Cover

Clive Cussler

&

Paul Kemprecos

Flammendes Eis

Roman

Aus dem Englischen
von Thomas Haufschild

Danksagung

Wir bedanken uns bei Arnold Carr für seine hilfreichen Hinweise auf die NR-I, ein wirklich bemerkenswertes Forschungsfahrzeug; bei John Fish von der American Underwater Search and Survey, der uns an seinem beachtlichen technischen Sachverstand teilhaben ließ; und bei William Ott und der Belegschaft des Weston Observatory, die uns geduldig und bereitwillig sogar die ausgefallensten Fragen über unterseeische Erdbeben beantwortet haben.

Autoren

Clive Cussler ist mit einer weltweiten Gesamtauflage von mehr als 140 Millionen Büchern und neunzehn aufeinander folgenden New-York-Times-Bestsellern (seit er 1973 seinen Helden Dirk Pitt erfand) seit langem einer der absoluten Spitzenautoren des Genres. Clive Cussler lebt abwechselnd in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

 

Paul Kemprecos, Co-Autor von Clive Cussler, war früher als Journalist, Kolumnist und Herausgeber tätig. Er schrieb bereits sechs Unterwasser-Kriminalromane und lebt in seinem Haus auf Cape Cod.

1

Vor der Küste von Maine, Gegenwart

 

Leroy Jenkins zog soeben eine muschelverkrustete Hummerfalle an Bord seines Boots, der Kestrel, als er kurz den Kopf hob und am Horizont ein gewaltiges Schiff bemerkte. Behutsam entnahm er dem Käfig zwei dicke, verärgerte Schalentiere, sicherte die Scheren mit Gummiringen und warf die Hummer in einen großen Wassertank. Dann versah er die Falle mit einem Fischkopf als neuem Köder, warf den Drahtkorb zurück ins Meer und ging ins Ruderhaus, um sein Fernglas zu holen. Er spähte durch die Linsen und formte mit den Lippen ein stummes Wort. »Wow!«

Das Schiff war riesig. Jenkins betrachtete es mit fachmännischem Blick. Vor seinem Ruhestand und seiner Freizeitbeschäftigung als Hummerfischer hatte er an der Universität von Maine Ozeanographie gelehrt und viele Sommersemesterferien an Bord von Forschungsschiffen verbracht – aber so etwas wie dieses Ungetüm hatte er noch nie gesehen. Er schätzte die Länge auf ungefähr hundertachtzig Meter. An Deck ragten Ausleger und Kräne empor. Jenkins vermutete, dass es sich um ein Schiff zur Exploration und Gewinnung von unterseeischen Bodenschätzen handelte. Er schaute ihm hinterher, bis es wieder außer Sicht verschwand, und widmete sich dann den restlichen Fallen an diesem Strang.

Jenkins war ein hoch gewachsener, schlanker Mann Ende sechzig, in dessen knorrigen Zügen sich die felsige Küste seines Heimatstaats Maine widerzuspiegeln schien. Als er die letzte Falle einholte, zog sich ein Lächeln über sein sonnenverbranntes Gesicht. Der heutige Morgen war außerordentlich ertragreich gewesen. Jenkins hatte dieses Fanggebiet vor einigen Monaten ganz zufällig entdeckt und hier seitdem jede Menge Hummer aus dem Wasser gezogen, obwohl er sich dafür relativ weit von der Küste entfernen musste. Zum Glück war sein elf Meter langes Holzboot auch mit voller Ladung noch seetüchtig. Er setzte den Kurs für die Rückfahrt, schaltete den Autopiloten ein und ging unter Deck, um sich zur Belohnung etwas zu gönnen, das sie als Kinder stets Dagwood-Sandwich genannt hatten. Als er eine Scheibe Mortadella auf die Schinken-, Käse- und Salamischichten legte, drang ein gedämpftes Grollen an sein Ohr. Es klang wie ferner Donner, aber es schien von unten zu kommen.

Das Boot erzitterte dermaßen heftig, dass der Senf und das Mayonnaiseglas von der Arbeitsfläche rollten. Jenkins warf das Messer in die Spüle und eilte an Deck. Er fragte sich, ob womöglich die Schraube abgebrochen war oder einen treibenden Baumstamm erwischt hatte, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Das Meer war ruhig und beinahe spiegelglatt. Vorhin hatte die blaue Oberfläche ihn noch an eines der großformatigen Gemälde von Mark Rothko erinnert.

Das Boot lag jetzt wieder ganz friedlich da. Jenkins sah sich verblüfft um, zuckte die Achseln und ging wieder nach unten. Dort machte er das Sandwich fertig, räumte auf und kehrte zum Essen an Deck zurück. Er sah, dass einige der Hummerfallen verrutscht waren, also sicherte er sie mit einem Seil. Als er dann das Ruderhaus betreten wollte, spürte er urplötzlich ein unangenehmes Gefühl im Magen, als habe jemand in einem schnellen Aufzug den Knopf der obersten Etage gedrückt. Er hielt sich an dem kleinen Auslegerkran fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das Boot sackte ab, wurde wieder angehoben, sank abermals nach unten und wiederholte diese Bewegungen ein weiteres Mal, bevor es heftig schaukelnd im Wasser zur Ruhe kam.

Nach einigen Minuten hatte die Bewegung vollends aufgehört, und alles war wieder wie zuvor. Dann sah Jenkins etwas in der Ferne aufblitzen. Er holte seinen Feldstecher von der Brücke, suchte das Meer ab, stellte die Schärfe nach und sah drei in Nord-Süd-Richtung verlaufende dunkle Furchen. Die Wogen bewegten sich auf die Küste zu. In seinem Kopf schrillte eine Alarmglocke. Das konnte nicht sein. Er musste an jenen Junitag des Jahres 1998 vor der Küste von Papua-Neuguinea zurückdenken. Sie hatten an Bord eines Forschungsschiffs Daten gesammelt, als eine geheimnisvolle Explosion die seismischen Instrumente verrückt spielen ließ und eine Veränderung des Meeresbodens angezeigt wurde. Die Wissenschaftler hatten die Vorboten einer Tsunami erkannt und die Bewohner an Land warnen wollen, aber viele der Dörfer konnten nicht über Funk erreicht werden. Die riesige Welle war wie eine gewaltige Dampfwalze über die Ansiedlungen hinweggefegt und hatte entsetzliche Zerstörungen angerichtet. Nie würde Jenkins den Anblick der Menschen vergessen, die von Mangrovenästen gepfählt oder nach ihrem Tod von Krokodilen angefressen worden waren.

Aus dem Funkgerät erklang eine Vielzahl von Stimmen gleichzeitig, alle unverkennbar mit dem harten Akzent des Staates Maine. »Wahnsinn!«, rief jemand, den Jenkins als seinen Nachbarn Elwood Smalley erkannte. »Habt ihr dieses Donnern gehört?«

»Klang wie ein Kampfjet, bloß unter Wasser«, sagte ein anderer Fischer.

»Hat sonst noch jemand diese Welle mitbekommen?«, fragte ein Dritter.

»Ja«, antwortete lakonisch ein Hummerveteran namens Homer Gudgeon. »Eine Weile bin ich mir wie in der Achterbahn vorgekommen!«

Jenkins hörte den Männern nicht länger zu. Er holte aus einer Schublade einen Taschenrechner hervor, schätzte den zeitlichen Abstand und die Höhe der Wellen, stellte ein paar schnelle Berechnungen an und starrte ungläubig auf das Ergebnis. Dann nahm er das Mobiltelefon, das er normalerweise für persönliche Mitteilungen benutzte, die nicht über den offenen Funkkanal gehen sollten, und wählte eine Nummer.

Am anderen Ende meldete sich die raue Stimme von Charlie Howes, dem Polizeichef von Rocky Point.

»Charlie, Gott sei Dank habe ich dich erwischt!«

»Ich sitze gerade im Wagen und bin unterwegs zum Revier, Roy. Willst du mir noch mal unter die Nase reiben, wie glorreich du mich gestern beim Schach geschlagen hast?«

»Ein andermal«, sagte Jenkins. »Ich befinde mich östlich von Rocky Point. Hör mal, Charlie, uns bleibt nicht viel Zeit. Ein große Welle läuft genau auf die Stadt zu.«

Er hörte ein leises Kichern. »Mann, Roy«, sagte der Chief. »In Küstenstädten wie unserer gibt es jede Menge Wellen.«

»Aber nicht solche. Du musst die Menschen aus der Hafengegend evakuieren, vor allem aus dem neuen Motel.«

Im ersten Moment dachte Jenkins, die Verbindung wäre abgerissen. Dann brach Charlie Howes in sein typisches schallendes Gelächter aus. »Ich wusste gar nicht, dass heute der erste April ist.«

»Charlie, das ist kein Scherz«, sagte Jenkins wütend. »Diese Welle wird mit voller Wucht in den Hafen einschlagen. Ich weiß nicht, wie stark genau, weil es viele unbekannte Größen gibt, aber das Motel liegt mitten im Weg.«

Der Chief lachte erneut. »Was soll’s, manche Leute wären wirklich froh darüber, das Harbor View im Meer landen zu sehen.«

Das zweistöckige Gebäude, das auf Pfählen im Hafenbecken stand, hatte monatelange Kontroversen hervorgerufen. Errichtet worden war es erst nach einem erbitterten Streit, einem teuren Gerichtsverfahren seitens des Bauherrn und – so argwöhnten viele – der Bestechung einiger Entscheidungsträger.

»Dieser Wunsch wird sich erfüllen, aber vorher musst du noch die Gäste retten.«

»Verdammt, Roy, da wohnen mindestens hundert Leute. Ich kann sie nicht einfach so verscheuchen. Das wird mich meinen Job kosten. Und was noch viel schlimmer ist, ich mache mich damit zum Gespött der ganzen Stadt.«

Jenkins sah auf die Uhr und stieß einen leisen Fluch aus. Er hatte den Chief nicht in Panik versetzen wollen, aber nun verlor er die Beherrschung.

»Du dämlicher alter Narr! Wie wirst du dich wohl fühlen, wenn hundert Leute sterben, weil du Angst davor hast, ausgelacht zu werden?«

»Du machst keine Witze, nicht wahr, Roy?«

»Du weißt doch, womit ich vor meiner Karriere als Hummerfischer mein Geld verdient habe.«

»Ja, du warst oben in Orono Professor an der Universität.«

»Richtig. Ich war Leiter des Fachbereichs Ozeanographie. Wir haben Wellenbewegungen untersucht. Hast du schon mal den Begriff ›Perfekter Sturm‹ gehört? Tja, eine perfekte Flutwelle rollt genau auf euch zu. Nach meiner Berechnung wird sie in fünfundzwanzig Minuten ankommen. Mir ist egal, was du den Motelgästen erzählst. Sag ihnen, es gäbe ein Gasleck, eine Bombendrohung oder irgendwas. Bring sie einfach nur da raus und auf höher gelegenes Gebiet. Und zwar sofort

»Okay, Roy. Okay

»Ist auf der Main Street irgendein Laden geöffnet?«

»Das Café. Der kleine Jacoby hat die Frühschicht. Ich sammle ihn ein und schau dann am Pier vorbei.«

»Sorg dafür, dass in fünfzehn Minuten alle von dort abgehauen sind. Das gilt auch für dich und Ed Jacoby.«

»Werd ich. Danke, Roy. Bye.«

Jenkins wurde vor lauter Anspannung fast schwindlig. Er konnte Rocky Point deutlich vor seinem inneren Auge sehen. Die Häuser der zwölfhundert Bürger dieser Stadt drängten sich wie in einem Amphitheater auf den Hang eines kleinen Hügels, der oberhalb des nahezu runden Hafenbeckens aufragte. Letzteres lag relativ geschützt, doch nach einigen schweren Orkanen und den damit verbundenen Sturmfluten hatten die Einheimischen gelernt, nicht allzu nah am Wasser zu bauen. An der Main Street, die am Hafen vorbeiführte, beherbergten die alten Backsteinbauten mittlerweile ausschließlich Geschäfte und Restaurants, die vornehmlich von Touristen besucht wurden. Ansonsten gab es dort unten nur noch den Fischerpier und das Motel. Jenkins legte den Schubhebel um und hoffte, dass seine Warnung noch rechtzeitig eingetroffen war.

Chief Howes bedauerte sofort, Roys dringender Bitte nachgegeben zu haben, und wurde von einem lähmenden Gefühl der Ungewissheit übermannt. Was er auch tat, es konnte völlig danebengehen. Er kannte Jenkins seit frühester Kindheit, und in der Schule war Roy der Schlaueste von allen gewesen. Als Freund hatte er sich bislang immer auf ihn verlassen können. Und dennoch. Ach, zum Teufel damit, er würde sowieso bald in Pension gehen.

Howes schaltete das Signallicht ein, trat das Gaspedal bis zum Boden und startete mit qualmenden Reifen in Richtung Hafenviertel. Während er die kurze Strecke zurücklegte, verständigte er über Funk seinen Deputy und wies ihn an, Jacoby aus dem Café zu holen und dann mit dem Streifenwagen die Main Street abzufahren, um per Lautsprecher alle Leute zu veranlassen, sich bergaufwärts zu begeben. Der Chief kannte den Tagesrhythmus der Stadt und wusste, wer bereits auf den Beinen sein oder gerade eine Runde mit dem Hund drehen würde. Zum Glück machten die meisten Läden erst um zehn Uhr auf.

Bei dem Motel sah die Sache schon anders aus. Howes hielt zwei leere Busse an, die eigentlich unterwegs waren, um die Schulkinder einzusammeln, und befahl den Fahrern, ihm zu folgen. Mit quietschenden Reifen brachte er seinen Wagen dann unter dem Baldachin des Harbor View zum Stehen und rannte zum Eingang. Howes empfand hinsichtlich des Motels zwiespältige Gefühle. Einerseits wirkte es im Hafen wie ein Fremdkörper, andererseits brachte es den Anwohnern vielleicht neue Jobs; nicht jeder hier wollte als Fischer arbeiten. Allerdings gefiel ihm gar nicht, mit welchen Mitteln man das Projekt durchgesetzt hatte. Er konnte es zwar nicht beweisen, war jedoch überzeugt davon, dass im Rathaus einiges an Schmiergeld geflossen war.

Der Eigentümer stammte von hier und hieß Jack Shrager. Er war ein gewissenloser Immobilienhai, der entlang des Flusses, der in den Hafen mündete, eine Eigentumswohnung neben der anderen errichtete und dadurch der stillen Schönheit des Orts weiteren Schaden zufügte. Shrager beschäftigte keine Einheimischen, sondern vorzugsweise Ausländer, die länger und billiger arbeiteten.

Der Empfangschef, ein junger schlanker Jamaikaner, hob erschrocken den Kopf, als der Chief in die Lobby stürmte und rief: »Alle Mann raus hier! Das ist ein Notfall!«

»Was gibt’s, Mann?«

»Hier ist irgendwo eine Bombe versteckt.«

Der Portier schluckte vernehmlich. Dann ging er zur Schalttafel der Telefonanlage und fing an, die einzelnen Zimmer zu verständigen.

»Sie haben zehn Minuten«, betonte Howes. »Draußen warten Busse. Alle müssen das Gebäude verlassen, auch Sie. Falls jemand sich weigert, sagen Sie ihm, dass die Polizei ihn verhaften wird.«

Der Chief lief in den nächstbesten Flur und hämmerte an die Türen. »Polizei! Sie müssen das Motel unverzüglich räumen. Es bleiben noch zehn Minuten«, brüllte er in die verschlafenen Gesichter, die sich aus den Zimmern reckten. »Es hat eine Bombendrohung gegeben. Fangen Sie gar nicht erst an, Ihre Sachen zu packen.«

Er wiederholte die Aufforderung, bis er heiser war. Die Gänge füllten sich mit Leuten in Bademänteln und Schlafanzügen; manche hatten sich in ihre Bettdecken gewickelt. Aus einem der Zimmer trat mit finsterer Miene ein dunkelhäutiger Mann. »Was, zum Teufel, ist hier los?«, rief Jack Shrager.

Howes atmete tief durch. »Es hat eine Bombendrohung gegeben, Jack. Sie müssen hier raus.«

Eine junge blonde Frau streckte ihren Kopf zur Zimmertür hinaus. »Was gibt’s denn, Schatz?«

»Im Motel ist eine Bombe«, sagte der Chief nun ein wenig konkreter.

Die Frau wurde blass und kam auf den Flur. Sie trug einen seidenen Bademantel. Shrager wollte sie zurückhalten, aber sie riss sich los.

»Ich bleibe nicht«, sagte sie.

»Und ich gehe nicht«, sagte Shrager, kehrte in sein Zimmer zurück und knallte die Tür hinter sich zu.

Howes schüttelte betrübt den Kopf. Dann nahm er die Frau beim Arm und reihte sich mit ihr in die Schlange ein, die zum Ausgang drängte. Die Busse hatten sich fast vollständig gefüllt.

»In fünf Minuten verschwindet ihr von hier«, rief der Chief den Fahrern zu. »Fahrt ganz nach oben auf den Hügel.«

Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr zum Pier. Der Deputy stritt sich mit dreien der Fischer. Howes begriff, was dort vor sich ging, und kurbelte das Fenster herunter. »Schwingt eure Hintern in die Autos, und begebt euch zum oberen Ende der Hill Street, oder ich nehme euch fest«, rief er.

»Was ist denn bloß los, Charlie?«

»Hör mal, Buck, du kennst mich doch«, fuhr Howes mit leiserer Stimme fort. »Mach einfach, was ich sage. Ich erklär’s dir später.«

Der Fischer nickte. Dann stiegen er und die anderen in ihre Pickups. Howes wies seinen Deputy an, den Männern zu folgen, und überprüfte ein letztes Mal den Pier, wo er einen älteren Obdachlosen aufgriff, der die Abfalltonnen nach Dosen und Flaschen durchwühlte. Dann fuhr er noch einmal die Main Street entlang, konnte niemanden mehr entdecken und machte sich ebenfalls zum Ende der Hill Street auf den Weg.

Einige der Leute, die dort zitternd in der kühlen Morgenluft standen, schrien ihn wütend an. Howes ignorierte die Beschimpfungen, stieg aus seinem Wagen und ging ein Stück den Hügel hinunter, der steil zum Hafen hin abfiel. Jetzt, da sein Adrenalinspiegel wieder sank, wurden ihm die Knie weich. Nichts. Er sah auf die Uhr. Fünf Minuten vergingen. Mit sich nahmen sie seine Träume von einem friedlichen Ruhestand und seiner Polizeipension. Ich bin tot, dachte er. Trotz der Kühle glitzerten Schweißtropfen auf seiner Stirn.

Dann sah er, wie das Meer sich am Horizont plötzlich aufwölbte, und vernahm ein Geräusch wie fernen Donner. Die Leute hörten auf zu rufen. Vor der Hafeneinfahrt ragte etwas Dunkles auf, und die kleine Bucht leerte sich – er konnte tatsächlich bis auf den Grund sehen. Das Phänomen dauerte nur ein paar Sekunden. Dann schoss das Wasser mit dem Lärm einer startenden 747 zurück und hob die vertäuten Fischerboote wie Spielzeuge empor. Im Abstand weniger Augenblicke folgten zwei weitere Wogen, die jeweils höher als der Vorgänger waren und die Uferzone mit unglaublicher Wucht überspülten. Als sie wieder zurückbrandeten, waren das Motel und der Fischerpier verschwunden.

 

Das Rocky Point, zu dem Jenkins zurückkehrte, unterschied sich deutlich von demjenigen, das er am frühen Morgen verlassen hatte. Die Kutter aus dem Hafen lagen nun in einem wirren Knäuel aus Holz und Fiberglas am Ufer. Kleinere Boote waren bis auf die Main Street geworfen worden. Die Schaufenster zahlreicher Geschäfte schienen einer Bande Vandalen zum Opfer gefallen zu sein. Im Wasser trieben Trümmer und Algen, und es stank nach Schwefel und totem Fisch. Das Motel war spurlos verschwunden. Vom Pier standen nur noch die Stützpfeiler, wenngleich die robuste Betonmauer des Hafens keinerlei Beschädigung aufwies. Jenkins hielt mit seinem Boot auf eine winkende Gestalt zu. Chief Howes fing die Halteleinen, machte sie fest und kam an Bord.

»Wurde jemand verletzt?«, fragte Jenkins und ließ den Blick über den Hafen und die Stadt schweifen.

»Jack Shrager ist tot. Soweit wir wissen, hat es sonst niemanden erwischt. Alle anderen konnten aus dem Motel evakuiert werden.«

»Danke für dein Vertrauen. Tut mir Leid, dass ich dich einen alten Narren genannt habe.«

Der Chief blies die Wangen auf. »Genau das wäre ich gewesen, falls ich abgewartet und nichts unternommen hätte.«

»Erzähl mir, was du gesehen hast«, bat Jenkins. Der Wissenschaftler in ihm gewann die Oberhand über den Samariter.

Howes schilderte seine Eindrücke. »Wir standen oben an der Hill Street. Es klang und sah aus wie ein Unwetter, und dann leerte sich das Hafenbecken, als hätte jemand den Stöpsel gezogen. Ich konnte wirklich bis auf den Grund sehen. Ein paar Sekunden später kam das Wasser laut wie ein Düsenjet wieder zurück.«

»Guter Vergleich. Auf dem offenen Meer kann eine Tsunami bis zu neunhundertfünfzig Kilometer pro Stunde zurücklegen.«

»Das ist schnell!«, sagte der Chief.

»Zum Glück verringert sich die Geschwindigkeit in den flacheren Küstengewässern, aber die Energie der Welle nimmt leider nicht ab.«

»Ich hatte mir das irgendwie anders vorgestellt. Du weißt schon, eine fünfzehn Meter hohe Wasserwand oder so. Das hier war mehr wie eine überdimensionale Brandung. Ich habe drei Wellen gezählt, die immer höher wurden. Die letzte hatte etwa neun Meter. Sie haben das Motel und den Pier verschlungen und die Main Street überflutet.« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß ja, dass du ein Professor bist, Roy, aber woher wusstest du so genau, was passieren würde?«

»Ich habe so etwas schon mal vor der Küste von Neuguinea erlebt. Wir waren mit Forschungsarbeiten beschäftigt, als ein unterseeischer Erdrutsch eine Tsunami von zehn bis zwanzig Metern Höhe ausgelöst hat. Als unser Schiff von den Wellen aus dem Wasser gehoben wurde, hat sich das genauso angefühlt wie heute. Die Bevölkerung an Land wurde gewarnt, und viele schafften es auch, sich in höhere Regionen zu flüchten, doch trotzdem sind mehr als zweitausend Menschen ums Leben gekommen.«

Der Chief schluckte. »Das sind mehr als diese Stadt Einwohner hat.« Er ließ die Worte des Professors Revue passieren. »Glaubst du, dass auch hierfür ein Erdbeben verantwortlich ist? Ich dachte, so etwas kommt nur im Pazifik vor.«

»Normalerweise hättest du Recht.« Jenkins starrte stirnrunzelnd aufs Meer hinaus. »Es ist mir absolut unbegreiflich.«

»Mir bereitet noch etwas ganz anderes Kopfzerbrechen. Wie soll ich begründen, dass ich das Motel wegen einer angeblichen Bombendrohung evakuiert habe?«

»Meinst du, das dürfte jetzt noch jemanden interessieren?«

Chief Howes musterte die Stadt und die vielen Leute, die sich vorsichtig den Hügel hinab zum Hafen vorwagten, und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Vermutlich nicht.«

2

Ägäisches Meer

 

Das Forschungstauchboot NR-I schaukelte sanft in den Wellen vor der türkischen Küste und wäre nahezu unsichtbar geblieben, wäre der Kommandoturm nicht so leuchtend orangerot gewesen. Kapitän Joe Logan stand breitbeinig auf dem vom Meer überspülten Deck und hielt sich an einem der Horizontalflügel fest, die aus den Seiten des Turms ragten. Wie immer vor einem Tauchgang, nahm er eine letzte Sichtprüfung vor.

Logans Blick wanderte über den vierundvierzig Meter langen, schlanken schwarzen Rumpf, dessen Oberdeck nur wenige Zentimeter aus dem Wasser ragte. Alles schien sich in tadelloser Ordnung zu befinden. Er nahm seine blaue Baseballmütze ab und schwenkte sie in Richtung der creme- und orangefarbenen Carolyn Chouest, die in knapp vierhundert Metern Entfernung ankerte. Die Aufbauten des leistungsstarken Versorgungsschiffs ragten mehrere Stockwerke in die Höhe, beinahe wie die Etagen eines Mietshauses. Aus der Backbordseite ragte ein schwerer Kran, der Lasten von mehreren Tonnen heben konnte.

Der Kapitän kletterte auf den Turm und zwängte sich durch die neunundsiebzig Zentimeter breite Öffnung. Wegen seiner Schwimmweste blieb wenig Freiraum, und der Einstieg erforderte etwas Geschick. Logan fuhr mit den Fingern über die Dichtung, um sicherzugehen, dass kein Schmutz daran haftete, schloss den Lukendeckel und kletterte in den schmalen Kontrollraum. Die unzähligen Skalen, Messgeräte und Instrumente, die jeden Quadratzentimeter an Wänden und Decke einnahmen, ließen die Schaltzentrale noch enger wirken, als sie ohnehin war.

Mit seiner durchschnittlichen Größe und Statur, dem schütteren blonden Haar und dem leicht fleischigen Kinn sah Logan recht unscheinbar aus und hätte mühelos als Universitätsprofessor durchgehen können. Er war jedoch gelernter Nukleartechniker und hatte bereits mehrere normale Schiffe befehligt, bevor man ihm das Kommando über die NR-I übertrug. Die Navy kam längst ohne raubeinige John-Wayne-Typen aus, die eher instinktiv als methodisch vorgingen, denn die heutigen Kampfschiffe mit ihren computerisierten Feuerleitständen sowie den lasergelenkten oder zielsuchenden Raketen waren inzwischen viel zu kompliziert und teuer, um sie irgendwelchen Cowboys anzuvertrauen. Logan hatte einen scharfen Verstand und die Fähigkeit, auch das komplexeste technische Problem blitzschnell analysieren zu können.

Seine früheren Schiffe waren alle sehr viel größer gewesen, doch die NR-I wies die bei weitem ausgeklügeltste Elektronik auf. Das Boot war 1969 gebaut worden, aber man hatte es immer wieder auf den neuesten Stand gebracht. Trotz aller Hochtechnologie bediente man sich auch weiterhin einiger älterer, aber bewährter Verfahren. Der Greifarm unter dem Bug des Boots hielt zurzeit eine große Metallkugel umklammert, von der aus ein fast vierhundert Meter langes Schlepptau zum Deck des Versorgungsschiffs führte.

Logan gab den Befehl, das Tau auszuklinken. Dann wandte er sich an einen untersetzten bärtigen Mann Mitte fünfzig. »Willkommen an Bord des kleinsten Atom-U-Boots der Welt, Dr. Pulaski. Bitte verzeihen Sie, dass wir Ihnen hier nicht mit mehr Freiraum dienen können, aber die Abschirmung des Reaktors nimmt sehr viel Platz ein. Ich schätze, Klaustrophobie ist Ihnen immer noch lieber als Verstrahlung. Hat man Sie schon herumgeführt?«

Pulaski lächelte. »Ja, und man hat mir gezeigt, wie das Klo funktioniert.« Er sprach mit leichtem Akzent.

»Sie müssen vielleicht Schlange stehen, also wäre ich vorsichtig mit dem Kaffee. Wir haben zehn Mann Besatzung, da kann es durchaus mal eng werden.«

»Wenn ich richtig verstanden habe, können Sie bis zu dreißig Tage unter Wasser bleiben«, sagte Pulaski. »Ich möchte mir gar nicht erst vorstellen, wie es sich anfühlen muss, so lange in einem Kilometer Tiefe auszuharren.«

»Ich gebe gern zu, dass unter solchen Bedingungen sogar die einfachsten Annehmlichkeiten zu einem echten Problem werden können, beispielsweise sich zu duschen oder eine warme Mahlzeit zuzubereiten«, sagte Logan. »Zum Glück werden wir diesmal nur ein paar Stunden tauchen.« Er sah auf die Uhr. »Wir sinken zunächst auf dreißig Meter, um die Systeme zu überprüfen. Falls alles ordnungsgemäß läuft, gehen wir weiter runter.«

Logan trat durch einen kurzen Gang, der kaum breiter als seine Schultern war, und deutete auf eine kleine gepolsterte Plattform hinter den beiden Sesseln der Kontrollstation. »Das ist normalerweise mein Platz während der Operationen. Heute gehört er ganz Ihnen. Ich weiche auf den Sitz des zweiten Steuermanns aus. Sie kennen Dr. Pulaski ja bereits«, sagte er zu dem Steuermann. »Er ist Meeresarchäologe an der Universität von North Carolina.«

Der Steuermann nickte, und Logan schob sich auf den Platz rechts neben ihm. Vor ihm befand sich eine stattliche Anzahl von Instrumenten und kleinen Bildschirmen. »Das sind unsere Augen«, sagte er und wies auf eine Reihe von Monitoren. »Hier haben wir die Bugansicht. Die Kamera sitzt an der Vorderseite des Turms.«

Der Kapitän nahm die beleuchtete Schalttafel in Augenschein, sprach sich kurz mit dem Steuermann ab, funkte dann das Versorgungsschiff an und meldete Tauchbereitschaft. Er gab den Befehl, auf dreißig Meter Tiefe zu gehen. Die Pumpen begannen zu summen, und Wasser strömte in die Ballasttanks. Als das Boot unter die Wellen sank, hörte es sofort auf zu schaukeln. Der auf den Bildschirmen gut erkennbare Bug verschwand in einer Wolke aus Gischt, wurde dann wieder sichtbar und hob sich dunkel vor dem blauen Wasser ab. Die Besatzung prüfte die einzelnen Systeme, und der Kapitän überzeugte sich von der Funktionsfähigkeit des UQC, eines drahtlosen Unterwassertelefons, mit dessen Hilfe das U-Boot und das Versorgungsschiff miteinander kommunizierten. Die Stimme vom Schiff klang gedehnt und irgendwie metallisch, aber die Worte waren klar und deutlich zu verstehen.

Nachdem man dem Kapitän die Einsatzbereitschaft aller Systeme gemeldet hatte, gab er den nächsten Befehl: »Tauchen, tauchen

Man spürte die Bewegung kaum. Das Wasser auf den Monitorbildern verfärbte sich von blau nach schwarz, weil das Sonnenlicht verblasste, und Logan ließ die Außenscheinwerfer einschalten. Der Abstieg ging praktisch lautlos vonstatten, während der Steuermann mit einem Joystick die Tiefenruder bediente und der Kapitän aufmerksam den Abstand bis zum Meeresboden im Auge behielt. Fünfzehn Meter über dem Grund gab Logan Anweisung, die Tiefe zu halten.

Der Steuermann wandte sich an Pulaski. »Wir befinden uns jetzt in unmittelbarer Nähe der zuvor ermittelten Stelle und setzen nun das Horizontalsonar ein. Das erforderliche Suchmuster haben wir in den Computer eingegeben. Das Boot wird selbsttätig die Strecke abfahren, während wir uns zurücklehnen und die Aussicht genießen. Auf diese Weise wird die Besatzung weniger beansprucht.«

»Unglaublich«, sagte Pulaski. »Ich bin überrascht, dass dieses bemerkenswerte Boot die Funde nicht auch noch analysiert, einen entsprechenden Bericht verfasst und unsere Schlussfolgerungen gegen die Kritik der eifersüchtigen Kollegen verteidigt.«

»Daran arbeiten wir noch«, sagte Logan mit unbewegter Miene.

Pulaski schüttelte mit gespieltem Entsetzen den Kopf. »Ich sollte mir eine andere Beschäftigung suchen. Wenn das so weitergeht, werden Meeresarchäologen entweder aussterben oder einfach nur auf irgendwelche Bildschirme starren.«

»Auch dafür können Sie ruhig dem Kalten Krieg die Schuld geben.«

Pulaski sah sich staunend um. »Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass ich meine wissenschaftliche Arbeit irgendwann einmal an Bord eines U-Boots betreiben würde, das man entworfen hat, um die Sowjetunion auszuspionieren.«

»Das konnten Sie auch gar nicht. Die NR-I war so geheim wie nur möglich. Am verblüffendsten finde ich, dass sogar die neunzig Millionen Dollar Kosten erfolgreich verschleiert wurden. Meiner Meinung nach hat man das Geld gut angelegt. Und nachdem die Navy mittlerweile die zivile Nutzung gestattet, steht uns ein hervorragendes Forschungsinstrument zur Verfügung.«

»Stimmt es, dass die NR-I nach der Explosion der Raumfähre Challenger eingesetzt wurde?«, fragte Pulaski.

»Sie hat einige wichtige Teile aus dem Wasser geholt, so dass die NASA die Fehlerquelle ermitteln und die Technik der Fähre sicherer machen konnte«, erläuterte Logan. »Außerdem wurden mit ihrer Hilfe eine versunkene F-14 und eine vermisste Luft-Luft-Rakete Typ Phoenix geborgen, die niemand sonst in die Finger bekommen sollte. Manche der früheren Einsätze im Zusammenhang mit den Russen unterliegen auch heute noch der Geheimhaltung.«

»Was können Sie mir über den Greifarm erzählen?«

»Er funktioniert wie ein menschlicher Arm, kann aber in allen Gelenken rotieren. Darüber hinaus besitzt das Boot zwei ausfahrbare Vollgummiräder im Kiel. Es ist zwar nicht gerade eine Harley-Davidson, aber wir können uns damit direkt über dem Meeresgrund bewegen. Wenn die NR-I Bodenkontakt hat, kann der Arm einen Radius von knapp drei Metern abdecken.«

»Faszinierend«, sagte Pulaski. »Und welches Gewicht kann er heben?«

»Maximal neunzig Kilo.«

»Gibt es Schneidwerkzeuge?«

»Die Greifklauen können mühelos Taue oder Kabel durchtrennen. Falls das nicht reicht, setzen wir einen Schneidbrenner ein. Wie ich schon sagte, der Arm ist vielseitig verwendbar.«

»Ja, sieht ganz so aus«, sagte Pulaski. Er wirkte sehr zufrieden.

Das Boot folgte einem klassischen Suchraster aus parallelen Bahnen, die wie beim Rasenmähen abgefahren wurden. Auf den Monitoren sah man, wie der Meeresgrund unter dem Rumpf vorbeiglitt. Es gab keinerlei Pflanzenbewuchs.

»Wir müssten uns nun immer mehr der Stelle nähern, die wir von oben entdeckt haben«, sagte Logan. Er deutete auf einen Bildschirm. »Hal-lo. Offenbar haben wir ein Sonarecho.« Er wandte sich an den Steuermann. »Gehen Sie auf manuelle Steuerung, drehen Sie zwanzig Grad nach backbord, und bringen Sie sie weiter runter.«

Unter sanften Stößen der Schubdüsen glitt die NR-I im flachen Winkel nach unten. Die Batterie aus zwei Dutzend Scheinwerfern ließ den Meeresboden in gleißender Helligkeit erstrahlen. Der Steuermann flutete die Ballasttanks, bis das Boot waagerecht lag.

»So bleiben«, sagte Logan. »Gleich haben wir Sichtkontakt zum Zielgebiet.« Er beugte sich vor und starrte gespannt auf den Monitor, der sein Gesicht in blaugrünes Licht tauchte. Das Boot fuhr langsam weiter, und auf dem Schirm erschienen bauchige Gegenstände, erst vereinzelt, dann in Gruppen.

»Das sind zahlreiche Amphoren«, sagte Pulaski. In der Antike hatten diese tönernen Gefäße der Aufbewahrung von Wein oder anderen Flüssigkeiten gedient. Man fand sie oft auf versunkenen Schiffen.

»Wir machen Fotos und Videoaufnahmen, so dass für Ihre spätere Analyse eine dreidimensionale Aufzeichnung zur Verfügung steht«, sagte der Kapitän. »Möchten Sie etwas bergen?«

»Ja, das wäre großartig. Können wir eine Amphore mitnehmen? Vielleicht von dem Haufen da drüben?«

Logan befahl dem Steuermann, das Boot in der Nähe der bezeichneten Stelle auf Grund zu setzen. Der vierhundert Tonnen schwere Rumpf ging leicht wie eine Feder nieder und rollte vorwärts. Der Kapitän verständigte die Bergungsmannschaft.

Zwei seiner Männer kamen nach vorn und öffneten in dem Gang hinter der Schaltzentrale eine Bodenluke. Darunter lag ein flacher Schacht. Drei jeweils zehn Zentimeter dicke Acryl-Bullaugen im Kiel gaben die Sicht nach unten frei. Einer der Männer quetschte sich in den Zwischenraum und achtete darauf, dass die NR-I nicht in den Amphorenhaufen hineinrollte. Als die Objekte sich in Reichweite befanden, hielt das Boot an. Der Greifarm steckte in einem Gehäuse am Vorderende des Kiels. Mittels einer tragbaren Fernsteuerung ließ der Mann in dem Schacht den Arm nun ausfahren und in der Schulter rotieren.

Sanft fasste die mechanische Hand eine der Amphoren um den Hals, hob sie an und legte sie in einen Auffangkorb, der unter dem Bug hing. Dann wurde der Arm wieder eingefahren, und Logan befahl, vom Boden abzuheben. Während das Boot eine weitere Reihe von Aufnahmen anfertigte, setzte der Kapitän sich mit dem Versorgungsschiff in Verbindung, beschrieb die Entdeckung und teilte mit, sie würden bald wieder auftauchen. Um das Schiff an der Oberfläche zu orten, ließ er das Sonar einschalten. Ein gleichmäßiges Ping-Ping hallte durch das Boot.

»Bereitmachen zum Auftauchen«, wies er den Steuermann an.

Dr. Pulaski stand direkt hinter ihm. »Das möchte ich bezweifeln«, sagte er.

Logan war auf die bevorstehende Aufgabe konzentriert und hatte nur mit halbem Ohr zugehört. »Verzeihung, Doktor. Was haben Sie gerade gesagt?«

»Ich sagte, wir werden nicht auftauchen.«

Logan drehte sich mit seinem Stuhl um und lächelte. »Ich hoffe, Sie nehmen meine Prahlerei über die maximale Tauchdauer von einem Monat nicht für bare Münze. Wir haben bloß Proviant für ein paar Tage an Bord.«

Pulaski schob eine Hand unter seine Jacke und zog eine Tokarew TT-33 hervor. »Sie werden tun, was ich sage, oder ich erschieße Ihren Kameraden«, drohte er ruhig. Er schwang die Pistole herum und drückte dem Steuermann die Mündung an den Kopf.

Logan sah kurz die Waffe an und musterte dann Pulaskis Gesicht. Dessen Züge ließen keinerlei Mitleid erkennen.

»Wer sind Sie?«, fragte er.

»Das tut nichts zur Sache. Ich sage es jetzt zum letzten Mal. Sie werden meine Anweisungen befolgen.«

»Also gut«, willigte Logan ein. Seine heisere Stimme verriet die Anspannung. »Was soll ich tun?«

»Zunächst unterbrechen Sie sämtliche Verbindungen zum Versorgungsschiff.« Pulaski verfolgte aufmerksam, wie Logan eine Reihe von Schaltern umlegte. »Danke«, sagte er und sah auf die Uhr. »Als Nächstes informieren Sie den Rest der Besatzung, dass dieses Boot entführt wurde. Jeder, der unerlaubt nach vorn kommt, wird erschossen.«

Logan nahm das Mikrofon der Gegensprechanlage und ließ Pulaski dabei nicht aus den Augen. »Hier spricht der Kapitän. Es befindet sich ein bewaffneter Mann auf der Brücke. Das Boot steht unter seiner Befehlsgewalt. Wir werden tun, was er sagt. Halten Sie sich vom Kontrollraum fern. Dies ist kein Scherz. Ich wiederhole: Dies ist kein Scherz. Bleiben Sie auf Ihren Posten. Wer nach vorn kommt, wird erschossen.«

Aus der Achtersektion war aufgeregtes Stimmengewirr zu hören, und der Kapitän wiederholte die Warnung ein weiteres Mal, um seinen Männern den Ernst der Lage zu verdeutlichen.

»Sehr gut«, sagte Pulaski. »Nun steigen Sie mit der NR-I bis auf eine Tiefe von hundertfünfzig Metern.«

»Sie haben’s gehört«, sagte Logan zu dem Steuermann, als widerstrebe es ihm, den ausdrücklichen Befehl zu erteilen.

Der Mann hatte wie versteinert dagesessen. Jetzt griff er nach der Steuerung und pumpte Wasser aus den diversen Ballasttanks. Mittels der Tiefenruder hob er die Nase des Boots an und ließ es durch kurze Schübe des Hauptantriebs aufsteigen. Bei hundertfünfzig Metern brachte er den Rumpf in die Waagerechte.

»Okay«, sagte Logan. »Und was jetzt?« Seine Augen funkelten vor Wut.

Pulaski sah erneut auf die Uhr. »Jetzt warten wir.« Er rückte mit der Pistole ein wenig von dem Steuermann ab, hielt sie aber weiterhin schussbereit.

Zehn Minuten vergingen. Dann fünfzehn. Logans Geduld war erschöpft. »Hätten Sie vielleicht die Güte, mir mitzuteilen, worauf wir eigentlich warten?«

Pulaski hob einen Finger an die Lippen. »Das werden Sie schon sehen«, sagte er und lächelte geheimnisvoll.

Weitere Minuten vergingen. Die nervöse Spannung wurde unerträglich. Logan starrte auf das Bild der vorderen Turmkamera und grübelte darüber nach, wer dieser Mann sein mochte und was er wohl wollte – die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ein riesiger Schatten schob sich vor den spitz zulaufenden Bug.

Logan beugte sich vor und riss die Augen auf. »Was, zum Teufel, ist das denn?«

Der Schatten glitt unter den Rumpf, beinahe wie ein monströser Hai, der es auf den Bauch des Opfers abgesehen hatte. Ein furchtbares metallisches Dröhnen hallte durch das gesamte Boot, als habe jemand mit einem gigantischen Schmiedehammer darauf eingeschlagen. Die NR-I erzitterte und hob sich um einen oder zwei Meter.

»Wir wurden getroffen!«, schrie der Steuermann und griff instinktiv nach dem Schubhebel.

»Keine Bewegung!«, fuhr Pulaski ihn an und hob die Pistole.

Die Hand des Mannes erstarrte mitten in der Luft. Er sah nach oben. Jedermann im Boot konnte ein Kratzen und Scharren hören, als würden große Metallkäfer über die Außenhaut krabbeln.

Pulaski strahlte vor Freude. »Das ist unser Empfangskomitee.«

Die Geräusche hielten mehrere Minuten an. Dann verstummten sie und wichen der Vibration kraftvoller Maschinen. Der Geschwindigkeitsmesser im Befehlsstand registrierte eine Bewegung, obwohl niemand den Antrieb eingeschaltet hatte.

»Wir nehmen Fahrt auf«, sagte der Steuermann und konnte den Blick nicht von der Anzeige abwenden. »Was soll ich machen?«

Er sah den Kapitän an. Sie waren bei zehn, dann bei zwanzig Knoten und beschleunigten noch immer.

»Nichts«, antwortete Pulaski und wandte sich an Logan. »Geben Sie bitte eine Nachricht an die Besatzung durch.«

»Was soll ich den Männern sagen?«

Pulaski lächelte. »Das dürfte doch wohl offensichtlich sein. Sagen Sie ihnen, sie sollen sich zurücklehnen und den Ausflug genießen.«