An Krisen reifen
Buddhistische Perspektiven
für schwierige Zeiten
Vollständige E-Book-Ausgabe der bei
J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH erschienenen Printausgabe
© Theseus in J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH,
Bielefeld 2000
Lektorat: Micheline Rampe
Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld, www.mbedesign.de
unter Verwendung eines Bildes © Hildegard Morian, Coesfeld
Layout/Satz: Ingeburg Zoschke, Berlin
www.weltinnenraum.de
Neuauflage 2013
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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ISBN E-Book: 978-3-89901-785-4
ISBN Printausgabe: 978-3-89901-756-4
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Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und
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Vorwort zur Neuauflage
Vorwort
Einleitung
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Wie viel Buddhismus brauchen wir für unser Vorhaben? |
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Das Gewebe der Wirklichkeit |
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Reden ist Silber, Üben ist Gold |
I. |
Dramen, Krisen, Katastrophen – wir können ihnen nicht entgehen |
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Es darf darüber geredet werden |
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Psychologie und Religion |
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Kein Leben ohne Leiden |
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Meditative Übungen: Ein paar Worte zur Methode |
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Übung: Lebensfluss |
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Aus der Bahn geworfen? |
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Übung: Innere Grundstimmung |
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Die Kraft der Überzeugungen |
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Die Frage nach den Ursachen |
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Auswirkungen des Handelns |
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Übung: Handlungen formen Persönlichkeit |
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Vom Handeln zum Erfahren |
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Übung: Schwierigkeiten, die sich wiederholen |
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Wie wir Erfahrungen abrufen |
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Übung: Erfahrungen abrufen |
II. |
Motor der Veränderung |
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Was wollen wir wirklich? |
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Übung: Was will ich wirklich? (I-III) |
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Nahe Ziele, ferne Ziele |
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Basis, Weg und Ziel |
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Übung: Mein Wollen bejahen |
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Veränderung, Wandel, Entwicklung |
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Übung: Person im Wandel |
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Übung: Leitstern |
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Die Notwendigkeit von Entwicklung |
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Übung: Leben ganz nach Wunsch? |
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Krise als Chance? |
III. |
Aus Krisen lernen, an Krisen reifen |
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Völlig am Ende |
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Übung: Bardo-Momente |
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Blick zurück |
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Übung: Ich bin allein |
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Blick nach vorn |
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Übung: Rückkehr |
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Besser vorbereitet für die Zukunft |
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Wie geht es weiter? |
IV. |
Der Weg der inneren Entfaltung |
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Den Weg zu finden ist nicht leicht |
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Hilfestellung in schwierigen Zeiten |
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Übung: Die innere Quelle der Inspiration |
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Vertrauen in die Drei Juwelen |
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Übung: Sangha-Erfahrung |
Fünf Schritte |
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ERSTER SCHRITT: WAS ERFAHRE ICH? EINZELNE SITUATIONEN IN IHREM GEHALT ERFASSEN |
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Blöd gelaufen … |
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Eine andere Haltung |
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Übung: Mut zum Hinsehen |
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Übung: Die sechs Arten des Leidens |
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ZWEITER SCHRITT: WIE REAGIERE ICH? REFLEXHAFTE, GEWOHNHEITSMÄSSIGE REAKTIONEN DURCHSCHAUEN |
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Kleiner Exkurs über das Ich |
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Übung: Auf der Suche nach dem Ich |
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Übung: Alltagsärger |
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Übung: Den Mangel sehen |
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Wer bin ich eigentlich? |
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Übung: Selbstbespiegelung |
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Die Veränderung von Denk- und Verhaltensmustern |
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DRITTER SCHRITT: WAS GESCHIEHT? DAS NETZ DER BEDINGTHEIT ERKENNEN |
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Die Bedingungen des Daseinskreislaufs |
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Übung: Der Ozean des Werdens |
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Übung: Das Netzwerk der Bedingtheit |
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Rückwirkungen auf das Hier und Jetzt |
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Übung: Existenzenkette |
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VIERTER SCHRITT: WAS IST MÖGLICH? ÜBER SICH SELBST HINAUSWACHSEN |
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Übung: Herzenswärme (I) |
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Der Umgang mit anderen |
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Übung: Herzenswärme (II) |
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Unermessliche Ausstrahlung |
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Pragmatische Ethik |
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Die Verbindung mit allem, was lebt |
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Übung: Die Verbindung mit allem, was lebt |
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Übung: Die Vier-Stufen-Meditation |
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FÜNFTER SCHRITT: AUSWEITUNG DES HORIZONTS |
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Der Tod ist mir gewiss … |
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Radikales Bodhisattva-Geistestraining |
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Leerheit |
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Mandala-Erfahrung |
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Erfahrungen sind unsere Lehrer |
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Übung: Im Alltag den Lehrer treffen |
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Der Kreis schließt sich: das kostbare Menschenleben |
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Übung: Das kostbare Menschenleben |
V. |
Das letzte Wort: Es gibt kein letztes Wort … |
Glossar
Literatur
Zur Autorin
Es ist immer spannend, sich eigene Texte aus dem Abstand mehrerer Jahre noch einmal vorzunehmen. Man liest sie ein bisschen so, als wären sie von einer anderen Person verfasst, was in gewisser Weise ja auch zutrifft. Die Autorin, die damals vor vierzehn Jahren »An Krisen reifen« schrieb, unterscheidet sich doch sehr von der Frau, die ich heute bin. Gibt es einen roten Faden, der das Gestern mit dem Heute verbindet?
Was bedeutet dieses Buch heute für mich? Wie weit ist es noch »meins«? Kann ich nach wie vor dazu stehen? Was hat sich verändert, was ist gleich geblieben?
»An Krisen reifen« ist ein Ratgeber, der ganz klar aus einer buddhistischen Perspektive heraus geschrieben wurde. Kapitel für Kapitel, Beispiel für Beispiel, Übung für Übung präsentieren sich im Kontext der Lehre des Buddha. Ende der neunziger Jahre, als das Manuskript entstand, definierte ich mich noch ohne jeden Zweifel als Buddhistin. Das ist heute nicht mehr der Fall. Obwohl Spiritualität mein Leben nach wie vor essenziell prägt, empfinde ich mich nicht mehr einer Richtung, einer Lehre, einer Schule oder Tradition fest zugehörig. Als ewig Lernende bin ich, im Überschneidungsbereich der modernen Natur- und Humanwissenschaften, auf einer Entdeckungsreise unterwegs, deren Grenzen sehr weit gesteckt sind. Das gilt auch für den Austausch mit anderen Menschen, privat und beruflich. Während ich als psychologische Beraterin und Coach meinen Klienten in ihren Krisen und Konflikten beistehe und sie auf den faszinierenden Pfaden der Selbstklärung, Selbstheilung und Selbstrealisierung begleite, wächst mit jedem weiteren Jahr mein respektvolles Staunen angesichts der unendlichen Entdeckungs- und Gestaltungsmöglichkeiten jeder individuellen Seele. Diese Möglichkeiten sind einzigartig. Nie gehen zwei Persönlichkeiten denselben Weg, nie erleben zwei Menschen das Gleiche. Das klingt im ersten Moment vielleicht trivial, aber wenn man es ernst nimmt, sowohl für die äußere wie auch für die innere Realität, dann bedeutet es nicht weniger als: Es gibt keine Religion, kein Dogma, kein Lehrgebäude, keinen »Ismus«, der allgemein und dauerhaft für alle gilt – ganz egal, mit welchem Anspruch man uns getauft, belehrt, initiiert und mit Geboten und Gelübden beladen hat.
So radikal hätte ich das vor zehn, fünfzehn Jahren noch nicht ausgedrückt. Wenn ich mir aber heute die Begriffe, Textstellen und Beispiele anschaue, auf die ich mich für die Ausführungen dieses Buches gestützt habe, dann sehe ich: Sie folgen bereits genau dieser Logik. Auf den Punkt gebracht: Alles, was die Ratsuchenden zusätzlich belastet, bedrängt und ihren Blick verengt, wurde aussortiert. Was ihren Blick weitet, ihre Seele frei macht, wurde gewählt. So entstand ein Buch, das ich auch heute noch – fast zu meinem eigenen Erstaunen – anerkennen und mit gutem Gewissen in der Welt sein lassen kann.
Damals habe ich es etwas salopp als mein Abschiedsgeschenk an die buddhistische »Szene« bezeichnet, der ich nach fast zwei Jahrzehnten intensiven Engagements Ende 1999 den Rücken kehrte. Vielleicht war es das auch, aber sicher war es auch eine Standortbestimmung für mich selbst. Was konnte ich mitnehmen von dieser Lehre in mein neues Leben jenseits der öffentlichen Verpflichtungen und organisatorischen Strukturen? Was würde Bestand haben und jeder Prüfung gewachsen sein? Was blieb praktikabel, inspirierend und mit anderen teilbar?
Letztlich war es dann doch eine ganze Menge, denn viele der Übungen, die auf den folgenden Seiten beschrieben sind, wende ich auch heute noch mit Gewinn an, wenn auch ergänzt um eine ganze Reihe weiterer Ansätze und Methoden. Sie alle haben einen gemeinsamen Nenner, nämlich das Verständnis für die Bedeutung mentaler Felder, das unsere Vorstellungen von Identität und Realität grundlegend verändert. Für das Ergebnis spielt es keine Rolle, ob wir dieses Verständnis aus der Biologie, der modernen Physik oder der Meditation herleiten. Es ist der Dreh- und Angelpunkt eines erweiterten Wahrnehmungs- und Kommunikationserlebens und damit auch die Ausgangsbasis für schamanische Visionsreisen und systemische Aufstellungen.
Identität, Realität, Kreativität waren für mich schon immer zentrale, kaum jemals auszulotende Begriffe, und sie sind es bis heute geblieben. Wer oder was bin ich? Worin besteht meine Wirklichkeit, was macht sie aus, wie wird sie gestaltet? Wie erlange ich Zugang zu meinem schöpferischen Potenzial jenseits aller vordergründigen Einschränkungen und Zwänge? Und was lässt sich mit diesem Potenzial alles anfangen?
Fragen, auf die es so viele Antworten gibt wie Persönlichkeiten, die sie stellen. Das sehen allerdings nicht alle Lehrenden so. Die Vermittler wissenschaftlicher Dogmen, politischer Ideologien und sogenannter Weltreligionen präsentieren oft starre, vorgefertigte Konzepte und fordern Glauben, wenn nicht sogar Unterwerfung. Doch es gibt auch andere, die die Suchenden zum individuellen Forschen, Ausprobieren und Verwirklichen ermutigen. Sie würdigen die individuelle Erfahrung und fördern sie ganz gezielt. Diesen gehört meine ganze Sympathie, ganz gleich, aus welcher Kultur sie stammen. So unterschiedlich solche Lehren sein mögen, haben sie doch wesentliche Merkmale gemeinsam: Ihre Methode ist Unterstützung, ihr Ziel Entfaltung; Vertrauen, Freude und zunehmende Gelassenheit sind ihre Geschenke.
Die werden auch dringend gebraucht, denn seit der Erstausgabe dieses Buches im Jahr 2000 hat das Wort »Krise« noch mal eine ganz neue Bedeutung angenommen. Der Druck auf jeden einzelnen Menschen nimmt zu; die unvermeidlichen Reaktionen darauf – Aggression und Depression – werden als »Volkskrankheiten« bezeichnet und nach Möglichkeit wegbehandelt. Auf der kollektiven Ebene geschieht so viel Übles, dass wir schon von einer Dauerkrise der Menschheit sprechen können. Ein böser Traum, aus dem es anscheinend kein Erwachen gibt. Jeder politische oder weltanschauliche Versuch einer allgemeinen »Weltrettung« muss chancenlos bleiben, weil die üblichen Verzerrungen und Manipulationen effektive Reformen zuverlässig verhindern. Anders sieht es jedoch auf der individuellen Ebene aus. Hier sind Antworten zu finden, gibt es offene Türen und Handlungsspielräume, die wir nutzen sollten.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie in Ihrem Leben immer wieder auf Quellen stoßen, aus denen Sie für sich persönlich hilfreiche Anregungen schöpfen können. Wenn Ihnen die eine oder andere auch hier in diesem Buch begegnet, freut es mich.
Regine Leisner
Riedbach, im April 2013
Liebe Leserin, lieber Leser,
die Flut der Ratgeberliteratur ist heute schier unübersehbar. Es gibt Bücher zu jedem Thema und in jeder beliebigen Auswahl. Kaum ist ein neues Problem erkannt, stapeln sich auch schon die Ratgeber dazu auf den Ladentischen. Auch zum Thema Krisen gibt es bereits einiges, sogar aus buddhistischer Sicht. Warum also auch das noch?
Was nützt einem überhaupt ein Buch, wenn es hart auf hart geht? Es wäre unseriös vorzugeben, dass einer akuten Krise mit bedrucktem Papier wirksam begegnet werden kann. Um von guten Ratschlägen profitieren zu können, müssen Sie aufnahmefähig sein. Solange das nicht der Fall ist, sind vielleicht erst einmal – je nach individueller Lage – andere Sofortmaßnahmen hilfreich: Gehen Sie spazieren, ins Kino, zum Friseur, Eis essen, hören Sie wohl tuende Musik (Bach ist empfehlenswert, falls Sie das mögen), kaufen Sie sich etwas Nettes zum Anziehen, buchen Sie eine Urlaubsreise, melden Sie sich zu einem Malkurs an, besuchen Sie Freunde, tun Sie sich einfach etwas Gutes. Oder sprechen Sie mit einem Psychotherapeuten, einer Therapeutin und lassen Sie sich, wenn es nötig ist, von Ärzten/innen und Medikamenten helfen …! Aufgrund vielfacher Erfahrungen bin ich davon überzeugt, dass Psychopharmaka, wenn sie gezielt, sinnvoll und verantwortungsbewusst eingesetzt werden, zu den segensreichsten Erfindungen des zwanzigsten Jahrhunderts gehören. Obwohl selbst im Ernstfall eher eine kritische Patientin, teile ich doch nicht die Einstellung mancher, die an der Schulmedizin und ihrem Instrumentarium kein gutes Haar lassen.
Was ist nun die Absicht dieses Buches und an wen wendet es sich? An alle, die bereits durch Krisen gegangen sind und wissen, dass sie ein Teil des menschlichen Lebens sind – und dass die vom Vulkan unter Gestank und Getöse ausgespiene Lava später zum fruchtbarsten Ackerboden wird; an alle, die wissen, dass ihnen auch in Zukunft schwierige Zeiten nicht erspart bleiben werden; an alle, die bereit und interessiert sind, vergangene und zukünftige Krisen als Teil des menschlichen Lernprogramms etwas genauer und vielleicht etwas furchtloser als früher unter die Lupe zu nehmen.
Meine eigene Qualifikation für dieses Thema besteht darin, dass ich sowohl im Überleben von Krisen wie auch in der buddhistischen Praxis einige Erfahrung habe. In meinen »wilden Jahren« war ich selbst von Depressionen gebeutelt, von Alkohol- und Tablettenmissbrauch gezeichnet, vom Selbstmord bedroht. Selbst als ich schon im Buddhismus meine spirituelle Heimat gefunden hatte, sah es lange Zeit so aus, als könne ich niemals längere Retreats (Meditationsphasen in Zurückgezogenheit) durchführen, weil ich bei jedem Versuch mit schöner Regelmäßigkeit in depressive Verstimmungen abstürzte und aufhören musste. Obwohl ich vor nunmehr fast 20 Jahren spontan Vertrauen zu der Lehre des Buddha fasste, bedeutete dies keineswegs ebenso prompt die Auflösung all meiner äußeren und inneren Hindernisse. Im Gegenteil, manchmal schienen sie sich noch zu vermehren. Und dennoch kann ich heute mit einer Gewissheit, die auf gelebter Erfahrung beruht, sagen: Der Dharma wirkt sofort, wenn es darum geht, neuen Mut zu schöpfen. Er wirkt als Langzeitprogramm (und zwar lebenslang), wenn es darum geht, tief sitzende Problemfelder Schritt für Schritt zu erkennen und aufzulösen. Und er führt uns, wenn wir wollen, weit über diese anfänglichen Ansätze hinaus …
Trotz der engen Beziehung zur buddhistischen Überlieferung ist dies kein buddhistisches Buch im engeren Sinne und schon gar keines mit missionarischem Anspruch. Mein tibetischer Lehrer pflegt zu sagen: »Um von den buddhistischen Erklärungen und Methoden zu profitieren, muss man kein Buddhist sein.« Ich selbst habe oft nach Vorträgen oder Seminaren von Teilnehmer/innen gehört: »Das klingt ja einfach nur wie gesunder Menschenverstand!« – ein wunderbares Kompliment. Sie brauchen also, um aus diesem Buch einen Nutzen zu ziehen, weder Buddhist/in zu sein noch zu werden. Ein grundlegendes, mehr oder weniger bewusstes Interesse an innerer Weiterentwicklung teilen wir ohnehin alle miteinander, und das genügt als Verständigungsbasis.
Ich habe versucht, ein nicht ganz einfaches Thema aus dem Blickwinkel einer 2500-jährigen religiösen Tradition zu behandeln – und damit gleichzeitig den Erfahrungen und Bedürfnissen der Menschen in unserer heutigen Welt zu begegnen. Dabei habe ich mich bemüht, sowohl auf exotische Techniken wie auch auf oft zu lesende, aber schwer nachvollziehbare Empfehlungen (»Sei einfach im Hier und Jetzt …!«) zu verzichten und stattdessen ein fundiertes Arbeiten entlang der eigenen Erfahrung zu beschreiben, Schritt für Schritt und Atemzug für Atemzug.
Regine Leisner
Riedbach, im Januar 2000
Erinnerung. Ein heller, kalter Nachmittag im Vorfrühling. Ich laufe langsam, noch etwas unsicher durch die Nürnberger Altstadt – frei, endlich wieder frei. Frei von der Zentnerlast der Depression, frei vom tödlichen Karussell der Selbstmordgedanken, frei von der wochenlangen freundlichen Bevormundung in der Klinik. Ich habe mein Leben wieder selbst in der Hand. Das ist ein gutes Gefühl. Ich erlebe es ganz bewusst und nehme mir fest vor, es nicht wieder aufs Spiel zu setzen. Was war es eigentlich, das mir in dieser Zeit am meisten geholfen hat? Waren es die Ärzte, die Medikamente, die geschützte Umgebung? Sicher, auch. Aber am wichtigsten und wirksamsten waren die Erzählungen der Frauen.
Alkoholikerinnen, mehrfach rückfällig und auffällig geworden, nicht zum ersten Mal in der Klinik gelandet. Ich lernte drei oder vier von ihnen etwas besser kennen. Wir saßen lange zusammen im unpersönlichen Aufenthaltsraum, bastelten an irgendwelchen Handarbeiten, und ich hörte zu. Sie erzählten von ihrem Leben. Vom Trinken und dem Kampf ums Nicht-Trinken, von verlorenen Jobs und vom sozialen Abstieg, von überforderten Partnern und Familien, die sich trotzdem um Verständnis bemühten, von Nachbarn und Bekannten, die nichts wissen durften, von der Angst, irgendwann ganz unten zu landen und nicht mehr hochzukommen, vereinsamt und verwahrlost, auch von der Angst, entmündigt und verwaltet zu werden, von der Sehnsucht nach Liebe und der Sehnsucht nach dem Tod. Sie erzählten von dem endlosen Kampf um eine ganz normale, bürgerliche Existenz, der von einem Tag zum anderen nur bestanden, aber nie wirklich gewonnen werden kann.
Ich war damals neunzehn, zwischen Abitur und Studienbeginn in die Krise abgestürzt wie viele in diesem Alter, und ich hörte zu, mit offenen Ohren und weit offenem Herzen. Das gemeinsame Boot, in dem wir alle saßen, machte den Blick in eine mir sonst verschlossene Welt möglich, und etwas in mir wurde zutiefst davon berührt. Was kein Arzt geschafft hatte: Mein Wille zum Leben, zum Überleben, zum Selbstgestalten und Selbstverantworten wurde wieder geweckt. Ich begriff: Es kann sehr leicht passieren, dass jemand sein Leben so verbringt, als eine Folge von Klinikaufenthalten, mit mehr oder weniger erfolgreichen Phasen versuchter Selbstständigkeit dazwischen. Menschen leben so. Sie unterscheiden sich nicht grundsätzlich von mir. Will ich so leben? NEIN! Es muss eine Weichenstellung geben, die eine solche Entwicklung verhindert. Ich werde es herausfinden. Es wird von diesem Absturz keine Wiederholung geben. Nie wieder! Das war kein frommer Wunsch, sondern ein felsenfester Entschluss, an dem wohl sämtliche Schichten meines Bewusstseins beteiligt gewesen sein müssen. Dieses »Nie wieder!« wurde geradezu mein Mantra, und obwohl es anfangs nicht leicht war, schaffte ich es, dauerhaft einen gesünderen Weg einzuschlagen.
Ich weiß nicht, was später aus diesen Frauen wurde, unsere Wege kreuzten sich nie wieder. Aber ich werde ihnen mein Leben lang dankbar sein. Hoffentlich haben auch sie es geschafft, sich ein neues Leben aufzubauen.
Krise ist ein dehnbarer Begriff. Es gibt zwar allgemein gültige Definitionen, etwa aus medizinischer, psychologischer oder spiritueller Sicht, aber im Grunde hat doch jede/r von uns zu diesem Wort einen ganz eigenen Bezug.
Für die einen ist es vielleicht der große Zusammenbruch, der in der Vergangenheit – um einen hohen Preis – ihr Leben in neue Bahnen gelenkt hat, für andere mögen es eher alltägliche, aber immer wiederkehrende Schwierigkeiten sein, die Kraft kosten und an der Lebensfreude nagen. Gemeinsam dürfte uns allen sein, dass wir solche Erfahrungen als schmerzhaft und unerwünscht einschätzen. Es wäre zu schön, wenn jemand ein Rezept hätte, wie wir uns dauerhaft davor schützen können.
Aber wie könnte ein solches Rezept aussehen? Was könnte es enthalten? Vielleicht Empfehlungen wie diese: »Tun Sie dies, und lassen Sie jenes, dann kann Ihnen nichts mehr passieren.« »Schließ dich unserer Religion, Glaubensgemeinschaft, Weltanschauung an, dann bist du gerettet.« »Finde heraus, wer an deiner Misere schuld ist (die Reichen, die Männer, die Weißen, die Schwarzen), und kämpfe sie nieder, dann wird es dir gut gehen.« Oder ganz banal: »Kaufen Sie dieses Buch, belegen Sie jenen Kurs, folgen Sie diesem Lehrer und jener Methode, und alle Ihre Probleme sind gelöst.«
Ich glaube das alles nicht. Wenn wir nach etwas greifen oder etwas machen, kann uns das vielleicht vorübergehend ein angenehmes Gefühl bescheren, was ja ganz in Ordnung ist, aber mehr sollten wir davon nicht erwarten. Tief greifende und dauerhafte Veränderungen berühren immer die Ebene des Seins. Das ist die Ebene, wo wir uns selbst zum Ratgeber, selbst zur Lehrerin werden, wo unsere eigenen Erfahrungen Grundlage der Betrachtung sind, wo wir selbst Schlüsse ziehen und Resultate beurteilen müssen. Natürlich brauchen wir Anregungen und Vorschläge von außen, aber wir allein sind diejenigen, die die Verantwortung für unser Leben tragen. Niemand kann uns das abnehmen. Das ist gleichzeitig beängstigend und beglückend.
So gesehen ist dieses Buch eine Einladung an alle, die sich mit den Schwierigkeiten und Krisen in ihrem Leben auf umfassende Weise auseinandersetzen möchten. Die Methoden sind sanft, aber der Ansatz, sich selbst vollständig wahrzunehmen und ernstzunehmen, stellt eine echte Herausforderung dar. Wenn Sie Lösungen auf Knopfdruck wünschen oder erfahren möchten, wie Sie mit ein paar Tricks Ihre Probleme wegzaubern und sich in einen Zustand ungetrübten Wohlbefindens versetzen können, werden Sie vermutlich enttäuscht sein. Wenn Sie aber mit dem Satz:
Es geht nicht um das, was ich will oder nicht will,
habe oder nicht habe,
sondern um das, was ich bin;
etwas anfangen können oder zumindest bereit sind, sich darauf einzulassen, dann steht unserem gemeinsamen Abenteuer nichts im Wege.
Möglicherweise gehen Ihnen jetzt Fragen durch den Kopf: Wie komme ich an diese »Seinsebene« heran? Vielleicht ist das alles furchtbar schwierig und langwierig oder sogar gefährlich? Vielleicht kann ich das gar nicht? Vielleicht ist es mir auch viel zu anstrengend, gerade jetzt, wo es mir gar nicht gut geht. Keine Sorge! Wir alle sind schon mittendrin in diesem Sein. Es gibt da kein Können oder Nicht-Können. Der Unterschied liegt lediglich in der Wahrnehmung, in der Sichtweise. Wer die Bereitschaft mitbringt, entspannt, spielerisch und ganz ohne Leistungsdruck alte Denkgewohnheiten zu erforschen und neue auszuprobieren, den Blickwinkel zu erweitern und sich für Erfahrungen zu öffnen, verfügt bereits über die besten Voraussetzungen.
Ich kann Ihnen nichts sagen, was Sie nicht im Grunde Ihres Herzens bereits wissen. Die Rolle der Lehrerin, der Expertin, des Vorbilds möchte ich für niemanden spielen, denn das führt meiner Ansicht nach nur zu nach außen gerichteten Projektionen und zu Selbst-Entfremdung; echte Begegnung wird dadurch verhindert. Aber als Mit-Übende kann ich eine Zeit lang die Aufgabe übernehmen, Sie an Ihre eigenen Qualitäten und Ihre innere Kraft zu erinnern. Ich kann Ihnen Übungen vorschlagen und Hinweise zur Deutung von Erlebnissen geben. Andere Vorschläge und Hinweise mögen jedoch genauso wertvoll sein. Wenn Sie wollen, können Sie Lehren und Hilfestellungen aus vielen Quellen schöpfen, ja, aus allem, was existiert. Es liegt allein an Ihnen, was Sie auswählen, wann Sie anfangen, wie weit Sie gehen wollen und wann Sie sich eine Pause gönnen.
Ich rede damit nicht etwa der völligen Beliebigkeit das Wort. Sich selbst in umfassender, selbstverantwortlicher Weise anzunehmen und ernstzunehmen, erfordert mehr Mut, Zielstrebigkeit und Disziplin, als hinter jemandem herzulaufen, der einem sagt, wo’s langgeht. Es gibt in uns ein intuitives Wissen, das uns weiterbringt, aber auch Impulse, die uns in die Irre führen. Wir müssen unter anderem herausfinden, wie wir das eine vom anderen unterscheiden können. Wir müssen auch herausfinden, wie sich ein gesundes Selbstvertrauen, frei von Über- oder Unterschätzung, anfühlt, woraus es sich speist und wie wir es aufrechterhalten können, auch wenn wir manches nicht im Griff haben. Und was den Austausch mit anderen angeht, gilt es festzustellen, was uns und ihnen gut tut und was nicht. Das alles und noch mehr benötigen wir, um uns mit unserem Thema auf eine fruchtbare Art und Weise zu beschäftigen.
Ich selbst beschreibe meine Erfahrungen ganz bewusst nicht aus sicherer Distanz. Während ich die einzelnen Absätze und Kapitel formuliere und mich in die Übungen versenke, bin ich bereit, erneut durch alle angesprochenen Prozesse zu gehen. Ich lade Sie ein, die Erfahrungen mit mir zu teilen. So kann, auf einer tieferen Ebene und leicht zeitversetzt, das Schreiben und Lesen zu einem Kommunikationsprozess zwischen uns werden, von dem wir alle profitieren. In gewisser Weise kann dies also, zeitgemäß ausgedrückt, ein interaktives Buch sein. Und das ist ganz ernst gemeint: Wenn Sie sich für gleichberechtigten Meinungsaustausch interessieren, sind Sie herzlich eingeladen, auf meiner Seite im Internet (www.Regine-Leisner.de) vorbeizuschauen. Ein Hauptanliegen meiner Arbeit war und ist die gemeinschaftliche Weiterentwicklung von gedanklichen Ansätzen und Übungen für ein sinnvoll ausgerichtetes, erfülltes Leben. Wir können uns dabei von der buddhistischen Lehre inspirieren lassen, ohne dass wir uns einer bestimmten Tradition, Schulrichtung oder Organisation verpflichten müssen.
Der Buddha war kein Freund unnötiger Worte. Vom Reden um des Redens willen hielt er nicht viel. Diese Erfahrung musste so mancher seiner gebildeten Gesprächspartner machen, wenn er den Erhabenen aufsuchte, um ihn in einen gelehrten Diskurs zu verwickeln. Irgendwie landete das Gespräch meist sehr bald bei der persönlichen Situation des Fragestellers, beim Leiden und der Befreiung davon – dem zentralen Thema von Buddhas Lehre. War bei dem Besucher ein Erkenntnisprozess in Gang gekommen, dann konnte er in den Übungsweg eintreten, wenn er wollte. Aber nicht jeder tat das. Manche meinten sinngemäß: »Tja, es war sehr interessant, und ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre wertvollen Ausführungen, aber ich habe da noch einen dringenden Termin und muss mich jetzt leider verabschieden«, worauf der Buddha, freundlich-gelassen und mit großer Höflichkeit erwiderte: »Wie es Ihnen beliebt, Herr Minister.«
Dass der Buddhismus dann doch so ein gewaltiges Lehrgebäude wurde, liegt zum einen daran, dass der Buddha 45 Jahre lang als Wandermönch durch Nordindien zog und überall gebeten wurde, den Dharma darzulegen; seine Lehrreden wurden später aufgezeichnet, und es ist noch ziemlich viel davon erhalten. Zum anderen hat in den ca. 2 500 Jahren nach seinem Tod der Buddhismus in zahlreichen Ländern und Kulturen Fuß gefasst, es entstanden Schulrichtungen und Traditionen und eine schier unüberschaubare Fülle von Kommentarliteratur. Gegenwärtig wächst auch im Westen das Interesse an seiner Lehre; allein im deutschsprachigen Raum erschienen in den letzten Jahren Dutzende von Einführungen in den Buddhismus.
Wir brauchen uns aber durch die Fülle des Angebots keineswegs entmutigen zu lassen. Für unsere Zwecke genügt es nämlich, wenn wir jeweils da, wo es thematisch angebracht ist, die passende Schublade öffnen. Am Ende werden Sie dann vielleicht feststellen, dass Sie sich – so ganz nebenbei – einen recht guten Eindruck von der buddhistischen Lehre verschafft haben, gewissermaßen »absichtslos«.
Lediglich auf einen buddhistischen Begriff möchte ich bereits jetzt eingehen, weil er von grundlegender Bedeutung für alles folgende ist – und weil er leicht missverstanden werden kann: Karma. Die Lehre vom Karma bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Handeln und Erfahren. Die Kurzformel lautet: Unheilsames Handeln führt, früher oder später, zu leidvollen Resultaten, heilsames Handeln führt zu angenehmen Resultaten. Menschen, die von der christlich-abendländischen Kultur geprägt sind, haben oft Probleme, diesen Satz in seiner Einfachheit zu erfassen. Sie neigen dazu, einiges »draufzusatteln«: Schuld, Strafe und eine höhere Instanz, die die Strafen verhängt und vor der man sich rechtfertigen muss. Das ist aber alles nicht gemeint.
Wir kommen dem Verständnis näher, wenn wir statt handeln wirken sagen und von da aus die Verbindung zu dem Wort Wirklichkeit suchen. Die Wirklichkeit, die jede/r von uns täglich auf ganz individuelle Weise erfährt, ist etwas Gewirktes, wie ein Gewebe. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, a) wie dieses Wirken geschieht und b) wie wir in unserem Leben mit den bereits gewirkten Mustern klarkommen können. Wenn wir anfangen, die Zusammenhänge zu sehen, dann geht uns auf, welche Interpretationsspielräume unser Erleben aufweist und welche gestalterische Macht in unserem Handeln liegt.
Gewirkt.
Die Person, die ich bin.
Das Leben, das ich lebe.
Körper und Geist.
Schwächen und Talente.
Umgebung, Beruf, Familie, Rang.
Freunde und Feinde.
Kindheit, Jugend, Alter.
Gesundheit, Krankheit, Tod.
Wirken.
Stunde um Stunde, Tag um Tag.
Festhalten an mir selbst.
Greifen nach der Welt.
Verteidigen, anhäufen, sammeln, besitzen.
Mein Mann, meine Frau, mein Kind.
Meine Meinung, mein Club, meine Altersversorgung.
Wir hier – die dort.
Sicherheit suchen.
Kummer vermeiden.
ICH möchte glücklich sein.
Wie?
Der Buddha lehrte, dass unser gewöhnliches Verständnis von uns selbst und der Welt nicht nur beschränkt ist, sondern folgenschweren Irrtümern unterworfen. Von der Welt und allen ihren Erscheinungen, uns selbst eingeschlossen, haben wir uns ein Bild gemacht; wir erleben sie als verdinglicht, fest gefügt und voneinander getrennt. Wir selbst als isolierte Einzelwesen versuchen nun, uns in dieser Welt zurechtzufinden und nach Möglichkeit aus dem großen Kuchen ein Stück Glück herauszuschneiden. Diese Grundhaltung, diese Art zu agieren, prägt unsere gesamte Persönlichkeit und unsere Wahrnehmung. Sie bringt es mit sich, dass wir ständig mit anderen konkurrieren. Konflikte und Leiden, Schwierigkeiten und Krisen sind vorprogrammiert. Gelegentliche Glücksmomente können diese latente Bedrohung nicht aufheben. Aus dem so hoffnungsvoll Gewirkten wird eine drückende Fessel. Da wir keine Alternative haben, kämpfen wir uns immer weiter durch, so gut wir können.
Unser Handeln hat Folgen. Jeder Impuls, der in konkretes Tun umgesetzt wird, verändert die Umgebung, verändert uns selbst, beeinflusst die Zukunft. Was liegt also näher, als das weite Feld des eigenen Handelns näher zu erforschen? Wir können Motive untersuchen, Zusammenhänge aufspüren, Alternativen zum Gewohnten ausprobieren und uns die Resultate sehr genau anschauen. Das wäre ein sinnvoller Umgang mit dem Begriff Karma – spannender als jeder Krimi. Und genauso spannend ist es, die so genannte Wirklichkeit etwas näher unter die Lupe zu nehmen und anhand verschiedener Experimente der Frage nachzugehen, wie dieses Gewebe, das wir »die Realität« nennen und das scheinbar völlig losgelöst von uns besteht, tatsächlich existiert. Je nachdem, zu welcher Antwort wir letztlich gelangen, eröffnen sich uns unterschiedliche Freiheitsgrade.
Es gibt zwei Standardfragen, die bei jedem Vortrag über ein buddhistisches Thema gestellt werden, meist gleich zu Beginn einer Fragerunde. Nummer eins: »Wie steht es mit der Rolle der Frau?«, Nummer zwei: »Wie lässt sich das Gehörte praktisch anwenden?« Diese beiden Fragen illustrieren eindrucksvoll die Erwartungshaltung, die ein westliches Publikum heute gegenüber spirituellen Angeboten zeigt. Man könnte sie, salopp ausgedrückt, auf den Nenner bringen: »Kommt uns bloß nicht mit autoritären, patriarchalischen, pompösen, exotischen, intellektuell abgehobenen, komplizierten, nicht nachprüfbaren, nicht konkret anwendbaren Religionsmodellen. Wir sind nicht an einer Lehre interessiert, die erst im Jenseits verifiziert werden kann. Wir wollen nichts glauben müssen. Wo ist der greifbare Nutzen – jetzt sofort?« Wenn auch solche Meinungen manchmal etwas reflexartig geäußert werden, so darf man doch nicht vergessen, dass sich ein jahrhundertelanges Ringen um geistige Emanzipation in ihnen widerspiegelt.
Spirituelle Angebote müssen sich heute daran messen lassen, dass sie schlicht und persönlich gehalten sind, verständlich und praktikabel. Daraus ergibt sich dann aber auch, dass sie tatsächlich zum Praktizieren gedacht sind. Vom Hören oder Lesen über das Reden zum Tun ist es jedoch ein weiter Weg. Der erste Schritt ist vielleicht der wichtigste.
Erinnerung. Abends im November auf der regennassen Bundesstraße. Im Scheinwerferlicht tauchen rechts und links die kahlen Bäume auf, der Wind wirbelt die letzten braunen und gelben Blätter durch die Luft, eines bleibt am Rand der Windschutzscheibe haften. Eine ungemütliche Szenerie, aber ich fühle mich trotzdem rundherum wohl, wie immer auf der Rückfahrt vom Yoga-Abend. Gleichzeitig wach und entspannt, lebendig, wie neugeboren. Die Übungen für die Wirbelsäule sind das Beste, was ich meinem Schreibtischhocker-Rücken antun kann. Ich lächle in mich hinein, als ich daran denke, wie lange es gedauert hat, bis ich meine guten Vorsätze in die Tat umgesetzt und mich endlich einmal zum Yoga-Kurs angemeldet habe. Bücher gelesen, mit Leuten geredet, gute Ratschläge entgegengenommen: »Du solltest … du müsstest … schau dir doch mal deine Haltung an … kein Wunder, wenn du …« – Ihr hattet ja alle so Recht! Und trotzdem, wie lange dauert das, bis frau sich endlich aufrafft! Es gibt immer so viel anderes zu tun. Und die gut gemeinten Empfehlungen anderer bleiben eben doch nur Worte.
Dagegen die eigene Erfahrung: zu spüren, wie sich Muskeln dehnen, Wirbel aufrichten, der Körper sich mit Sauerstoff versorgt, wie Durchblutung, Beweglichkeit, Wohlbefinden sich verbessern … das alles kann man mit Worten genauso wenig vermitteln wie den Geschmack eines Apfels.
Ob wir Tango tanzen, Staubsauger verkaufen oder mit uns selbst Freundschaft schließen – die konkrete Übung ist durch nichts zu ersetzen. Es geht darum, neue Fähigkeiten zu entdecken, Fertigkeiten auszubilden und allmählich Sicherheit in ihrer Anwendung zu erlangen. Weil das so wichtig ist, habe ich meine Ausführungen immer wieder durch meditative Übungen ergänzt. Einige wurden für dieses Buch konzipiert, andere haben bereits über Jahre hinweg den Praxistest in Gruppen bestanden. Durch diese Übungen können Sie überprüfen, ob Sie dem Gelesenen zustimmen oder andere Wege gehen möchten. Die Übungen sollen Ihnen aber vor allem auch helfen, die Ebene des rein intellektuellen Verarbeitens zu verlassen und immer wieder zu Ihrem ganz persönlichen Erleben zurückzukehren.
Die Übungen eignen sich dazu, allein oder gemeinsam mit anderen, auf dem Kissen oder einem Stuhl sitzend, durchgeführt zu werden. Viele davon lassen sich auch im Alltag praktisch umsetzen. Ein reiches Betätigungsfeld bietet sich in Beziehung und Familie, Freundeskreis und Beruf. Beide Herangehensweisen ergänzen sich hervorragend und sind deshalb gleichermaßen zu empfehlen.
Sie benötigen weder Vorkenntnisse noch Meditationserfahrung. Die Übungen sind einfach und wurden absichtlich so konzipiert, dass Sie nicht in psychische Abenteuer gestürzt werden. Natürlich kann es sein, dass sich manchmal heftige Gefühle einstellen oder die Erinnerung an leidvolle Erlebnisse sehr intensiv wird, aber dramatische Konfrontationen sind nicht der eigentliche Zweck. Jede Übung kann und soll sofort beendet werden, wenn Sie sich damit nicht gut fühlen. Wir arbeiten hier mit den sanften Methoden des Erinnerns, des Nachempfindens, der Betrachtung, die zu einem vertieften Verständnis führen. Die geistige Grundhaltung, auf der alle buddhistisch inspirierten Übungen basieren, nennt sich Achtsamkeit oder Gewahrsein. Damit ist gemeint, dass wir uns zu jeder Zeit unserer momentanen Gedanken und Gefühle, unserer inneren und äußeren Befindlichkeit klar bewusst sind. Diese Bewusstheit erlaubt uns, innere Vorgänge in ihrem Entstehen und Vergehen deutlich wahrzunehmen, noch bevor der Automatismus des Wertens, Interpretierens, Reagierens einsetzt. Wahrnehmen heißt nicht, sich distanzlos mit allem, was da kommt, zu identifizieren, sondern es erlaubt uns, angemessen und konstruktiv damit umzugehen.
Ich spreche übrigens in diesem Zusammenhang absichtlich nicht von Meditation, sondern von meditativen Übungen. Meditation im klassischen Sinne erfordert genauere Anleitungen und geht in ihrer Methodik und Zielsetzung über das hinaus, was ein Buch vermitteln kann. Wenn Sie Meditation ausdrücklich zu Ihrer Praxis machen und regelmäßig intensiv üben möchten, sollten Sie sich von qualifizierten Lehrenden persönlich informieren und betreuen lassen.
Ob es wohl jemanden gibt, der von sich sagen kann: »Bei mir ist eigentlich immer alles glatt gelaufen«? Möglich. Allerdings müssen solche Menschen die ganz große Ausnahme sein, ich habe jedenfalls noch keinen von ihnen getroffen. Die übliche Reaktion auf das Wort Krise besteht vielmehr in spontanem, verständnisvollem Nicken und einem nachdenklichen Blick.
Der Siegeszug der Psychologie hat dazu geführt, dass Lebenskrisen deutlicher ins Blickfeld rückten. Das war früher anders. Noch vor wenigen Jahrzehnten orientierte sich die bürgerliche Existenz fast ausschließlich am Ideal bruchloser Kontinuität in Bezug auf die Einhaltung und Umsetzung der geltenden Normen. Ein ordentlicher Mann ernährte seine Familie und erfüllte seine Pflichten in Staat und Gesellschaft; eine anständige Frau führte einen vorbildlichen Haushalt und war jederzeit bereit, auf die Bedürfnisse des Gatten und der Kinder einzugehen. In viel stärkerem Ausmaß als heute wurde das Leben durch ein einheitliches Wertesystem bestimmt und am Rollenverhalten gemessen. Krisen und Dramen, die das glatte Bild störten, wurden mit beträchtlichem Energieaufwand verheimlicht. Wer nicht als Versager dastehen wollte, war gezwungen, nach außen hin um jeden Preis Haltung (»Contenance!«) zu wahren. »Doch wie’s da drin aussieht, geht niemand was an …«, schluchzte der Operettenbuffo und traf damit das Lebensgefühl seiner Zeit.
Dann wurde (wieder)entdeckt, dass es so etwas gab wie eine Psyche. Schon seit den Zeiten des Pythagoras hatten die Menschen sich Gedanken gemacht über Geist und Seele, aber hauptsächlich im Rahmen der Philosophie und später der Religion. Die Vorstellungen blieben oft sehr abstrakt, und unter der Herrschaft der Kirche waren sie verbunden mit einem starren System von Dogmen und Vorschriften, das dem einzelnen genau seinen Platz zuwies. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam eine neue Entwicklung in Gang: Psychoanalyse und Psychotherapie entstanden als Zweige der modernen Naturwissenschaften. Die Seelenkunde befreite sich bis zu einem gewissen Grad von Vorurteilen und Zwängen und wurde in ungeahntem Ausmaß individuell. Auf dem inneren Schauplatz spielte sich offenbar weit mehr ab, als die konventionelle Haltung wohlerzogener Bürger nach außen vermuten ließ, und zwar offenbar nicht nur in seltenen, krankhaften Ausnahmefällen, sondern bei den allermeisten Menschen, ja eigentlich bei allen; man musste nur genau genug hinschauen. Ganz allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass Menschen in Schwierigkeiten und Krisen keineswegs als Versager anzusehen waren – und sie waren nicht länger isoliert und allein.
Heute gibt es die Vorstellung der bruchlosen Biografie praktisch nicht mehr. Ein »gelingendes Leben« (aktueller Modebegriff) wird weniger an der Anpassung an gesellschaftliche Normen als an der Erfüllung individueller Erwartungen gemessen. Die Idee, dass ein Leben verschiedene Entwicklungsphasen umfasst, die keineswegs nahtlos ineinander übergehen müssen, ist in unserem Denken verankert. Dass zu diesen Phasen auch Dramen und Krisen gehören können, wird allgemein akzeptiert. Es dreht sich nun vor allem darum, mit diesen schwierigen Zeiten »umzugehen« – allein und gemeinsam mit anderen. Die schier unübersehbare und stetig wachsende Anzahl von therapeutischen und spirituellen Einrichtungen, von Ratgebern und Selbsthilfegruppen macht deutlich, wie groß dabei das Bedürfnis nach Unterstützung ist.
Es erscheint mir nicht übertrieben zu sagen, dass die psychoanalytischen Arbeiten von Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Alfred Adler und ihren Nachfolger/innen das Weltbild in unserem Jahrhundert mit am stärksten beeinflusst und verändert haben. Im Zentrum des Interesses stand plötzlich das Selbstverständnis des einzelnen Menschen. Das Streben nach Individualität und Individualisierung spielte eine zunehmend bedeutsame Rolle im kollektiven Leben, und damit veränderte sich naturgemäß auch der Umgang mit Religion.
Bemerkenswerterweise fällt das Aufblühen der Psychologie mit dem rasant zunehmenden Interesse des Westens am Buddhismus zeitlich zusammen. Das ist sicherlich kein Zufall, denn auch im Buddhismus stehen das tiefere Verständnis und die heilsame Entwicklung geistiger Prozesse im Mittelpunkt. Die eigene Erfahrung wird wichtiger genommen als das Akzeptieren vorgegebener Lehren. Der Mensch erlebt sich selbst als Gestalter seiner Realität und als Verursacher seiner Erlösung.
Und dennoch bleibt der Buddhismus, wie alle spirituellen Lehren, nicht nur beim therapeutischen Ansatz im Sinne der Beseitigung psychischer Störungen stehen, sondern bietet durch seine meditative Komponente gleichzeitig den Zugang zu Erfahrungen der Transformation und Transzendenz. Die Praxis zielt nicht auf das Modifizieren von Umständen und Bedingungen ab, sondern auf einen grundlegenden Wandel des gesamten Seins.
»Was ist aber, ihr Mönche, die heilige Wahrheit vom Leiden? Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden, Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind Leiden, mit Unliebem verbunden sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden, was man begehrt nicht erlangen, das ist Leiden …« (aus der Längeren Sammlung der Lehrreden des Buddha, II, 9)
Seit der Buddha in Indien lehrte, sind zweieinhalbjahrtausend Jahre vergangen, aber die Allgegenwärtigkeit leidvoller Zustände und die vielfältigen Anstrengungen, sie zu überwinden oder vermeiden, prägen noch immer das Leben der Menschen. Schier endlos ist die Liste der Widrigkeiten, mit denen wir fertig werden müssen, sie reicht von alltäglichen Problemen bis zu den großen Umbrüchen, die keinen Stein auf dem anderen lassen.