Rachel Joyce
DAS JAHR, DAS
ZWEI SEKUNDEN
BRAUCHTE
Roman
Aus dem Englischen
von Maria Andreas
FISCHER E-Books
Rachel Joyce weiß, wie man Menschen mit Worten ganz direkt berührt. Die Autorin hat über 20 Hörspiele für die BBC verfasst und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Daneben hat sie Stoffe fürs Fernsehen bearbeitet und auch selbst als Schauspielerin für Theater und Film gearbeitet. Ihr erster Roman, ›Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry‹, wurde für den Booker-Preis nominiert, mit dem Specsavers National Book Award für das beste Debüt prämiert, eroberte in über 30 Ländern die Bestsellerlisten und wird verfilmt. Rachel Joyce lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Gloucestershire auf dem Land.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung: Jens Neuber
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2013 im Verlag Doubleday/Transworld Publishers, London
© Rachel Joyce 2013
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Das Motto ist ein Zitat aus: William Faulkner, »Schall und Wahn«, deutsche Übersetzung von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser, © Fretz & Wasmuth Verlag AG, Zürich 1956 – Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags, Reinbek bei Hamburg
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402076-1
Für meine Mutter
und für meinen Sohn Jo (ohne »e«)
»Nur wenn die Uhr stehenbleibt, wird die Zeit lebendig.«
William Faulkner, ›Schall und Wahn‹
1972 wurden der Zeit zwei Sekunden hinzugefügt. Großbritannien beschloss den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, und die New Seekers traten mit Beg, Steal or Borrow beim Grand Prix Eurovision de la Chanson an. Die Zusatzsekunden wurden notwendig, weil das Jahr ein Schaltjahr war und die Zeit nicht mehr im Takt mit der Erdbewegung. Den Grand Prix gewannen die New Seekers nicht, was aber nichts mit der Erdbewegung zu tun hatte und erst recht nichts mit den zwei Sekunden.
Dass Zeit einfach so hinzuaddiert wurde, versetzte Byron Hemmings in Angst und Schrecken. Mit seinen elf Jahren hatte er eine blühende Phantasie. Er lag wach, malte sich das Ereignis aus, und sein Herz flatterte wild wie ein Vogel. Er belauerte die Uhren, ob er sie vielleicht dabei ertappte. »Wann machen die das?«, fragte er seine Mutter.
Sie stand an der neuen Frühstückstheke und schnitt Apfelviertel klein. Die Morgensonne schien durch die Glastüren und warf so klare Lichtquadrate auf den Boden, dass Byron sich hineinstellen konnte.
»Wahrscheinlich, wenn wir schlafen«, sagte sie.
»Wenn wir schlafen?« Es stand schlimmer, als er gedacht hatte.
»Oder vielleicht, wenn wir wach sind.«
Da bekam er den Eindruck, dass sie im Grunde keine Ahnung hatte. »Zwei Sekunden sind doch gar nichts«, sagte sie lächelnd. »Bitte trink dein Sunquick aus.« Ihre Augen waren fröhlich, ihr Rock gebügelt, ihr Haar in Form geföhnt.
Byron hatte von den Extrasekunden durch seinen Freund erfahren, James Lowe. James war der klügste Junge, den Byron kannte, er las jeden Tag die Times. Das Einschleusen zweier Sekunden sei extrem aufregend, meinte James. Erst war der Mensch zum Mond geflogen. Jetzt griff er in die Zeit ein. Aber wie konnten zwei Sekunden plötzlich existieren, wo sie vorher nicht existiert hatten? Da fügte man doch etwas hinzu, was es gar nicht gab. Das war doch nicht geheuer. Wenn Byron darauf hinwies, lächelte James nur – das sei eben der Fortschritt.
Byron schrieb vier Briefe, einen an den Abgeordneten ihres Wahlkreises, einen an die NASA, einen weiteren an die Herausgeber des Guinness Buch der Rekorde und einen letzten an Mr Roy Castle, der auf BBC eine Kindersendung moderierte. Byron gab die Briefe seiner Mutter, damit sie sie zur Post brachte, und schärfte ihr ein, wie wichtig sie seien.
Er bekam ein Foto von Roy Castle mit Autogramm zugeschickt und eine durchgehend illustrierte Broschüre über die Mondlandung der Apollo 15, aber auf die zwei Sekunden ging niemand ein.
Innerhalb von Monaten hatte sich alles verändert. Und die Veränderungen konnten nicht wieder in Ordnung gebracht werden. Früher hatte Byrons Mutter alle Uhren im Haus mit peinlicher Sorgfalt aufgezogen, jetzt ging jede anders. Die Kinder schliefen, wann sie müde waren, und aßen, wann sie hungrig waren; so konnten ganze Tage vergehen, einer gesichtslos wie der andere. Wenn also in ein Jahr, in dem sich ein Fehler ereignet hatte, zwei Sekunden eingefügt worden waren – wie konnte seine Mutter daran schuld sein? War nicht der Zeiteinschub das schlimmere Vergehen?
»Es war nicht deine Schuld«, wiederholte Byron immer wieder. Im Spätsommer war seine Mutter oft am Teich zu finden, unten in der Wiese. Das Frühstück wurde jetzt von Byron gemacht, vielleicht ein Schmelzkäsedreieck aus der Folie, zwischen zwei Brotscheiben gequetscht. Seine Mutter saß auf einem Stuhl, klirrte mit den Eiswürfeln in ihrem Glas und rupfte von Grasrispen die Samen ab. In der Ferne leuchtete die Heide unter einem Lichtschleier, zartgelb wie Zitronensorbet; die Wiese war mit Blumen durchwebt. »Hast du gehört?«, wiederholte er dann, weil sie gern vergaß, dass sie nicht allein war. »Es war nur, weil sie Zeit dazugefügt haben. Es war ein Unfall.«
Dann hob sie das Kinn und lächelte. »Du bist ein lieber Junge. Danke.«
Und das alles, die ganze Geschichte, nur wegen eines kleinen Stolperers in der Zeit. Die Schockwellen waren Jahre um Jahre zu spüren. Von den beiden Jungen, James und Byron, konnte nur einer den Kurs halten. Manchmal schaute Byron in den Himmel über der Heide, in dem solche Unmengen Sterne schillerten, dass die Dunkelheit lebendig schien, und dann bekam er eine solche Sehnsucht, dass es weh tat. Er sehnte sich danach, diese zwei Extrasekunden auszulöschen. Sehnte die Unantastbarkeit der Zeit zurück – sie sollte wieder sein, wie es sich gehörte.
Wenn James es ihm nur nie erzählt hätte.
James Lowe und Byron Hemmings besuchten die Winston House School, weil sie eine Privatschule war. Es gab noch eine andere Grundschule, die näher lag, aber die war nicht privat, sondern für alle. Die Kinder, die dort hingingen, kamen aus den Sozialwohnungen an der Digby Road. Sie schnippten vom Oberdeck des Busses Orangenschalen und Zigarettenstummel auf die Mützen der Winston-House-Jungen herunter. Die fuhren nicht mit dem Bus zur Schule. Sie wurden von ihren Müttern im Auto hingebracht, weil sie es so weit hatten.
Die Zukunft war für die Winston-House-Jungen bereits abgesteckt – eine Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Im nächsten Jahr würden sie die Aufnahmeprüfung für die höhere Schule machen. Die Besten würden ein Stipendium bekommen und mit dreizehn ins Internat wechseln. Sie würden sich den richtigen Akzent aneignen, die richtigen Dinge lernen und die richtigen Kontakte knüpfen. Danach käme Oxford oder Cambridge. James’ Eltern dachten an das St. Peter’s College in Oxford, Byrons Eltern an Oriel, ebenfalls in Oxford. Im Anschluss würden die Jungen wie ihre Väter Karriere machen, als Juristen, als Banker, in der Kirche oder beim Militär. Eines Tages würden sie eine Stadtwohnung in London und ein großes Haus auf dem Land besitzen, wo sie die Wochenenden mit ihren Frauen und Kindern verbringen würden.
Es war Anfang Juni 1972. Ein Streifen Morgensonne rutschte unter Byrons blauen Vorhängen durch und beleuchtete seine säuberlich geordneten Besitztümer: seine Look-and-Learn-Jahrbücher, sein Briefmarkenalbum, seine Taschenlampe, seinen neuen Abrakadabra-Zauberkasten und den Chemiebaukasten mit eigenem Vergrößerungsglas, den er zu Weihnachten bekommen hatte. Seine Schuluniform, von seiner Mutter am Abend zuvor gewaschen und gebügelt, lag über dem Stuhl wie ein flachgepresster Junge. Byron kontrollierte sowohl seine Armbanduhr als auch seinen Wecker. Die Sekundenzeiger rückten gleichmäßig voran. Er überquerte leise den Gang, schob vorsichtig die Tür zum Zimmer seiner Mutter auf und nahm seinen Platz auf der Bettkante ein.
Sie lag ganz ruhig da. Die Goldrüsche ihres Haars war über das Kopfkissen gebreitet, ihr Gesicht bebte bei jedem Atemzug, als wäre sie aus Wasser. Durch die Haut schimmerten violett die Adern. Byron hatte weiche, pummelige Hände wie Pfirsichfleisch, bei James dagegen zeichneten sich schon die Adern ab, feine, erhabene Linien, die von den Fingerknöcheln aufwärts liefen und eines Tages wie bei einem Mann hervortreten würden.
Um halb sieben setzte der Wecker der Stille ein Ende, und seine Mutter schlug sofort die Augen auf, ein blauer Glanz.
»Hallo, Schatz.«
»Ich mache mir Sorgen«, sagte Byron.
»Doch nicht schon wieder wegen der Zeit?« Sie griff nach ihrem Glas und ihrer Tablette und trank einen Schluck Wasser.
»Und wenn sie heute die Extrasekunden dazutun?«
»Macht James sich auch solche Sorgen?«
»Er hat es anscheinend vergessen.«
Sie wischte sich über den Mund, er sah sie lächeln. Zwei Grübchen bohrten winzige Löcher in ihre Wangen. »Wir haben das alles doch schon besprochen. Zig Mal. Wenn sie die Sekunden zufügen, wird es vorher in der Times angekündigt. Und im Fernsehen kommt auch was darüber, in Nationwide.«
»Das macht mir Kopfschmerzen«, sagte er.
»Wenn es geschieht, wirst du nichts davon mitkriegen. Zwei Sekunden sind doch gar nichts.«
Byron spürte, wie sein Blut in Wallung geriet. Er wollte schon aufstehen, setzte sich dann aber wieder. »Zwei Sekunden machen einen gewaltigen Unterschied aus, das ist anscheinend niemandem klar. In zwei Sekunden kann viel passieren, was sonst nicht passiert wäre. Ein einziger Schritt zu weit, und man stürzt eine Klippe hinunter. Das ist sehr gefährlich.« Seine Worte sprudelten hervor wie ein Sturzbach.
Sie kniff das Gesicht zusammen, wie sie es sonst beim Kopfrechnen immer machte, und sah ihn an. »Wir müssen jetzt wirklich aufstehen.«
Sie zog die Vorhänge im Erkerfenster auf und starrte hinaus. Sommernebel floss von Cranham Moor herein, so dick, dass er die Hügel hinter dem Garten wegzuspülen drohte. Sie sah auf ihre Armbanduhr.
»Vierundzwanzig Minuten vor sieben«, sagte sie, als informiere sie die Uhr über die korrekte Zeit. Sie nahm ihren rosa Morgenmantel vom Haken und ging Lucy wecken.
Wenn Byron sich ein Bild machen wollte, wie es im Kopf seiner Mutter aussah, stellte er sich eine Reihe intarsienverzierter Miniaturschubladen vor, mit so winzigen Griffen aus Edelsteinen, dass er Mühe hätte, sie mit seinen Fingern aufzuziehen. Die anderen Mütter waren ganz anders als sie. Sie trugen Häkelpullunder und Lagenröcke, manche sogar die neuen Schuhe mit Keilabsätzen. Byrons Vater sah seine Frau lieber förmlicher gekleidet. Neben Diana mit ihren schmalen Bleistiftröcken und Pfennigabsätzen, der farblich passenden Handtasche und ihrem Notizbuch wirkten andere Frauen überproportioniert, ihre Kleidung unter Niveau. Andrea Lowe, die Mutter von James, ragte neben ihr auf wie eine dunkelhaarige Riesin. Dianas Notizbuch enthielt Artikel, die sie aus Frauenzeitschriften wie Good Housekeeping und Family Circle ausgeschnitten hatte. Sie notierte Geburtstage, die sie nicht vergessen durfte, wichtige Schultermine, aber auch Rezepte, Handarbeitsanleitungen, Gartenideen, Frisiertipps und Worte, die neu für sie waren. Die Kladde quoll über von Verbesserungsvorschlägen: »22 neue Frisuren, damit Sie diesen Sommer noch hübscher sind.« – »Geschenke aus Seidenpapier für jeden Anlass.« – »Kochen mit Innereien.« – »BRAUCHEN niemals ohne ›ZU‹ gebrauchen!«
»Elle est la plus belle mère«, sagte James manchmal. Dann errötete er und verstummte, wie in die Betrachtung von etwas Heiligem versunken.
Byron zog sich die kurze graue Hose und die Sommerjacke an. Die Knöpfe an seinem Hemd spannten, obwohl es fast neu war. Er sicherte den Sitz seiner Socken mit selbstgemachten Sockenhaltern und lief nach unten. Die getäfelten Wände schimmerten dunkel wie Kastanien.
»Ich rede mit niemandem als mit dir, Darling«, sagte seine Mutter mit dem ihr eigenen Singsang.
Sie stand an ihrem Telefontischchen kurz vor der Eingangshalle, fertig angezogen. Neben ihr wartete Lucy, dass sie Bänder in die Zöpfe gebunden bekam. Es roch intensiv nach Vim und Möbelpolitur, was für Byron genauso beruhigend duftete wie frische Luft. Als er vorbeiging, küsste seine Mutter ihre Fingerspitzen und drückte sie auf seine Stirn. Sie war nur wenig größer als er.
»Es sind nur die Kinder hier und ich«, sagte sie in den Hörer. Die Fenster hinter ihr zeigten ein mattes Weiß.
In der Küche setzte sich Byron an die Frühstückstheke und faltete eine saubere Serviette auseinander. Seine Mutter telefonierte mit seinem Vater. Er rief jeden Morgen um dieselbe Zeit an, und jeden Morgen versicherte sie ihm, sie höre ihm zu.
»Ach, heute mache ich wieder das Übliche. Das Haus in Ordnung bringen, Unkraut jäten. Nach dem Wochenende saubermachen. Es soll heiß werden.«
Entlassen aus den mütterlichen Händen, hüpfte Lucy in die Küche und stemmte sich auf ihren Hocker hoch. Sie kippte die Schachtel Zuckersterne über ihr Peter-Rabbit-Schälchen. »Vorsicht«, sagte Byron, als sie nach dem blauen Krug griff. Er sah zu, wie der Milchstrahl ziemlich von ungefähr auf ihre Getreideflocken spritzte. »Pass auf, dass du nichts verschüttest, Lucy.« Das war höflich ausgedrückt – sie hatte schon etwas verschüttet.
»Ich weiß schon, was ich tue, Byron. Ich brauche keine Hilfe«, erwiderte Lucy. Jedes Wort klang wie ein gezielter kleiner Luftangriff. Sie stellte den Krug wieder auf den Tisch, ein Ungetüm in ihren Händen. Dann baute sie um ihr Schälchen eine dichte Mauer von Müslischachteln. Er konnte nur noch ihren strohblonden Scheitel sehen.
Aus der Diele kam die Stimme seiner Mutter. »Ja, Seymour. Sie steht poliert in der Garage.« Er nahm an, sie redeten von dem neuen Jaguar.
»Könnte ich bitte die Zuckersterne haben, Lucy?«
»Du darfst keine Zuckersterne. Du musst deinen Obstsalat und dein gesundes Alpenmüsli essen.«
»Ich würde nur gern lesen, was auf dem Paket steht. Ich möchte mir Sooty, den Bären anschauen.«
»Ich lese selber gerade, was auf den Paketen steht.«
»Du brauchst sie doch nicht alle auf einmal«, sagte er sanft. »Und außerdem kannst du noch gar nicht lesen, Lucy.«
»Alles ist bestens«, trällerte seine Mutter aus der Diele. Ihr Lachen war wie ein Flügelflattern.
Byron spürte in seinem Magen einen heißen Knoten. Er versuchte, sich eine der Schachteln zu nehmen, nur eine, bevor Lucy ihn daran hindern konnte, aber ihre Hand flog hoch, als er die Schachtel wegzog. Dabei schlitterte der Milchkrug zur Seite, es klirrte laut, und der neue Boden war plötzlich eine Brühe aus weißer Milch und blauen Porzellansplittern. Die Kinder starrten entsetzt. Es war fast Zeit zum Zähneputzen.
Im Nu war Diana in der Küche. »Keine Bewegung!«, rief sie. Sie streckte den Kindern die Handflächen entgegen, als hielte sie den Verkehr auf. »Ihr könntet euch verletzen!« Byron saß so reglos, dass ihm der Hals steif wurde. Diana balancierte mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern auf Zehenspitzen zum Putzschrank hinüber; der Boden unter ihr schmatzte und knackte.
»Das war deine Schuld, Byron«, sagte Lucy.
Diana eilte mit Mopp und Eimer, Schaufel und Besen zurück. Sie drehte den Mopp in Seifenwasser aus und zog ihn durch die Milchpfütze. Mit einem Blick auf die Uhr kehrte sie die Scherben auf eine trockene Stelle und von dort auf die Schaufel. Die letzten Splitter schob sie mit den Fingern zusammen und kippte alles in den Mülleimer. »Fertig«, sagte sie munter. Da fiel ihr Blick auf ihre linke Handfläche, auf die Streifen, aus denen es purpurrot hervorquoll.
»Jetzt blutest du auch noch«, sagte Lucy, die auf körperliche Verletzungen mit Entsetzen, aber auch mit einer lustvollen Faszination reagierte.
»Ach, das ist doch nichts«, sagte ihre Mutter, aber das Blut rann ihr das Handgelenk herunter und hatte trotz Schürze schon mehrere Flecken auf den Rocksaum gemacht. »Keine Bewegung!«, rief sie noch einmal, machte auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus.
»Wir kommen zu spät«, sagte Lucy.
»Wir kommen nie zu spät«, widersprach Byron. Das war einer der Grundsätze ihres Vaters. Ein Engländer hatte immer pünktlich zu sein.
Diana tauchte umgezogen wieder auf. Sie trug jetzt ein pfefferminzgrünes Kleid mit einer passenden Lambswool-Strickjacke und hatte sich die Lippen erdbeerrot geschminkt. Die Hand war verbunden und sah aus wie eine kleine Pfote.
»Warum sitzt ihr immer noch hier?«, rief sie.
»Du hast gesagt, wir sollen uns nicht bewegen«, sagte Lucy.
Klack, klack, hallten Dianas Absätze über den Gang; die Kinder liefen ihr hinterher. Die Blazer und die Schulmützen hingen an den Garderobenhaken, darunter standen die Schulschuhe. Diana lud sich die Schultaschen und Sportbeutel auf die Arme.
»Kommt schon«, rief sie.
»Aber wir haben uns noch gar nicht die Zähne geputzt.«
Ihre Mutter antwortete nicht. Sie zog mit einem Schwung die Haustür auf und lief in den Nebel hinein. Byron und Lucy mussten rennen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Da stand sie, eine zarte Gestalt an der Garagentür. Sie sah auf die Uhr und hielt dazu das linke Handgelenk mit dem rechten Daumen und Zeigefinger hoch, als wäre die Zeit eine kleine Zelle, die sie durch ein Mikroskop betrachtete.
»Wir kommen noch rechtzeitig«, sagte sie. »Wenn wir uns beeilen, holen wir die Verspätung wieder auf.«
Cranham House war um die Jahrhundertwende erbaut worden, aus einem blassen Stein, der in der Hochsommersonne knochenweiß und an einem Wintermorgen fleischig rosa leuchtete. Es gab hier kein Dorf. Es gab nur das Haus, den Garten und dahinter die Heide mit ihren Hügelketten. Das Haus kehrte der gewaltigen Masse aus Wind, Himmel und Erde, die sich hinter ihm auftürmte, trotzig den Rücken zu. Deshalb hatte Byron immer den Eindruck, es stünde lieber anderswo, in den flachen Fluren einer englischen Parklandschaft zum Beispiel, oder an den sanften Hängen eines Flusses. Die Privatsphäre sei der Vorteil der Lage, sagte sein Vater. Eine Aussage, die James als Understatement bezeichnete. Zum nächsten Nachbarn musste man mindestens fünf Kilometer fahren. Zwischen den Gärten und den ersten Hügelausläufern lag eine Wiese mit einem großen Teich und dahinter einer Reihe von Eschen. Vor einem Jahr war das Wasser eingezäunt, den Kindern das Spielen dort verboten worden.
Auf der Auffahrt spritzte der Kies unter den Rädern des Jaguars. Der Nebel lag wie eine Kapuze über Byrons Augen. Er stahl selbst den Dingen in nächster Nähe die Farben und Konturen. Der obere Rasen, die Staudenrabatten und Rosenpergolen, die Obstbäume, die Buchenhecken, das Gemüsebeet, die Beete mit den Setzlingen, das Lattentor – alles war weg. Der Wagen bog nach links und bahnte sich seinen Weg zu den Hügelkuppen. Niemand sprach. Byrons Mutter beugte sich angestrengt über das Lenkrad nach vorn.
Oben auf der Hochebene war die Sicht noch schlechter. Die Heide erstreckte sich über fünfzehn Kilometer in alle Richtungen, doch an diesem Vormittag konnte man zwischen Hügeln und Himmel nicht mehr unterscheiden. Die Löcher, die die Scheinwerfer in die weiße Decke bohrten, waren nicht sehr tief. Gelegentlich nahm eine durchnässte Gruppe von Vieh oder ein überstehender Ast Gestalt an, und Byrons Herz machte einen Satz, wenn seine Mutter zum Überholen ausscherte. Byron hatte James einmal erzählt, dass die Bäume auf der Hochebene so gruselig aussahen, dass sie Gespenster sein könnten. James hatte die Stirn gerunzelt. Das sei wie in Gedichten, hatte James gesagt, aber nicht echt, genauso wenig wie es echt war, wenn im Fernsehen ein Spürhund reden konnte. Sie fuhren an den Eisentoren von Besley Hill vorbei, wo die Verrückten wohnten. Als die Räder des Jaguars über den Weiderost ratterten, seufzte Byron erleichtert auf. Sie näherten sich der Stadt, bogen um eine Kurve, und Diana bremste scharf.
»Nein!«, sagte er und setzte sich auf. »Was ist denn da los?«
»Keine Ahnung. Ein Stau.« Das war das Letzte, was sie jetzt brauchten.
Seine Mutter hob die Finger zu den Zähnen und riss von einem Fingernagel einen Streifen ab.
»Kommt das vom Nebel?«
Wieder: »Ich weiß es nicht.« Sie zog die Handbremse an.
»Ich glaube, die Sonne ist irgendwo da oben«, sagte er munter. »Die brennt das schnell wieder weg.«
Autos blockierten die Straße, so weit das Auge reichte, bis in den Nebelschleier hinein. Links kündigte das düstere Wrack eines ausgebrannten Fahrzeugs die Einfahrt zur Siedlung an der Digby Road an. Diese Straße fuhren sie nie. Er sah, wie seine Mutter einen kurzen Blick hinüberwarf.
»Wir kommen zu spät«, heulte Lucy.
Diana löste mit einem Knacken die Handbremse, legte den ersten Gang ein, dass das Getriebe knirschte, schlug das Steuer mit einem Ruck nach links ein und gab Gas, ohne vor dem Ausscheren in den Spiegel zu blicken und zu blinken. Sie hielten direkt auf die Digby Road zu.
Den Kindern verschlug es zunächst einmal vor Verblüffung die Sprache. Sie fuhren an der ausgebrannten Karosserie vorbei. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen, die Räder, die Türen und der Motor waren abmontiert, so dass das Wrack aussah wie ein verkohltes Skelett. Byron summte leise, denn an so etwas wollte er nicht denken.
»Vater sagt, wir dürfen nie da langfahren«, sagte Lucy. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht.
»Das ist eine Abkürzung durch die Siedlung mit den Sozialwohnungen«, sagte ihre Mutter. »Ich bin hier schon gewesen.« Sie beschleunigte sachte.
Es war keine Zeit, über diese Äußerung nachzudenken – dass sie trotz Vaters Verbot schon hier langgefahren war. Die Digby Road war noch schlimmer, als Byron es sich vorgestellt hatte. An manchen Stellen war sie nicht einmal asphaltiert. In dem Nebel setzten sich die Häuserreihen trist und unterschiedslos fort, bis sie zu zerfallen schienen. Müll verstopfte den Rinnstein, da lagen Schutt, Tüten, Decken, Schachteln – Einzelheiten waren schwer zu erkennen. Gelegentlich tauchten Wäscheleinen auf, an denen ausgeblichene Bettwäsche und Kleidung hingen.
»Ich schau nicht hin«, sagte Lucy und rutschte tief in den Sitz, um sich zu verstecken.
Byron hielt Ausschau nach etwas, was ihn nicht beunruhigte. Was er wiedererkannte, was ihm auch in der Digby Road ein gutes Gefühl geben könnte. Er machte sich zu viele Sorgen, das hatte ihm seine Mutter schon oft gesagt. Und dann fand er es plötzlich. Etwas Schönes: ein Baum, der durch den Nebel leuchtete. Weit streckte er die geschwungenen Äste aus, die mit Girlanden aus kaugummirosa Blüten geschmückt schienen, obwohl die Obstblüte am Cranham House längst vorbei war. Eine Welle der Erleichterung schwappte über Byron, als hätte er ein kleines Wunder erlebt oder eine gute Tat; zumindest in diesem Moment hätte er an beides geglaubt. Unter dem Baum kam eine Gestalt hervor. Sie war klein, wie ein Kind. Sie sauste auf die Straße zu, auf Rädern. Sie saß auf einem roten Fahrrad.
»Wie viel Uhr haben wir jetzt?«, fragte Lucy. »Sind wir zu spät dran?«
Byron warf einen Blick auf seine Armbanduhr und erstarrte. Der Sekundenzeiger bewegte sich rückwärts. Erst als ihm seine eigene Stimme in die Kehle schnitt, merkte er, dass er schrie.
»Mummy, es passiert gerade! Halt an!« Er packte sie an der Schulter. Zerrte heftig daran.
Er begriff nicht, was als Nächstes geschah. Es ging so schnell. Während er versuchte, seine Uhr oder vielmehr den verstellten Zeiger seiner Mutter vors Gesicht zu halten, nahm er gleichzeitig den Wunderbaum und das kleine Mädchen wahr, das auf die Straße zuradelte. Sie gehörten alle zum selben Geschehen, schossen aus dem Nichts hervor, aus dem dichten Nebel, aus der Zeit. Der Jaguar schlingerte, und Byron schlug mit den Händen gegen das Armaturenbrett, um sich abzustemmen. Als der Wagen mit einem heftigen Ruck zum Stehen kam, gab es ein Geräusch wie ein metallisches Flüstern, dann war alles still.
In den nun folgenden Taktschlägen, die kürzer waren als Sekunden, kürzer sogar als ein Flimmern, und in denen Byron am Straßenrand nach dem Kind suchte und es nicht entdecken konnte, wurde ihm klar, dass etwas Schlimmes passiert war. Dass das Leben nie mehr sein würde wie zuvor. Er wusste es, noch bevor er die Worte dafür fand.
Über den Hügeln gleißte eine Scheibe aus blendend weißem Licht. Byron hatte recht gehabt mit der Sonne. Sie würde sich jeden Moment durch den Nebel brennen.
Jim wohnt in einem Camper, am Rand der neuen Siedlung. Jeden Tag läuft er bei Morgengrauen über die Heide und jeden Abend wieder zurück. Er hat einen Job im frisch renovierten Café des Supermarkts. Es gibt jetzt einen Wi-Fi-Zugang, und man kann sein Handy aufladen, aber Jim nützt weder das eine noch das andere. Als er vor sechs Monaten hier anfing, arbeitete er bei den Heißgetränken, aber nachdem er Cappuccinos mit Himbeerschaum und einem Schokoriegel garniert hatte, wurde er an die Tische verbannt. Wenn er diese Arbeit nun auch noch vermasselt, bleibt ihm nichts mehr. Nicht einmal Besley Hill.
Der schwarze Himmel ist von Faserwolken durchzogen wie von Silberhaar, die Luft so kalt, dass sie ihm die Haut aufraut. Der Boden unter seinen Füßen ist beinhart gefroren, und unter seinen Stiefeln knirschen die spröden Grasstummel. Er sieht schon den Neonschein von Cranham Village; dahinter kriechen in der Ferne Scheinwerfer über die Heide, eine Halskette aus winzigen, wandernden Lichtern in Rot und Silber, durchs Dunkel gefädelt.
Als Jugendlicher war er dort oben aufgegriffen worden, nur mit Unterhose und Schuhen bekleidet. Er hatte seine Kleider den Bäumen geschenkt, hatte tagelang im Freien geschlafen. Er wurde sofort in die Psychiatrie eingeliefert. »Hallo, Jim«, sagte der Arzt, als wären sie alte Freunde, als hätte Jim wie er einen Anzug an und eine Krawatte. »Hallo, Herr Doktor«, hatte Jim gesagt, um zu zeigen, dass er ein umgänglicher Mensch war. Der Arzt hatte Elektrokonvulsionstherapie verordnet. Die hatte bei Jim ein Stottern ausgelöst und später ein Kribbeln in den Fingern, das er jetzt noch spürt.
So ist es eben mit dem Schmerz; das weiß er. Was ihm da zugestoßen ist, hat sich in seinem Gehirn mit anderem vermengt, hat sich verwandelt, ist nicht mehr nur der Schmerz eines bestimmten Moments, sondern ein anderer Schmerz aus vielen Schichten, der die Ereignisse vor über vierzig Jahren einschließt und alles, was er verloren hat.
Er folgt der Straße zur Siedlung. Ein Schild heißt die Besucher von Cranham Village willkommen und bittet sie, vorsichtig zu fahren. Vor kurzem wurde das Schild beschmiert, wie auch das Bushäuschen und die Schaukeln für die Kinder; jetzt heißt es Welcome to Crapham – Willkommen im Scheißkaff. Zum Glück gehört Cranham zu den Orten, in die man nur hineingerät, wenn das Navi einen Fehler macht. Jim wischt über das Schild, weil es ihn kränkt, den Namen so herabgewürdigt zu sehen, aber das »n« kommt nicht wieder hervor.
Die neuen Häuser stehen dicht an dicht wie Zähne. Jedes hat einen Vorgarten, nicht größer als ein Parkplatz, und vor dem Fenster einen Blumenkasten aus Kunststoff, in dem nichts wächst. Letztes Wochenende haben viele Bewohner ihre Regenrinnen mit weihnachtlichen Lichtgirlanden geschmückt, und Jim bleibt stehen, um sie zu bewundern. Ihm gefallen vor allem die mit den blinkenden Eiszapfen. Auf einem der Dächer scheint ein aufblasbarer Weihnachtsmann die Satellitenschüssel zu demontieren. Er sieht wohl eher nicht aus wie jemand, den man gern durch den Kamin zu Besuch bekäme. Jim geht an dem lehmigen Rechteck vorbei, das die Anwohner den Dorfanger nennen, an dem eingezäunten Wassergraben in der Mitte. Er hebt ein paar leere Bierdosen auf und trägt sie zum Abfalleimer.
Als er in die Sackgasse einbiegt, sieht er das Haus an, das die ausländischen Studenten gemietet haben, und das andere Haus, wo jeden Tag ein alter Mann am Fenster sitzt. Er geht an dem Gartentor mit dem Schild Vorsicht, bissiger Hund vorbei und an dem Garten mit der Wäsche, die nie abgehängt wird. Vorn schimmert sein Wohnmobil milchfahl im Mondlicht.
Zwei Jungs flitzen auf einem Fahrrad an ihm vorbei, aufgeregt kreischend, einer auf dem Sattel, der andere auf dem Lenker balancierend. Er ruft V-Vorsicht, aber sie hören ihn nicht.
Wie bin ich hier gelandet?, fragt sich Jim. Auch wir waren einmal zwei.
Der Wind weht und schweigt.
Als James zum ersten Mal mit Byron über den Zeiteinschub sprach, erwähnte er ihn nur als einen interessanten Sachverhalt unter vielen. Die beiden Jungen saßen in der Mittagspause gern vor der Kapelle, während die anderen auf dem Sportplatz herumrannten. Sie verglichen ihre Sammelkarten aus den Brooke-Bond-Teepackungen – beide sammelten gerade die Reihe »Geschichte der Luftfahrt« –, und James erzählte Byron Dinge aus der Zeitung. Er habe den Artikel – übrigens kein Leitartikel, erklärte er – schnell lesen müssen, weil sein gekochtes Ei fertig war, aber Kern des Ganzen sei gewesen, dass die Zeitaufzeichnung wegen des Schaltjahrs nicht mehr mit der natürlichen Erdbewegung übereinstimme. Um das zu ändern, müssten die Wissenschaftler Dinge wie die Ausdehnung der Erdkruste näher untersuchen, sagte er verständig, und auch die Unregelmäßigkeiten in der Erdachsenrotation. Byron fiel das Gesicht herunter. Die Vorstellung jagte ihm Entsetzen ein. James fand das alles sehr aufregend, ging dann aber zu einem anderen Thema über. In Byron jedoch fraß sich der Gedanke, dass an der natürlichen Ordnung der Dinge herumgepfuscht würde, immer weiter fest. Die Zeit war es doch, die die Welt zusammenhielt. Sie sorgte dafür, dass das Leben verlief, wie es sollte.
Anders als James war Byron von massiver Statur. Die beiden bildeten ein seltsames Paar. James war blass und schmächtig, die Haare hingen ihm in die Augen, er kaute auf den Lippen herum, wenn er über etwas nachdachte; Byron dagegen saß groß und schwerfällig neben ihm und wartete, bis James zum Ende kam. Manchmal zwickte sich Byron in die Röllchen an seinem Bauch und fragte seine Mutter, warum James nicht auch welche hatte. Dann antwortete sie, natürlich habe James auch welche, aber Byron wusste, dass sie nur nett zu ihm war. Mit seiner Leibesfülle sprengte er häufig Knöpfe und Nähte. Sein Vater sagte es rundheraus: Byron sei übergewichtig, träge. Dann erwiderte seine Mutter, das sei doch nur Babyspeck, da gäbe es einen großen Unterschied. Sie redeten, als wäre Byron gar nicht da, was ihm seltsam vorkam, wo es doch darum ging, dass zu viel von ihm da war.
Während der ersten Herzschläge nach dem Unfall hatte Byron plötzlich das Gefühl, er bestünde aus Nichts. Er fragte sich, ob er verletzt war. Er saß da und wartete, dass seine Mutter merkte, was sie angerichtet hatte, wartete, dass sie zu schreien anfing und aus dem Auto sprang, aber nichts geschah. Er saß da und wartete, dass das kleine Mädchen zu schreien anfing oder aufstand und von der Straße lief, doch das geschah genauso wenig. Seine Mutter blieb reglos hinter dem Steuer sitzen, und das kleine Mädchen blieb reglos unter seinem roten Fahrrad liegen. Dann kamen die Dinge plötzlich, wie mit einem Fingerschnippen, wieder in Bewegung. Seine Mutter blickte über die rechte Schulter und schob den Rückspiegel zurecht; Lucy fragte, warum sie stehen geblieben seien. Nur das kleine Mädchen bewegte sich nicht.
Diana ließ den Motor an und legte die Hände exakt, wie ihr Mann es ihr beigebracht hatte, auf das Steuer. Sie setzte zurück, um den Wagen wieder in Fahrtrichtung auf die Straße zu bringen, und legte den ersten Gang ein. Byron konnte es nicht fassen, dass sie einfach davonfuhr, dass sie das kleine Mädchen dort liegen ließen, wo sie es angefahren hatten, und dann wurde ihm klar, dass seine Mutter nichts davon wusste. Sie hatte, was passiert war, nicht mitbekommen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, dass es schmerzte.
»Fahr doch! Fahr!«, rief er.
Seine Mutter biss sich als Zeichen von Konzentration auf die Lippe und gab Gas. Sie korrigierte noch einmal den Rückspiegel, rückte ihn ein bisschen weiter nach links, ein bisschen weiter nach rechts …
»Schneller!«, rief er. Sie mussten verschwinden, bevor jemand sie sah.
Zügig fuhren sie die Digby Road hinunter. Byron drehte sich ständig von links nach rechts und reckte den Hals, um aus der Rückscheibe zu sehen. Wenn sie sich nicht beeilten, wäre der Nebel weg. Sie bogen in die Hauptstraße ein und fuhren am neuen Wimpy’s vorbei. Die Kinder aus der Digby Road standen in schemenhaften Schlangen an der Bushaltestelle. Da waren der Lebensmittelladen, der Metzger, das Musikgeschäft und das Ortsbüro der Konservativen. Weiter unten polierten Verkäuferinnen des Warenhauses, alle in der gleichen Uniform, die Schaufensterscheiben und kurbelten die gestreiften Markisen herunter. Ein Portier mit Zylinder rauchte vor dem Hotel, ein Lieferwagen war mit Blumen vorgefahren. Nur Byron saß an seinen Sitz geklammert und wartete, dass jemand auf die Straße rannte und sie anhielt.
Aber das geschah nicht.
Diana parkte in der Allee, wo die Mütter immer parkten, und holte die Schultaschen aus dem Kofferraum. Sie half den Kindern aussteigen und schloss den Jaguar ab. Lucy hüpfte voraus. Andere Mütter grüßten winkend und erkundigten sich nach dem Wochenende. Eine sagte etwas über den starken Verkehr, eine andere wischte ihrem Sohn die Schuhsohle mit einem Papiertaschentuch ab. Der Nebel lichtete sich rasch. An manchen Stellen sah bereits blauer Himmel durch, und Sonnenpunkte spähten durch das Platanenlaub wie winzige Augen. In der Ferne flirrte die Heide, hell wie das Meer. Nur über den unteren Hügelausläufern hing noch ein Dunstband.
Byron lief neben Diana her und rechnete damit, dass seine Knie jeden Augenblick nachgeben würden. Er fühlte sich wie ein übervolles Wasserglas, das überschwappen würde, falls er losrannte oder plötzlich stehen bliebe. Er begriff nicht. Er begriff nicht, wie sie trotzdem in die Schule gehen konnten. Er begriff nicht, wie alles weitergehen konnte wie zuvor. Als wäre es ein ganz normaler Vormittag, was doch gar nicht stimmte. Die Zeit war aufgespalten worden, und alles war anders.
Am Spielplatz stand er an seine Mutter geklebt und lauschte so angestrengt, dass ihm war, als bestünde er nur noch aus Ohren. Aber niemand sagte: »Ich habe in der Digby Road Ihren silbernen Jaguar gesehen, mit dem Nummernschild KJX 216K.« Niemand sagte, dass gerade ein kleines Mädchen angefahren worden sei, genauso wenig erwähnte jemand die Extrasekunden. Er begleitete seine Mutter zum Eingang der Mädchenschule, und Lucy schien so unbekümmert, dass sie nicht einmal winkte.
Diana drückte seine Hand. »Alles in Ordnung?«
Byron nickte, weil ihm die Stimme versagte.
»Du musst jetzt gehen, Schatz.« Er spürte ihre Blicke, als er den Spielplatz überquerte; das Gehen strengte ihn so an, dass ihm sogar der Rücken weh tat. Das Gummiband seiner Mütze schnitt ihm in den Hals.
Er musste James finden. Er brauchte ihn ganz dringend. James begriff alles auf eine Weise, wie es Byron nicht vermochte, er war wie die Portion Logik, die Byron fehlte. Als Mr Roper ihnen zum ersten Mal das Konzept der Relativität vorstellte, hatte James begeistert genickt, als hätte er die Existenz magnetischer Kräfte schon immer vermutet, während Byron die neue Vorstellung als einen einzigen Wirrwarr im Kopf empfand. Vielleicht lag es an James’ allgemeiner Sorgfalt. Byron beobachtete ihn manchmal, wie er die Lasche am Reißverschluss seines Federmäppchens längs ausrichtete oder sich den Pony aus den Augen wischte, alles mit einer Präzision, die Byron mit Ehrfurcht erfüllte. Manchmal versuchte er, es James gleichzutun. Er machte abgezirkelte Schritte oder ordnete seine Filzstifte nach Farben. Aber dann gingen seine Schuhbänder auf oder sein Hemd rutschte aus der Hose, und Byron war wieder der Alte.
Er kniete sich in der Kapelle neben James, doch es war schwer, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Soweit Byron wusste, glaubte James nicht an Gott (»Es gibt keinen Beweis«), aber sobald er sich einmal in das Beten hineinvertieft hatte, nahm er es wie die meisten Dinge sehr ernst. Er drückte den Kopf zur Brust, kniff die Augen zusammen und presste die Worte mit einer solchen Inbrunst hervor, dass jede Unterbrechung Frevel gewesen wäre. Als Nächstes versuchte Byron, sich in der Schlange vor dem Speisesaal neben James herumzudrücken, aber Samuel Watkins fragte James, was er von den Glasgow Rangers hielt, und nahm James in Beschlag. Das Problem war, dass jeder ihn um seine Meinung fragte. Er dachte über Dinge nach, bevor man überhaupt merkte, dass es etwas nachzudenken gab, und wenn man dann das Problem erkannt hatte, war James schon zu ganz anderen Dingen vorausgeeilt.
Beim Cricket kam schließlich Byrons Chance. James stand vor dem Umkleidehäuschen. Inzwischen war es so heiß, dass einem jede Bewegung zu viel wurde. Die Sonne am wolkenlosen Himmel brüllte fast herunter. Byron war schon fertig mit Schlagen, und James wartete auf einer Bank, bis er an die Reihe käme. Er konzentrierte sich gern vor dem Spiel und war lieber allein. Byron setzte sich ans andere Ende der Bank, aber James blickte weder auf, noch reagierte er mit einer Bewegung. Die Haare hingen ihm in die Augen, und unterhalb der Ärmel war seine leuchtend weiße Haut schon von Sonnenbrand gerötet.
Byron sagte: »James?« Weiter kam er nicht, denn etwas hielt ihn auf.
Zahlen. Ein ständiger Strom. James flüsterte, als stecke zwischen seinen Knien eine winzig kleine Person, der er Zahlenreihen beibringen musste. Byron war an James’ Gebrummel gewöhnt, hatte es schon oft bemerkt, aber normalerweise flüsterte er so leise, dass man nichts mitbekam. »Zwei, vier, acht, sechzehn, zweiunddreißig.« Die Luft über Cranham Moor flimmerte, als wollten die höchsten der Hügel mit dem Himmel verschmelzen. Byron fühlte sich überhitzt in seinem weißen Cricketdress. »Warum machst du das?«, fragte er. Er versuchte nur, ein Gespräch anzuleiern.
James fuhr hoch, als hätte er nicht bemerkt, dass er Gesellschaft hatte, und Byron lachte, um ihm zu zeigen, dass er ihm nichts Böses wollte. »Übst du die Multiplikationstabellen?«, fragte er. »Du kannst sie doch besser als jeder andere. Als ich zum Beispiel. Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Bei der Neunerreihe schmeißt’s mich immer. Und bei den Siebenern aussi. Auch die sind für mich très difficile.« Bei Dingen, die auf Englisch zu öde waren oder zu schwierig zu erklären, verfielen die beiden Jungs gern ins Französische. Das war wie eine Geheimsprache, aber auch wieder nicht, weil jeder einsteigen konnte.
James bohrte die Schlägerspitze in das Gras zu seinen Füßen. »Ich kontrolliere, ob ich Zahlen verdoppeln kann. Um mich abzusichern.«
»Dich abzusichern?« Byron schluckte schwer. »Wie soll dich das denn absichern?« So etwas hatte James noch nie erwähnt. Das sah ihm gar nicht ähnlich.
»Das ist, wie wenn ich in mein Zimmer renne, bevor die Klospülung ganz durchgerauscht ist. Wenn ich das nicht schaffe, könnte etwas schiefgehen.«
»Aber das ist doch unlogisch, James.«
»Eigentlich ist es sehr logisch, Byron. Ich überlasse nichts dem Zufall. Wir stehen unter Druck, die Stipendienprüfung kommt. Manchmal suche ich nach vierblättrigem Klee. Und jetzt habe ich auch noch einen Glückskäfer.« James zog etwas aus seiner Tasche und ließ es kurz zwischen seinen Fingern hervorblitzen. Der Messingkäfer war dunkel und schlank, so groß wie Byrons Daumen, ein Insekt mit geschlossenen Flügeln. Daran war ein silberner Schlüsselring befestigt, wo man einen Schlüssel einhängen konnte.
»Ich wusste gar nicht, dass du einen Glückskäfer hast«, sagte Byron.
»Meine Tante hat ihn mir geschickt. Er kommt aus Afrika. Ich kann mir keine dummen Schnitzer leisten.«
Byron spürte hinter den Augen und der Nasenwurzel einen stumpfen Druck; es gab ihm vor Beschämung einen Stich, als er merkte, dass er gleich in Tränen ausbrechen würde. Zum Glück kam vom Cricketfeld der laute Ruf: »Aus!«, dann eine Runde Applaus. »Jetzt bin ich mit Schlagen dran«, sagte James und schluckte. Sport war sein schlechtestes Fach. Byron erwähnte es nicht gern, aber James neigte zum Blinzeln, wenn der Ball auf ihn zugeflogen kam. »Ich muss jetzt los«, sagte er, blieb aber stehen.
»Hast du’s gesehen, ce matin?«
»Was gesehen, Byron?«
»Die zwei Sekunden. Die haben sie heute zugefügt. Um Viertel nach acht.«
Da trat eine winzige Pause ein, in der nichts geschah, während Byron darauf wartete, dass James etwas sagte. James aber schwieg. Er starrte einfach mit seinem eindringlichen, wachsblauen Blick auf Byron herunter, den Käfer fest in der Hand. Die Sonne stand direkt hinter ihm, und Byron musste die Augen zusammenkneifen, um ihn anzusehen. James Ohren leuchteten wie Krabben.
»Bist du sicher?«, fragte James.
»Mein Sekundenzeiger ist rückwärts gelaufen. Ich hab’s gesehen. Und als ich dann noch einmal auf die Uhr geschaut habe, ist er wieder in die richtige Richtung umgekehrt. Das war definitiv so.«
»Es hat nichts in der Times gestanden.«
»Die haben auch in Nationwide nichts berichtet. Ich habe mir gestern Abend die ganze Sendung angesehen, aber niemand hat etwas erwähnt.«
James warf einen Blick auf seine Uhr, ein Schweizer Fabrikat mit einem dicken Lederarmband; sie hatte seinem Vater gehört. Es gab keinen Sekundenzeiger, nur ein kleines Fenster für das Datum. »Bist du sicher? Ganz sicher, dass du es wirklich gesehen hast?«
»Hundert pro.«
»Aber warum? Warum sollten sie die Sekunden zufügen, ohne uns Bescheid zu geben?«
Byron schnitt eine Grimasse, um die Tränen aufzuhalten. »Das weiß ich auch nicht.« Er wünschte, er hätte auch so einen Glückskäferschlüsselring. Er wünschte, er hätte auch eine Tante, die ihm Talismane aus Afrika schickte.
»Alles in Ordnung?«, fragte James.
Byron nickte ein paarmal so heftig, dass seine Augäpfel nach oben und nach unten gepresst wurden. »Dépêchez-vous. Les autres warten schon.«
James drehte sich zum Spielfeld und holte tief Luft. Er rannte los, zog die Knie hoch zur Brust und bewegte die Arme auf und ab wie Motorkolben. Wenn er in diesem Tempo weiterliefe, würde er ohnmächtig zusammenbrechen, bevor er sein Ziel erreicht hätte. Byron rieb sich die Augen, falls jemand hersah, und nieste mehrmals – falls sie immer noch hersahen, dächten sie vielleicht, er hätte Heuschnupfen oder eine plötzliche Sommergrippe.
Nach bestandener Führerscheinprüfung hatte Diana den Schlüssel für den neuen Jaguar geschenkt bekommen. Seymour überraschte sie nicht oft mit Geschenken. Diana war da spontaner. Wenn sie jemandem etwas schenken wollte, kaufte sie es einfach, auch wenn kein Geburtstag anstand, und packte es schön ein. Seymour hatte den Schlüssel nicht in Geschenkpapier gewickelt. Er hatte ihn in eine Schachtel gelegt und ein weißes Spitzentaschentuch darübergedeckt. »Ach du meine Güte«, hatte sie gesagt. »Was für eine Überraschung.« Sie schien den Schlüssel erst gar nicht zu bemerken. Verwirrt strich sie immer wieder über das Taschentuch. Es war mit dem Anfangsbuchstaben ihres Namens bestickt, einem großen D, und mit kleinen rosa Röschen.
Schließlich hatte Seymour gesagt: »Du lieber Himmel, Darling!« Nur kamen die Worte falsch heraus und klangen weniger nach Zärtlichkeit als nach Drohung. Da zog sie endlich das Taschentuch von der Schachtel und fand darin den Schlüssel mit dem besonderen, in den Lederanhänger eingestanzten Jaguar-Emblem.
»Ach, Seymour«, sagte sie immer wieder. »Das wäre doch nicht … Das ist doch nicht dein … Das kann ich doch nicht …«
Seymour hatte auf seine förmliche Art genickt, als lechze sein Körper danach, in großen Sätzen herumzuspringen, was ihm aber seine Kleidung nicht erlaubte. Jetzt würden die Leute aufmerken und ihnen Beachtung schenken, hatte er gesagt. Niemand würde mehr auf die Hemmings herabsehen. Ja, Darling, hatte Diana gesagt, alle würden so neidisch sein, sie habe wirklich ein Riesenglück. Sie streckte die Hand aus und streichelte ihm über den Kopf, und er schloss die Augen und legte die Stirn auf ihre Schulter, als wäre er plötzlich müde.
Als sie sich küssten, murmelte Seymour etwas, und die Kinder stahlen sich davon.
Diana hatte mit ihren Vermutungen, wie die anderen Mütter reagieren würden, recht gehabt. Sie umringten den neuen Wagen. Sie betasteten das Armaturenbrett aus Mahagoniholz, die Lederpolster, setzten sich probeweise auf den Fahrersitz. Deirdre Watkins sagte, sie wäre nun mit ihrem Mini Cooper nie mehr zufrieden. Der Jaguar röche sogar teuer, sagte die neue Mutter. (Niemand hatte ihren Namen richtig verstanden.) Und die ganze Zeit flatterte Diana mit ihrem Taschentuch hinter ihnen her, wischte Fingerabdrücke weg und lächelte unbehaglich.
Jedes Wochenende stellte Seymour dieselben Fragen. Putzten die Kinder vor dem Einsteigen die Schuhe ab? Polierte sie den Chrom des Kühlergrills? Wussten alle Bescheid? Natürlich, natürlich, sagte sie. Alle Mütter seien gelb vor Neid. Hatten sie es den Vätern erzählt? Ja, ja. Sie lächelte wieder. »Sie reden die ganze Zeit darüber. Du bist so gut zu mir, Seymour.« Seymour versuchte, hinter der Serviette zu verbergen, wie glücklich er war.
Wenn Byron an den Jaguar und an seine Mutter dachte, schlug sein Herz so heftig in seiner Brust, dass er Angst hatte, es würde ein Loch hineinhämmern. Er musste die Hand dagegenpressen, vielleicht hatte er ja einen Herzanfall.
»Träumst du wieder in den Tag hinein, Hemmings?« In der Klasse zog ihn Mr Roper zum Stehen hoch und sagte zu den Jungs, so sähe ein Dummkopf aus.
Egal. Was immer Byron tat, ob er in die Bücher starrte oder zum Fenster hinaus – Worte wie Hügel verschwammen. Er sah einzig das kleine Mädchen. Die zusammengerollte Gestalt gleich neben dem Beifahrerfenster, eingeklemmt unter dem roten Fahrrad, dessen Räder sich in der Luft drehten. Sie lag so reglos da, als wäre sie urplötzlich stehen geblieben, wo sie gerade war, und hätte beschlossen, an Ort und Stelle einzuschlafen. Byron starrte auf seine Armbanduhr und den unbarmherzig voranschreitenden Sekundenzeiger und fühlte sich, als würde er aufgefressen.
Jim schließt die Tür seines Campers auf und öffnet sie. Er muss sich bücken, um einzusteigen. Winterweißes Mondlicht fällt in kaltem Strahl durch das Fenster und erhellt die laminierten Flächen. Es gibt einen kleinen Gaskocher mit zwei Flammen, eine Spüle, einen Klapptisch und rechts eine Sitzbank, die sich zu einem Bett ausziehen lässt. Jim schiebt die Tür wieder zu und schließt ab. Die Rituale beginnen.
»Hallo, Tür«, sagt er. »Hallo, Wasserhähne.« Er begrüßt seine ganze Habe. »Hallo, Wasserkessel, hallo, Rollmatratze, hallo, kleiner Kaktus, hallo, Jubiläums-Küchentuch.« Nichts darf ausgelassen werden.
Wenn alles begrüßt ist, schließt Jim die Tür wieder auf, öffnet sie, steigt aus und schließt hinter sich ab. Sein Atem bläst Blütengirlanden ins Dunkel. Aus dem Haus mit den ausländischen Studenten kommt Musik, und der alte Mann, der den ganzen Tag an seinem Fenster sitzt, ist schon ins Bett gegangen. Im Westen schwappen die letzten Wellen des Stoßverkehrs über die Hügelkuppen. Dann bellt ein Hund, und jemand schreit ihn an, er soll das Maul halten. Jim schließt die Tür seines Wagens auf und steigt ein.
Er führt das Ritual einundzwanzig Mal durch. Das ist die nötige Zahl von Wiederholungen. Er steigt ein. Er begrüßt seine Habe. Er steigt aus. Rein, hallo, raus. Rein, hallo, raus. Und jedes Mal aufschließen und zuschließen.