Innere Curen
Beata Solanger
INHALT
Wien 1774. Joseph Lafarche stürzt sich in die Arbeit. Er möchte seinem Vater im familieneigenen Kaffeehandel nachfolgen. Das ist eine harte Aufgabe, denn sein Vater besteht darauf, dass der missratene Sohn ganz unten anfangen muss.
Mit Schreibzeug und Kostproben ausgestattet besucht Joseph sämtliche Kaffeehäuser, Feinspezereien und Apotheken der Stadt. Auf einem seiner Wege begegnet er dem Polizey-Beamten Amadeus Woffen. Beiläufig berichtet der Staatsdiener vom gewaltsamen Tod einer alten Marktfrau. Sein Vorgesetzter Commissär Korenyi ist wie üblich wenig geneigt, der Sache viel Bedeutung beizumessen. Doch Joseph findet durch einen Zufall mehr heraus. Er stößt auf Einzelheiten, die zusammen ein grauenvolles Mosaik ergeben.
Beata Solanger widmet sich der Zeit von Maria Theresia. Ihre Romane entführen Sie in den damaligen Alltag und das Leben in Wien.
Innere Curen
Eine zweite Criminal-Vorfallenheit
Wien 1774
Beata Solanger
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1. Auflage – Copyright © 2015 editio historiae, Verlag MMag. Dr. Marianne Acquarelli, 1120 Wien
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden – das gilt auch für Teile daraus.
Redaktion und Layoutgestaltung: MMag. Dr. Marianne Acquarelli
Titelbild: Stefan Kahlhammer, „ironische Kunst“,
www.stefankahlhammer.com - alle Rechte beim Verlag
Lektorat: Mag. Andrea Jank-Hofbauer
Bilder: Abbildung von chirurgischen Instrumenten - Tafel aus dem Buch Chirurgie von Lorenz Heister, Hetztheater - Ausschnitt aus einem Gemälde von A. Stutzinger, Hetzzettel - mit Genehmigung der Wiener Stadtbibliothek, Aderlassmännchen - in Bruno H. Bürgel, Aus fernen Welten (Berlin 1920) mit freundlicher Unterstützung des Springer-Verlags.
Satz: Adobe InDesign bei editio historiae
eBook-Erstellung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN (ePUB): 978-3-9503824-7-1
Abbildung von chirurgischen Instrumenten
aus: Dr. Lorenz Heister,
Chirurgie, in welcher alles was für Wund-Artzney gehöret, nach der neuesten und besten Art gründlich abgehandelt (Nürnberg 1724)
Wirklich gelebt haben:
Ignaz von Maurer: Criminal-Senatspräsident im Jahr 1786, im Roman: Criminal-Gerichtsvorsteher
Peter Fiebich: Criminal-Detektiv im Jahr 1786, im Roman: Detektivkandidat
Amadeus Woffen: Criminal-Commissär im Jahr 1786, im Roman: beigegebener Polizey-Beamter (Offiziant)
Johann Cuntira: Polizey-Aufseher von 1774 bis 1781
Carl Defraine: kaiserlich-königlicher Theatertänzer, Gründer des Hetztheaters. Nach seinem Tod 1768 ging das Hetztheater an Giuseppe d‘Affligio, 1770 bis 1776 an Johann Nepomuk Graf Kohary.
Anton Phillebois: Universitäts-Pedellen-Amtsschreiber, er gab zur Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert das Taschenbuch der Wiener Universität heraus.
Joseph Cronhauser: Prüfungskandidat zum Meister der Wundarzneikunst am 28. Juli 1769 und nach seinem Scheitern wieder am 25. September 1770.
Wirklich gegeben hat es:
Schranne: Stadt- und Landesgericht von Wien von 1473 -1839 auf dem Hohen Markt (früher Marckt).
Apotheke „Zum roten Krebs“: eine der ältesten Apotheken Wiens mit Sitz am Hohen Markt, ab 1712 im Besitz der Familie di Pauli. 1754 übernahm Ignaz Gabriel di Pauli von Enzebühl die Apotheke, ab 1782 wurde sie von dessen Enkel Anton di Pauli geführt.
Kaufgewölbe „Zur Silbernen Schlange“: auf dem Hohen Markt gelegen, gehörte bis 1804 dem Handelsmann Jakob Jagaditsch.
Malefizspitzbubenhaus: bestand von ca. 1480 bis 1785, Schergenhaus und Untersuchungsgefängnis in der ehemaligen Himmelpfortgasse.
Hetztheater: 1755 wurde „am Weißgerber“ ein Amphitheater aus Holz für die Abhaltung von Kämpfen mit teilweise exotischen Tieren gebaut. Es bot ungefähr 3000 Personen Platz. Trotz der hohen Eintrittspreise erfreute sich die Attraktion großer Beliebtheit. 1796 brannte das Hetztheater vollständig ab. Es wurde nicht wieder aufgebaut. Die Hetzgasse im 3. Wiener Gemeindebezirk erinnert heute noch daran.
Esterházy-Keller: Stadtheuriger seit 1683, existiert noch heute im Haarhof im 1. Wiener Bezirk.
Krankenhaus der Barmherzigen Brüder: das älteste Ordensspital Wiens, es wurde 1614 gegründet und wird noch heute im 2. Wiener Gemeindebezirk betrieben.
Café Taroni: im Jahr 1750 hat Jean „Schani“ Taroni die Erlaubnis erhalten am Graben vor seinem Café, das nur Männern zugänglich war, ein Zelt aufzustellen, um den Damen im Sommer Erfrischungen, Eis und Kaffee anzubieten. Daher kommt die noch heute gebräuchliche Verwendung „Schanigarten“ für eine Sitzgelegenheit im Freien bei einem Gastwirten.
Zucht- und Arbeitshaus: das Haus wurde 1670 zur „Verbesserung der Sitten und Verminderung des Bettels“ eingerichtet. Zur Abschreckung konnten Eltern ihre ungeratenen Kinder für die Erteilung eines Denkzettels vorführen lassen. Das Zucht- und Arbeitshaus bestand mit Unterbrechungen bis ins 19. Jahrhundert. Gegen Ende fungierte es als Strafhaus für Männer.
Gasthaus „Zum wilden Mann“: war eine der besseren Wirtschaften Wiens. Es befand sich in der Kärntner Straße 17, später wurde es in ein Hotel umgebaut, das bis 1873 bestand.
Spittel Berg: der Name leitet sich von einem Bürgerspital ab, das auf dem Spital Berg gestanden hatte. Nach der Türkenbelagerung 1683 wurden außerhalb der Stadt günstige Wohnmöglichkeiten errichtet. Schon nach kurzer Zeit hatte sich dort ein übles Viertel mit blühender Kellnerinnenwirtschaft (Prostitution) entwickelt.
Neuer Stephansfreithof: nachdem der Friedhof rund um St. Stephan nicht mehr ausreichte, war eine Zeit lang ein Friedhof bei der Alser Straße in Verwendung, bis Joseph II. die Kommunalfriedhöfe einrichten ließ.
Maße und Geldeinheiten:
1 Wiener Fuß = 316, 08 mm ist gleich 12 Zoll
1 Wiener Zoll = 26, 34 mm ist gleich 12 Linien
1 Pfund = 560 g
1 Gulden (fl.) ist unterteilt in 60 Kreuzer (kr.)
Quellen: Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien, Band 1-5 (Wien 2004) und Leopold Tatzer, Das k.k. privilegierte Hetzamphitheater unter den Weissgerbern (Wien 1969).
B
is zum Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in der Habsburgermonarchie zwei Bereiche der medizinischen Versorgung. Auf der einen Seite standen die Ärzte. Dieser Beruf stand jungen Männern offen, die ein Gymnasium mit Lateinunterricht besucht hatten. Nach dem Universitätsstudium durften sie als Doktoren der Medizin die sogenannten Inneren Curen durchführen. Sie befragten ihre Patienten, tasteten die betroffenen Regionen ab und untersuchten sorgfältig die Ausscheidungen der Erkrankten. Aufgrund ihrer Erkenntnisse stellten die Mediziner eine Diagnose und durften eine Behandlung mit einer Fülle von Medikamenten empfehlen.
Bei äußerlich sichtbaren Leiden wie Verletzungen, Knochenbrüchen oder Hauterkrankungen wandte man sich an einen sogenannten Wundarzt oder Chirurgen. Beim Heer war lange Zeit der Begriff „Feldscherer“ üblich. Dieser Berufsstand war aus dem der Bader und Barbiere hervorgegangen. Sie begannen ihre berufliche Laufbahn als Lehrlinge bei einem niedergelassenen Meister. Nach der Ausbildung konnten sie bei einem Wundarzt als sogenannte „Subjekte“ arbeiten.
Um selbst Meister zu werden, musste ab dem Ende des 18. Jahrhunderts ein Kurzstudium für die Dauer von zwei Jahren absolviert werden. Unter Maria Theresia wurden im ganzen Herrschaftsgebiet Lehranstalten eingerichtet, an denen dieses niedere medizinisch-chirurgische Studium belegt werden konnte. Das Ziel dieser Maßnahmen war die Verbesserung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Im täglichen Leben war der Bedarf an den äußeren Kuren, die von den Wundärzten auch zu geringeren Tarifen angeboten wurden, wesentlich größer. Neben der Beschränkung auf die Art der Behandlung durften Wundärzte auch nur ein kleines Repertoire von einfachen Medikamenten haben – die simplicissima. Die Herstellung der composita[1] war den Apothekern vorbehalten.
Die Organisation der Wundärzte erfolgte durch die chirurgischen Gremien, die über die Zuteilung der Niederlassungen entschieden und die Einhaltung der gewerblichen Vorschriften überwachten.
Die Arbeit der Wundärzte wurde zusätzlich durch die medizinische Fakultät kontrolliert. Beide Organe hatten die Autorität, bei Verstößen gegen die Regeln Maßnahmen zu ergreifen. Neben Geldstrafen und sonstigen Bußleistungen war auch der Entzug der Praxiserlaubnis möglich.
Medicus curat,
natura sanat.
Der Arzt hilft,
die Natur heilt.
(Hippokrates)
I
gnaz stellte eine hoch konzentrierte Miene zur Schau, doch die Worte des Geistlichen schwappten an seinen Ohren vorbei. Wie an jedem Sonntag saß er in der Karmeliterkirche auf der harten Holzbank in der zweiten Reihe und ließ seinen Gedanken freien Lauf, während Pater Franz eine seiner langatmigen Predigten hielt. Eigentlich hätte Ignaz die Praxis nicht verlassen dürfen. Jede Officin[3] musste rund um die Uhr besetzt sein, damit die Bevölkerung in Notfällen raschen Beistand fand.
„Da haben es die reichen Angeber aus Wien, mit ihren unzähligen Subjekten und Hausknechten schon leichter“, haderte Ignaz mit seinem Schicksal. Solange er aber keinen fertig ausgebildeten Helfer bezahlen konnte, war er an sein Geschäft praktisch angekettet.
Doch der Kirchgang am Sonntag musste sein. Denn wann gab es bessere Möglichkeiten, Kunden anzuwerben, als nach dem Gottesdienst?
Eine besorgte Frage hier, eine fürsorgliche Bemerkung da und schon würde es am kommenden Tag mehr Patienten geben. Und wer verletzte sich schon am Sonntagmorgen? Die größte Gefahr bestand darin, von der Kirchenbank zu fallen, weil man über der Predigt von Hochwürden eingeschlafen war. Aber arbeiten durfte niemand. Es wusste auch jeder aus dem Karmeliterviertel, wo der Wundarzt Ignaz Bassy zu finden war. Von der Großen Gasse[4], wo seine Praxis lag, waren es ja nur zwei Häuserecken bis zur Kirche. Die konnten auch im Notfall überwunden werden.
Seine kurzfristige Abwesenheit war aber nicht seine größte Sorge. Es war das Wetter, das ihm das meiste Kopfzerbrechen bereitete. Das viel zu milde Septemberwetter hatte vielleicht die Weinbauern gefreut, die dadurch auf einen besonders süßen Wein hoffen konnten, oder den Schani vom Café Taroni, der sein Zelt am Graben länger als geplant stehen lassen konnte. Aber ihn brachte es an den Rand des Ruins, denn sein Arbeitsmaterial war zu empfindlich.
Einige Stammkunden hatten ihn schon bedrängt, wann sie wieder mit seiner Hilfe rechnen konnten. Seine treuesten Anhänger bestätigten Ignaz immer wieder, dass er auf der Welt war, um etwas zu bewirken – Wunder zu vollbringen.
Zu seinen Lieblingspatienten zählten Männer mit wohlgefüllter Börse, die sich von Meister Bassy Mittel gegen die schädlichen Folgen ihres ausschweifenden Lebens erhofften.
Es war alles vorbereitet – in seinem Labor, wie er den kleinen Raum hinter seiner Praxis bezeichnete, konnte er jederzeit mit seinem Schaffen beginnen. Seine Frau Christine hatte den Arbeitstisch mehrmals geschrubbt und abgezogen. In langen Prozeduren hatte sie alle Glastiegel und Deckel ausgekocht. Und auch sie warteten auf ihren Einsatz.
Aber selbst mit der ersehnten Kälte dauerte es viele Tage, bis er sein Material so weit verarbeitet hätte, dass es, abgefüllt in die winzigen Tiegel und kleinen Fläschchen, diskret zu seinen Abnehmern gehen könnte. Ja, nur unter allerhöchster Diskretion!
Ignaz wünschte sich nichts sehnlicher als das Ansehen der großen Heilkundigen seiner Zeit. Während die begüterten Bürger bei Matthäus Collin, dem großen Professor der Physiologie[5] oder beim kaiserlichen Hofarzt Leopold Auenbrugger[6] Schlange standen, konnte er seine Dienste nur einem kleinen Kreis von wenigen Eingeweihten anbieten.
Ein zu großer Erfolg hätte nur wieder die Wachhunde von der Alma Mater Rudolphina[7] auf den Plan gerufen.
Bis zu dem Moment, an dem ein Vertreter der medizinischen Fakultät Nachschau gehalten hatte, war Ignaz auf dem Weg zu dem Platz im Olymp gewesen, der ihm zustand. Doch dann hatte sich ein Patient bei der Fakultät über eine Tinktur beschwert, die angeblich mehr geschadet als geholfen hätte.
Der Trank war eigentlich nur eine Mischung aus verschiedenen Teesorten gewesen, aber es hatte den Vorsitzenden der Fakultät genügt, um dem Wundarzt Ignaz Bassy eine sehr hohe Strafe für unerlaubte Innere Curen aufzuerlegen.
Ignaz hatte nicht nur seine ganzen Ersparnisse opfern, sondern auch einen Großteil seines Besitzes zum alten Pfandleiher am Judenplatz bringen müssen. Bis jetzt hatte er noch nicht alles wieder auslösen können.
Dabei hatte er noch Glück gehabt. Es hatte nicht viel gefehlt und die feinen Herren Doktoren hätten ihm die Praxiserlaubnis für immer entzogen.
Das war eine weitere Demütigung nach der schon erlittenen Schmach bei seinen Prüfungen zur Erlangung des Wundarztdiploms gewesen. Ignaz wollte jetzt noch die Galle übergehen, wenn er an die Überheblichkeit des Vorsitzenden dachte.
„Nehme Er sich in Acht, Er denkt und handelt ja wie ein Arzt. Das steht Ihm unter gar keinen Umständen zu. Er soll die Fragen nur wie ein angehender Wundarzt beantworten“. Noch jetzt spukte Ignaz der Tadel des Dekans im Kopf herum. Um ein Haar hatten ihn die Mitglieder des Komitees durchfallen lassen. Nach einer elend langen Prüfungsprozedur hatten sie ihn mit einem sufficenter[8] seiner Wege gehen lassen.
Wie konnte das sein? Ignaz hatte alle Vorlesungen mit Feuereifer besucht und sein Wissen durch stundenlange Lektüre der Fachwerke vervollkommnet. Er hatte mehr gekonnt als jeder Medizinstudent. Nur weil er durch eine Laune des Schicksals in seiner Provinzhauptschule kein Latein gelernt hatte und in die Lehre bei einem alten Wundarzt gegangen war, sollte er weniger verstehen? Er wollte den Menschen doch nur helfen. Schon viele Jahre hatten die genialsten Ideen in ihm geschlummert. Doch jetzt, wo es ihm endlich gelungen war, alle Probleme zu lösen, hatte er kaum Geld für seine Grundstoffe und musste wie ein Verbrecher im Verborgenen arbeiten.
Christine kramte in ihrem Beutel nach einem Taschentuch. Sie stieß an seinen Ellenbogen und holte ihn abrupt von seiner Gedankenreise in das Kirchenschiff zurück. Ignaz schüttelte es unwillkürlich.
Er mochte sie genauso wenig wie am ersten Tag, als sie auf seiner Schwelle gestanden hatte, um sich für die freie Stelle als Hilfskraft zu bewerben.
Doch er hatte einen billigen Helfer gebraucht, der sauber machte und nicht gleich beim ersten Anblick von Blut und gebrochenen Knochen die Nerven verlor. Unter all den Kandidatinnen und einem Kandidaten hatte Christine als einzige einen kühlen Kopf behalten.
Das Geschäft der Wundarzneikunst war die meiste Zeit eine öde Angelegenheit. Besorgte Mütter, die ihre verkrätzten Kinder vorbeibrachten, alte Männer, die einen Aderlass bestellten oder ihr Gedärm mit einem Tabak- oder Kaffeeklistier von der letzten Völlerei erleichtern wollten. Letzteres durfte er aber nur machen, wenn es vorher vom alten Doktor Sedey, der seine Ordination gleich hinter dem Karmeliterkloster in der Tandelmarkt Gasse hatte, per Rezept verordnet worden war.
Wenn nun einmal ein interessanter Fall hereinkam, der chirurgisches Können verlangte, dann war die Behandlung meist mit viel Blut, Geschrei und gelegentlich auch Exkrementen verbunden.
Christine hatte während ihrer Probezeit ohne jede Klage oder Regung Schüsseln voller Blut weggebracht, Erbrochenes vom Boden gewischt, eitrige Bandagen verbrannt und war ihrem Arbeitgeber mehrere Male beim Knocheneinrichten zur Hand gegangen. Mit ihrer Kraft, die sie aufgrund des harten Lebens auf dem Bauernhof ihrer Eltern eher unfreiwillig erlangt hatte, hatte sie auch die am meisten schreienden Patienten problemlos ruhig gehalten, während Ignaz seine Behandlungen durchgeführt hatte.
Christine war schon nach wenigen Monaten nützlicher und geschickter gewesen als jedes Wundarztsubjekt. Obwohl am Anfang nichts für sie gesprochen hatte: Ihre Statur war untersetzt und die schwere Arbeit von Kindertagen an hatte ihre Beine zusätzlich krumm gemacht. Ignaz hatte sie nie nach ihrer zweifellos harten Kindheit in irgendeinem Provinznest jenseits der Enns gefragt. Er ahnte auch so, dass sich Christine manchmal gewünscht hätte, sie wäre in eine andere Familie geboren worden.
Wie durch ein Wunder hatte sie als Kind die Pocken überlebt, doch ihr ganzer Körper war übersät von den kreisrunden Narben. Die Krankheit hatte in ihrem Gesicht besonders schlimm gewütet. Ihre Nase war schief auf die Seite gezogen und ihre Lippen waren teilweise kaum erkennbar.
Die hellblauen Augen hätten das einzige Merkmal sein können, das vielleicht die Bezeichnung ansehnlich verdiente, aber der Iris von Christine fehlte jegliches Lebensfeuer. Ihr Blick war so eiskalt und berechnend, dass sich wahrscheinlich sogar der Teufel gefürchtet hätte.
Zumindest hatten sich ihre anderen Mängel beheben lassen. Vor sieben Jahren hatte Christine die Stelle in einem bedauernswerten Zustand angetreten. Sie war bis auf die Knochen abgemagert gewesen. Die struppigen Haare waren voller Läuse und die Schrunden an ihren Händen waren so tief gewesen, dass es schon beim Hinschauen wehgetan hatte.
Ihr Gestank hatte Ignaz fast veranlasst, sie wieder ihrer Wege zu schicken, doch es gab etwas, was ihn davon zurückgehalten hatte. Auf ihren Schultern saß ein sehr heller Kopf. Das hatte Ignaz schon nach ihren ersten wenigen Sätzen erkannt.
Sie hatte wie die meisten anderen Bauernkinder die Schule nur ein Jahr lang besucht, aber in ihrem Fall hatte es gereicht. Sie konnte lesen und sie merkte sich auch die schwierigsten Namen der simplicissima mit Leichtigkeit. Aber das Allerwichtigste war ihr eiserner Wille gewesen, aus dem Dreck ihrer Vergangenheit herauszukommen. Christine hatte seine Hygienemaßnahmen ohne Murren über sich ergehen lassen und sie hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als ihr Ignaz vier faulige Zähne gerissen hatte.
Von da an war sie wie ein Schatten an seiner Seite gewesen – eine perfekte Assistentin, auf die er sich Tag und Nacht verlassen konnte.
Zu den Öffnungszeiten stand sie im Empfangsraum oder half ihm bei der Arbeit. Wenn er sich in seinem Labor einschloss, dann führte sie ihm den Haushalt und erledigte die Wäsche. Bis zur Hochzeit hatte sie in der Praxis auf einer Matratze geschlafen, die sie jeden Morgen wieder in die Wohnung im ersten Stock hinaufgeschleppt hatte. Sie hatten den Mittagstisch nicht miteinander geteilt und Ignaz hatte ihr jede Woche den üblichen Lohn von ein paar Kreuzern gezahlt.
Alles hatte wunderbar funktioniert, bis das Unglück in der Gestalt des Vertreters von der medizinischen Fakultät in seine Officin gekommen war.
Christine hatte auch in diesen schweren Zeiten an seiner Seite ausgeharrt, obwohl sie daraufhin fast ein Jahr kein Geld erhalten hatte. Am Ende war Ignaz nichts anderes übrig geblieben, als sie um ihre Hand zu bitten, um sich auf diese Weise zu entschulden und sie bei sich zu halten.
Das Leben hatte sich wenig geändert. Außer, dass die Matratze nun in einem Holzgestell neben dem Bett von Ignaz lag. Christine hatte ihren kargen Besitz in dem Nachtkästchen untergebracht.
Im gemeinsamen Schrank brauchte sie auch nur wenig Platz. Sie besaß ein Kleid für den Kirchgang, aber sonst sah sie montags bis samstags gleich aus. Über einem braunen Kittel trug sie stets eine saubere weiße Schürze. Eine schlichte Haube ohne Spitzen saß korrekt auf ihrem strengen Haarknoten. Und ihr Gesicht veränderte nie seinen Ausdruck.
Das war genau der Punkt, den Ignaz an ihr so schätzte und gleichzeitig auch so verabscheute. Seine Patienten, und gelegentlich auch er, mochten die fehlende Mimik als die Maske ihrer Professionalität sehen, wenn sie dem Meister der Wundarzneikunst ohne überflüssige Bewegungen zielsicher das richtige Instrument oder die richtige Bandage reichte.
Doch Ignaz wusste es besser. Christine sah nie anders aus. Selbst wenn er sich die wenigen Male zur Erfüllung seiner ehelichen Pflichten durchringen hatte können, sah sie ihn mit demselben gleichgültigen Blick an, den sie auch jedem Passanten auf der Straße geschenkt hätte.
Mit einem Seufzer dachte Ignaz an die feurige Mizzi, die ihm da schon ganz andere Augenaufschläge geschenkt hatte. Doch er hatte sich schon seit Monaten nicht mehr in seinem Lieblingslokal am Spittel Berg blicken lassen können. Die wohlgeformte Besitzerin mit dem passenden Namen Busen-Caroline war unerbittlich, wenn es um die Begleichung der offenen Beträge für die Dienste ihrer Mädchen ging.
Eine Zeitlang hatte sie ihn mit ärztlichen Ratschlägen und Diagnosen davonkommen lassen, aber seit sich eines der Mädchen bei ihr beschwert hatte, dass die Behandlungen nichts gewirkt hätten, war Ignaz nur mehr als Barzahler willkommen gewesen. Und Geld, das liebe Geld, hatte er nun nicht mehr.
Die Messe war endlich zu Ende. Christine unterhielt sich am Vorplatz mit einer matronenhaften Frau. Ignaz ließ sich von den Ankündigungen des Hetztheaters ablenken. Das Plakat über die Vorstellung am Nachmittag hing genau gegenüber der Kirche und zog alle Blicke auf sich.
Hatte sich Pater Franz nicht gerade über die grauenvolle Darbietung ereifert? Es schien niemanden wirklich zu interessieren.
Ignaz würde eine weitere Ausnahme von seiner Anwesenheitspflicht machen und auch hingehen. Nach einem, wahrscheinlich kargen Mittagsmahl würde er sich umziehen und zu Fuß auf den Weg zum Areal unter den Weißgerbern machen. Er würde bis zur Schlagbrücke gehen müssen, um die Donau zu überqueren, und dann wäre es noch ein langer Marsch bis zu der großen Attraktion.
Ignaz mochte die Darbietungen. Sein Geschäft waren gebrochene Knochen und viel Blut. Von Hetzmeister Johannes Beck war es das auch. Außer, dass dieser mit Vierbeinern zu tun hatte und dass die meisten von ihnen die kreisrunde Arena nicht mehr lebend verließen. Für Bassys Patienten galt das Gott sei Dank nicht.
Ignaz würde Herrn Beck kurz vor der großen Hetz treffen, um mit ihm die Lieferung seines lang erwarteten Materials zu vereinbaren. Der Hetzmeister war mit seinen Verbindungen ins Ausland der ideale Mann. Regelmäßig nahm er die Lieferungen aus Afrika oder Asien – Bären, Löwen, Tiger und andere exotische Tiere – entgegen.
Endlich war es so weit! Ignaz fand, dass sein Langmut schon über Gebühr beansprucht worden war.
„Gehen wir, Meister Bassy.“ Christine berührte ihn am Arm. Nur mühsam riss sich Ignaz von der marktschreierischen Ankündigung los und es gelang ihm eine ehrerbietige Verbeugung in die Richtung der Matrone. Seine Frau bemerkte, was Ignaz abgelenkt hatte. Sie zog ihren Umhang wegen der kühlen Morgenluft enger und fragte: „Wird die Lieferung für heute Nacht arrangiert?“
Ignaz biss sich auf die Lippen und überlegte kurz. „Kommen morgen viele Patienten?“
Christine warf einen Blick auf die Schar der Gläubigen, die sich zu verlaufen begann. Sie schüttelte langsam den Kopf.
„Die meisten Pfarrmitglieder waren da. Es dürfte keiner leidend sein und ich habe auch keine speziellen Klagen gehört. Es wird wahrscheinlich ein ruhiger Montag.“
Ignaz steckte seine vor Aufregung zitternden Hände in die tiefen Rocktaschen. „Das Wetter ist uns endlich gewogen. Ich werde mit Meister Beck vereinbaren, dass es heute Nacht gut passt.“
S
chon von Weitem konnte Ignaz den Jubel der Menge und die laute Musik hören. Der Gründer der animalischen Spektakel, Carl Defraine, hatte gefunden, dass türkische Musik seine Darbietungen am besten untermalte, und so schmetterte das Blasorchester seit fast drei Jahrzehnten die fremdartig klingenden Töne in die Arena.
Ignaz war spät dran, denn er war noch nie zu Fuß zum Hetztheater gegangen. Das letzte Mal hatte er sich eine Fahrt mit der Droschke leisten können. Sein einziges Paar gute Schuhe war nicht für lange Märsche geeignet und Ignaz stieß erneut wilde Flüche gegen sein Lieblingshassobjekt aus: die medizinische Fakultät.
„Was kostet ein Platz in der Galerie im zweiten Stock?“ Ignaz war endlich mit dem Kauf der Eintrittskarte dran und musste sich um eine günstige Möglichkeit bemühen. Bisher hatte er sich immer einen Platz im ersten Stock gesichert, aber nun hatte er den nötigen Gulden dafür nicht mehr.
„Zwanzig Kreuzer, für vierzig können Sie in der ersten Galerie links sitzen“, gab der Billeteur hochnäsig zurück. Wirklich freundlich war er nur zu den hohen Herrschaften, die sich eine Loge für zwei Personen um einen Dukaten leisten konnten. Ignaz kramte in seiner Rocktasche – dreißig Kreuzer. Verdammt!
„Bitte ein Ticket für den zweiten Stock.“ Er wagte einen Vorstoß. „Ich bin mit Herrn Beck verabredet. Wo kann ich ihn finden?“
Der Angestellte schaute auf und taxierte den mittellosen Besucher. „Erst nach der Vorstellung wieder. Es hat im Zwinger einen Vorfall gegeben, um den sich der Meister dringend kümmern muss.“
Für den Billeteur war die Sache damit erledigt. Er sah die nächsten Besucher auffordernd an und ignorierte den Wenigzahler.
„Bitte, ich muss ihn jetzt sehen.“ Ignaz legte seine ganze Überzeugungskraft in seine Stimme.
„He, wir wollen auch noch gute Plätze!“ Ein empörter Ruf aus der langen Schlange vor dem Theater entlockte dem Kartenverkäufer ein missbilligendes Zungenschnalzen. „Mach, dass Er fortkommt, bevor hier noch eine Schlägerei losgeht.“
Ignaz hatte keine Möglichkeit mehr zu protestieren, denn die anderen Besucher schoben ihn mit ihren schwitzenden Leibern zum Eingang und drängten zu einer der Holztreppen.
Er wäre gerne ausgewichen, um einen anderen Arbeiter anzusprechen. Er musste Herrn Beck doch dringend sehen! Aber trotz des beachtlichen Geräuschpegels um ihn herum war der Aufruhr aus dem Zwinger unter dem Theater zu hören. Das wütende Gebell der Hetzhunde übertönte für einen Augenblick sogar die Fanfarenstöße des Blasorchesters, die den baldigen Beginn des Spektakels ankündigten.
Unter den Besuchern, größtenteils junge Burschen, die noch bis in den dritten Stock kommen wollten, wo die Karten auch schon um zehn Kreuzer zu bekommen waren, brach Hektik aus.
„Gehen S‘ endlich!“, herrschte ein Handwerker das Hindernis vor sich unfreundlich an.
„Weiter da!“ Die Rufe waren von unverhohlener Aggressivität begleitet.
Ignaz hatte schon so viele gebrochene Arme und Beine eingerichtet, dass er diese Erfahrung für seine Person lieber auslassen wollte. Er fügte sich in den Menschenstrom ein und suchte sich in der Galerie einen Platz in der zweiten Reihe. Sollten sich doch die jungen Hitzköpfe an der Bande zerquetschen lassen.
Ignaz spähte in die Arena hinunter. Das Bassin in der Mitte war noch zugedeckt. Die Bretter würden erst am Ende der Hetz weggezogen werden. Die überlebenden Tiere wurden zum Gaudium der Zuschauer nach den Kämpfen gebadet.
Der Anblick der schäumenden, blutigen Brühe befriedigte damit wohl auch diejenigen, die nach noch mehr Sensationen hungerten.
An den beiden Steigbäumen, die über das Theater hinaus in den Himmel reichten, hingen schon zahlreiche Beutestücke, mit denen der Bär, der Löwe und der Tiger von den Hetzknechten gereizt werden sollten.
„Hoffentlich haben’s endlich einen neuen Tiger!“
Der Mann neben Ignaz brüllte seinen Begleiter über den Lärm hinweg an.
„Ja, der alte Magnus hat sich am letzten Wochenende kaum noch bewegt. Die ganze Zeit ist er mit dem Rücken zur Bande gelegen. Nur die allerschärfsten Hunde haben ihn endlich aus der Reserve gelockt.“
„Man will ja schließlich was sehen für sein Geld.“
Das Gespräch wurde durch den Auftritt des Hetzmeisters unterbrochen. Mit lauter Stimme und reißerischen Worten kündigte Johannes Beck die bevorstehenden Unterhaltungen an. „… von den saftigsten Weiden der pannonischen Ebene …“
Ignaz hörte kaum zu, wie Meister Beck den riesigen ungarischen Stier ankündigte, mit dem die Hetz traditionell eröffnet wurde. Seine Aufmerksamkeit war von einem Beutestück gefesselt, das einer der Hetzknechte gerade mitnahm, während er auf den Steigbaum kletterte, der näher bei seinem Platz stand. Das Stück war nicht so sauber zugeschnitten wie die anderen Lockmittel, die schon auf den langen Holzhaken hingen. Es sah aus wie ein überlanger Arm und es waren auch noch einige Fetzen Fell zu sehen. War das etwa ein Körperteil eines Tieres aus der Familie der Hominidae[10]?
Hetztheater in Erdberg
Ausschnitt aus einem Gemälde von A. Stutzinger
Ignaz wäre nach der Vorführung nicht in der Lage gewesen, Details aus dem eben Gesehenen zu nennen. Er hatte nach seiner Entdeckung die Szenerie kaum mehr mitverfolgt. Der Knoten in seiner Magengrube hatte immer größere Ausmaße angenommen und nun stand er im Zwinger vor den traurigen Resten seiner Bestellung.
Der Hetzmeister schälte sich aus seiner blutigen Uniform und ließ sich ein Handtuch reichen, während er mit Ignaz redete: „Es tut mir leid, Herr Doktor. Er ist mit mehreren Hunden aneinandergeraten.“ Johannes Beck zeigte mit dem Kinn auf den Torso. „Können Sie davon noch etwas brauchen?“
Ignaz warf einen entsetzten Blick auf die offene Bauchhöhle des Schimpansen – er konnte nicht mehr ein heiles Organ erkennen. Außerdem war das Tier nun schon mehrere Stunden tot. Ohne Konservierungsmaßnahmen und in der animalischen Wärme, die hier unter dem Hetztheater herrschte, war das Material bestenfalls als Hundefutter zu gebrauchen.
Wie betäubt schüttelte Ignaz den Kopf. Auf seine Frage nach einem neuen Affen schüttelte Hetzmeister Beck ebenfalls den Kopf. „Nein, vor dem Winter bekomme ich keine Lieferung mehr. Wir hatten heute den letzten Hetztag vor der Winterpause und wir schauen immer, dass wir möglichst wenige Tiere durchfüttern müssen.“
Er hob entschuldigend die Schultern. „Im März kann ich dann gerne wieder etwas für Sie besorgen.“
Das Glöckchen über dem Türeingang der Wundarztpraxis bimmelte leise. Ignaz Bassy hob kurz den Kopf. Er hörte, dass Christine den Ankommenden begrüßte. Gespannt hoffte Ignaz, dass die Situation im Vorderraum ein Geschäft zu werden versprach, als er die Stimme des Kaffeelieferanten erkannte. Nein, keine weiteren Münzen für ihn, sondern das Gegenteil. Er hätte endlich seine ausstehenden Beträge beim Generalimporteur für Kaffee, Egmont Lafarche, bezahlen müssen. Christine konnte den Vertreter vielleicht noch ein weiteres Mal vertrösten.
Sein Blick wanderte zu seinen Holzschränken, in denen die Keramikbehälter und die Glasflaschen, die seinen Vorrat an Ingredienzien enthielten, sorgfältig nach Alphabet sortiert aufgestellt waren. Wie viel davon war im März noch brauchbar? Ratlos glitten seine Augen über die leeren Gläser, die in einem anderen Regal aufbewahrt wurden.
Ignaz erhob sich mit einem Seufzer und öffnete den Deckel von einem seiner Besteckkoffer. Der Samt der Innenverkleidung hatte noch dasselbe satte Dunkelrot wie am ersten Tag. In den eigens angepassten Ausbuchtungen warteten die Instrumente auf ihren Gebrauch. Das feine Metall der Messer und Lanzetten glänzte im Licht der Sonnenstrahlen, die durch die Fenster in der Dachschräge hereinfielen.
Der Instrumentenmacher hatte wieder ein mittleres Vermögen für die Wartung der chirurgischen Bestecke in Rechnung gestellt, aber Ignaz hatte nun einmal seine Prinzipien. Er wollte nicht riskieren, dass sein großes Werk durch rostige Messer in Gefahr war.
Zögerlich schloss er den Koffer und wandte sich zum Arbeitstisch. Dort hätte er während der letzten Nächte arbeiten sollen, um zu diesem Zeitpunkt die ersten Früchte seines Schaffens zu sehen.