Während Shakespeare unvergängliche Werke wie „Romeo und Julia“, „Hamlet“ oder „Othello“ schrieb, ging die Welt durch eine Epoche tiefgreifender Veränderungen. Seit der Entdeckung Amerikas hatten sich die Horizonte Europas dramatisch erweitert, die Reformation spaltete die Christenheit, ein ganzes Weltbild geriet ins Wanken. Neil MacGregor führt uns mitten hinein in diese aufregende Zeit – und mitten hinein in die Stücke William Shakespeares.
Ob er uns das Schwert eines Edelmanns oder die Wollmütze eines Handwerksburschen, einen Glaskelch aus Venedig oder Münzen aus Marrakesch vorstellt – immer weiß Neil MacGregor in den zwanzig Kapiteln dieses Buches eines der Themen zu illuminieren, die Shakespeares Zeitalter prägten: die Globalisierung, die Glaubenskämpfe, die Pest, der Islam, die Magie – und uns zugleich vertraut zu machen mit einem der aufregendsten Dichter der Weltliteratur. Das Resultat ist ein hinreißend lebendiges, glänzend geschriebenes und in vielem überraschendes Portrait der gefährlich aufgewühlten Welt von William Shakespeare.
Neil MacGregor ist seit 2002 Direktor des Britischen Museums. Zuvor war er von 1987 bis 2002 Direktor der National Gallery in London. 2008 war er „Brite des Jahres“ in England. 2010 erhielt er den erstmals verliehenen Internationalen Folkwang-Preis. Sein Buch „Geschichte der Welt in 100 Objekten“ (52013) war auch in Deutschland ein Bestseller.
Einleitung |
Im Innern des hölzernen O |
Kapitel Eins |
England erobert die Welt |
Kapitel Zwei |
Kommunion und Gewissen |
Kapitel Drei |
Gaumenfreuden im Theater |
Kapitel Vier |
Leben ohne Elisabeth |
Kapitel Fünf |
Fechten und Protzen |
Kapitel Sechs |
Europa: Siege der Vergangenheit |
Kapitel Sieben |
Irland: Niederlagen der Gegenwart |
Kapitel Acht |
In der Stadt: Zucht und Krawall |
Kapitel Neun |
Neue Wissenschaft, alte Magie |
Kapitel Zehn |
«Plag’ und Mühe» |
Kapitel Elf |
Verrat und Verschwörung |
Kapitel Zwölf |
«Sex and the City» |
Kapitel Dreizehn |
Von London nach Marrakesch |
Kapitel Vierzehn |
Verkleidung und Verschleierung |
Kapitel Fünfzehn |
Die Flagge, aus der nichts wurde |
Kapitel Sechzehn |
Zeit des Wandels, Wandel der Zeit |
Kapitel Siebzehn |
Die Pest und die Theater |
Kapitel Achtzehn |
London wird Rom |
Kapitel Neunzehn |
Theater der Grausamkeit |
Kapitel Zwanzig |
Shakespeare erobert die Welt |
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Anhang |
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Liste der Leitobjekte |
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Bibliographie |
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Anmerkungen |
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Abbildungsnachweise |
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Dank |
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Personenregister |
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Register von Shakespeares Werken |
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Ortsregister |
«Diese Hahnengrube,
Faßt sie die Ebnen Frankreichs? Stopft man wohl
in dieses O von Holz allein die Helme nur,
Wovor bei Agincourt die Luft erbebte?
O so verzeiht, wenn in engem Raum
Ein krummer Zug für Millionen stehen soll;
Und laßt uns, [Ziffern] dieser großen Summe,
Auf eure einbildsamen Kräfte wirken!
Ergänzt mit den Gedanken unsre Mängel,
Zerlegt in tausend Teile einen Mann
Und schaffet eingebild’te Heereskraft.
Denkt, wenn wir Pferde nennen, daß ihr sie
Den stolzen Huf seht in die Erde prägen.
Denn euer Sinn muß unsre Kön’ge schmücken …»
(Heinrich V., Prolog)
Bei einigen Gelegenheiten spricht Shakespeare sein Publikum direkt an. In Prolog oder Epilog, in Gestalt des Chors lädt der Autor seine Zuschauer ein, sich ihm anzuschließen: zu einem gemeinsamen Akt poetischer Imagination. Mit ihm zusammen sollen sie sich für einige Stunden in eine andere Welt versetzen und sie bewohnen. «Ergänzt unsre Mängel», darum bittet, an einer berühmten Stelle, der Chor im Prolog zu Heinrich V. Was aber werden Shakespeares Zuschauer gedacht, empfunden haben, wenn sie das Theater betraten, das «O von Holz»? Welche Erinnerungen brachten sie mit, die sie alle prägten, welche Annahmen, welche Missverständnisse? Was genau würde ihre «einbildsamen Kräfte» wecken? Welche. Befürchtungen, welches Vertrauen, welche zum Gemeingut zählenden Bruchstücke der Geschichte kamen ins Spiel, wenn die Zuschauer «unsre Könige schmücken» sollten? Kurz, welche Szenerie hatten sie im Sinn; wie, vor welchem Hintergrund vernahmen sie, wie Heinrich V. seine Soldaten auf die bevorstehende Schlacht einstimmte; wie sahen sie einen Weber zum Esel werden und Julius Caesar sterben?
Mit Hilfe zeitgenössischer Texte, gelehrter und literarischer Schriften mag es uns gelingen, in diese inneren Welten zu reisen, so wie dies Ende der 1940er Jahre E. M. W. Tillyard in seinem The Elizabethan World Picture (Das Weltbild der elisabethanischen Zeit) getan hat, und seither ihm folgend auch andere große Gelehrte. Doch viele Menschen waren es nicht, die damals solche Werke der Literatur und Philosophie, der Wissenschaft und Religion gelesen haben, die es uns heute erlauben würden, eine vollständige Kosmologie aufzudecken. Und unter diesen Lesern wiederum waren ganz sicher nicht die jenigen, die die billigen Plätze im Theater füllten. Den alltäglichen Angelegenheiten dieser Zuschauer bringen uns Wirtschafts- und Sozialhistoriker viel näher; so, wie in jüngerer Zeit auch Literaturhistoriker mit Gewinn begonnen haben, Shakespeare in seine Stadt und Zeit zu stellen.
Die folgenden Kapitel beziehen sich nicht vor allem auf literarische Quellen; die gezeigten Dinge allerdings verbinden sich auch nicht zu einer durcherzählten Geschichte Englands um 1600. Sie wollen uns vielmehr ganz direkt zu einer bestimmten Person, an einen bestimmten Ort führen, zu einer Art zu denken und zu handeln, die wir nur schwer zum Leben erwecken könnten, würden wir ausschließlich mit Texten arbeiten oder aber von weit oben auf die großen historischen Entwicklungslinien schauen. Die gezeigten Dinge sind ein materieller Ausgangspunkt für eine dreiseitige Konversation: Miteinander sprechen die Objekte selbst, die Menschen, die sie benutzten oder sahen, sowie die Worte des Stückeschreibers, die zu einem fest eingewurzelten Bestandteil unserer Sprache und unseres Lebens wurden.
Es liegt eine merkwürdige Kraft in Dingen: Sie können, einmal von uns hergestellt, unser Leben verändern. Das ist eine Wahrheit, von der die großen Religionen der Welt wussten und die sie auch stets genutzt haben. Heilige Reliquien und geweihte Orte haben diese Kraft, uns in der Zeit zu transportieren und damit zugleich auch zu transformieren. Wir glauben dann, neben den Propheten und den Heiligen zu stehen, ihr Menschsein zu teilen, für einen kurzen Augenblick auch ihre Welt zu bewohnen. Vom Charisma der Dinge bewegt, unternimmt dieses Buch zwanzig Reisen in eine vergangene Welt – dies aber nicht in der Absicht, uns irgendeinem bestimmten Heiligen oder Helden näher zu bringen, schon gar nicht der Gestalt im Zentrum des Geschehens selbst, William Shakespeare. Wir wissen über das, was er tat, recht wenig, können nicht hoffen, mit auch nur annähernder Sicherheit aufzudecken, was er dachte, woran er glaubte. Shakespeares innere Welt bleibt, so bitter das ist, im Dunklen. Stattdessen aber erlauben uns die Objekte in diesem Buch, an den Erfahrungen seines Publikums teilzuhaben – einige Tausend Männer und Frauen werden es gewesen sein, die damals, als Shakespeares Stücke zum ersten Mal aufgeführt wurden, die Theater des elisabethanischen und des jakobäischen London besucht haben. Für sie hat er geschrieben. Was war ihre Welt?
Schon dass einfache Männer und Frauen in den 1590er Jahren überhaupt ein Theater besucht haben, zeigt, wie sehr sich ihre Welt von der ihrer Eltern unterschied. Das kommerzielle Theater, wie wir es heute kennen, war damals etwas völlig Neues und als Neuerung in der Massenunterhaltung so umstürzend wie das Fernsehen in den 1960er Jahren. Als Shakespeare ein Junge war, fanden die meisten Theaterproduktionen im Haus eines Adligen oder in einem königlichen Palast statt; oder aber in einem großen öffentlichen Raum, etwa in der Gildhall von Stratford. Räume, die eigens für Bühnenaufführungen konzipiert waren, gab es nur wenige. Die erste als Theater gebaute Spielstätte wurde in London 1576 eröffnet; Shakespeare war damals zwölf Jahre alt. Diese Häuser dienten einem neuen, einem geschäftlichen Zweck und wenn wurden auch nach einem neuen Finanzierungsmodell betrieben. Als Shakespeares Karriere begann, in den 1590er Jahren, war das kommerzielle Theater mit Sitzen (oder Stehplätzen) zu diversen Preisen und, vor allem, ausgerichtet am Geschmack aller Klassen der Gesellschaft bereits ein voll entwickeltes, eingeführtes Geschäftsmodell. Dieses und sein Publikum prägten die gezeigten Stücke.
Wie in den 1960er Jahren das Fernsehen, so zogen um 1600 die Theater einige der damals größten literarischen Talente an. Einem jungen Mann, der das Schreiben zu seinem Geschäft machen wollte, öffneten sich ganz neue Wege; diese Autoren schrieben tatsächlich mit Blick aufs Publikum. Alle, die Eintritt bezahlt hatten, hofften, in den Stücken Menschen agieren zu sehen, die waren wie sie selbst. Darum, und ganz anders als im aristokratischen Drama des klassischen französischen Theaters, treten im englischen Drama alle möglichen Menschen auf: Träger und Totengräber, Wachsoldaten auf ihren Posten, Kerle, die einfach auf den Straßen herumlungern. Solche Gestalten waren im Publikum. Sie waren auf der Bühne.
Auf dem Kontinent gab es solche Theater nicht. Doch in ihrer äußeren Gestalt waren diese sehr englischen Gebäude ein Echo einer anderen, weit entfernten Welt: Die modernen Londoner, die diese neuen Stätten der Unterhaltung schufen, hatten die Theater des alten Rom im Sinn – darum gaben sie ihnen auch den alten Namen theatre, in bewusster Nachahmung der klassischen Welt. Es war ein Gebäudetyp, wie er seit über tausend Jahren kaum mehr gebaut worden war, gleichwohl nicht unbekannt, denn da waren ja die vielen Relikte in Italien und in Südfrankreich: Reisende hatten sie beschrieben, Stiche zeigten Bögen und Ruinen. Die Londoner playhouses allerdings wurden nicht im streng römischen Stil errichtet, nicht aus behauenen Steinen, aus Holz vielmehr und Gips. Stets besucht, wer ins Theater geht, andere Welten. Doch wer sich in eines dieser neuen Freilufttheater begab, der beanspruchte allein schon dadurch – in gewissem Maß zumindest – einen Platz in der klassischen Tradition: Für zwei Stunden lebte man in den Geschichten, manchmal auch unter den Helden der antik-mediterranen Welt. Einen Nachmittag lang konnte man beides sein, alter Römer und zugleich moderner Engländer, moderne Engländerin. Die gleiche Vorstellung steht hinter den Triumphbögen, von denen Kapitel Achtzehn handelt. Und weil es damals jedermann für erwiesen hielt, dass Julius Caesar höchstpersönlich den Tower of London gebaut hatte, war, was Shakespeares Londoner im Sinn hatten, keineswegs so abwegig, wie es uns Heutigen scheinen mag.
Es ist Grundbotschaft aller Werbung, dass wir zu denen werden können, die wir sein wollen, wenn wir nur die richtigen Dinge besitzen. Das galt um 1600 nicht weniger als heute. So wissen wir beispielsweise aus Texten und Erinnerungen, aber auch von den Schauplätzen der Stücke Shakespeares, wie sehnsüchtig viele Elisabethaner vom zeitgenössischen Italien schwärmten, wie sehr sie es nachahmen wollten. Wir können dieser Sehnsucht noch viel intensiver nachspüren, wenn wir eine damals modische, teure Gabel betrachten, stolz mit den Initialen A. N. versehen, die im Rose Theatre verloren ging und die 300 Jahre später unter dem Schutt gefunden wurde.
Über das Leben von A. N. wissen wir gar nichts. War er ein schicker junger Aristokrat, war sie eine teure Hure? Etwas allerdings, denke ich, können wir wissen, nämlich wie A. N. gesehen werden wollte. So ist, was von ihr oder ihm überlebt, nicht, wie Larkin behaupten würde, Liebe, sondern ein bestimmter Anspruch, ein Bestreben. Denn so viel steht fest, wer immer sie oder er war, A. N. wollte modisch und elegant wirken und ließ sich das auch gerne etwas kosten. Der Ursprung solcher Eleganz, von aufreizenden Kleidern und mondänem Verhalten, lag jedoch nicht in England, sondern in Italien. Wenn wir – in Kapitel Drei – diese vor langer Zeit verlorene Gabel betrachten, sehen wir, was Besitzer oder Besitzerin sein wollten – ein Ausbund milanesischer oder venezianischer Manieren und Lebensart. Wie die französischen Zigaretten, auf die englische Studenten der 1960er Jahre so scharf waren, so hat sich A. N. mit dieser Gabel in eine Welt der Kultur und Verfeinerung versetzt, an der gewiss tausend andere Zeitgenossen auch gerne teilgehabt hätten. Eine Reise nach Italien allerdings war Privileg der Wenigen. Doch schon für einen Penny konnte man sich, wenn Viel Lärm um nichts gespielt wurde, nach Messina versetzen lassen, in die Gesellschaft junger Adliger aus Florenz und Padua: Ein Gang ins Theater war ein Ausflug ins Traumland von A. N.
Auch der Stoßdegen, der eines Nachts am Ufer der Themse verloren ging (Kapitel Fünf), ein ebenfalls todschickes Accessoire italienischer Provenienz, demonstriert für alle sichtbar Status und Stil; wie die Gabel zwang auch dieser Degen zu bestimmter Handhabung, zu Bewegungen, mit denen man, hatte man sie erst eingeübt, allseits bewundert wurde. Und kam es hart auf hart, dann hatte sich der Besitzer dieser erstklassigen Waffe zudem noch eine neue Art des Fechtens angeeignet – fatal für die nur Hiebwaffen führenden jungen Londoner, wie im Bühnen-Verona von Romeo und Julia vorgeführt. Ob es ums Essen ging oder um Straßenhändel, mit Objekten wie diesen erwies man sich als der Mann, die Frau von Welt, die man unbedingt sein wollte.
Objekte wie diese reißen die Grenzen nieder, die wir heute fast automatisch ziehen, Grenzen nämlich zwischen Bühne und wirklichem Leben, zwischen dem Publikum, den Schauspielern und der Stadt. Sie bringen die Handlung zunächst auf die Bretter, dann auf die Straße. Stoßdegen wie jener verlorene, der in Kapitel Fünf vorgestellt wird, haben Hamlet und Laertes auf der Bühne fechtend gehandhabt, doch die Schauspieler waren Experten und wussten Waffen auch auf der Straße zu führen. Auf der gleichen Bühne wurden, wenn dort kein Theaterspiel stattfand, Wettbewerbe zwischen Berufsfechtern durchgeführt, um auch in vorstellungsfreien Zeiten Einnahmen zu generieren. Viele Männer im Publikum trugen ähnliche Waffen, und sie würden auf dem Heimweg ohne Weiteres blankziehen – um sich zu verteidigen, aber auch wenn sie Händel suchten. Viele Raufbolde wurden verhaftet, manche fanden den Tod. Das zeitgenössische Italien war, wie das antike, eine Welt, die Shakespeares Publikum nicht nur besuchen wollte, man wollte sie sich aneignen, und wenn man sich der neuen Dinge nur bemächtigte, rückte diese Möglichkeit dann nicht in atemberaubende Nähe?
Noch eine andere Welt gab es, in die zu reisen das Theater oder, wie im Eingangszitat, der Chor das Publikum einlud: eine Welt, die nicht weniger er regend als das zeitgenössische Italien, aber viel schwerer zu erobern oder auch nur kennenzulernen war – das mittelalterliche England. Doch um wirkliches Kennenlernen ging es auch gar nicht, denn das vergangene England war ein Land der Imagination und des Stolzes, ein Land, dem man es unbedingt gleichtun wollte. Die Herausbildung des neuzeitlich elisabethanischen England ging Hand in Hand mit der Erfindung eines älteren. Im Augenblick einer nationalen Krise, während der Bedrohung durch Spanien, während des irischen Kriegs in den 1590er Jahren, waren Schauspiele, die den Blick auf die englische Geschichte richteten, der große Hit, Lebensstoff der neuen kommerziellen Theater, Schlüsselelement eines neuen Gemeinschaftsbewusstseins. Solche Stücke legten den Grund für Shakespeares Ruhm und Vermögen.
Hätte sein Theater auch nur die Helme fassen können, «wovor bei Agincourt die Luft erbebte»? Nein. Die Helme im Globe waren Requisiten. Aber auch darauf kam es nicht an, denn den einzigen Helm, der wirklich zählte, konnten die Zuschauer in Westminster Abbey bestaunen; und sehr viele von ihnen taten das auch. Der Eintrittspreis für die Abbey war der gleiche wie der für einen Stehplatz im Globe, und für diesen Penny konnte der elisabethanische Besucher das Grabmal Heinrichs V. besichtigen, dieser Geißel Frankreichs: Über seinem Helm hing das Schwert, mit dem er seine Soldaten zum Sieg geführt hatte (Kapitel Sechs).
Diese Objekte waren real und ebenso beliebt wie Churchills Kriegsbunker heute, eine solide und verlässliche Grundlage für die Vorstellung nationaler Einheit und fortwährender nationaler Überlegenheit. Zur Generation Shakespeares, der nach annähernd 500 Jahren ersten, die ein England bewohnte, das keine Besitzungen mehr in Frankreich hatte (Calais war 1558 verloren gegangen) und das einen endlosen Krieg in Irland führte, zu dieser Generation werden Heinrichs Helm und Schwert nicht weniger machtvoll gesprochen haben als Shakespeares Verse. Das gerade protestantisch gewordene England verfügte nur über wenige öffentlich sichtbare Objekte, die es mit so enormer kollektiver Bedeutung aufladen konnte. Westminster Abbey aber, jahrhundertelang ein Schrein für Heilige, war zu einem Schrein der Könige geworden.
Die Königsgräber, säkulare Reliquien erster Ordnung, waren um so eindrucksvoller, als religiöse Reliquien aus dem öffentlichen Leben nahezu verschwunden waren, eine Folge der brutalen Zerstörungen der Reformation. Der Bruch mit Rom hatte zu neuen Vorstellungen einer Church of England geführt, die sich vom Christentum anderswo unterschied. Indem Shakespeares Zuschauer die Grabinsignien Heinrichs V. in der Abtei betrachteten, sodann auf der Bühne die Rede an seine Soldaten hörten, konnten sie direkt erleben, wie sich die Forderungen einer Religion der Nation überschnitten mit denen einer Nation als Religion. In einigen der folgenden Kapitel werden wir sehen, wie diese sorgfältig arrangierte Verschmelzung von Spirituellem und Staatlichem ein neues nationales Selbst hervortrieb und zugleich spaltete.
Doch gab es auch Welten, die das Theater mied, nicht zu berühren wagte. So die Welt der Pest, die doch zentral war für die Existenz der Zuschauer (wo nicht für die Nichtexistenz vieler von ihnen), in den Stücken aber kaum oder gar nicht präsent. Auch die benachbarte und doch so unendlich ferne Welt Irlands, fortwährende Hauptbeschäftigung der Politiker, bedrohlich für die öffentliche Sicherheit und, was die öffentlichen Ausgaben anging, ein Fass ohne Boden, ist in Shakespeares Texten praktisch unsichtbar. Schließlich ein letztes Anathema: die zehrende, unausgesprochene Furcht, was mit dem Land geschehen würde, sollte die Königin ohne Erben sterben – an diese Frage zu rühren war per Gesetz verboten, niemand hätte darüber sprechen können, ohne Gefängnis oder Schlimmeres fürchten zu müssen.
Hier können Objekte leisten, was Textkritik nicht erreichen kann. Denn sie rücken Ängste in den Blick, von denen die Schauspieler nicht sprechen konnten, die die Zuschauer gleichwohl ins Theater mitbrachten – und die ihre Reaktionen auf jene dynastischen Konflikte und auswärtigen Kriege prägten, die sie auf der Bühne verfolgten. Am beunruhigendsten war die Furcht, die Königin könnte von Englands Feinden ermordet werden. Das zu fürchten bestand durchaus Grund, wie wir in Kapitel Elf sehen werden; aber diese Furcht wurde von der Regierung auch bewusst geschürt. Die Angst vor feindlichen Spionen, die sich überall unerkannt herumtrieben, vor heimlichen Verschwörern mit dem Plan, die Monarchin zu töten und den Staat umzustürzen, diese Angst wird Shakespeare durch seine vielen Reden über Mord und Verschwörung noch entsetzlicher gemacht haben. Edward Oldcornes Auge (Kapitel Neunzehn) belegt, dass Agenten einer fremden Macht das Land, so wie vom Volk befürchtet, tatsächlich und mit Erfolg infiltriert hatten. Wir sind leicht dabei, solche Ängste als Paranoia abzutun. Doch die Verkleidungen in der Hausiererkiste aus Kapitel Vierzehn sind ein Beweis dafür, dass jene, die, wie man glaubte, nicht loyal zur Königin standen, aktiv und heuchlerisch ein heimliches Netz durch England gesponnen hatten.
Auch jenes schrumpelige Auge ist ein Objekt, das wie Gabel und Stoßdegen Theater und Straße verbindet. Oldcornes Hinrichtung war ein öffentliches Spektakel, eine die Menge ergötzende Szene im Theater der Grausamkeiten, das die Menschen zunächst anzog, dann gruselte, schließlich faszinierte und unterhielt. Mit dieser Reliquie wird das Wort «Schafott», so wie Shakespeare es einsetzt, zu einer Bühne, auf der sich Stücke und Hinrichtungen nicht nur im Sinn einer sprachgeschichtlichen Verschmelzung verbinden, sondern auch in der Erkenntnis, dass in beiden Ereignissen das gleiche Publikum den gleichen Schauder suchte. Szenen, in denen getötet, Glieder oder Köpfe abgeschlagen werden, waren damals üblich, und man fand Gefallen daran, im Leben wie auf der Bühne. Wenn sie auf dem Weg ins Theater über die London Bridge liefen, kamen die Zuschauer an aufgespießten Köpfen Enthaupteter vorbei. Kein Wunder, dass auch diese Erfahrung den Weg auf die Bühne fand.
Zwingender als jedes andere Symbol führt uns Oldcornes Auge zur religiösen Spaltung des Landes und zu den Opfern, die diese forderte. Ebenso demonstriert es uns die Kraft der Reliquien zur Stärkung des Glaubens. Für jene, die am alten, dem katholischen Glauben festhielten, repräsentierte dieses Auge, konserviert und in kostbares Metall gefasst, den Mut derer, die bereit waren, für ihren Glauben das höchste Opfer zu bringen. Der Zweck dieser Reliquie war die Verehrung Oldcornes; alle sollten bewegt werden, seinem Vorbild bereitwillig zu folgen. Kein Text kann derart drängend flehen wie dieses Objekt. In gewissem Maß werden wohl auch wir den Blutrausch von Shakespeares Zuschauern verstehen können, doch nur wenige von uns werden so ohne Weiteres davon ausgehen wie sie, dass es nicht nur bewundernswert, sondern geboten sei, für seinen Glauben auch zu sterben – viele hatten das kurz zuvor bereits getan, und in diesem so bitter zerrissenen England würden es bald noch mehr Menschen tun. Es war eine Welt, die uns und unserem westlichen Denken sehr fremd ist – denken wir nur daran, wie ratlos uns all jene machen, die heutzutage bewusst den Märtyrertod suchen.
Als Shakespeares Stücke in der Gestalt des First Folio von 1623 zum ersten Mal erschienen, wurden sie ihrerseits zu einem Objekt, das schließlich sogar ohne Beschränkungen rund um den Globus reproduziert werden konnte. Insofern schließt sich der Kreis auf tröstliche Weise: Mit dem letzten in diesem Buch vorgestellten Objekt – der Robben Island Bible – wird Shakespeares Text zu einer Reliquie, in diesem Fall zum Zeugnis für den langen Kampf gegen die Apartheid. Keiner der Gefangenen von Robben Island hat das voraussehen können. Doch wenn wir die Passagen sehen, die sie beim Lesen während ihrer Haft angestrichen haben, verändern sich jene für uns. Denn wir wissen dann, dass auch diese Häftlinge sie während ihrer Gefangenschaft lasen. Die Complete Works of William Shakespeare sind, getarnt als ein heiliges Buch der Hindus, zu einem sprechenden Objekt geworden.
Von Napoleon stammt die berühmte Feststellung, dass wir, um einen Menschen zu verstehen, die Zeit verstehen müssen, in der er oder sie zwanzig war. Dieses Buch möchte nicht einzelne Menschen verständlich machen, sondern eine ganze Generation – Menschen, die um 1560 in England geboren wurden. Als diese Generation zwanzig wurde, stand nicht nur England vor neuen Realitäten: In ganz Europa war das Bewusstsein im Fluss. Überall hatten religiöse Konflikte ihre Narben hinterlassen, hatten Staaten zerrissen, zu gewaltsamen Bürgerkriegen geführt. In den 1580er Jahren war keineswegs absehbar, wie diese Konflikte enden würden und ob sie überhaupt zu beenden waren. Die Zentren der politischen und wirtschaftlichen Macht verschoben sich von Mitteleuropa und aus dem Mittelmeerraum hin zum Atlantik, hin zu einer Welt, die, wie ihre aufgeschreckten Gegner fürchteten, von nur einer militärischen Supermacht beherrscht schien – von Spanien.
Und über Europa hinaus? Unsere Welt, hat der französische Essayist Michel de Montaigne in den 1580er Jahren geschrieben, «hat gerade eine andere gefunden, und wer kann sicher sein, dass diese die letzte ist von ihren Brüdern?» Spanier und Portugiesen, Franzosen, Holländer und Engländer – sie alle waren in Länder vorgestoßen, von denen die Europäer zuvor nichts wussten. Und sie hatten Völker und Königreiche gefunden, die sie nicht nur verwirrten und ängstigten, sondern die alle ihre Gewissheiten darüber erschütterten, was denn die Menschheit sein sollte.
Wenn dies unsere neuen «Brüder» waren, wie viele andere gab es noch? Und wenn Othello Desdemona von Kannibalen erzählt, «die einander schlachten,/Anthropophagen, Völkern, deren Kopf/Wächst unter ihrer Schulter» (Othello, 1.3.), welcher Familie gehören wir dann alle an? Kein Satz der Bibel, kein Wort der klassischen Autoren hatte uns darauf vorbereitet. Das war Aufgabe der neuen Autoren und Denker, sie mussten eine neue Menschheit imaginieren.
Als die um 1560 geborene Generation das Erwachsenenalter erreichte, waren sie, Männer und Frauen zwischen dreißig und fünfzig, die ersten, die Shakespeares Stücke sahen: Sie mussten sich mit einer Welt auseinandersetzen, die sich von der ihrer Eltern grundlegend unterschied, mit einer Welt, die kurz zuvor erst sehr viel größer geworden war, der zugleich aber viele ihrer wesentlichsten Gewissheiten zerbrochen waren. Das ist die Welt, in die uns Kapitel Eins führt.
«OBERON: Schneller als die Monde kreisen,
Können wir die Erd’ umreisen.»
«DROLL: Rund um die Erde zieh’ ich einen Gürtel
In viermal zehn Minuten.»
Am Weihnachtsabend 1968 hat Apollo 8 als erstes bemanntes Raumschiff den Mond umkreist. Das Filmmaterial, das die NASA zur Bodenstation sendete, hat unsere Wahrnehmung der Erde verändert. Denn als die drei Astronauten die dunkle Seite des Mondes umflogen, schwebte die Erde als große Kugel in der unendlichen Dunkelheit des Raums. Es war das erste Mal, dass Menschen den ganzen Planeten mit einem Blick sehen konnten, und seither hat die Welt ein neues Bild von sich.
Eine völlig andere Reise hat, knapp 400 Jahre zuvor, eine vergleichbare Revolution ausgelöst, allerdings in kleinerem, in nationalem Maßstab. 1580 war Sir Francis Drake zum ersten Engländer geworden, historisch allerdings nur zum zweiten Kapitän, der sein Schiff rund um die Erde gesteuert hat. Nun sah auf einen Schlag – für die Engländer – die Welt ganz anders aus. Ihre Grenzen waren jetzt bekannt: Man konnte sie in einer Karte erfassen und aufzeichnen. Sie konnte umrundet, von einem einzigen englischen Schiff durchquert werden. 1580 war Shakespeare sechzehn Jahre alt. Für ihn und seine Zeitgenossen hatten sich die Grenzen dessen, was Menschen möglich ist – ob mit Reisen oder Abenteuern, ob im Wissen oder im Streit – dramatisch erweitert.
Er könne, prahlt der mutwillige Puck in Ein Sommernachtstraum vor Elfenkönig Oberon, die Welt in kaum mehr als einer halben Stunde umrunden – schneller also als ein Satellit unserer Tage, der dazu rund neunzig Minuten braucht. Alle im Zuschauerraum wussten natürlich, dass Francis Drake nahezu drei Jahre unterwegs gewesen war. Die Silbermünze, die zur Feier von Drakes Heldentat geprägt wurde, zeigt die Welt, die er durchquert hatte. Das Silberstück hat einen Durchmesser von ungefähr sieben Zentimetern und ist kaum dicker als ein Blatt Papier. Auf der einen Seite erkennt man Europa, Afrika und Asien, auf der andern die beiden Amerika. Hält man die Münze gegen das Licht, sieht man die winzigen Punkte, die Drakes Route markieren: von Plymouth hinunter zur Spitze Südamerikas, es folgen Einstiche bei Lima und Panama, und weiter bis Kalifornien, über den Pazifik zu den Gewürzinseln Indonesiens, sodann rund ums Kap der Guten Hoffnung, und schließlich die Küste Westafrikas hinauf zurück nach Hause. Ein um den Südpol geprägter Schriftzug sagt uns, in lateinischen Kürzeln: «D. F. Dra. Exitus anno 1577 id. Dece.» (Abfahrt von Francis Drake, im Jahr 1577, an den Iden des [dem 13.] Dezember), auf der Rückseite der Münze lesen wir: «Reditus anno 1580. 4 Cal. Oc.» (Rückkehr im Jahr 1580 am 4. der Kalenden des Oktober [28. September]).
Geprägt um die Zeit, in der Shakespeare seine Theaterkarriere in London begann, lässt uns diese in Silber geschlagene Erinnerungskarte – so prächtig, so wissenschaftlich und modern wie sie ist – im Wortsinn begreifen, wie man die Welt in den 1580er, 1590er Jahren wahrnehmen konnte. Für den elisabethanischen Theaterbesucher, der in den 1590ern zum ersten Mal Ein Sommernachtstraum sah, waren das Umrunden des Globus, das Gürtelziehen um die Erde patriotische Nachrichten, und jeder, davon können wir ausgehen, jeder unter den Zuschauern hatte davon gehört. Auch wenn sie im Wald bei Athen hausen, die Feen sind äußerst englisch, und auf drollig poetische Weise reproduzieren sie den nationalen Stolz auf Drakes Leistungen: nicht anders als die Silbermünze.
Einer aus Drakes Mannschaft hat das Ende der dramatischen Weltumkreisung auf der Golden Hind beschrieben:
«Am 26. September[*] … kamen wir frohen Sinnes und dankbaren Herzens in Plymouth an, dem Ausgangspunkt unserer Fahrt. Wir waren 2 Jahre, 10 Monate und einige Tage unterwegs gewesen und hatten einen tiefen Einblick in die Wunder des Herrn bekommen, viele erstaunliche Dinge entdeckt, viele merkwürdige Abenteuer durchstanden, waren vielen Gefahren entgangen, hatten viele Schwierigkeiten überwunden bei dieser Umsegelung des Erdballs und waren rund um die Welt gekommen, wie wir es berichtet haben.»
Von dieser «Umsegelung des Erdballs» brachten sie exotische Waren mit und noch exotischere Geschichten: Für lange Zeit befeuerten sie die Phantasie des Publikums. Mehr noch, diese Weltumrundung ist, aufs sechzehnte Jahrhundert übertragen, das Äquivalent des Wettlaufs ins All. Denn nun wollten die Engländer, die doch über weitaus weniger Ressourcen verfügten, die Spanier überholen: zunächst nur in Sachen nautischer Erfahrung und Technik; dann aber machten sie sich daran, den ungeheuren Reichtum des spanischen Imperiums zu plündern. Die Weltumsegelungsmedaille feiert Englands ersten großen Erfolg an beiden Fronten, und in den folgenden zwei Jahrzehnten machten sich Dutzende englische Abenteurer auf, Drakes Beispiel nachzueifern. Im Rausch des Plünderns und Entdeckens, im wissenschaftlichen Forschen und geopolitischen Taktieren erfuhr Englands Seefahrerleidenschaft mächtigen Zustrom.
Mit seiner Weltumsegelung entdeckte Drake zwei wichtige Dinge, die den Europäern bis dahin unbekannt waren: Er «fand» neue Länder nördlich des heutigen Kalifornien, und er konnte, was direktere strategische Bedeutung hatte, zeigen, dass Tierra del Fuego (Feuerland) Teil einer Inselwelt war und nicht mit der Terra Australis verbunden, dem sagenhaften Südkontinent. Er hatte also eine neue Route entdeckt, später «Drakestraße» genannt, durch die man vom Südatlantik in den Pazifik segeln konnte, ohne die spanisch kontrollierte Magellanstraße passieren zu müssen. Einzelheiten von Drakes Reise, insbesondere die tatsächliche Ausdehnung von Feuerland, wurden aus strategischen Gründen mehrere Jahre lang als Staatgeheimnis behandelt. Erst nachdem die Engländer die Spanische Armada erledigt hatten, nach 1588 also, wurde die englische Weltumsegelung mit einer großen Karte gefeiert, die an den Wänden von Elisabeths I. Palast in Whitehall präsentiert wurde: an einem öffentlichen Ort also, an dem viele Geschäfte getätigt wurden, zu dem tausende Besucher Zutritt hatten – auch Shakespeare war unter ihnen, davon können wir ausgehen. Unsere Silbermünze ist eine verkleinerte Version der Karte von Whitehall. Man konnte sie mit sich herumtragen, aber sie diente dem gleichen Zweck, der patriotischen Bekräftigung von Drakes Großtat. Beide, Münze wie Karte, sind kalkulierte Elemente politischer Propaganda.
Peter Barber, verantwortlich für die Karten in der British Library, ist fasziniert von der Art, in der Weltkarte und Münze ihre «Information» präsentieren:
«Wenn man genau hinschaut, wird man an der Spitze Nordamerikas eine kleine Notiz finden, die besagt, diese Länder seien von Engländern entdeckt worden (was, historisch betrachtet, hanebüchen und impertinent ist); weiter unten dann ist eine Markierung der Kolonie Virginia, die jeden Spanier hätte zornrot werden lassen. Vor allem aber: Diese Kolonie, die auf der Münze markiert ist, wurde überhaupt erst nach Drakes Rückkehr von seiner Weltumrundung gegründet. Also ist diese Karte, wie wir heute wissen, nicht 1580 gezeichnet worden, sondern 1589, mit anderen Worten: ein Jahr nach der Armada.»
Sticheleien gegen die Spanier finden sich überall auf dieser recht dreisten Medaille. Direkt über Kalifornien kann man in Großbuchstaben die Worte «Nova Albion» erkennen (Neu-England oder Neu-Britannien), die sich quer über Nordamerika erstrecken. Dagegen wirkt «N. Hispania» (Neu-Spanien), direkt darunter, als bezeichne sie eine Viehranch im westlichen Texas. Irgendwo vor der Küste Perus und Panamas hatte Drake spanische Schiffe aufgebracht und fast zehn Tonnen Silber erbeutet, und als wollte man zum Schaden den Spott nicht fehlen lassen, wurde die Münze höchstwahrscheinlich aus genau diesem geraubten Silber geprägt. Mit ihm kaufte Drake auch die Gewürze in Ostindien (die Gewürzinseln sind erstaunlich detailliert bezeichnet) – er kam also mit einer Ladung nach Plymouth zurück, die ein Vermögen wert war. Die Expedition hatte gehörig Gewinn abgeworfen; Drakes Geldgeber erhielten ihren Einsatz mehrfach zurück, und die Königin konnte mit ihrem Anteil ihre jährlichen Einkünfte nahezu verdoppeln. Solche Entdeckungsreisen waren somit nicht nur Abenteuer, sondern auch ein Riesengeschäft. Und an diesem Vergnügen ließen die Karten und Globen alle teilhaben, nicht nur die Investoren. Karten waren schon länger im Umlauf, Globen dagegen waren seltener, aber äußerst gefragt. Seit den 1590er Jahren wurden sie denn auch in London hergestellt – zwei wunderschöne Exemplare, gefertigt von Emery Molyneux, kann man bis heute in Middle Temple besichtigen.
In Die Komödie der Irrungen, geschrieben um 1592, vergleicht Dromio, der schlagfertige Diener, auf recht derbe Art ein dickes Küchenmädchen mit einem Globus; mit seinem vulgärgeographischen Exkurs sucht er ihren ganzen Leib nach Schätzen ab.
«DROMIO: Sie ist kugelförmig wie ein Globus; ich wollte Länder auf ihr entdecken.
ANTIPHOLUS: [Auf welchem Teil ihres Körpers liegt Irland?
DROMIO: Marry, auf ihren Pobacken. Ich erkannt es an den Sümpfen.]
ANTIPHOLUS: Wo Schottland?
DROMIO: Das fand ich aus an seiner Unfruchtbarkeit; recht auf der Fläche der Hand.»
So macht er das arme Küchenmädchen zur Zielscheibe seiner Zoten, eine sexistischer und fremdenfeindlicher als die andere:
«ANTIPHOLUS: Wo Amerika, die beiden Indien?
DROMIO: O Herr, auf ihrer Nase, die über und über mit Rubinen, Saphiren und Karfunkeln staffiert ist und ihren reichen Glanz nach dem heißen Atem Spaniens wendet, welches ganze Armadas von [Karacken] mit Ballast für ihre Nase bringt.
ANTIPHOLUS: Wo liegen Belgien und die Niederlande?
DROMIO: Oh, Herr, so tief habe ich nicht nachgesucht.»
Zuletzt ist das Küchenmädchen komplett umrundet, wie der Globus auch. Das Mädchen, das spanische Silber, die ganze Welt – sie sind da, um genommen zu werden. Drakes Silbermünze rangiert als Spitzenprodukt auf einem gewaltigen Markt von Karten, dazu gemacht, dass Engländer aller Klassen sehen konnten, wie weit hinaus ihre Schiffe sich gewagt hatten.
Jonathan Bate, Shakespeare-Forscher und Biograph, hat diese Entwicklung beschrieben:
«Erst um die Zeit, in der Shakespeares Stücke entstanden, gegen Ende der Regentschaft Königin Elisabeths, haben sich die Menschen eine wirklich visuelle Vorstellung von der Welt als Ganzer machen können, insbesondere von ihrer Kugelgestalt. Es gibt in Was ihr wollt die wunderbare Szene, in der Malvolio zum Lachen gebracht wird, und dies Lachen führt zu Linien, die sein Gesicht markieren, was Maria mit den Worten kommentiert: ‹Er lächelt mehr Linien in sein Gesicht hinein, als auf der neuen, [um beide Indien erweiterten] Weltkarte stehn.› Sie spricht von einer sehr berühmten Karte, 1599 wurde sie für Hakluyts Principall Navigations angefertigt, für ein Buch, das von den Reisen berichtet, die englische Seeleute rund um den Globus geführt hatten. Auf dieser Karte waren die Längen- und Breitengrade durch Linien bezeichnet, sie hat also durchaus etwas von einem zerfurchten Gesicht. Damals war diese um beide Indien erweiterte Karte [die Karte also, in welche die neuesten geographischen Erkenntnisse eingetragen waren] in der Tat etwas völlig Neues.»
Richard Hakluyts berühmtes und viel gelesenes Buch The Principall Navigations, Voiages and Discoveries of the English Nation war 1589 erschienen, zehn Jahre später folgte eine gewichtige Neuausgabe, auf den letzten Stand gebracht und auf drei Bände erweitert. Das Werk hielt den Triumph der englischen Seefahrt fest und drängte zugleich zu weiteren Entdeckungsreisen und rascherer Kolonisierung. In den 1590er Jahren machte sich Sir Walter Raleigh auf, Guyana und Venezuela zu erkunden; 1596, ein Jahr nach seiner Rückkehr, hielten die Zeitgenossen sein Buch The Discovery of Guiana in Händen, und es setzte sich, mit seinen erregenden Berichten von Abenteuern und unerhörten Reichtümern, in den Imaginationen der Menschen fest. Entsprechend, in Die lustigen Weiber von Windsor, vergleicht Falstaff eine der beiden Frauen, die er zu erobern gedenkt, mit der großen goldenen Stadt, wie sie Raleigh beschrieben hatte:
«FALSTAFF: Hier ist auch ein Brief für diese; sie [hütet gleichfalls eine Börse]; sie ist eine Küste von Guiana, ganz Gold und Fülle. Diese beiden [Frauen] sollen meine Schätze werden, und ich will sie brandschatzen; sie sollen mein Ost- und Westindien sein, und ich will nach beiden Handel treiben.»
Die meisten Stücke Shakespeares, die sich in dieser Weise auf Erkundung und Entdeckung beziehen, sind in dichter Folge in den 1590er Jahren entstanden, zur Hochzeit elisabethanischer Seefahrerei.
Die Karten in Hakluyts Werk dienten, so wenig wie diese Münze und alle anderen Karten und Globen im elisabethanischen England, natürlich nicht als Mittel der Navigation. Sie sollten dem Betrachter nicht den richtigen Kurs weisen, sondern die Reisen veranschaulichen, die andere unternommen hatten. Dazu nochmals Peter Barber:
«Die erste Stelle, an der ein Mensch der elisabethanischen Zeit wohl eine Karte gefunden hat, war die Bibel. Protestantische Bibeln vor allem enthielten Karten, um die Wahrheit der Schrift zu belegen. Darin konnte man nachschauen, wo bedeutsame Dinge geschehen waren, und beweisen, dass sie tatsächlich dort stattgefunden hatten. Karten, so erklärten englische Seefahrer den Behörden im sechzehnten Jahrhundert wiederholt, nutzten ihnen herzlich wenig, wenn sie tatsächlich auf See waren. Die Karten, die wir hier im Shakespeareschen Kontext betrachten, sind tatsächlich nur für Sesselreisen gemacht, sind interessant wegen ihrer symbolischen und informativen Aspekte. 1570 erschien das erste Buch mit komplett modernen Karten, genannt The Theatre of the Lands of the World. Und als Shakespeare sie aufgriff, lag diese Vorstellung, die Welt als Schauplatz, als eine Bühne, schon lange in der Luft.»
Das Theatrum Orbis Terrarum (etwa: Vorstellung der Länder des Erdkreises) des flämischen Kartographen Abraham Ortelius war der erste Atlas, den wir als solchen betrachten würden. Im Jahr zuvor, 1569, hatte sein Landsmann Gerardus Mercator (latinisiert aus Gerard de Kremer) eine Karte geschaffen, die auf dem neuesten Stand war und den Seeleuten dienen sollte: Nova et aucta orbis terræ descriptio ad usum navigantium emendate accomodata; sie basiert auf dem Verfahren, das wir Mercator-Projektion nennen. Mercators mathematische Berechungen ermöglichten ihm, die Kugelgestalt der Erde zweidimensional darzustellen; dies ist die Grundform der Karten, wie sie uns heute am vertrautesten ist. Gerardus Mercator ist der Urvater einer großen Kartographendynastie; eine der neun erhaltenen Weltumsegelungsmünzen trägt tatsächlich die abgekürzt lateinische Inschrift: «Micha. Merca: fecit extat Londi: prope templum Gallo: An 1589». (Michael Mercator schuf dies. Erhältlich in London bei der französischen Kirche, im Jahr 1589.) Es könnte Michael Mercator, Gerardus’ Enkel, gewesen sein, der den Prototyp für Drakes Weltumsegelungsmünze geschaffen hat und dann weitere Exemplare in Auftrag gab, um sie unter Freunden und Anhängern zu verteilen. Als sie reproduziert wurde, ließ man Mercators Namen weg, vermutlich um dem Drakes mehr Prominenz zu geben. Die Verbindung zur Familie Mercator reicht noch weiter, denn der Umriss auf der Münze folgt der als Doppelhemisphäre gezeichneten Weltkarte, die Rumold Mercator, einer der Söhne des Gerardus, für den ersten Band von Gerardus Mercators großem Atlas von 1589 geschaffen hat.
Das Theater – Bühne, Schauplatz, Vorstellungsort –, das am engsten mit Shakespeare verbunden wird, wurde am Londoner Südufer der Themse rekonstruiert und ist heute eine große Touristenattraktion. Als sich Shakespeare und diejenigen, die wir seine Marketingleute nennen würden, Ende der 1590er Jahre zusammensetzten, um das gemeinsame Unternehmen zu benennen, müssen sie nach einem Namen gesucht haben, der die Phantasie der Menschen beflügeln und alle anderen Theater in den Schatten stellen sollte, als da waren: The Curtain, The Rose, und auch das Haus, das sich, verblüffend unoriginell, schlicht The Theatre nannte. Shakespeares Theatergesellschaft dagegen wählte einen hochaktuellen Namen, einen, der wie jenes Buch der Karten, das Theatrum Orbis Terrarum, die menschliche Existenz insgesamt umfasst: Sie wählte Globe zu ihrem Namen – den neuen Weg, die Welt vorzustellen und zu zeigen.
Nun stellen Sie sich vor, Sie seien ein junger Londoner in der Mitte der 1590er Jahre. Sie haben ihre Geschäfte in Whitehall Palace erledigt, haben dort auch die große Wandkarte von Drakes Reise betrachtet und entschließen sich nun, ins Globe zu gehen, das Shakespearestück zu sehen, von dem Sie so viel gehört haben: Ein Sommernachtstraum. Und wenn es zu den Szenen mit Puck und Oberon kommt: Was alles werden Sie in diesen Worten mitschwingen hören? Viel mehr jedenfalls als Ihre mit solchen Themen übersättigten, globalisierten Nachkommen 400 Jahre später.
«PUCK: Rund um die Erde zieh’ ich einen Gürtel
In viermal zehn Minuten.»
«OBERON: Schneller als die Monde kreisen,
Können wir die Erd’ umreisen.»
* Auf der Medaille ist die Rückkehr der Golden Hind nach Plymouth irrtümlich vermerkt als der 4. der Kalenden des Oktober, also am 28. September 1580.
In jeder Gesellschaft ist gemeinsames Trinken ein Zeichen von Freundschaft und stiftet Gemeinschaft – ein universales Ritual, das man fröhlich vollziehen kann oder auch zeremoniell. Doch birgt es durchaus auch Gefahren. Stets ist bedeutungsvoll, was man trinkt und mit wem man dies tut. Bekam man zur Shakespearezeit von einem König oder Bischof ein Glas gereicht und wurde aufgefordert zu trinken, musste man sich gut überlegen, wie man dies erwiderte, denn das konnte über Leben und Tod entscheiden – buchstäblich, nicht nur auf der Bühne, auch im alltäglichen Leben. Hier ein Ausschnitt aus der Schlussszene von Hamlet:
«KÖNIG: Halt! Wein her! – Hamlet, diese Perl’ ist dein,
Hier auf dein Wohl! Gebt ihm den Kelch!
HAMLET: Ich fecht’ erst diesen Gang, setzt ihn beiseit’! Kommt.
[Sie fechten]
Wiedrum getroffen; was sagt Ihr?
LAERTES: Berührt, berührt. Ich geb’ es zu.
KÖNIG: Unser Sohn gewinnt.
KÖNIGIN: Er ist fett und kurz von Atem.
Hier Hamlet, nimm mein Tuch, reib dir die Stirn!
Die Königin trinkt auf dein Glück, Hamlet!
HAMLET: Gnädige Mutter –
König: Gertrud, trink nicht!
KÖNIGIN: Ich will es, mein Gemahl; ich bitt’, erlaubt es mir!
[Sie trinkt]
KÖNIG: [beiseit] Es ist der gift’ge Kelch; es ist zu spät.»
Als Shakespeares Publikum Hamlet zum ersten Mal sah, im Globe im Jahr 1600, wusste jeder im Rund genau, was es bedeuten konnte, wenn ein Mächtiger verlangte, den gereichten Becher zu leeren. Alle wussten, was auf dem Spiel stand. Dieser kleine Silberkelch mit passendem Deckel, der in Holy Trinity, Shakespeares Gemeindekirche in Stratford-upon-Avon, aufbewahrt wird, hat, soweit wir wissen, nie dazu gedient, jemanden zu vergiften. Gleichwohl, auch was dieser Kelch enthielt, was sein Inhalt bedeutete, war eine Frage auf Leben und Tod – und das in dieser Kirche ebenso wie in allen anderen Gotteshäusern im Europa des sechzehnten Jahrhunderts.
Der Kelch ist aus reinem Silber, sein einziger Schmuck ein um den Rand graviertes Band mit Blättern und Blüten. Der Kelch, auf seinem kleinen Fuß etwa 13 Zentimeter hoch, sieht aus wie eine auf den Kopf gestellte Glocke. Es ist ein Kommunionskelch, aber einer für das protestantische Abendmahl, sehr viel schlichter gehalten als die üblicherweise reich verzierten katholischen Kelche – eine neue Art Gefäß für eine neue Form des Gottesdienstes. Er kam nach Stratford, als Shakespeare noch ein Junge war, und zwar im Rahmen einer landesweiten Kampagne, die in jeder englischen Stadt klar machen sollte, dass es mit dem Katholizismus ein für alle Mal vorbei war; die Reformation war zurück, und das nicht nur, weil Elisabeth die Herrschaft angetreten hatte. Nun sollte es dabei bleiben.