Roman
Osburg Verlag
Saga
Als das Mädchen, das im Internet Serenity hieß, mit fünfzehn Jahren starb, änderte sich zunächst wenig bis gar nichts.
Ihre Mailbox nahm Emails entgegen. Das Symbol ihres Instant Messengers zeigte ein schlafendes Gesicht. Ihre Homepage war nach wie vor unfertig, fast leer, der Cartoon einer bösartigen Katze, testtesttest, darunter noch eine Katze, ein Satz in Grün, under construction sorry.
Ihr Tagebuch blieb online unter www.megablogg.com/members/serenity. Weiße Buchstaben auf Shocking Pink, die Schreibfläche umwoben mit Schlingen aus Stacheldraht. Der Hintergrund basierte auf einem Portrait Schopenhauers mit anmontierten Katzenohren, das ein Grafik-Programm vervielfacht und zu einem prismenartigen Muster verrechnet hatte.
Serenitys Tun im Internet hatte sich auf Gebührenfreies beschränkt.
Allmählich lief ihre Mailbox voll. In den Betreffzeilen Fragen nach ihrem Verbleib, bald auch I’m worried und I’m sooo worried! und please please. Die Zahl der Nachrichten nahm zu, nach vierzehn Tagen war ein Plateau erreicht, dann wurde die Post weniger, bald überwog der Müll, und eines Tages hatte er die Mailbox dann ganz für sich, TRUSTED XAANAX, C1AALIS, V1AGGRA, VAL1UUM! GET LIFE IN$UR4NCE FOR FREE. Auch zu Lebzeiten hätte Serenity solches aus Vorsicht und Prinzip niemals geöffnet, aber täglich kontrolliert und einzeln gelöscht, da sie zwar im sogenannten RL, real life, richtigen Leben, wie sie ihre offline-Existenz ohne große Überzeugung zu nennen pflegte, eine Schlampe sei, Mailboxen ohne Scheißdreck aber durchaus zu schätzen wisse.
Die Kommentarliste in ihrem Tagebuch wurde länger. Zunächst hinterließen die üblichen Freundinnen (LoraAutomatic, Aprilchan, Prozacduckie) ihre Notizen, Uneiliges, das sanft um Rückantwort bat, als sei Serenity noch online oder nur offline für einen kurzen Moment. Nach zwei Tagen begann sich Aprilchan zu sorgen. Sie blieb damit eine Weile allein. Dann sorgten sich auf einen Schlag fünf weitere. Bald waren es dreißig. Manche rieten Serenitys Tod, wildfremde Leute besuchten ihr Tagebuch, tippten weinende Smilies, R.I.P., und dass sie Gebete sprächen, and my heart goes out to her family. Niemand hatte diese Trauergäste geladen. Aprilchan brüllte jeden einzelnen in Großbuchstaben nieder. Sie wiederholte »kaputtes Modem« wie ein Gebet.
Die aktuelle Statistik von megablogg.com verzeichnete in diesen Tagen, Serenity eingerechnet, sechseinhalb Millionen Benutzer.
Auch nach neun, zwölf, zwanzig Monaten war ihr Tagebuch online. Der Kommentarzähler hatte sich selbsttätig auf Null zurückgesetzt. Lange hatte Aprilchan zu Beginn jedes Monats I love u in ein Kommentarfeld getippt, doch irgendwann hatte sie es aufgegeben.
Zuoberst stand Serenitys letzter Eintrag, datiert vom 31. August 2005, 00:11 CET. Er besagte, dass sie sich etwas komisch fühle (bit funnily; ihr Englisch war nicht perfekt), und weiter unten folgte der Text eines Songs, den sie, wie sie schrieb, eben zum soundsovielten Mal hörte, da er sie, wie sie hoffte, irgendwann über ihr etwas komisches Gefühl hinwegtrösten und ihr Mut machen werde für etwas, was sie nicht näher erklärte.
Freedom ... yeah ...
Freedom ... yeah right ...
Freedom ... yeeeaaahhh!
Freedom!
Yeah right!
Freedom!
Freedom!
Freedom!
Yeeeaaah!
Ihre Passwörter hatte Serenity wohl mit ins Grab genommen.
An einem Dienstag im März 2005 verlegte Dr. Rüdiger Varendorf auf seinem Balkon einen Teppich. Das war mit großem Aufwand verbunden und hatte eine längere Vorgeschichte. Varendorfs Balkon, der vom Arbeits-/ Wohnzimmer aus in den Innenhof ging (ein sogenannter gefangener zweiter Innenhof eines vierstöckigen Altbaus in der Münchener Innenstadt), war seit der Entrümpelung des Hauses von Dr. Varendorf Senior nach dessen Tod vor gut fünf Jahren fast üppiger möbliert als der Rest der Wohnung.
Obwohl der darüberliegende Balkon und die Nische der Hausmauer nur unzureichenden Schutz gegen den Regen boten, und obwohl der Innenhof von Tauben und manchmal auch Mardern heimgesucht wurde, hatte Varendorf seinen Balkon eines Tages wie ein Zimmer eingerichtet. Zunächst war es ihm vor allem darum gegangen, einigen Möbeln seines Vaters ein neues und auch etwas ungehöriges Zuhause zu geben; dann aber hatte er sich mit seinem Balkonzimmer in Nussbaum so sehr angefreundet, das er diese Verlängerung der Wohnung ins Freie hinein nicht mehr missen wollte und sie bei gutem Wetter oft nutzte.
Das Mobiliar umfasste einen Sekretär mit lederner Schreibeinlage, zwei kleine Louis-Philippe-Sessel, einen runden Tisch mit gusseisernem Fuß, in dessen Rankenwerk schon mehrfach Tauben zu nisten versucht hatten, eine Stehlampe, ein achteckiges Konsoltischchen, ein verglastes Sammelregal sowie eine Wand- und eine Standuhr, beide pendellos, stillstehend und mit gotischen Giebeln. An der Mauer, wo sich von unten ein wenig Efeu durch eine Ritze zwischen Balkonboden und Hauswand hochgearbeitet hatte, hing eine Metallplakette mit dem Wappen der Burschenschaft von Dr. Varendorf Senior, und auf der anderen Seite der Balkontür, als einzige zusätzliche Anschaffung des Sohnes, ein gerahmter Druck von Vermeers »Astronom«.
Jahrelang hatte Varendorf nach einem geeigneten Bodenbelag gesucht. Kunststoffmatten, Holzgitter und Plastikgras waren ihm als balkontauglich empfohlen worden. Mit einem günstigen Perser hatte er lange kokettiert, die Idee aber wegen Wetter und Tauben als doch zu widerwärtig verworfen. Vorige Woche hatte er per Zufall in einem türkischen Laden hinter dem Hauptbahnhof die perfekte Lösung entdeckt: ein auf den ersten Blick wachstuchartiges, aber dickeres und auch steiferes Kunststoffgewebe, das mit der täuschenden Abbildung eines Afghanteppichs bedruckt war, einschließlich der perfekten fotografischen Nachahmung einer derb wolligen Oberfläche. Varendorf hatte die ganze Rolle gekauft.
Er breitete Zeitungen im Zimmer aus und räumte die Balkonmöbel nach innen. Außer den Sesseln, deren Sitz- und Armpolster er mit Folie bezogen hatte, waren sie nicht mehr sehr gut in Schuss. Im Winter bekamen sie zwar Abdeckplanen, doch im Sommer trotzten sie Regen und Wind. Es fanden sich Schimmelflecken. Die Rückwand der Standuhr war geborsten. Aus dem Sekretär entfernte Varendorf ein graues Gemenge aus Spinnweben, Staub und Taubenflaum. Er putzte den Balkon und vermaß ihn, dann schnitt er den Plastik-Afghan mit Lineal und Teppichmesser zu. Aus drei Stücken, die er an den Schnittkanten rückseitig mit wetterfesten Klebestreifen verband, setzte er den Balkonbelag zusammen. Für solche Aufgaben hatte er nicht das größte Talent. Nach dem dritten Anlauf, die Rolle ging schon zur Neige, konnte Varendorf den Teppich auslegen. Er passte hinlänglich und schmiegte sich in einer schönen Kurve der Schwelle zwischen Balkon und Wohnung an. Varendorf räumte alles zurück auf seinen Platz, dann duschte er und zog saubere Kleider an, um sich endlich mit einem Buch auf den verschönerten Balkon hinauszusetzen, denn es war warm für März und ein sonniger Tag.
Rüdiger Varendorf war dreiundfünfzig Jahre alt, Doktor der Philosophie und Leiter der Schopenhauer-Bibliothek, einer der Universität angegliederten Stiftung. Diese Stelle erforderte nicht seine tägliche Anwesenheit. Varendorf war eher groß als klein, eher schmal als kräftig, von eher angenehmem als unangenehmem Aussehen, nichts jedoch im Übermaß. Er war brünett, etwas hochbeinig, rasierte sich täglich, verwahrte im Badezimmerschrank zwei Hanteln und neigte zu Allergien. Auf seinem Kopf wuchs noch kaum ein graues Haar, da er sich, wie er sagte, nicht aufregte. Manchmal nannte er sich im Scherz einen Mann mit Eigenschaften.
Seit geraumer Zeit, im Grunde seit fünfundzwanzig Jahren, arbeitete er an einer Habilitationsschrift über die Ideengeschichte des Nichts im abendländischen Denken. Zur Zeit erforschte er den Begriff der Annihilatio in Luthers Frühwerk Dictata super Psalterium. Wenn sich im Kollegenkreis oder anderswo die Möglichkeit bot, verspottete sich Varendorf gerne ausgiebig selbst, als einen gutartig weltfernen Nihilisten, der nach vielen Jahren mit Meister Eckhart nun bei Luther gelandet sei und dort auch noch eine gute Weile bleiben wolle, da ihn jeder Schritt nach vorn unweigerlich näher zu dem selbsternannten Alleinpächter aller modernen Nichtstheorie, Martin Heidegger, führen würde, den Varendorf aus dem Stegreif viertelstundenlang parodieren konnte und nicht zu seinen Idolen zählte.
Dr. Varendorf hatte eine Freundin, Marion, Fotografin und Zeitarbeitskraft der Universität, die mit ihrem halbwüchsigen Sohn in einem Vorort lebte. Er hatte eine studentische Hilfskraft namens Urs, die ihm in der Bibliothek viel Arbeit abnahm. Varendorf hatte auch selbst einen Sohn, Tobias, sechsundzwanzig Jahre alt, der sich unter enormem Einsatz von Zeit und Nerven in einer Frankfurter Patentkanzlei, wie er das ausdrückte, seine Sporen verdiente. Tobias’ Dienstreisen führten ihn gelegentlich nach München; sie trafen sich meist morgens, vor der üblichen Aufstehzeit des Vaters, in einem Café. Tobias interessierte sich sehr für das Nichts. Varendorf schien es manchmal, als wittere er darin ein Potenzial für Erfindungen, etwa einer neuartigen Entspannungstechnik. Tobias war für derlei Übungen ein Fachmann. In letzter Zeit rief er öfters ganz grundlos an. Mit Tobias’ Mutter und ihrem Mann verband Varendorf außer Grüßen und Weihnachtskarten nichts.
Dr. Varendorf hatte kein Auto, keinen Fernseher, eine schöne Stereoanlage, einen Mikrowellenherd und einen Brotbackautomaten, den ihm Urs, nachdem Varendorf über die schlechte Qualität des hiesigen Gebäcks geklagt hatte, zum Geburtstag gekauft und mit einem selbstgebastelten Timer verschaltet hatte, der dafür sorgen sollte, dass die Maschine pünktlich zum Frühstück dampfendes Brot von sich gab. Bisher fehlte Varendorf allerdings noch die Backmischung. Er hatte einen sehr alten Computer, dessen Lüfter lärmte, und der bestenfalls als Schreibmaschine zu gebrauchen war. Varendorf arbeitete zuhause viel mit Papier und Kugelschreiber, und in der Bibliothek stand Urs bereit für technische Hilfen und die Erledigung aller elektronischen Korrespondenz.
Varendorf lehnte sich im Sessel zurück. Der Kunststoffperser quietschte leise, wenn er ihn mit den Fersen rieb. Am mittleren Nachmittag waren die meisten Wohnungen zum Innenhof hin noch leer, erst gegen Abend kamen die Leute von der Arbeit, öffneten Fenster, schalteten Licht an, je nach Jahreszeit.
Dr. Varendorf wusste viel über seine Nachbarn. In mindestens sieben Wohnungen hatte er Einblick und aus fünfzehn weiteren drang jedes Geräusch zu ihm. Früher, bevor aus dem Holsteinischen Vaters Möbel gekommen waren, hatte er die Intimitäten und die Konzertsaalakustik dieses Innenhofs gehasst und den Balkon, ja selbst die Fenster meistens gemieden.
Varendorf tat sich schwer damit, Wahrnehmungen, die sich ihm aufdrängten oder auch nur anboten, auszublenden, wenn er sie als nicht notwendig erkannte. Bevor er den künstlichen Teppich heimtragen konnte, hatte er in dem Laden hinter dem Bahnhof zunächst vieles andere, was er gewiss nicht kaufen wollte (Handyständer, Maniküresets, Pfefferspray, eine singende, klingende Elektromoschee), betrachten und sich zu jedem Artikel zumindest einige kurze Gedanken machen müssen, über seine Herkunft, Verwendung, wer ihn wohl kaufte, in welchem Haushalt er welchen Platz finden würde, und warum. Diese Neigung oder Ohnmacht kostete Varendorf viel Zeit. Schaufenster, Plakate, Zeitungskästen hemmten sein Fortkommen auf der Straße. Er konnte sich beim Spazierengehen, auch in Lokalen, nicht gut unterhalten. Es war ihm unmöglich, in der U-Bahn zu lesen. Oft entspann sich aus einem Gepäckstück, einer Geste, einer körperlichen Eigenheit eines zufälligen Gegenübers in Varendorfs Kopf eine ganze Biographie.
Gedanken machte er sich notgedrungen auch über seine Nachbarn. Er sträubte sich längst nicht mehr gegen ihre Anwesenheit. Bei vielem, was er über sie wusste, konnte er nicht auseinanderhalten, ob es Aufgeschnapptes oder Hinzugedachtes war. Er wusste nicht, ob die Frau, die rechterhand öfters am Telefon weinte, in der Tat eine über eine Heiratsagentur importierte und dann schlecht behandelte Polin war. Möglicherweise hatte er vor Jahren einen Gesprächsfetzen allzu forsch ergänzt.
Varendorf hielt den Luther geschlossen auf den Knien. Gegenüber kam jemand nach Hause und verschwand, noch in der Jacke, im Badezimmer. Wenig später klappte er das Milchglasfenster. Vielleicht war er gerade von einer seiner Reisen nach Taiwan zurückgekehrt und hatte dort das Essen nicht vertragen. Irgendetwas an diesem Mann sprach für nicht sehr saubere Geschäftsbeziehungen mit Fernost. Varendorf konnte sich an die Indizien nicht erinnern, Telefonate vielleicht, oder fremdartig lärmendes Spielzeug der Kinder, oder auch nur das beige-blaue Rechteck, das im Wohnzimmer hing und vielleicht ein asiatisches Rollbild war. Die polnische Braut kam heim. Varendorf erwartete und hörte das tägliche zweifache Rasseln, Ausschütten und Nachfüllen ihres Katzenklos. Der Taiwanbetrüger stand im Wohnzimmer und bückte sich dauernd, wahrscheinlich zog er sich um, gönnte seinem erkrankten Bauch eine bequemere Hose.
Es wurde kühl. Manchmal, selten, fragte sich Varendorf, ob die Leute im Innenhof auch zu ihm hinüberschauten, und was sie sich wohl dachten zu seinem so sonderbar eingerichteten Balkon. Er teilte kein Treppenhaus mit diesen Wohnungen. Die Polin traf er ab und zu auf der Straße und musste sich zwingen, nicht zu grüßen. »Es ist gut«, schrieb Luther in den Dictata, »wenn ein harter Sünder so in sich selbst zerschmilzt, dass er völlig zu nichts wird, omnino nihil fit.«
Varendorf ließ das Buch auf den Knien wippen. Seit er nicht mehr rauchte, wurde er das Balkonsitzen schneller leid. Links unten stellte einer das Radio an. Zwei Wohnungen höher band der pensionierte Studienrat seinen Schlips. Varendorf lächelte. Es war in der Tat Mittwoch, Jour fixe der Meisterklasse Gesang beim siebzehn-Uhr-Akademiekonzert, das der Studienrat allwöchentlich vielleicht besuchte. Der Fernostmafioso, eben noch sichtbar, war plötzlich verschwunden, vielleicht wälzte er sich in Krämpfen auf dem Teppich.
Gestern hatte die Hilfskraft Urs in der Kaffeeküche der Bibliothek ganz unvermittelt einen Satz mit »wenn Ihnen langweilig ist ...« begonnen. Darüber war Urs sehr erschrocken. Stunden später hatte er vor sich hin gemurmelt, Varendorf brauche einen neuen Computer. Varendorf vermutete darin die Fortsetzung des zuvor herausgerutschten Satzanfangs, denn Computer waren für Urs das Allheilmittel gegen Langeweile. Varendorf konnte keine Langeweile in sich entdecken. Er drehte sich um zu Vermeers »Astronom«.
Die Hand auf dem Himmelsglobus, saß der Gelehrte am Fenster. Seltsam weichgezeichnet, fast unscharf, fast wie ausradiert schien sein Profil, als stehe er kurz davor zu zerschmelzen in diesem besonderen Vermeer-schen Licht. Varendorf überlegte oft, ob der Astronom in der Tat den Globus studierte, oder ob er sich, über den Globus hinweg, den er fast so berührte, als wolle er ihn für einen Augenblick beiseite schieben, aus dem Fenster hinaussehnte, in die ein wenig trübe Delfter Morgensonne, die er wohl, als Sterngucker, nur selten zu Gesicht bekam.
Varendorf nahm den Balkonlappen aus dem Sammelregal und wischte Glas und Rahmen ab. Einmal hatte er Urs gebeten, das Gemälde für ihn aus dem Louvre zu stehlen. Urs hatte auf diesen Scherz nicht antworten können. Es schien ihm körperlich weh zu tun, seinem Chef etwas abzuschlagen. Manchmal setzte Varendorf seine Hilfskraft Experimenten aus.
Der Taiwan-Mann hatte sich aufgerappelt und zog die Vorhänge zu. Die Sonne war fort. Varendorf setzte sich wieder in den Sessel. Einen sanften Moment lang fühlte er sich unsichtbar.
Varendorf lag in Marions Bett, auf dem Rücken, und roch an der Oberkante des Bettbezugs. Sie roch nach Stoff, nach Waschpulver, keinesfalls nach Varendorf, vermutlich ein bisschen nach Marion, die hier schließlich schlief, nach ihrer Heilerde, die sie täglich löffelweise einnahm oder auf die Haut auftrug, wo sie eine starre, bröckelige Kruste bildete, die beim Abwaschen den Abfluss verstopfte. Sie sei kein Gesundheitsfreak, erklärte Marion lächelnd, sie wolle sich nur bestrafen. Varendorf fragte nicht nach.
Marion saß in der Badewanne. Varendorf traute sich nicht aus dem Bett. Nackt durch die Wohnung zu gehen, schien ihm unangebracht, sich wieder anzuziehen, lieblos. Die Situation wiederholte sich circa wöchentlich einmal, meistens freitags, seit ungefähr zweieinhalb Jahren.
Sie brauchten recht lang für die Liebe. Danach war Marion fort. Sie badete, als sei sie allein auf der Welt. Wenn sich Varendorf zum Bettrand schob, konnte er durch zwei Türspalte hindurch auf der anderen Seite des Flures den Rand des Waschbeckens ahnen. Er hatte Marion noch nie baden sehen. In ihrem Badezimmer, in der ganzen Wohnung kannte er jeden Fleck. Er durfte alles bei Marion. Er durfte ihre Fotos von der Wand nehmen – Bilder von Bauruinen, Industrieruinen, Bahngeleisen, Schwarzweiß und im Zwielicht –, er durfte ihre Schubladen und Schränke öffnen, ihre Kleider, Wäsche, Kosmetika, Bücher, Steuerunterlagen betrachten, er durfte ihre Pflanzen befühlen und die Fransen ihrer afrikanischen Vorhänge, auch die Hasselblad aus dem Etui holen und montieren, sogar mit dem Daumennagel nachhelfen, wenn er mit der Bajonettfassung des Suchers nicht zurechtkam, Marion vertraute ihm, oder es war ihr egal.
Neben dem Bett hing die Weitwinkelaufnahme eines stillgelegten schottischen Stahlwerks. Das Kügelchen, das Marion als Leselampe diente, spiegelte sich im Glas des Wechselrahmens wie ein kleiner Mond. Die Heizung gluckerte. Wenn Varendorf nun aufstünde, könnte er Marion im Bad besuchen. Er zöge die Unterhose an oder schlüge das Handtuch um die Hüften, das immer auf ihrem Kopfkissen lag, damit die Heilerde nachts nicht alles beschmutzte. Er böte an, ihren Rücken zu bürsten oder ihren Kopf zu brausen, oder er setzte sich schweigend auf die zugeklappte Toilette und sähe ihr zu. Wenn er es wagte, nähme er ein Feuerzeug mit und zündete die beiden Teelichte an, die seit Unzeiten auf der Ablage unter dem Spiegel standen, staubig, mit jungfräulich weißen, flachliegenden, wahrscheinlich längst brüchigen Dochten. Marion würde sich wundern, ein bisschen schämen, ironische Dinge sagen, und Varendorf gäbe ihr freche Antworten und brächte sie, wäre er beharrlich, dann wohl zum Lachen. Er hätte zuvor vielleicht eine CD eingelegt. Mit Bach und im Kerzenschein würde er Marion abtrocknen helfen. Es wäre gewiss lächerlich. Er könnte auch ihre Fußnägel lackieren. Letzten Sommer, als Marions rechte Hand verstaucht war, hatte sie ihn darum gebeten. Varendorf roch am Bettbezug und steckte dann den Kopf unter die Decke. Er konnte dort liegen, so lange er wollte, tun, was er wollte, und nichts würde je nach ihm riechen. An einem sehr warmen Tag hatte Varendorf im letzten Jahr Marions Fußnägel zu lackieren versucht. Sie hatte die Beine von hinten um seine Hüften gelegt. Nur professionelle Pediküren könnten es andersherum. Ein Laie müsse tun, als seien es die eigenen Füße.
Varendorf knipste die Leselampe aus und drehte sich auf den Bauch. Er erinnerte sich, wie an diesem viel zu heißen luftlosen Freitagabend im vergangenen August die zähen grünen Lacktropfen stets zielgenau in die Vertiefungen zwischen Nägeln und Zehen hineingelaufen waren. Bald hatte er kapituliert. Mit Nagellackentferner alles mühsam abgeschrubbt. Die Zehen hellgrün, wie bei einer Wasserleiche. Marion engelsgeduldig, alle Fenster offen, schreckliches Wetter, Gewitterluft, nirgends Gewitter. Ein plötzliches erstauntes Liebesgefühl hatte sich damals eingeschlichen, bei beiden, wie sie einander eine Woche später fast gleichzeitig gestanden hatten. Nett, hatte Marion gesagt. Um sich abzulenken, hatten sie Pläne gemacht: Essengehen, Spazierengehen, zusammen kochen, Ausflüge machen (Tagesausflüge, Varendorf verreiste nicht), Kino, Theater, Museum, Kulturtipps in der Zeitung nachschlagen.
Einmal waren sie Essen gegangen. Varendorf hatte allergisch auf Mangold reagiert und Marion auf den Kellner. Seitdem wieder Freitags bei ihr. Sie badete noch immer. Dabei murmelte sie vor sich hin, wahrscheinlich am Telefon. Marion nahm das Handy mit ins Badezimmer, weil sie, was sie nie zugegeben hätte, ständig darauf wartete, dass jemand anrief und Fotos wollte, und zwar keine Porträts, und erst recht keine Babies, und auch nichts Journalistisches, und gewiss nichts in Farbe, denn Marion tippte, kopierte, ärgerte sich lieber lebenslang im sogenannten Department für Philosophie, ohne Freude, Dank oder feste Stelle, als sich billig zu machen. Auch das gab sie nicht zu. Rein gedanklich, hatte Marion einmal gesagt, habe sie durchaus das Zeug zur Amokläuferin, nur hapere es mit der Energie. Sie saß in der Badewanne und telefonierte mit einer Freundin, der Mutter oder einem anderen Mann. Varendorf drehte sich auf die Seite. Er würde sich nun bald anziehen, Wäsche und Hose, und mit Hemd und Pullover noch ein wenig warten, damit er nicht allzu besuchsmäßig aussähe, wenn Marion im Bademantel kam. Kuss, und dann in die Küche, und ein Glas Wein, und noch einen Kuss, und dann die vorletzte S-Bahn in die Innenstadt, siebeneinhalb Minuten Fußweg durch die Unterführung.
Marion war dünn, blond, blauäugig, achtunddreißig. Sie trug das Haar zentimeterkurz an den Kopf gegelt, wie eine Bademütze. Lag sie auf dem Rücken, hob sich ihr Rippenbogen deutlicher ab als die Brüste. Am Unterbauch hatte sie zwei winzige Grübchen. Das sei der Preis für koagulierte Eileiter, sagte Marion nicht nur einmal, und machte dazu eine Handbewegung, als drehe sie einem Huhn den Hals um. Varendorf kannte ihren Körper ebenso gut wie ihre Wohnung. Nur das Zimmer des Sohnes war tabu.
Er war sechzehn und hieß Dennis. Freitags ging er meistens zu einem Freund, an dessen Computer er ein kompliziertes, langwieriges Spiel im Internet spielte, in dem er einen Vampirkönig namens Sarpedon verkörperte, dessen Macht und Brutalität ihresgleichen suchte. Marion vermutete, dieses Spiel tue Dennis nicht gut. Er war groß, schwer, schweigsam. Er hätte seine Mutter unter dem Arm davontragen können, wäre er zu solchen Scherzen aufgelegt gewesen. Varendorf genierte Dennis und Dennis genierte Varendorf.
Varendorf suchte mit den Zehen nach seiner Unterhose. Der freitägliche Zeitplan schrieb vor, dass er sich anzuziehen begann, wenn er die Badewanne abfließen hörte, so wurde er fertig, wenn Marion im Bademantel kam, zu Kuss, Küche, Wein und Abschied. Einen Moment lang rollte sich Varendorf zusammen. Manchmal wünschte er sich, hier zu übernachten, Marion zu erforschen, wenn sie nicht bei Besinnung war, ob sie schnarchte, redete, seufzte, mit den Zähnen knirschte oder die Fäuste ballte im Schlaf, ob ihr Haar morgens wirklich wie ein Dachfirst aussah, ob sie beim Aufwachen wirklich so schlimm, fast panisch gestimmt war, und wie sie roch am Morgen, und ob sie an Amokläufe, Industrieruinen oder an Liebe dachte, ob sie in der Tat würgen musste, wenn sie auch nur das Wort Frühstück hörte.
Das Geräusch des Abflusses. Varendorf zog sich an.