass ihm der Vatikan das Mandat entzogen hat.«

Green hob die Schultern: »Die Leitung war schlecht, aber ich glaube, ihm war übel, er schien sich übergeben zu müssen.«

»Lustrinelli?«, fragte Cassidy ungläubig. »Europas Bella Figura …« Er prustete vor Lachen. »Sie hören auf das Geschwätz von einem Besoffenen? Glauben Sie mir, es ist völlig bedeutungslos – wie alles in unserem Leben.«

»Lustrinelli hat nicht irgendwen angerufen. Sondern mich.« Seine Stimme klang jetzt sehr energisch: »Ich bin Vorstandsmitglied des United States Federal Reserve Board. Der Präsident der italienischen Nationalbank ruft den Vorstand des Fed an. Verstehen Sie, Cassidy? Wer mich anruft, weiß, wieso er das tut. Und Lustrinelli rief um Mitternacht an. Er war blau. Und er sprach von einem monetary jihad.«

»Von einem monetary jihad?«, fragte Cassidy. Seine Stimme war leise geworden. Ungläubig starrte er Green an. Dieser ließ seinen Blick über das Lichtermeer des nächtlichen New York schweifen. Seine Augen blieben an Lady Liberty haften.

»Lustrinelli wird in drei Tagen an der ordentlichen Sitzung der Notenbankchefs in Basel teilnehmen. Die Sitzung fängt um zehn Uhr an. Seien Sie pünktlich! Sie berichten mir täglich!«

»Ich weiß, Green, täglich um fünf, und meine Sexgeschichten spare ich für meine Memoiren auf.«

AFGHANISTAN  Als Gott die Welt erschaffen hatte, sah er, dass noch einige Krümel übrig geblieben waren. Er wischte sie zusammen und warf sie auf die Erde hinunter. Das war Afghanistan. Afghanistan ist reich an Sprichwörtern, reich an Skorpionen, Koranschülern, Kalaschnikows und Opium. Afghanistan besteht aus Klans und Stämmen, die sich ihren Familien verpflichtet fühlen. Afghanistan ist keine Nation. Afghanistan hat lediglich eine Nationalflagge und einen Präsidenten, der im Ausland Geld für die Klans sammelt. Wer Afghanistan, Jemen oder Somalia gesehen hat, hört auf, an das Gute im Menschen zu glauben. Yousaf Yousafzai kam aus einem zerklüfteten Tal im Hindukusch und wollte südlich von Kabul sein Glück versuchen. Yousafs Vater sagte immer: Ein Afghane ohne Waffe ist ein toter Afghane. Yousafs Vater war ohne Waffe beerdigt worden. Seine ganze Familie war in den Scharmützeln, die sich Warlord Ahmed Schah Massud und die Gotteskrieger der Taliban jahrelang geliefert hatten, umgekommen. Ihr Dorf war nur noch ein Haufen Schutt. Du kannst nie Teil eines Dorfes sein, wenn dich das Dorf nicht will, sagte Yousafs Vater. Aber er sagte auch: Zendagi migsara, das Leben geht weiter. Das Camp stand in der Provinz Ghazni. Über hundert junge Männer hatten sich gemeldet. Zwölf Kilo Gold versprach Abu Hafs al-Mauretani jedem, der nach erfolgreich ausgeführter Mission wieder zurückkehrte. Zwölf Kilo Gold. Damit könnte ich eine Viertelmillion Schafe kaufen, dachte der junge Yousaf Yousafzai, als er die anderen Männer musterte. Alle waren etwa in seinem Alter. Und alle hatten sie lange mit sich gerungen und waren am Ende zu einem fatalen Entschluss gelangt. Sie waren bereit, ihr Leben zu opfern. Unter den schmutzigen Turbanen sah man Kindergesichter mit erloschenen Augen. Sie wirkten kalt und finster. Und doch sah keiner so aus, als wolle er nach Europa gehen, um zu sterben. Nein, sie alle wollten schon bald zurückkommen, als Helden gefeiert werden und auf den Knien die zwölf Kilo Gold in Empfang nehmen.

Abu Hafs al-Mauretani wählte zwölf von ihnen aus und befahl ihnen, den Lastwagen zu besteigen, der sie in die pakistanische Grenzstadt Peschawar bringen sollte. Der alte Mercedes-Lastwagen mit der offenen Ladefläche rumpelte über die ländlichen Pisten und hüllte die Lehmhütten und Beduinenzelte in gräuliche Staubwolken. Manchmal sah man Männer mit Kalaschnikows am Straßenrand, ausgebrannte Panzer. Am Rande eines verlassenen Dorfes saßen ein paar alte Hippies. Einer hatte ein Fahrrad, der andere hielt ein Huhn in der Hand. Sie schienen nicht zu ahnen, dass die Lichter in Woodstock längst erloschen waren und Leonard Cohen von Millionenschulden erdrückt wurde. Als sie ins Gebirge hochfuhren, sahen sie Kinder. Sie spielten Fußball. Zwei hatten Beinprothesen. Die standen im Tor. Als Gott Afghanistan schuf, hat er keine Tretminen gestreut. Es war das Ungeziefer, das Gott nach seinem Ebenbild erschaffen hat, das Tretminen im heißen Sand vergraben hatte. Unterwegs stiegen einige Händler aus dem nahen Basar auf, die Opium, Morphin und Heroin mitführten. Die afghanische Drogenpolizei im Grenzgebiet stellte keine Gefahr dar. Sie begnügte sich damit, die Drogentransporte zu besteuern. Wenn man eine Sache nicht beseitigen kann, sollte man sie wenigstens besteuern.

NEW YORK  Als die Maschine der American Airlines über New Jersey an Höhe gewann, blickte Cassidy auf Liberty Island hinunter und sah unter sich Lady Liberty, die über zweihundert Tonnen schwere Dame – knapp fünfzig Meter hoch, zusammengesetzt aus dreihundert Kupferplatten. Er konnte sich auf Lustrinellis Andeutung beim besten Willen keinen Reim machen. Cassidy ließ sich von der Stewardess einen Whiskey einschenken. Er musterte ihren Körper und dachte an Sex. Cassidy dachte eigentlich immer an Sex. Er wusste nicht, ob es anderen Männern mit fünfundsechzig anders ging. Bei ihm war es einfach so, und es war ihm egal, dass es so war. Er hatte wieder einen Job, und das war im Augenblick das Wichtigste. Cassidy brauchte die Reisen, die Flughäfen, die Taxis, die Hotellobbys. Das war sein Zuhause. Er musste in Bewegung sein, unterwegs nach irgendwo – und der nächste Drink immer in Reichweite. Die paar Wochen, die er ohne Job in seinem kleinen New Yorker Appartement verbracht hatte, waren die Hölle gewesen. Die plötzliche Stille hatte ihn getroffen wie eine Abrissbirne. Er hatte ständig seine E-Mails kontrolliert, den Akku seines Handys, und langsam hatte ihm geschwant, dass er ohne Job den Charme eines Mülleimers hatte. Besser wäre es gewesen, sie hätten ihn gleich erschossen. Er ging mit seinem gewohnten energischen Schritt durch die Straßen, aber ohne Ziel kam ihm das ziemlich lächerlich vor. Und als er gestern am Straßenrand stehen geblieben war und die Müllmänner beobachtete, da dachte er, dass ihn die Müllmänner mitnehmen könnten, und kein Mensch würde es bemerken. Außer seiner Mutter vielleicht. Aber auch erst an ihrem Geburtstag. Und dann hatte sein Handy geklingelt. Green! Der gute alte Green!

Greens Geschichte hatte gewiss nicht die Brisanz der Kuba-Krise, aber das war ihm einerlei. Green war ein besonnener und stets gut informierter Mann. Das Risiko, einer Ente aufzusitzen, war gering. Cassidy war sicher, dass an der Sache etwas dran war, und sicherlich hatte er nicht die ganze Wahrheit erfahren. Aber wieso misstraute Green seiner eigenen Behörde und zog einen Externen hinzu? Cassidy bestellte noch einen Whiskey. Er käme selbst nach einer ganzen Flasche nicht auf die Idee, mitten in der Nacht jemanden wie George Green anzurufen. Welcher Teufel hatte Lustrinelli nur geritten?

Er dachte nach. Nach einigen weiteren Schlucken zeichneten sich im Nebel von Cassidys Gedanken vage Konturen einer Hypothese ab, die möglicherweise die wirren Worte von Lustrinelli erklären konnte. Cassidy hatte eine rasche Auffassungsgabe. Er begriff komplexe Zusammenhänge intuitiv. Lustrinelli hatte ein Gerücht gestreut. Wer profitierte davon? Falls hier der Schlüssel zur Lösung lag, würde vielleicht sogar er, Cassidy, davon profitieren. So viel hatte auch Green schon angedeutet, um ihn davon zu überzeugen, dass er die nächste Maschine nehmen musste. Er hatte ihn deswegen heute früh, kurz vor seinem Abflug, nochmals angerufen. Don’t panic, but panic first, schmunzelte Cassidy, vielleicht ein ganz heißer Tipp: Mit einem Coup alle Börsenverluste aus dem Jahre 2000 wieder wettmachen.

Jahrzehntelang hatte Cassidy mit der immer gleichen Summe an der Börse gespielt. Mit dreißig gleich großen Tranchen. Das reichte für zehn ausgewählte Titel, die man zu drei verschiedenen Kursen einkaufte. Aber die New-Economy-Blase hatte ihm fast den Verstand geraubt, und er hatte damals alle Ratschläge missachtet, die er selbst so gern im Munde führte: Don’t put all eggs in one basket. Tatsächlich hatte er alles auf lediglich vier verschiedene Aktien gesetzt. Er hatte den Spruch never catch a falling knife ignoriert und während des Crashs mit Krediten aggressiv dazugekauft, bis die hochgejubelten Internetfirmen der Turnschuhmillionäre nicht mehr Substanz hatten als ein infantiles Investment-Game auf der Playstation. Game over – und weg war das Ersparte von dreißig Berufsjahren. Die New-Economy-Blase hatte zwölf Billionen Dollar vernichtet. Und fünf Millionen davon waren sein Erspartes gewesen, seine Altersvorsorge. Im Nachhinein war es ihm schleierhaft, wie er sein gesamtes Kapital so leichtfertig hatte verzocken können. Was hätte er nur mit dreißig Millionen angefangen? Nicht mehr als das, was er zuvor mit fünf Millionen getan hätte. Und jetzt hatte er nicht mal mehr eine halbe Million auf der Bank. Lehrgeld bezahlt, sinnierte Cassidy, viel Lehrgeld für eine Narrenkappe. Heute wusste er, dass es sinnlos war, an der Börse zu spekulieren, wenn man nicht über Insiderinformationen verfügte. Aber ohne Job fehlte ihm das Beziehungsnetz, um an solche Informationen heranzukommen. Es gab also ziemlich gute Gründe, wieso Cassidy diesen Job brauchte.

Cassidy leerte sein Glas und grinste. Soeben war ihm etwas sehr Verlockendes in den Sinn gekommen. Und es hatte ausnahmsweise nichts mit Sex zu tun.

ERICE, SIZILIEN  Die Luft waberte in der Hitze, als sich die schwarze Limousine, Baujahr 79, langsam über die staubigtrockene Straße zwischen Zitronenhainen hinaufbewegte. Die Limousine fuhr Richtung Trapani, Erice.

Luigi Albertini war glücklich, nach so langer Zeit wieder zurückzukehren an jenen Ort, an dem Marzipanfrüchte noch von Hand aus echter Mandelpaste hergestellt wurden. Albertini liebte Erice, den heiligen Ort, an dem einst der Tempel der Fruchtbarkeitsgöttin Venus Erycina gestanden hatte. Er lag am äußersten Rand auf den zerklüfteten Klippen hoch über Trapani. Von hier aus konnte man an klaren Tagen die tunesische Küste sehen. In dieser Gegend war Luigi Albertini groß geworden. Hier waren seine Mutter und seine Geschwister gestorben, seinen Vater hatte er nie gekannt. Hier hätte er ein erbärmliches Dasein gefristet, wie alle Alten in den umliegenden Dörfern, wenn nicht der Don von seinem Schicksal erfahren und sich seiner erbarmt hätte. Er hatte zusammen mit der Tochter des Don die Dorfschule besucht. Sie hatte ihrem Vater von diesem kleinen Jungen erzählt, der in kurzer Zeit seine gesamte Familie verloren hatte. Das hatte das Herz von Don Calame gerührt. In den Dörfern wurde behauptet, dass dort, wo Menschen ein Herz haben, beim Don ein schwarzes Loch klafft. Aber diese Leute hatten Luigi nur bemitleidet, ihn aber sonst kaum wahrgenommen. Mitleid kann auch zerstören. Der Don hatte ihn nicht bemitleidet, sondern ihm ein neues Leben geschenkt. Und heute kam der kleine Luigi zurück als Nunzio Apostolico Con Incarichi Speciali, als Geheimagent im Auftrag des Papstes, und auch ein bisschen in eigener Sache. Denn er wollte die Gelegenheit nutzen, um Don Antonio Calame seinen Respekt zu erweisen und ihm eine Frage zu stellen, die ihn seit frühester Kindheit beschäftigte. Der Don hatte ihm die Ausbildung bezahlt, das Studium, den Aufenthalt an der Jesuitenhochschule Gregoriana in Rom, das Jahr an der Opus-Dei-Universität Santa Croce in Rom und schließlich seine Aufnahme in die Pontifikalakademie des Vatikans durchgesetzt. Sie war das West Point der zukünftigen vatikanischen Elite. Nur zweiunddreißig junge Männer wurden dort jedes Jahr für den diplomatischen Dienst des Heiligen Stuhls ausgebildet. Bewerben konnte man sich nicht. Anrufen war zwecklos. Sie rufen dich an. Don Calame hatte seinen Einfluss geltend gemacht, und sie hatten Luigi Albertini angerufen. Dass Opus Dei die Akademie finanzierte, hatte Luigi Albertini nie interessiert. Opus Dei mochte vielen als nicht zeitgemäß erscheinen, mit seinen etwas verschrobenen Ansichten und Ritualen, aber er hatte der Organisation viel zu verdanken. Eigentlich alles. Das hatte seinen Preis, wie so vieles im Leben. Es wäre unsportlich gewesen, sich im Nachhinein darüber zu beklagen. Opus Dei hatte ihm die eine Welt eröffnet und die andere Welt verschlossen. Mit seiner Ernennung zum Nunzio Apostolico Con Incarichi Speciali war er den fundamentalistischen Ausbildungszentren des Opus Dei entkommen und in den erlauchten Kreis der einflussreichen Kardinäle des Vatikans aufgestiegen. Heute wurde er geachtet. Er hatte Macht und Einfluss.

Das Anwesen von Don Calame umfasste mehrere Hektar Land. Es war durch hohe Mauern mehrfach gesichert, und an der Zufahrt standen einige junge Männer in Jacketts mit einer unübersehbaren Ausbuchtung auf der linken Seite. Dort trugen sie ihr Herz und eine Walther 9 mm. Im Ohr den obligaten Knopf. Sie wirkten wie übergewichtige Kinder in Anzügen, und die einzige Bildung, die sie jemals genossen hatten, stammte aus der TV-Serie The Sopranos.

Als der alte Mercedes vor dem geschlossenen Tor hielt, gerieten die zahlreichen Überwachungskameras surrend in Bewegung. Don Calame war ein mächtiger Mann. Er konnte es sich leisten, diese Macht mit großem finanziellem Aufwand zu sichern und zu inszenieren. Luigi Albertini und sein Chauffeur wurden gebeten auszusteigen und einer Leibesvisitation unterzogen. Einer der jungen Männer fotografierte die beiden Gäste und ihre Ausweise mit seinem Handy und schickte die Bilder ab. Wenig später kam die Genehmigung. Sie mussten ihren Wagen stehenlassen und in ein anderes Auto umsteigen, in eine fabrikneue S-Limousine. Luigi mochte Autos.

»Wie geht es Don Calame?«, fragte Luigi den Fahrer. Der Fahrer gab keine Antwort.

»Ich erfuhr erst, als ich anrief, dass er so krank ist«, sagte Luigi unbeirrt und schaute den Fahrer an.

Der Fahrer erwiderte kurz den Blick und schwieg. Nach einer Weile brummte er: »Der Don versucht zu sterben.«

Die Limousine glitt lautlos über die geteerte Fahrbahn.

Links und rechts säumten saftig grüne Zypressen den Weg, der schnurgerade zum großen Parkplatz des imposanten Landsitzes führte. Dort standen bereits zwei Dutzend hochkarätige Limousinen. Als der Wagen mit Luigi hielt, wurde er sofort von vier jungen Männern umstellt. Einer fragte, wieso das so lange gedauert habe. Der Fahrer zuckte die Schultern. Viele junge Männer in dunklen Anzügen waren zu sehen. Kaum Frauen.

»Luigi!«, rief eine weibliche Stimme. Luigi Albertini wandte sich von den Leibwächtern ab. Eine blonde Frau Ende dreißig kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Die Menschen, die auf dem Parkplatz und auf den Stufen zum Eingangsportal standen, drehten sich um. Die blonde Frau blieb vor Luigi stehen und strahlte übers ganze Gesicht: »Darf ich dich noch küssen?« Sie lachte. Sie hatte immer noch dieses unbeschwerte Lachen.

»Gott hat die Liebe nicht verboten«, schmunzelte Luigi. Die blonde Frau umarmte ihn fest und presste ihm zwei saftige Küsse auf die Wangen. Ein dritter Kuss berührte beinahe seine Lippen. Claudia lachte laut auf, feuchtete ihren Zeigefinger an und wischte Luigi den Lippenstift weg.

»Sie nennen dich den George Clooney des Vatikans«, raunte Claudia ihm zu, »wusstest du das?«

Luigi war verlegen. Er konnte sich an der jungen Frau kaum sattsehen.

»Ich habe dich in einer Illustrierten gesehen. Bei meinem Friseur. Du sollst der bestgekleidete Mann im Vatikan sein … liturgisch gestylt. Man sagt doch liturgisch, nicht?«

»Soll ich etwa im Schlabberlook …«

»Du trägst Maßanzüge nach eigenen Entwürfen, haben sie geschrieben.«

Claudia umarmte ihn wieder und gab ihm noch einen beherzten Kuss.

»Wie geht’s dem Don, Claudia?«, fragte Luigi leise. Er wollte das Thema wechseln. Claudia wirkte plötzlich erschöpft.

»Es geht bald zu Ende«, gab sie zur Antwort, »er hat Schmerzen. Wenn sie die Schmerzen lindern wollen, müssen sie ihn umbringen. Aber er will mit dir reden.« Sie trug das lange blonde Haar immer noch geflochten. Einmal mehr fiel ihm auf, wie schön sie war und wie sehr er sie noch immer mochte. Es waren nicht ihre sinnlich vollen Lippen, die an sommerliche Werbespots, glühende Sandstrände und kühles Quellwasser erinnerten und aussahen, als hätte der liebe Gott persönlich die Botox-Spritze geführt, nein, es waren ihre Augen, dieser Blick, die Art, wie sie sich bewegte, und all die Worte, die sie nie aussprach.

»Komm, ich bringe dich zu ihm. Wirst du ihm die Beichte abnehmen?«

»Wer ist das, Mami?«, fragte ein Junge, der aussah wie ein frischgebackener Konfirmand.

Luigi warf Claudia einen verlegenen Blick zu. Auch sie wirkte unangenehm berührt.

»Das ist Monsignore Albertini, er arbeitet für den Papst, er sieht den Papst jeden Tag.«

Der Junge schaute zu Luigi hoch, als wolle er fragen, ob das auch wirklich alles wahr sei.

»Dein Junge?«, fragte Luigi. Melancholie schwang in seiner Stimme mit.

Ein großgewachsener Mann mit kantigem Gesicht und energischem Blick näherte sich der Gruppe und legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Und Sie sind wohl der berühmte Monsignore Luigi Albertini?«, fragte er freundlich.

»Das ist mein Mann Sergio, Sergio Cavalli«, sagte Claudia. Sie sagte es beinahe entschuldigend, »er ist aus Florenz, arbeitet in der Modebranche.«

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört«, sagte Sergio Cavalli. Und zu seinem Jungen gewandt, sagte er: »Der Monsignore ist hier aufgewachsen, er ging mit deiner Mutter zur Schule.«

»Wart ihr Freunde?«, fragte der Junge neugierig.

»Natürlich waren wir Freunde«, lächelte Luigi, »wir waren so gut befreundet, dass dein Großvater mir ein Stipendium bezahlt und mich nach Rom geschickt hat, damit ich nicht auf die Idee komme, deine Mutter zu heiraten.« Einige Gäste, die sich zu ihnen gesellt hatten, lachten höflich. Claudia versuchte ebenfalls zu lachen, aber sie hatte sich schon als Mädchen nicht gut verstellen können. Sergio Cavalli setzte ein kühles Lächeln auf und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Warum zum Teufel hatte sie so einen Kerl geheiratet?, ging es Luigi durch den Kopf. Claudia schaute ihn an. Er erschrak. Hatte sie seine Gedanken erraten?

Der kleine Junge schien angestrengt nach der Pointe zu suchen. Wie hätte der Monsignore denn seine Mutter heiraten können? Er war doch ein katholischer Priester. Da fiel ihm ein, dass der Monsignore ja erst später Priester geworden war. Und dass er als Junge wohl auch Fußball gespielt und den Mädchen nachgeschaut hatte. Der nächste Gedanke, der ihm durch den Kopf fuhr, verstörte ihn. Und er wunderte sich, dass soeben alle darüber gelacht hatten.

BASEL  Das Gebäude der BIZ, der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, ragte wie ein futuristischer Wachturm in den Himmel. Die Bank war 1930 gegründet worden, um die Abwicklung der deutschen Reparationszahlungen zu gewährleisten. Heute war sie die Mutter der Banken, die Bank aller Zentralbanken der Welt. Sie verwaltete einen Teil der weltweiten Währungsreserven. Cassidy mochte die Bank. Und er mochte besonders den heutigen Tag, weil er allen anwesenden Bankern demonstrieren konnte, dass er immer noch im Ring stand. Die Sitzung hatte bereits begonnen. Auf dem Konferenzmonitor war Princeton, der Direktor der BIZ-Niederlassung in der Sonderverwaltungszone Hongkong, zugeschaltet. Er informierte die anwesenden Repräsentanten, Direktoren und Präsidenten der nationalen Zentralbanken und Währungsbehörden über die Entwicklung der Rohstoffmärkte in Asien. Cassidy saß in einem der gepolsterten grünen Sessel des ovalen Konferenzrings. Das Oval war so groß, dass es fünfundfünfzig Konferenzteilnehmern Platz bot und den gesamten Saal ausfüllte. Jeder einzelne Tisch war mit modernster Kommunikationstechnik ausgerüstet. Dagegen wirkten die obligaten Fläschchen Mineralwasser, die gespitzten Bleistifte und die kleinen Notizblöcke, die vor jedem Tischmikrofon lagen, überaus antiquiert. Die Decke hing tief. Es gab keine Fenster. Schwerer Teppich, schwere Türen, helles Holz und das große Gemälde rechts vom Konferenzmonitor. Es zeigte Rosen, aber wenn Cassidy sich erst einmal einige Gläschen genehmigt hatte, glaubte er zu sehen, was der Künstler eigentlich hatte darstellen wollen: eine rosa Vagina. Ein zweites Gemälde hing links neben den Übersetzerkabinen, die diskret im Halbdunkel hinter einer Glasfront angelegt waren und sich über die gesamte Breite des Saales erstreckten. Davor saßen die Direktoren der nationalen europäischen Zentralbanken. Seit die Eurozone ihren eigenen Zentralbankpräsidenten hatte, waren die Präsidenten der nationalen Notenbanken aus Frankreich, Deutschland, Italien und den übrigen Eurostaaten nur noch Dekorationsfiguren. Dennoch waren sie bei allen Sitzungen anwesend und hatten außerhalb des Pflichtprogramms reichlich Gelegenheit, ihr üppiges Spesenkonto zu überziehen. Ihr einzig verbliebenes Privileg. Lustrinelli fehlte. Cassidy fragte sich, ob er bereits im Restaurant Schützenhaus saß und die Weinkarte studierte. Oder ob er in seinem Hotel vor der Kloschüssel kniete und Seite zwei der Weinkarte erbrach. Lustrinelli liebte die schweren Amarone. Aber er vertrug nicht mehr als eine Flasche.

Gold. Cassidy horchte auf. Auf dem Großmonitor sprach Princeton über den Anstieg der Rohstoffpreise, der auf eine gesteigerte Nachfrage aus Indien, Russland und China zurückzuführen war. Princeton sprach über den Goldpreis. Cassidy reagierte wie ein pawlowscher Hund bei dem Wort »Gold«. Seine Mutter lag ihm, seit er denken konnte, mit ihrem Gold in den Ohren. Sie war siebenundachtzig und hatte ihr gesamtes Vermögen in Goldbarren angelegt, die keinen Zins brachten und seit Jahrzehnten in einem Bankschließfach aufbewahrt wurden – ein Kilo Goldbarren, hundert Gramm Plättchen und Krügerrands. Wenigstens hatte er sie davon überzeugen können, die Goldbarren nicht unters Kopfkissen zu stecken. Aber Cassidy liebte seine Mutter. Also hörte er zu und hoffte, sie beim nächsten Treffen mit irgendwelchen Neuigkeiten erfreuen zu können. Wenn sie in der Küche ihre Burritos Matamoros mit Chili-Hackfleisch-Füllung zubereitete, verriet er ihr in konspirativem Ton die Geheimnisse aus den Tempeln der Macht. Und sie gab sie stolz weiter, in ihrem Salon, während der nachmittäglichen Kaffee- und Bridgerunden, und blickte dabei die greisen Gesichter am Tisch bedeutsam an wie George Green in seinen besten Tagen. Aber es gab heute leider keine guten Neuigkeiten für seine Mutter. Durch die koordinierten Goldverkäufe der Nationalbanken seit 1991 war der Goldpreis nachhaltig geschwächt worden, so wie das die Nationalbanken im Washingtoner Abkommen beabsichtigt und beschlossen hatten. Das Gold war der natürliche Feind jeder ungedeckten Papierwährung, denn im Gegensatz zu Papier war Gold nur beschränkt vorhanden. Doch jetzt schien es tatsächlich so, als hätte dieses barbarische Relikt seine Bedeutung als sicherer Hafen endgültig verloren, und die USA konnten unbekümmert ihre Papierpresse anwerfen und mit ihren immer billiger werdenden Dollars die Rohstoffe und Sachwerte dieser Welt aufkaufen. Und niemand kam auf die Idee, sein Vermögen in Gold umzuschichten, um es vor der Inflation zu schützen. Gold war out.

Cassidy atmete tief ein. Aber es war nicht der herrliche Duft von Mamas Burritos, der ihm in die Nase stieg, sondern der Geruch eines parfümierten Busens, der zu einer jungen Russin gehörte, die er gestern Nacht in einem diskreten Etablissement kennengelernt hatte.

Der Referent aus Hongkong betonte, dass mit dem heutigen Tag die Notenbanken ihre Goldreserven abgestoßen hatten und nun keine Regulierungen am Markt mehr möglich waren. Das Pulver war verschossen. Würde sich der Goldpreis erneut aufbäumen, hatte man keine Munition mehr, um ihn mit gezielten Goldverkäufen abzuschießen. Cassidy schmunzelte. Wenn ab heute die Manipulationen ausblieben, war der Goldpreis ab sofort den realen Marktmechanismen unterworfen, also Angebot und Nachfrage. Und seine Mutter würde vielleicht doch noch recht behalten. Für diese Neuigkeit würde sie ihm gewiss jede Menge Burritos, Enchiladas und Geflügeltacos zubereiten. Ja, Cassidy hatte sich früher oft mit seiner Mutter gestritten, weil es ihn maßlos geärgert hatte, dass diese ungebildete Frau ihren Nachkriegserfahrungen mehr traute als dem Wissen ihres erfolgreichen Sohnes. Er hatte über ihre Weltuntergangsszenarien gespottet, doch sie hatte trotzig darauf beharrt, dass eines Tages jede Papierwährung zu ihrem inneren Wert zurückkehre – nämlich null. Und das habe schon Voltaire gesagt. Voltaire, hatte er ausgerufen, du liest Voltaire?

Sein Vater hatte Voltaire gelesen. Er war früh gestorben. Während eines Baseballspiels war ihm die Herzarterie geplatzt. Dabei hatte sich sein Vater nie für Sport interessiert. Aber wäre der Todesfall weniger tragisch gewesen, wenn sein Vater ein Fan der Chicago White Sox gewesen wäre? Sein Vater war ein mexikanischer Buchprüfer gewesen, und zur Überraschung aller hatte er bereits in jungen Jahren eine Lebensversicherung abgeschlossen, die Cassidys Mutter später ein anständiges Witwendasein ermöglichte. Mittlerweile waren allen seinen Brüdern und Schwestern die Herzarterien geplatzt. Nur hatten die keine Lebensversicherungen abgeschlossen. Das genetische Schicksal lässt sich eben nicht aufhalten, indem man es verleugnet.

Cassidy hätte was gegeben für einen Whiskey. Das passierte ihm oft, wenn er sich in Erinnerungen verlor, wenn die Melancholie hochstieg wie Nebelschwaden im Morgengrauen. Er liebte seine Mutter. Wahrscheinlich war sie die einzige Frau, die er jemals wirklich geliebt hatte. Das war zumindest der Standardvorwurf, den ihm jede verflossene Liebschaft beim letzten Gefecht an den Kopf warf. Dass er ein verwöhntes Muttersöhnchen sei. Aber in seinem Alter prallten die Vorwürfe einfach an ihm ab. Und seitdem man sich per SMS trennte, blieben ihm detaillierte psychologische Gutachten ohnehin erspart.

Cassidy sah sich im Saal um, ob Lustrinelli inzwischen aufgetaucht wäre … Vergebens. Ja, dachte Cassidy, wenn er jetzt einen Wunsch frei hätte, er würde sich einen Whiskey mit Eis wünschen. Nicht ewigen Frieden auf Erden oder die Beseitigung von Armut und Hunger – sondern einen verdammten Whiskey für John F. Cassidy. Und zwar sofort.

SIZILIEN  Der große Don Antonio Calame lag im Sterben. Diener hatten das stattliche Bett in den Säulenhof seines römischen Atriumhauses hinausgetragen. Er wollte im Freien sterben, dort, wo ihm ein warmer Wind den Duft von Oliven und Zitronen sanft übers Gesicht blies. Farbenprächtige Mosaike zierten den Säulengang. Die Außenwände der Zimmer, die in den Hof führten, waren mit aufwendigen Malereien verziert, die pompejanischen Originalen nachempfunden waren. Sie zeigten die großen Mysterien, die Einweihung eines jungen Mädchens in den orgiastischen Kult des Dionysos, daneben den alten Silen, der junge Satyrn zum Trunk verführt, sie zeigten den betrunkenen Gott Dionysos, der lüstern über ein junges Mädchen herfällt, die Enthüllung des mystischen Phallus, ein junges Mädchen, das von einem geflügelten Dämon ausgepeitscht wird. Und an der Decke der Säulenhalle, unter dem Mosaik der Gladiatoren, hing ein Tintinnabulum, ein merkwürdiges Glockenspiel, das kaum merklich im Wind hin- und herschwang und leise Klänge von sich gab.

Es war heiß. Luigi Albertini stand am Bett des Don. Die linke Hand hatte er auf den oberen Bettpfosten gelegt, der einen Pferdekopf darstellte. »Einmal ist alles vorbei«, flüsterte der Don, »nicht wahr, mein Junge?«

Luigi ergriff die Hand des Don und schwieg. Das Gesicht des alten Mannes war aschfahl und spannte sich maskenhaft um Jochbein, Wangen- und Kieferknochen.

»Das Original steht im Louvre«, flüsterte er. Der Don meinte das Bett mit den vier Holzpfosten, die Pferdeköpfe darstellten. Luigi nickte.

»Du spürst, wenn es so weit ist«, sagte der Don. Luigi Albertini entrollte die violette Stola, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, und legte sie sich über. Der zwei Meter fünfzig lange Stoffstreifen symbolisierte das Joch Gottes, iugum Christi, das Jesus trug, um die Menschheit zu erlösen. Luigi Albertini kniete vor dem Don nieder, nahm wieder dessen Hand und schloss die Augen. Claudia, die schweigend hinter ihm gestanden hatte, legte Albertini die Hand auf die Schulter und flüsterte: »Wir lassen euch jetzt allein.« Alle verließen den Innenhof, die Verwandten, die Freunde, die uomini d’onore, die Ehrenmänner der sizilianischen Mafia. Die schweren Holztüren fielen ins Schloss. Dann war alles still. Man hörte nur noch den leisen Klang des Glockenspiels im Wind. Albertini erhob sich und beugte sich zum Sterbenden hinunter.

»Don Antonio Calame, soll ich Ihnen die Beichte abnehmen?«

»Ich habe nichts zu beichten, Luigi. Ich habe stets getan, was ich tun musste. Manchmal fiel es mir schwer, aber ich habe es getan.«

Das Sprechen strengte ihn an. Jetzt ließ sich der alte Mann ins Kissen zurückfallen.

»Haben Sie noch einen Wunsch, Don Calame?«, fragte Albertini nach einer Weile.

Der Don nickte, er wollte sprechen, aber er konnte nicht. Albertini bot ihm ein Glas Wasser an. Der Don wehrte ab. Er rang nach Worten, nach Luft, bot alle Kräfte auf, bis er endlich hervorstieß: »Munera.«

Luigi Albertini wich irritiert zurück: »Munera?« Don Calame antwortete mit einem flehentlichen Blick. Dann wies er auf das Glas. Albertini flößte ihm etwas Wasser ein. Dann sah der alte Mann ihn erneut an.

»Du wirst meinen letzten Willen erfüllen, Luigi.« Albertini schwieg. Nach einer Weile fuhr der Don fort: »Wenn du stirbst, näherst du dich dem Licht, der Wahrheit. Du verstehst die letzten Mysterien des Lebens. Die Menschen, die an deinem Bett weinen, sind wie offene Bücher. Du wirst meinen letzten Willen erfüllen, Luigi.« Luigi Albertini nickte und erhob sich. Er warf einen Blick zu den verschlossenen Holztüren, um sicherzugehen, dass sie allein waren. Dabei fiel sein Blick erneut auf das Tintinnabulum. Erst jetzt sah er, was es darstellte: Der Hauptteil bestand aus einem großen Phallus, der von weitem einem kopflosen Stier glich. Ein kleiner Junge saß auf dem Penis, und der große Penis hatte wiederum einen kleineren erigierten Penis unter seinem Körper, und an allen Enden hingen kleine Glöckchen, die im Wind schwankten und bimmelten.

»Sie wollen wirklich Munera?«, fragte Luigi leise. Er hoffte, den alten Mann davon abbringen zu können. Doch er erschrak, als der Don jetzt die Augen öffnete. Dieser Blick – so gebieterisch wie damals, als er ihn an die Universität des Opus Dei verbannt hatte, um ihn von seiner Tochter fernzuhalten. Es ist seltsam, dachte Luigi, es gibt Menschen, die so viel Macht auf uns ausüben, dass wir für sie morden würden, weil sie uns das Gefühl vermitteln, als gäbe es keine andere Macht neben ihnen. Ein solcher Mensch war der Don.

»Munera, Luigi. Nicht mehr und nicht weniger. So ist es seit Jahrtausenden Brauch. Die Clientes schulden dem Herrn Munera. Nur zwei Männer.« Der Don hatte Mühe mit dem Schlucken. Albertini bot ihm erneut Wasser an, aber der Don lehnte ab. Er bat Luigi, sich tiefer zu ihm herunterzubeugen. Dann flüsterte er ihm zwei Namen ins Ohr … »Ist das zu viel verlangt für einen Don Antonio Calame?«

Albertini bereute seinen Entschluss, nach Sizilien zu fahren. Er hätte es hinauszögern sollen, als er am Telefon hörte, dass der Don bald sterben würde. Zuerst das Wiedersehen mit Claudia, das ihn tief im Innern aufgewühlt hatte, und nun stand er am Bett eines Mannes, dem er keinen Wunsch abschlagen konnte.

»Aber Don Calame, Lustrinelli ist der Direktor der italienischen Notenbank – auf Lebenszeit!«

»Ja«, flüsterte der Don unbeeindruckt, »hat Lustrinelli sich jemals bei mir bedankt? Hat er jemals Gleiches mit Gleichem vergolten? Dieser Staat wollte ihn nicht, wollte ihn nie. Lustrinelli kam zu mir. Ich habe ihm geholfen. Nicht der Staat hat ihm geholfen. Ich, Don Calame. Lustrinelli war mein Klient. Und jetzt glaubt er, er braucht mich nicht mehr. Jetzt vertraut er dem Staat, er leugnet unsere Freundschaft, ja, ich hörte sogar, dass er sich nicht mehr an meinen Namen erinnert. Aber wenn die Munera beginnen, wird er weinen wie ein Kind und sich wünschen, ich wäre noch am Leben, um ihm zu verzeihen.«