Clive Cussler
Paul Kemprecos
Tödliche Beute
Roman
Ins Deutsche übertrage
von Thomas Haufschild
Clive Cussler ist Stammgast auf der Bestsellerliste der New York Times, seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand. Ansonsten fahndet er nach verschollenen Flugzeugen und leitet Suchexpeditionen nach berühmten Schiffswracks. Cussler genießt Weltruf als Sammler von klassischen Automobilen. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.
Paul Kemprecos, Co-Autor von Clive Cussler, war bereits als Journalist, Kolumnist und Herausgeber tätig. Der leidenschaftliche Taucher schrieb mehrere Unterwasser-Kriminalromane und lebt in Massachusetts, U.S.A.
Färöer-Inseln, Gegenwart
Das einsame Schiff, das auf die Färöer-Inseln zusteuerte, sah wie der Verlierer einer Partie Paintball aus. Der Rumpf der fünfzig Meter langen Sea Sentinel war von vorn bis achtern mit einem schwindelerregend psychedelischen Durcheinander aus allen Farben des Regenbogens überzogen, so dass zur Abrundung der Karnevalsstimmung eine Dampforgel und eine Horde Clowns gar nicht weiter aufgefallen wären. Doch der flüchtige Eindruck trog, und schon viele hatten zu ihrem Leidwesen feststellen müssen, dass die Sea Sentinel auf ihre Weise genauso gefährlich war wie die Kriegsschiffe auf den Seiten von Jane’s Fighting Ships.
Hinter der Sea Sentinel lag eine Reise von hundertachtzig Seemeilen, die bei den Shetland-Inseln vor der Küste Schottlands begonnen hatte. In den Gewässern der Färöer wurde das Schiff nun von einer kleinen Flotte aus Fischkuttern und Jachten empfangen, allesamt gemietet von internationalen Presseorganisationen. Auch der dänische Kreuzer Leif Eriksson war vor Ort, und am bewölkten Himmel kreiste ein Helikopter.
Es nieselte, was dem typischen Sommerwetter der Färöer entsprach, einem Archipel aus achtzehn Felseninseln, gelegen im nordöstlichen Atlantik auf halber Strecke zwischen Dänemark und Island. Die 45 000 Einwohner stammen mehrheitlich von den Wikingern ab, die dort im neunten Jahrhundert gesiedelt hatten, und obwohl die Inseln zum Königreich Dänemark gehören, sprechen die Einheimischen eine abgewandelte Form des Altnordischen. In den hoch aufragenden Klippen, die sich wie Bollwerke aus dem Meer erheben, nisten viele Millionen Vögel.
Auf dem Vorderdeck der Sea Sentinel stand umgeben von Reportern und Kameraleuten ein hoch gewachsener stämmiger Mann Mitte vierzig. Marcus Ryan, der Kapitän des Schiffs, trug eine konservative, maßgeschneiderte schwarze Offiziersuniform mit goldenen Borten an Kragen und Ärmeln. Dank seines markanten Gesichts, der gebräunten Haut, des vom Wind zerzausten, nackenlangen Haars und des rotblonden Backen- und Kinnbarts, der seinen kantigen Unterkiefer umrahmte, sah Ryan aus wie die ideale Filmbesetzung eines schneidigen Schiffskapitäns. Und er gab sich viel Mühe, dieses Image zu pflegen.
»Herzlichen Glückwunsch, meine Damen und Herren«, sagte er in genau der richtigen Lautstärke, um das Dröhnen der Maschinen und das Rauschen des Wassers zu übertönen. »Es tut mir Leid, dass wir Ihnen keine ruhigere See bieten konnten. Einige von Ihnen sehen nach unserer Fahrt von den Shetlands hierher ein wenig grün im Gesicht aus.«
Das Los hatte entschieden, welche Pressevertreter zum hiesigen Aufgebot gehören und über den Einsatz berichten durften. Nach einer Nacht in engen Kojen und bei hohem Wellengang schienen manche der Leute sich zu wünschen, sie hätten etwas weniger Glück gehabt.
»Schon in Ordnung«, krächzte eine CNN-Reporterin. »Sorgen Sie nur dafür, dass diese Geschichte all die verfluchten Tabletten wert ist, die ich geschluckt habe.«
Ryan setzte sein Hollywood-Lächeln auf. »Ich kann Ihnen praktisch garantieren, dass es hoch hergehen wird.« Er vollführte theatralisch eine weit ausholende Geste. Die Kameras folgten pflichtgetreu seinem ausgestreckten Finger zu dem Kriegsschiff. Der Kreuzer beschrieb mit langsamer Geschwindigkeit einen weiträumigen Kreis. Am Fahnenmast flatterte die rot-weiße Flagge Dänemarks. »Bei unserem letzten Versuch, die Färinger vom Massenmord an den Pilotwalen abzuhalten, hat der dänische Kreuzer, den Sie dort sehen, uns einen Schuss vor den Bug gesetzt. Einer unserer Leute wurde nur knapp von einer Gewehrkugel verfehlt, obwohl die Dänen leugnen, auf uns gefeuert zu haben.«
»Haben Sie tatsächlich mit Müll zurückgeschossen?«, fragte die CNN-Reporterin.
»Wir haben uns nach Kräften verteidigt«, antwortete Ryan mit gespieltem Ernst. »Unser Koch hatte sich ein Katapult gebastelt, um die Bioabfälle aus unserer Kombüse damit ins Meer zu befördern. Er interessiert sich für mittelalterliche Waffen, und daher glich seine Konstruktion einem Tribok mit erstaunlicher Reichweite. Als der Kreuzer uns den Weg abschneiden wollte, haben wir mit unserem Müll einen direkten Treffer gelandet. Wir waren aufrichtig überrascht. Und die erst.« Er hielt inne und ließ die Pointe erst nach einem exakt bemessenen Moment folgen. »Um jemandem den Wind aus den Segeln zu nehmen, gibt es nichts Besseres, als ihn mit Kartoffel- und Eierschalen oder Kaffeesatz zu bewerfen.«
Die Leute lachten leise auf.
»Befürchten Sie denn nicht, dass solche Albernheiten noch mehr zu Ihrem Ruf als eher radikale Umwelt- und Tierschutzgruppe beitragen?«, fragte der Reporter der BBC. »Sie nennen sich Wächter des Meeres, Sentinels of the Sea, und haben freimütig eingeräumt, dass Sie Walfangschiffe anbohren, Wasserstraßen blockieren, junge Seehunde mit Sprühfarbe kennzeichnen, Robbenjäger schikanieren, Treibnetze zerschneiden …«
Ryan hob protestierend die Hand. »Es waren unzulässige Walfangschiffe in internationalen Gewässern, und all die anderen aufgezählten Punkte sind laut der weltweiten Abkommen nachweislich legal. Im Gegensatz dazu wurden unsere Schiffe gerammt, unsere Leute mit Tränengas oder sogar scharfer Munition beschossen und widerrechtlich verhaftet.«
»Was sagen Sie denen, die behaupten, die Sentinels seien eine terroristische Organisation?«, erkundigte sich ein Mann vom Economist.
»Ich würde ihnen eine Frage stellen: Was könnte schrecklicher sein als das kaltblütige Abschlachten von fünfzehnhundert bis zweitausend schutzlosen Pilotwalen pro Jahr? Und ich würde sie daran erinnern, dass noch durch keinen SOS-Einsatz jemand verletzt oder getötet wurde.« Ryan setzte erneut sein Lächeln ein. »Also wirklich, Sie haben doch die Menschen auf diesem Schiff kennen gelernt.« Er winkte eine attraktive junge Frau zu sich, die der Diskussion ein Stück abseits gefolgt war. »Seien Sie ehrlich, sieht diese Lady Angst einflößend aus?«
Therri Weld war Mitte dreißig, von durchschnittlicher Größe und mit sportlichen, wohlproportionierten Formen. Die Baseballmütze mit dem Emblem der SOS, die ausgeblichene Jeans und das Flanellhemd, das sie unter dem weiten Anorak trug, vermochten ihre athletische, aber ausgesprochen weibliche Figur kaum zu verbergen. Ihr kastanienbraunes Haar war von Natur aus gelockt, was durch die feuchte Luft noch verstärkt wurde, und der Blick ihrer enzianblauen Augen wirkte forsch und intelligent. Sie trat vor und schenkte dem Presseaufgebot ein strahlendes Lächeln.
»Mit den meisten von Ihnen habe ich ja schon gesprochen«, sagte sie leise, aber klar verständlich. »Sie dürften demnach wissen, dass ich als Rechtsberaterin für die SOS arbeite, wenn Marcus mich nicht gerade als Kuli an Deck schuften lässt. Wie er schon sagte, wir gehen erst dann zu direkten Aktionen über, wenn alle Stricke reißen. Nach unserem letzten Zusammenstoß in diesen Gewässern haben wir uns zurückgezogen und versucht, einen Handelsboykott gegen Färöer-Fisch zu erwirken.«
»Doch ein Ende der grindaraps haben Sie noch nicht durchsetzen können«, sagte der BBC-Reporter zu Ryan.
»Die Sentinels haben nie unterschätzt, wie schwierig es sein würde, eine jahrhundertealte Tradition zu beenden«, entgegnete der Kapitän. »Die Färinger sind genauso eigensinnig, wie ihre Wikingervorfahren es damals sein mussten, um zu überleben. Sie haben nicht vor, sich ein paar Walfreunden wie uns so einfach geschlagen zu geben. Doch obwohl ich die Färinger bewundere, halte ich das grindarap für grausam und barbarisch. Das Volk dieser Inseln hat Besseres verdient als ein so unwürdiges Schauspiel. Ich weiß, dass einige von Ihnen bereits Zeugen eines grindaraps geworden sind. Könnte jemand vielleicht die Eindrücke kurz zusammenfassen?«
»Eine verdammt blutige Angelegenheit«, räumte der BBC-Reporter ein. »Aber Fuchsjagden gefallen mir auch nicht.«
»Der Fuchs hat wenigstens eine faire Chance«, sagte Ryan. Seine Züge verhärteten sich. »Das grindarap ist einfach nur ein Massaker. Sobald jemand eine Herde Pilotwale sichtet, geht die Sirene los, und Boote treiben die Wale zum Ufer. Die Einheimischen – darunter Frauen und manchmal auch Kinder – warten schon am Strand. Es wird viel Alkohol getrunken, und alle haben eine Menge Spaß, nur die Wale nicht. Die Leute stecken ihnen Haken in die Nasenlöcher und ziehen die Tiere an Land, wo man ihnen die Hauptschlagadern durchtrennt und sie verbluten lässt. Das Wasser färbt sich rot. Mitunter sägt man den Walen die Köpfe ab, obwohl sie noch am Leben sind.«
»Ist ein grindarap denn nicht ungefähr das Gleiche, als würde man Ochsen zur Schlachtbank führen?«, fragte eine blonde Journalistin.
»Da fragen Sie den Falschen«, sagte Ryan. »Ich bin Veganer.« Er wartete, bis das Gelächter sich gelegt hatte. »Aber Ihr Einwand ist natürlich berechtigt. Wir schützen die Färinger womöglich vor sich selbst. Das Fleisch der Pilotwale ist mit Quecksilber und Kadmium belastet. Es schadet den Kindern.«
»Aber wenn die Leute sich selbst und ihre Kinder nun mal vergiften wollen, ist es da nicht intolerant seitens der SOS, diese Tradition zu verdammen?«, hakte die Reporterin nach.
»Gladiatorenkämpfe und öffentliche Hinrichtungen waren früher ebenfalls Tradition, aber die zivilisierte Welt hat beschlossen, dass diese grausamen Spektakel in der Moderne keinen Platz mehr haben. Wehrlosen Tieren unnötige Schmerzen zuzufügen, fällt in dieselbe Kategorie. Sie sagen, es ist Tradition. Wir sagen, es ist Mord. Und deshalb sind wir hierher zurückgekehrt.«
»Warum verfolgen Sie nicht weiterhin den Boykottgedanken?«, fragte der Mann von der BBC.
Therri antwortete darauf. »Das ging zu langsam voran, und es wurden immer noch Hunderte von Pilotwalen getötet. Also haben wir unsere Strategie geändert. Die Ölindustrie möchte in diesen Gewässern Probebohrungen durchführen. Falls es uns gelingt, der Jagd genügend schlechte Publicity zu verschaffen, werden die Ölfirmen vielleicht abgeschreckt. Auf diese Weise sähen die Einheimischen sich unter Druck gesetzt, die grindaraps zu beenden.«
»Und es gibt hier noch etwas zu tun«, fügte Ryan hinzu. »Wir haben vor, einen multinationalen Fischverarbeitungskonzern zu bestreiken, um gegen die schädlichen Auswirkungen der Fischzucht zu demonstrieren.«
Der Reporter von Fox News konnte es kaum glauben. »Gibt es eigentlich irgendjemanden, den Sie sich nicht zum Feind machen wollen?«
»Lassen Sie mich wissen, ob wir jemanden vergessen haben«, sagte Ryan unter allseitigem Gelächter.
»Wie weit werden Sie bei Ihrem Protest gehen?«, fragte der BBC-Reporter.
»So weit wir können. Unseres Erachtens ist diese Jagd ein Verstoß gegen internationales Recht. Sie alle hier sind unsere Zeugen. Es könnte heikel werden. Falls jemand von Bord möchte, kann ich einen Transport organisieren.« Er musterte die Gesichter und lächelte. »Niemand? Gut. Also dann, ihr Tapferen, auf ins Gefecht. Wir verfolgen seit einiger Zeit den Kurs mehrerer Herden von Pilotwalen. In dieser Gegend sind ziemlich viele unterwegs. Der junge Mann, der uns dort so aufgeregt zuwinkt, hat eventuell etwas Neues zu berichten.«
Ein Besatzungsmitglied kam herbeigelaufen. »Einige Herden passieren soeben Streymoy«, sagte er. »Unser Beobachter an Land meldet, dass die Sirene heult und die Boote losfahren.«
Ryan wandte sich wieder den Journalisten zu. »Vermutlich will man sie bei Kvivik an Land treiben. Wir werden uns zwischen den Booten und den Walen postieren. Falls es uns nicht gelingt, die Herden zu verscheuchen, müssen wir den Booten den Weg abschneiden.«
Die CNN-Reporterin deutete auf den Kreuzer. »Werden die Jungs da drüben nicht ärgerlich sein?«
»Ich rechne fest damit«, erwiderte Ryan und lächelte grimmig.
Hoch oben auf der Brücke der Leif Eriksson spähte ein Mann in Zivil durch ein leistungsstarkes Fernglas zur Sea Sentinel hinüber. »Meine Güte«, murmelte Karl Becker, »dieses Schiff sieht aus, als habe ein Verrückter es bemalt.«
»Ah, demnach kennen Sie Ryan«, entgegnete Eric Petersen, der Kapitän des Kreuzers, mit einem matten Lächeln.
»Nur seinen Ruf. Er scheint einen Schutzengel zu haben. Trotz all seiner Gesetzesverstöße wurde er noch nie verurteilt. Was wissen Sie über Ryan, Kapitän?«
»Zunächst mal ist er nicht verrückt. Er mag von einer nahezu fanatischen Entschlossenheit besessen sein, aber all seine Handlungen sind gut durchdacht. Sogar die grelle Bemalung des Schiffs ist wohl überlegt. Sie verleitet unvorsichtige Gegner zu Fehlern – und macht sich außerdem sehr gut im Fernsehen.«
»Vielleicht sollten wir die Leute wegen optischer Umweltverschmutzung festnehmen, Kapitän Petersen«, sagte Becker.
»Ich schätze, Ryan würde irgendeinen Experten auftreiben, der bestätigt, dass dieses Schiff in Wahrheit ein schwimmendes Kunstwerk darstellt.«
»Es freut mich, dass Sie sich Ihren Humor bewahrt haben. Immerhin wurde Ihr Schiff beim letzten Mal von den Sentinels of the Sea gedemütigt.«
»Es hat nur ein paar Minuten gedauert, das Deck mit einem Schlauch abzuspritzen und den Abfall, den sie nach uns geworfen hatten, wieder loszuwerden. Mein Vorgänger hielt es für angemessen, mit Geschützfeuer darauf zu antworten.«
Becker verzog das Gesicht. »Soweit ich weiß, sitzt Kapitän Olafsen immer noch auf diesem Schreibtischposten. Die Medien haben uns in der Luft zerrissen. ›Dänisches Kriegsschiff attackiert unbewaffnetes Boot.‹ Es hieß, die Besatzung sei wohl betrunken gewesen. Mein Gott, was für eine Katastrophe!«
»Ich war Olafsens Erster Offizier und habe größten Respekt vor seinem Urteilsvermögen. Sein Problem war nur, dass die Bürokraten in Kopenhagen ihm keine klaren Richtlinien gegeben hatten.«
»Bürokraten wie ich?«, fragte Becker.
Der Kapitän lächelte humorlos. »Ich befolge Befehle. Meine Vorgesetzten haben gesagt, es würde ein Beobachter des Marineministeriums an Bord kommen. Und hier sind Sie nun.«
»Ich an Ihrer Stelle würde keinen Bürokraten an Bord meines Schiffs haben wollen. Aber ich versichere Ihnen, dass ich nicht befugt bin, Ihre Anweisungen zu übergehen. Ich werde natürlich weitermelden, was ich zu sehen und zu hören bekomme, aber falls diese Mission als Fiasko endet, wird es uns beide den Kopf kosten.«
Der Kapitän hatte anfangs nicht gewusst, was er von Becker halten sollte. Der Beamte war ein eher dunkelhäutiger Typ von gedrungener Statur und sah mit seinen großen feuchten Augen und der langen Nase wie ein trauriger Kormoran aus. Petersen hingegen entsprach dem Erscheinungsbild vieler Dänen; er war hoch gewachsen und blond, mit kantigem Kinn.
»Ich war zunächst unschlüssig«, sagte der Kapitän, »aber die Hitzköpfe auf beiden Seiten könnten uns schnell eine brenzlige Situation bescheren. Unter diesen Umständen ist es mir nur recht, mich mit einem Regierungsbeauftragten beraten zu können.«
Becker bedankte sich. »Was halten Sie denn von diesen grindaraps?«
Petersen zuckte die Achseln. »Ich habe auf der Insel viele Freunde. Die würden eher sterben, als ihre alten Bräuche aufzugeben. Sie sagen, es sei ein wichtiger Teil ihrer Identität. Ich respektiere diese Ansicht. Und Sie?«
»Ich bin Kopenhagener. Diese ganze Walfangsache kommt mir wie eine einzige Zeitverschwendung vor, doch es steht eine Menge auf dem Spiel. Die Regierung achtet die Wünsche der Einheimischen, aber der Boykott hat ihren Fischern geschadet. Wir möchten nicht, dass die Färinger ihre Einkommensquelle verlieren und auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das wäre viel zu teuer. Ganz zu schweigen von den verlorenen Staatseinkünften, falls die Ölfirmen wegen dieser Waljagd ihre Projekte auf Eis legen.«
»Ich bin mir durchaus bewusst, dass diese Situation eine Art moralisches Lehrstück werden könnte. Alle Akteure kennen ihre Rollen genau. Die Färinger haben dieses grindarap geplant, um dem SOS zu trotzen und dem Parlament ihre Interessen deutlich vor Augen zu führen. Ryan hat sich ebenso unverblümt geäußert und verkündet, er würde sich durch nichts und niemanden aufhalten lassen.«
»Und Sie, Kapitän Petersen? Kennen Sie Ihre Rolle?«
»Aber sicher. Ich weiß nur nicht, wie das Drama ausgeht.«
Becker stöhnte leise auf.
»Keine Panik«, sagte der Kapitän. »Die hiesige Polizei wurde angewiesen, sich zurückzuhalten. Und ich werde unter keinen Umständen Waffengewalt anwenden. Mein Befehl lautet, die Einheimischen vor Bedrohungen zu schützen. Die konkreten Maßnahmen bleiben meiner Einschätzung der Lage überlassen. Falls die Sea Sentinel die kleineren Boote gefährden sollte, bin ich befugt, das SOS-Schiff abzudrängen. Und nun entschuldigen Sie mich bitte, Mr. Becker. Wie ich sehe, hebt sich soeben der Vorhang.«
Aus mehreren Häfen fuhren Fischerboote auf eine Stelle im Meer zu, an der das Wasser sichtlich aufgewühlt war. Sie rasten mit hoher Geschwindigkeit voran und schossen über die flachen Wellenkämme hinweg. An ihrem Zielort sah man die glänzenden schwarzen Rücken einer Herde Pilotwale aus dem Wasser auftauchen. Aus den Nasenlöchern der Tiere stiegen Gischtfontänen auf.
Die Sea Sentinel hielt ebenfalls auf die Herde zu. Petersen gab seinem Steuermann einen Befehl. Der Kreuzer verließ seine Wartestellung.
Becker hatte über Petersens letzte Äußerung nachgedacht.
»Sagen Sie, Kapitän, wann wird aus einem ›Abdrängen‹ ein ›Rammen‹?«
»Wann immer ich es will.«
»Besteht zwischen diesen beiden Optionen nicht ein feiner Unterschied?«
Petersen ließ den Steuermann das Tempo erhöhen und einen Kurs genau auf die Sea Sentinel setzen. Dann wandte er sich wieder Becker zu und lächelte grimmig.
»Das werden wir bald herausfinden.«
Ryan sah den Kreuzer Fahrt aufnehmen und auf das SOS-Schiff zusteuern. »Wie es aussieht, hat Hamlet endlich eine Entscheidung getroffen«, sagte er zu Chuck Mercer, seinem Ersten Offizier, der am Ruder der Sea Sentinel stand.
Sie hatten versucht, die Wale aufs offene Meer zu treiben. Die Herde bestand aus etwa fünfzig Tieren, und einige der Weibchen fielen zurück, um bei ihren Kälbern zu bleiben, wodurch der Rettungsversuch sich verzögerte. Das SOS-Schiff fuhr im Zickzack umher, als wäre es ein einsamer Cowboy, der verirrte Rinder zusammentreiben wollte, aber die nervösen Wale machten das Vorhaben nahezu unmöglich.
»Als wolle man ein Rudel Katzen fangen«, murmelte Ryan. Er trat hinaus auf den Steuerbordflügel der Brücke, um die nahenden Gegner zu beobachten. Noch bei keinem grindarap war ihm ein dermaßen großes Aufgebot untergekommen. Es schien, als hätte jeder Hafen der Färöer sich vollständig geleert. Dutzende von Booten, große kommerzielle Trawler genauso wie kleine offene Nussschalen mit Außenbordern, rasten aus mehreren Richtungen herbei, um an der Jagd teilzunehmen. Ihr Kielwasser hinterließ auf dem dunklen Ozean unzählige weiße Streifen.
Therri Weld stand bereits draußen und verfolgte, wie die Armada sich sammelte. »Diese Dickköpfigkeit ist irgendwie bewundernswert«, sagte sie.
Auch Ryan war beeindruckt und nickte zustimmend. »Jetzt weiß ich, wie Custer sich gefühlt hat. Die Färinger legen sich für ihre blutigen Bräuche mächtig ins Zeug.«
»Das ist keine spontane Aktion«, sagte Therri. »Dieser geordnete Aufmarsch kann nur bedeuten, dass sie sich vorher abgesprochen haben.«
Die Worte waren kaum verklungen, als die nahende Flotte wie auf Kommando zu einer Zangenbewegung ausholte. Mit einem klassischen Flankenmanöver umging sie auf diese Weise Ryans Schiff und gelangte auf die Seeseite der gemächlichen Herde. Dort formierte sie sich zu einer Reihe und steuerte zurück in Richtung Ufer, wobei die Enden des Kordons sich in langsamem Bogen aufeinander zubewegten. Die Pilotwale befanden sich zwischen den Booten und der Sea Sentinel, drängten sich enger zusammen und machten kehrt.
Ryan fürchtete, die panischen Tiere zu verletzen oder Familienverbände zu zerstören, falls er an Ort und Stelle blieb. Widerwillig ordnete er an, die gegenwärtige Position zu räumen.
Als die Sea Sentinel den Weg freigab, brachen die triumphierenden Fischer in lauten Jubel aus. Ihre Boote umfingen die glücklosen Wale mit einer tödlichen Umarmung. Immer enger schloss sich die Reihe und trieb die Beute ans vorherbestimmte Ziel, wo schon die scharfen Messer und Speere der Henkersknechte warteten.
Ryan befahl, die Sea Sentinel in offene Gewässer zu steuern.
»Diesmal geben wir uns aber schnell geschlagen«, sagte Mercer.
»Abwarten«, erwiderte Ryan mit rätselhaftem Lächeln.
Der Kreuzer kam längsseits der Sea Sentinel, beinahe wie ein Polizist, der einen Randalierer aus dem Fußballstadion geleitete, aber als sie sich ungefähr einen Kilometer von den Fangbooten entfernt hatten, fiel das Kriegsschiff zurück. Ryan ging selbst ans Ruder und vergewisserte sich immer wieder, wo sich die Leif Eriksson befand. Als er glaubte, der richtige Zeitpunkt sei nun gekommen, nahm er den Hörer, der ihn mit dem Maschinenraum verband.
»Volle Kraft voraus«, befahl er.
Mit ihrem breiten Rumpf und den hoch aufragenden Bug- und Achtersektionen wirkte die Sea Sentinel schwerfällig wie eine altmodische Badewanne, denn sie war in erster Linie als stabile Plattform konstruiert worden, von der aus man Tauchgeräte und Netze zu Wasser ließ. Nachdem es den SOS gelungen war, das langsame Forschungsschiff bei einer Auktion zu ersteigern, hatte Ryan sogleich dafür gesorgt, dass der Maschinenraum mit starken Dieselmotoren ausgestattet wurde, die ein etwas ansehnlicheres Tempo ermöglichten.
Er steuerte nun hart nach links. Das Schiff erbebte unter der Beanspruchung, beschrieb mit hoch aufschäumendem Kielwasser eine enge Wende und hielt auf die Walfänger zu. Die Besatzung des Kreuzers war darauf nicht gefasst und reagierte mit Verzögerung. Zudem musste das Kriegsschiff einen weitaus größeren Bogen fahren und verlor abermals wertvolle Sekunden.
Die Fangboote hatten sich dem Ufer bis auf anderthalb Kilometer genähert, als die Sea Sentinel sie und die Walherde einholte. Das SOS-Schiff steuerte quer durch das Kielwasser der Fänger. Ryan blieb am Ruder. Falls etwas schief ging, sollte kein anderer die Verantwortung tragen. Sein Störversuch erforderte einiges Geschick. Zu schnell und zu dicht – und die Boote würden kentern, die Menschen im eiskalten Wasser landen. Ryan fuhr mit gleichmäßiger Geschwindigkeit und nutzte die Breite des Rumpfs, um eine kräftige Woge auszulösen. Sie traf die Boote mit voller Wucht von achtern. Einige wurden lediglich emporgehoben, andere gerieten vom Kurs ab und mussten mit aller Macht gegenlenken, um eine Havarie zu vermeiden.
Die Reihe verwandelte sich in ein chaotisches Durcheinander mit großen Lücken, als hätte jemand dem scharfen Gebiss ein paar Zähne ausgeschlagen. Ryan wendete erneut und stellte den Walen die Breitseite der Sea Sentinel in den Weg. Die fliehenden Tiere bemerkten das Schiff, machten kehrt und stießen durch die Öffnungen des Kordons.
Nun war es die Crew der Sea Sentinel, die jubelte – doch ihre Freude sollte nur von kurzer Dauer sein. Der Kreuzer hatte zu ihnen aufgeschlossen und blieb in höchstens hundert Metern Entfernung auf Parallelkurs. Aus dem Funkgerät ertönte eine englisch sprechende Stimme.
»Hier Kapitän Petersen von der Leif Eriksson. Ich rufe das SOS-Schiff Sea Sentinel.«
Ryan nahm das Mikrofon. »Hier Kapitän Ryan. Was kann ich für Sie tun, Kapitän Petersen?«
»Sie werden hiermit aufgefordert, Ihr Schiff in offenes Gewässer zu steuern.«
»Wir handeln in Übereinstimmung mit internationalen Abkommen.« Er grinste Therri an. »Meine Rechtsberaterin steht direkt neben mir.«
»Ich habe nicht vor, mit Ihnen oder Ihren Beratern juristische Details zu erörtern, Kapitän Ryan. Sie gefährden dänische Fischer. Ich bin befugt, Gewalt anzuwenden. Falls Sie nicht sofort abdrehen, werde ich Ihr Schiff aus dem Wasser pusten.«
Der Geschützturm auf dem Vorderdeck des Kreuzers drehte sich, so dass die Mündung genau auf die Sea Sentinel zielte.
»Sie spielen ein riskantes Spiel«, sagte Ryan bewusst ruhig. »Ein Fehlschuss könnte einige der Boote versenken, die Sie zu schützen versuchen.«
»Ich bezweifle, dass wir auf diese Entfernung vorbeischießen würden, aber ich möchte ein Blutvergießen vermeiden«, erwiderte Petersen. »Sie haben den Fernsehkameras zu spektakulären Aufnahmen verholfen. Viele Pilotwale sind entkommen, und die Jagd wurde empfindlich gestört. Damit haben Sie Ihr Ziel erreicht und sind nicht länger willkommen.«
Ryan kicherte. »Es freut mich, mit einem so vernünftigen Mann sprechen zu dürfen. Ganz anders als bei Ihrem schießwütigen Vorgänger. Okay, ich werde das Feld räumen, aber die Hoheitsgewässer der Färöer verlassen wir noch nicht. Wir haben noch etwas zu erledigen.«
»Sie können tun, was Sie wollen, solange Sie damit nicht gegen unsere Gesetze verstoßen oder unsere Bürger gefährden.«
Ryan seufzte erleichtert auf. Seine Gelassenheit war nur gespielt – er wusste um das Risiko für seine Besatzung und die Pressevertreter. Er übergab das Ruder wieder dem Ersten Offizier und erteilte den Befehl, langsam abzudrehen. Die Sea Sentinel steuerte aufs offene Meer hinaus. Ryan wollte einige Meilen vor der Küste ankern und die Protestaktion gegen die Fischzucht vorbereiten.
Petersen war durch das erste Täuschungsmanöver der Sea Sentinel gewarnt, und so folgte er ihr in dichtem Abstand, um dem Schiff bei einem Ausreißversuch jederzeit den Weg abschneiden zu können.
Im Ruderhaus des SOS-Schiffs versuchte Therri, die allgemeine Anspannung zu lockern. »Kapitän Petersen weiß gar nicht, wie knapp er eben davongekommen ist«, sagte sie grinsend. »Ein Schuss und ich hätte ihn vor Gericht geschleift und seinen Kahn gepfändet.«
»Ich glaube, in Wahrheit hatte er Angst vor unserem Müllkatapult«, erklärte Ryan.
Alle lachten, doch dann stieß Mercer einen Fluch aus.
»Was ist denn, Chuck?«, fragte Ryan.
»Scheiße, Mark.« Mercer hatte beide Hände am Ruder. »Dieses Schiff ist kein Jetski. Du hast mit deinen wilden Kurswechseln irgendwie die Steuerung beschädigt.« Er runzelte die Stirn und trat dann ein Stück zurück. »Hier, versuch du’s mal.«
Ryan versuchte, das Steuerrad zu drehen. Es rührte sich keinen Zentimeter. Er übte etwas mehr Druck aus und gab dann auf. »Das verdammte Ding hängt fest«, verkündete er mit einer Mischung aus Wut und Verwirrung.
Er nahm den Hörer, befahl dem Maschinenraum, die Fahrt zu stoppen, und widmete sich wieder dem Ruder. Doch aus unerklärlichen Gründen wurde das Schiff nicht etwa langsamer, sondern beschleunigte. Ryan fluchte und rief noch einmal den Maschinenraum.
»Was soll das, Cal?«, fragte er barsch. »Bist du vor lauter Lärm da unten taub geworden? Ich sagte, Geschwindigkeit verringern, nicht erhöhen.«
Cal Rumson, Ryans Maschinist, war ein erfahrener Seemann. »Zum Teufel, ich weiß genau, was du gesagt hast«, entgegnete er. Sein Frust war ihm deutlich anzuhören. »Ich habe das Tempo verringert. Die Maschinen spielen verrückt. Die Regler scheinen nicht zu funktionieren.«
»Dann dreh ihnen den Saft ab.«
»Das versuche ich ja, aber die Diesel laufen nur noch schneller.«
»Streng dich an, Cal.«
Ryan knallte den Hörer auf die Gabel. Das war Wahnsinn! Dieses Schiff schien einen eigenen Willen zu haben. Er suchte in Fahrtrichtung das Meer ab. Gut. Es lagen keinerlei Hindernisse voraus. Schlimmstenfalls würde ihnen irgendwo auf dem Atlantik der Treibstoff ausgehen. Er nahm das Mikrofon des Funkgeräts, um den Kreuzer über ihre missliche Lage zu informieren, doch Mercers Aufschrei ließ ihn innehalten.
»Das Rad bewegt sich!«
Mercer bemühte sich, das Steuerrad festzuhalten, aber es drehte sich langsam nach rechts in Richtung der Leif Eriksson. Ryan packte ebenfalls zu, und dann versuchten sie gemeinsam, das Schiff wieder auf Kurs zu bringen. Sie hielten mit aller Kraft dagegen, aber das Rad entglitt ihren schweißnassen Händen, und die Sea Sentinel näherte sich dem Kriegsschiff.
Dort blieb die Kursänderung nicht unbemerkt. Über Funk meldete sich eine vertraute Stimme.
»Kommen, Sea Sentinel. Hier spricht Kapitän Petersen. Was bezwecken Sie mit diesem Manöver?«
»Unsere Steuerung macht Schwierigkeiten. Das Ruder ist blockiert, und wir können die Maschinen nicht herunterfahren.«
»Das ist unmöglich«, erwiderte Petersen.
»Erzählen Sie das dem Schiff!«
Einen Moment lang herrschte Stille. »Wir drehen ab, um Ihnen mehr Platz zu verschaffen«, sagte Petersen dann. »Und wir werden Schiffe warnen, die sich eventuell auf Ihrem Kurs befinden.«
»Danke. Wie’s aussieht, wird Ihr Wunsch nun doch erfüllt, und wir verlassen die Gewässer der Färöer.«
Der Kreuzer ging allmählich auf Abstand.
Doch bevor das dänische Schiff sich nennenswert entfernen konnte, vollführte die Sea Sentinel plötzlich eine scharfe Kehre und steuerte wie ein Fernlenkkörper direkt auf die ungeschützte Flanke des Kreuzers zu.
Die Matrosen an Deck gestikulierten hektisch, die Sea Sentinel solle wieder abdrehen. Aus dem Signalhorn des Kreuzers ertönten in schneller Folge kurze Fanfarenstöße. Über Funk schrien Stimmen auf Dänisch und Englisch wild durcheinander.
Als den Matrosen klar wurde, dass die Katastrophe unmittelbar bevorstand, rannten sie um ihr Leben.
Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung, die sichere Kollision zu vermeiden, stemmte Ryan sein ganzes Gewicht gegen das Steuerrad. Dort hing er immer noch, als sein Schiff die Flanke des Kreuzers rammte. Der spitze Bug der Sea Sentinel durchdrang die Stahlplatten wie ein Bajonett. Dann löste er sich wieder von dem fahrenden Schiff und riss es unter grauenhaftem metallischem Kreischen der Länge nach auf.
Die Sea Sentinel wankte wie ein benommener Boxer, der soeben eine harte Rechte auf die Nase abbekommen hatte. Der Kreuzer geriet sofort in Seenot, weil Zehntausende Liter Wasser durch das klaffende Loch im Rumpf strömten. Die Besatzung lief zu den Rettungsbooten und machte sich bereit, sie ins kalte Meer hinabzulassen.
Therri war durch den Aufprall zu Boden gestürzt. Ryan half ihr auf die Beine und eilte dann gemeinsam mit allen anderen von der Brücke hinunter aufs Oberdeck. Die von panischer Angst erfassten Fernsehleute, die auf einmal Teil der Story waren, anstatt nur darüber zu berichten, wussten nicht, was sie tun sollten. Einige waren verletzt worden und humpelten.
Jemand rief um Hilfe. Ein paar Besatzungsmitglieder und Reporter zogen einen blutigen Körper aus dem Metallgewirr, das von der Bugsektion übrig geblieben war.
Ryan erteilte die Anweisung, das Schiff zu verlassen.
Bei all dem Geschrei und Chaos achtete niemand auf den Helikopter, der hoch über den Schiffen flog. Die Maschine drehte wie ein hungriger Bussard ein paar Kreise und entfernte sich dann entlang des Küstenverlaufs.
Vor der Nordküste Russlands
Zweitausend Kilometer südöstlich der Färöer-Inseln lag in den eisigen Gewässern der Barentssee das Forschungsschiff William Beebe vor Anker. Auf dem sechsundsiebzig Meter langen Rumpf stand in großen Lettern NUMA. Die Beebe war nach einem der Pioniere der Tiefseeforschung benannt worden und verfügte über unzählige Kräne und Winden, die stark genug waren, um komplette Boote vom Meeresgrund zu heben.
Auf dem Achterdeck standen vier Personen in Neoprenanzügen und starrten auf eine Stelle im Meer, an der das Wasser aufgewühlt war wie in einem brodelnden Kessel. Der Fleck wurde immer heller und wölbte sich schäumend weiß auf. Dann durchbrach das Rettungstauchboot Sea Lamprey die Oberfläche, beinahe wie ein mutiertes Seeungeheuer, das nach Luft schnappen wollte. Mit der Präzision eines Navy-Stoßtrupps schob die wartende Crew der Beebe ein Schlauchboot über die Heckrampe ins Wasser, kletterte hinein, startete den Außenborder und raste zu dem schwankenden U-Boot.
Dort befestigte sie ein Schlepptau an dem leuchtend orangefarbenen Gefährt, und eine Winde an Bord des Schiffes zog die Lamprey heran, bis sie unter dem hohen Auslegerkran schwamm, der über dem Heck aufragte. Man klinkte Kevlarkabel in die Ösen auf dem Oberdeck des Tauchboots ein. Der mächtige Kranmotor dröhnte auf, und das Boot wurde aus dem Wasser gehievt. Als es an den Kabeln hing, ließ sich der hässliche zylindrische Rumpf mit dem merkwürdig abgeflachten Ziehharmonikabug in voller Länge überblicken.
Der Ausleger schwang langsam herum und ließ die Lamprey auf einen speziell gefertigten Stahlschlitten sinken, während die Besatzung bereits eine Leiter an das Gestell lehnte. Dann öffnete sich die Luke des niedrigen Kommandoturms und wurde geräuschvoll aufgestoßen. Kurt Austin steckte den Kopf heraus und blinzelte wie ein Maulwurf. Sein stahlgraues, fast platinweißes Haar schimmerte im satten metallischen Licht des bewölkten Himmels.
Er winkte der Mannschaft an Deck zu, zwängte die breiten Schultern durch die schmale Öffnung, stieg aus dem Boot und blieb neben dem Turm stehen. Wenige Sekunden später kam auch sein Partner Joe Zavala an die frische Luft und reichte ihm einen glänzenden Aluminiumkoffer.
Austin warf den Koffer einem stämmigen Mann mittleren Alters zu, der in einem wollenen Rollkragenpullover und gelbem Ölzeug am Fuß der Leiter stand. Nur die hohe Schirmmütze verriet, dass er zur russischen Kriegsmarine gehörte. Als er den Koffer auf sich zufliegen sah, schrie er entsetzt auf. Er bekam den Behälter zu fassen, schüttelte ihn kurz und drückte ihn dann mit beiden Armen an die Brust.
Austin und Zavala stiegen die Leiter hinunter. Der Russe öffnete derweil den Koffer und entnahm ihm einen Gegenstand, der in Papier und zusätzlich in Schaumstoff gehüllt war. Als er das Papier aufschlug, kam eine schwere quadratische Flasche zum Vorschein. Er hielt sie wie ein Neugeborenes und murmelte etwas auf Russisch.
Dann bemerkte er die verblüfften Mienen der NUMA-Männer. »Verzeihung, Gentlemen«, sagte er. »Ich habe nur ein kurzes Dankgebet gesprochen, weil der Inhalt des Koffers unversehrt geblieben ist.«
Austin warf einen Blick auf das Etikett und verzog das Gesicht. »Wir sind eben hundert Meter tief getaucht und gewaltsam in ein U-Boot eingedrungen, um eine Flasche Wodka zu bergen?«
»Aber nein«, erwiderte Wlasow und griff erneut in den Koffer. »Drei Flaschen. Und zwar vom besten Wodka, den Russland zu bieten hat.« Vorsichtig wickelte er auch die anderen Flaschen aus und verpasste jeder einen schmatzenden Kuss, bevor er sie wieder in dem Behälter verstaute. »Juwel Russlands gehört zu unseren edelsten Sorten, und auch der Moskowska ist hervorragend. Der Charodej schmeckt am besten gekühlt.«
Austin fragte sich, ob er wohl jemals verstehen würde, was im Kopf eines Russen vorging. »Natürlich«, sagte er vergnügt. »Wenn Sie es auf diese Weise erklären, ergibt es plötzlich Sinn, ein U-Boot zu versenken, um Ihren Schnaps zu kühlen.«
»Es ist ein altes Boot der Foxtrott-Klasse, das nur noch zu Ausbildungszwecken genutzt wurde«, erklärte Wlasow. »Man hat es schon vor mehr als dreißig Jahren aus dem aktiven Dienst ausgegliedert.« Er schenkte Austin ein strahlendes Lächeln. »Sie müssen zugeben, dass es Ihr Vorschlag war, Gegenstände an Bord zu platzieren, um Ihre Bergungskünste zu testen.«
»Mea culpa. Ich hab es damals für eine gute Idee gehalten.«
Wlasow klappte den Koffer zu. »Ihre Tauchfahrt war demnach ein Erfolg?«
»Im Großen und Ganzen«, erwiderte Zavala. »Es gab ein paar technische Probleme. Nichts wirklich Wichtiges.«
»Dann müssen wir das mit einem Drink feiern«, sagte Wlasow.
Austin streckte die Hand aus und nahm ihm den Koffer ab. »Wenn nicht jetzt, wann dann?«
Sie holten sich drei Plastikbecher aus der Messe und gingen in den Bereitschaftsraum. Wlasow öffnete die Flasche Charodej und schenkte jedem großzügig ein. Dann erhob er sein Glas. »Auf die tapferen jungen Männer, die an Bord der Kursk gestorben sind.«
Er kippte den Wodka herunter, als handle es sich um Kräutertee. Austin trank nur einen kleinen Schluck. Er wusste aus leidvoller Erfahrung, welche Risiken das starke russische Feuerwasser barg.
»Und darauf, dass ein solches Unglück nie wieder geschehen möge«, sagte er.
Der Untergang der Kursk im Jahr 2000 war eine der schlimmsten U-Boot-Katastrophen aller Zeiten gewesen. Das mit Marschflugkörpern bestückte Boot der Oscar-II-Klasse war nach einer Explosion im Torpedoraum in der Barentssee gesunken und hatte mehr als hundert Seeleute in den Tod gerissen.
»Mit Ihrem Tauchboot muss kein junger Mann, der irgendwo auf der Welt seinem Land dient, ein solch schreckliches Schicksal erleiden«, sagte Wlasow. »Dank der Erfindungsgabe der NUMA können wir nun auch bei blockiertem Notausstieg in ein gesunkenes Boot vordringen. Die Innovationen, die Sie mit diesem Projekt eingeführt haben, sind revolutionär.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, Commander Wlasow. Der Ruhm gebührt Joe. Er war derjenige, der diesen Kasten zusammengeschraubt und mit einer Prise gesundem Menschenverstand in Gang gesetzt hat.«
»Danke für die Lorbeeren, aber ich habe alles bei Mutter Natur abgeschaut«, sagte Zavala mit der für ihn typischen Bescheidenheit. Er verfügte über einen Ingenieurabschluss des New York Maritime College und ein herausragendes Technikverständnis. James Sandecker, der Chef der NUMA, hatte ihn damals direkt von der Universität verpflichtet. Mittlerweile gehörte Zavala nicht nur dem von Austin geleiteten Team für Sonderaufgaben an, sondern hatte auch zahlreiche bemannte und unbemannte Unterwasserfahrzeuge konstruiert.
»Unsinn!«, widersprach Wlasow. »Zwischen einer Lamprete und Ihrer Sea Lamprey bestehen durchaus ein paar Unterschiede.«
»Das Prinzip ist das Gleiche«, sagte Zavala. »Lampreten sind vortrefflich geschaffene Tiere. Sie saugen sich an einem schwimmenden Fisch fest, graben ihm die ringförmig angeordneten Zähne in die Haut und trinken sein Blut. Bei uns sind es keine Zähne, sondern Unterdruck und mehrere Laser. Das größte Problem war die flexible wasserdichte Abschottung, die an jeder Oberfläche haften und uns gestatten würde, den Schnitt vorzunehmen. Mit den Materialien des Weltraumzeitalters und unseren Computern ist uns ein ziemlich gutes Resultat geglückt.«
Wlasow erhob abermals den Becher. »Den Beweis für Ihre Brillanz halte ich hier in meiner Hand. Wann wird die Sea Lamprey vollständig einsatzbereit sein?«
»Bald«, sagte Zavala. »Hoffentlich.«
»Je früher, desto besser. Bei dem Gedanken an die noch möglichen Unglücke wird mir ganz anders. Die Sowjets haben herrliche Boote gebaut, aber leider war meinen Landsleuten Gigantismus schon immer wichtiger als Qualität.« Wlasow trank aus und erhob sich. »Ich muss jetzt zurück in meine Kabine und einen Bericht für meine Vorgesetzten schreiben. Man wird überaus zufrieden sein. Vielen Dank für all Ihre harte Arbeit. Auch bei Admiral Sandecker werde ich mich noch persönlich bedanken.«
Als Wlasow ging, betrat einer der Offiziere des Schiffes den Raum und teilte Austin mit, er werde am Telefon verlangt. Kurt nahm den Hörer, lauschte eine Weile und stellte ein paar Fragen. »Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld«, sagte er dann. »Ich rufe gleich zurück.« Er legte auf. »Das war die Rettungsleitstelle der NATO, Gebiet Ostatlantik. Man benötigt unsere Hilfe bei einer Bergungsmission.«
»Hat jemand ein U-Boot verloren?«, fragte Zavala.
»Bei den Färöer-Inseln ist ein dänischer Kreuzer gesunken, und einige Besatzungsmitglieder wurden im Innern eingeschlossen. Anscheinend sind sie noch am Leben. Die Schweden und Briten sind bereits unterwegs, aber der Kreuzer hat keinen Notausstieg. Die Dänen brauchen jemanden, der direkt durch den Rumpf vorstößt und die Jungs rausholt. Sie haben von unseren Testtauchgängen gehört.«
»Wie viel Zeit bleibt uns?«
»Ein paar Stunden, falls ich recht verstanden habe.«
Zavala schüttelte den Kopf. »Die Färöer liegen fast zweitausend Kilometer von hier entfernt. Für ihre Größe ist die Beebe ein schnelles Schiff, aber sie bräuchte schon Flügel, um rechtzeitig vor Ort zu sein.«
Austin überlegte eine Weile. »Du bist ein Genie«, sagte er dann.
»Schön, dass du es endlich begriffen hast. Würdest du mir verraten, wie du zu diesem Schluss gelangt bist? Mit dem Spruch könnte ich in einer Bar vielleicht mal jemanden aufreißen.«
»Zuerst eine Frage: Ist die Sea Lamprey schon jetzt für eine echte Rettungsoperation geeignet? Als Wlasow sich vorhin nach dem Zeitpunkt der Fertigstellung erkundigt hat, warst du ziemlich zurückhaltend.«
»Wir Staatsdiener lernen von Anfang an, wie man sich nach allen Seiten absichert«, erwiderte Zavala.
»Du hast den Kurs garantiert glänzend bestanden. Und?«
Joe dachte kurz nach. »Du hast selbst gesehen, wie sie sich beim Aufstieg verhalten hat.«
»Klar, wie ein bockiger Stier, aber wir sind sicher gelandet. In Disney World müsste man für so einen Ritt eine Menge Geld auf den Tisch legen.«
Zavala schüttelte langsam den Kopf. »Du hast wirklich eine Begabung dafür, die Möglichkeit eines qualvollen Todes auf unbeschwerte Weise zu schildern.«
»Ich bin ebenso wenig lebensmüde wie du. Du hast behauptet, die Sea Lamprey sei stabil wie ein Backsteinbau.«
»Okay, ich hab übertrieben. Die eigentliche Konstruktion ist sehr robust, aber die Einsatzfähigkeit könnte besser sein.«
»Alles in allem, wie würdest du unsere Erfolgsaussichten einschätzen?«
»Ungefähr fifty-fifty. Ich kann ein paar notdürftige Reparaturen vornehmen, um unsere Chance geringfügig zu verbessern.«
»Ich will dich nicht gegen deinen Willen zu etwas drängen, Joe.«
»Das brauchst du auch gar nicht. Ich könnte nie wieder ruhig schlafen, falls wir nicht wenigstens versuchen würden, den Jungs zu helfen. Aber zuerst müssen wir unser Boot irgendwie zu diesem dänischen Kreuzer verfrachten. Du hast schon eine Idee, nicht wahr, alter Fuchs?«, stellte Zavala fest, als er Austin grinsen sah.
»Kann sein«, erwiderte Kurt. »Ich muss erst ein paar Kleinigkeiten mit Wlasow besprechen.«
»Da ich demnächst mein Leben riskieren werde, weil du eine deiner spontanen Eingebungen hattest, würde ich gern wissen, was unter deinem vorzeitig ergrauten Haar vorgeht.«
»Kein Problem«, sagte Austin. »Weißt du noch, was Wlasow über den sowjetischen Gigantismus gesagt hat?«
»Ja, aber …«
»Denk an etwas Großes«, sagte Austin und ging zur Tür. »Denk an etwas richtig Großes.«