ISBN: 978-3-95428-602-7
1. Auflage 2015
© 2015 Wellhöfer Verlag, Mannheim
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www.wellhoefer-verlag.de
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.
Ein herzliches Dankeschön gebührt Prof. Dr. Wolfgang G. Bessler vom Institut für Molekulare Medizin und Zellforschung, AG Tumorimmunologie/Vakzine der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, der den Anstoß für diesen Roman gegeben und die notwendigen wissenschaftlichen Hintergrundinformationen geliefert hat.
Für Christian & Laura-Louisa
Ein leiser Duft von Zimt und Rotwein stieg Steffen Lackner in die Nase, als die Tür geöffnet wurde und das Paar sein Juweliergeschäft betrat. Schon gut drei Wochen dauerte der Weihnachtsmarkt, auf dem sich täglich die Besucher drängten, um Christbaumkugeln und Bienenwachskerzen, gebrannte Mandeln und Glühwein, Kuckucksuhren, Hüttenschuhe oder geschnitzte Holzfiguren zu kaufen. Wann immer Lackner aus dem Schaufenster seines Juweliergeschäftes sah, entdeckte er rote Nasen vor den Verkaufsständen, die manchmal von der Kälte, oft aber auch vom heißen Alkohol herrührten. Lackner führte das Geschäft mit seiner Frau Cornelia und seinem jüngeren Bruder Torsten. Er war, ebenso wie Bruder und Vater, Goldschmied von Beruf und die Söhne hatten, als der Vater zum Innungsmeister berufen worden war, das Geschäft übernommen.
„Schönen guten Tag“, begrüßte Lackner die Eintretenden mit einem verbindlichen Lächeln, „was kann ich für Sie tun?“
„Guten Tag“, erwiderte der Mann, den Lackner auf Anfang dreißig schätzte, „wir haben die Auslagen im Schaufenster gesehen und wollten uns mal umschauen.“
Lackner nickte und war sofort von der Begleiterin des Mannes hingerissen. Sie war einen Kopf kleiner als er, hatte lange, glatte, tiefschwarze Haare und wundervolle, dunkelbraune Mandelaugen. Offensichtlich stammte sie aus Ostasien, möglicherweise aus Thailand, und sie bedachte den Goldschmied mit einem zurückhaltenden, aber überaus sympathischen Lächeln.
„Sie haben so schöne Anhänger im Schaufenster“, schwärmte die Asiatin, „die sind doch echt, oder?“
„Natürlich“, antwortete Lackner, „wir verkaufen ausschließlich echten Schmuck. Haben Sie etwas entdeckt, das Ihnen besonders gefällt?“
„Ja, die Anhänger mit den Steinen“, erwiderte sie und trat näher an den Verkaufstresen heran.
Lackner bemerkte, dass sie ein wenig hinkte und den rechten Fuß beim Gehen nicht zu fest belasten zu wollen schien.
„Sie meinen vermutlich die Opale“, erriet er, „das sind sozusagen unsere Haussteine, die wir bevorzugt verarbeiten. Jedes Stück ist ein Unikat.“
Er wandte sich um, ging zum Tresor und entnahm drei Präsentationsladen.
„Sehen Sie hier“, forderte er die Kundin auf und legte die erste Lade auf den Tresen.
Die Asiatin trat einen weiteren, vorsichtigen Schritt vor und beugte sich leicht nach vorn, um das Schmuckstück einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Es war ein wundervoll gearbeiteter, aus Gold, Silber und Platin gefertigter Anhänger mit einem bunt funkelnden Opal an einer dreireihigen Goldkette.
„Oh, der ist wirklich hübsch“, lobte sie anerkennend.
Lackner legte die beiden anderen Schmuckladen daneben. Die Anhänger waren von ähnlicher Machart, unterschieden sich aber geringfügig in Größe und Design. Dennoch war auf den ersten Blick zu erkennen, dass sie vom gleichen Künstler stammten. Bevor der Goldschmied etwas zu den Schmuckstücken sagen konnte, wurde er von einem gedämpften Knall abgelenkt. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass jemand ein Mountainbike unsanft gegen das Schaufenster gelehnt hatte. Die Scheibe bestand zwar aus Sicherheitsglas, aber der Goldschmied mochte es dennoch nicht, wenn man Fahrräder dagegen lehnte. Dass dieser Jemand einen Integralhelm trug, wie man ihn sonst nur bei Motorradfahren sah, war ziemlich ungewöhnlich.
Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Die Person, die mit zwei schnellen Schritten in den Laden trat, trug Jeans, eine Lederjacke und Lederhandschuhe. Das geschlossene, dunkel getönte Visier des Motorradhelms erlaubte keinen Blick auf das Gesicht und die Stimme klang gedämpft.
„Überfall! Keine Bewegung!“
Aus der rechten Außentasche ihrer Lederjacke zog die Person einen Trommelrevolver mit kurzem Lauf und richtete ihn auf Lackner. Der Goldschmied trat unwillkürlich einen Schritt zurück, während seine Augen das glänzende Metall der Waffe fixierten. Die Mündung zeigte direkt auf seine Brust. Sein Mund wurde trocken und sein Herzschlag beschleunigte sich. Für Juwelierläden bestand grundsätzlich ein hohes Risiko und seit über zwanzig Jahren rechnete er mit der Möglichkeit überfallen zu werden. Der Anblick des Revolvers versetzte ihm dennoch einen Schock und er spürte, wie seine Knie weich wurden.
„Du da! Rüber!“
Mit einer knappen Bewegung des Revolvers forderte die Person den Kunden auf, sich links neben Lackner zu stellen. Aus den schmalen Händen, den schlanken Beinen und vor allem aus den geschwungenen Hüften, die durch die eng sitzenden Jeans betont wurden, schloss Lackner, dass es sich um eine Frau handeln musste, die gerade sein Geschäft überfiel. Ihre Stimme wurde durch das geschlossene Visier des Helms gedämpft und verfälscht. Eine spätere Identifizierung würde damit erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht werden.
„Und du auf die andere Seite!“
Die Kundin, deren Gesicht aschfahl geworden war, hielt sich am Verkaufstresen fest, während sie der Aufforderung vorsichtig hinkend Folge leistete. Lackner, der nun von den beiden Kunden flankiert wurde, stand noch immer reglos hinter seinem Tresen. Er spürte, dass sein Herz raste und seine Atmung sich beschleunigt hatte. Sein Mund war staubtrocken und er schluckte schwer. Die Räuberin zog mit der freien Hand eine weiße, unbeschriftete Einkaufstüte aus ihrer Jacke und warf sie auf den Tresen.
„Da rein!“, forderte sie den Goldschmied auf und deutete mit dem Revolver auf die drei Anhänger.
Mit zitternden Fingern nahm Lackner die Tüte. Er atmete einmal tief durch und zwang sich selbst zur Ruhe, während sein Puls in den Schläfen hämmerte und das Blut in den Ohren rauschte. Es war am besten, keinen Widerstand zu leisten. Wenn die Täterin bekam, was sie wollte, würde sie vermutlich so schnell wie möglich das Weite suchen, ohne dass jemand zu Schaden kam. Der Schmuck war versichert und auch wenn es sich um Unikate handelte, waren sie dennoch nicht unersetzlich. Lackner öffnete die Tüte und verstaute die drei Ketten mit den Anhängern vorsichtig in ihrem Innern.
Die Räuberin trat einen schnellen Schritt vor und riss Lackner die Tüte aus der Hand. Der Goldschmied wich unwillkürlich vor ihr zurück. Es war irritierend, ihr Gesicht hinter dem getönten Visier nicht sehen zu können. Ohne ihre Mimik zu erkennen konnte Lackner die Täterin nicht einschätzen und wusste nicht, ob sie nervös war und zu einer unbedachten Reaktion neigte. Sie stand einen halben Schritt vom Tresen entfernt und richtete ihre Waffe auf den Kunden, der neben dem Goldschmied stand. Der Mann hatte seine Hände erhoben und sah in die Mündung des Revolvers, der auf seine Brust zielte. Die Räuberin schwenkte ihre Waffe langsam nach links, zielte auf Lackner, schwenkte die Hand weiter und richtete den Revolver schließlich auf die Kundin. Einen qualvoll langen Augenblick geschah nichts, dann blitzte ein Mündungsfeuer auf und der ohrenbetäubende Knall eines Schusses zerriss die Stille im Raum.
*
„Vierundzwanzig fünfzig“, sagte die Apothekenhelferin.
„Wie?“, fragte die alte Dame.
„Vierundzwanzig Euro und fünfzig Cent“, wiederholte die junge Frau hinter dem Tresen.
„Aber ich habe doch ein Rezept“, erklärte die alte Dame.
„Ja, schon“, erwiderte die Apothekenhelferin, „aber das ist Ihre Zuzahlung.“
Die alte Dame kramte ihren Geldbeutel aus der Handtasche, öffnete ihn mit unsicheren Bewegungen, zog zwei Zehneuroscheine heraus und zählte das Kleingeld ab.
„Früher hat das nichts gekostet“, murrte sie.
„Vierundzwanzig zwanzig“, summierte die Apothekenhelferin, „es fehlen noch dreißig Cent.“
Die alte Dame sah in ihren leeren Geldbeutel.
„Mehr habe ich nicht“, erwiderte sie.
„Haben Sie eine EC-Karte?“
„Wie?“
„Eine EC-Karte oder eine Kreditkarte.“
Die kleine, alte Dame antwortete nicht. Sie maß kaum einen Meter fünfzig und ein modriger Geruch ging von ihr aus. Vermutlich hatte sie ihre Kleidung seit Tagen nicht mehr gewechselt. Ihre Haare steckten unter einem Kopftuch und ihr abgetragener Mantel war ebenso alt wie ihre ausgetretenen Schuhe mit den schiefen Absätzen.
„Am besten gehen Sie zur Bank und kommen später noch einmal wieder“, schlug die Apothekenhelferin vor.
„Kann ich die Sachen nicht mitnehmen?“, fragte die alte Dame.
„Nein, es fehlen noch dreißig Cent. Sie müssen wiederkommen, wenn Sie genug Geld dabei haben.“
Bussard trat einen Schritt vor und blickte von der Seite in das runzlige Gesicht mit den hellen, wässrigen Augen, die hinter einer alten Brille unsicher zwischen den Medikamenten, dem Geld auf dem Tresen und der Apothekenhelferin hin und her sahen. Er zog seinen Geldbeutel aus der Hosentasche, zählte dreißig Cent ab und legte sie zu dem anderen Kleingeld.
„Vierundzwanzig fünfzig“, erklärte er, „jetzt können Sie Ihre Sachen mitnehmen.“
Die alte Dame sah ihn verständnislos an.
„Früher hat das nichts gekostet“, sagte sie noch einmal.
Bussard wollte eine Bemerkung über die neueste Gesundheitsreform machen. Wie bei jeder vorangegangenen Reform wurden die Bürger weiter entlastet und immer hatten sie anschließend ein wenig mehr zu zahlen.
„Stecken Sie Ihren Geldbeutel ein“, sagte er stattdessen und lächelte die alte Dame aufmunternd an.
„Reicht das jetzt?“, fragte sie.
„Ja“, bestätigte er, während die Apothekenhelferin das Geld in der Kasse verstaute.
Die kleine, alte Dame steckte ihren Geldbeutel in die Handtasche. Sie nahm die Plastiktüte mit den Medikamenten vom Tresen und sah Bussard an. Aus ihrer Manteltasche fischte sie ein Bonbon, begutachtete es einen Augenblick und reichte es Bussard. Als er es nahm, hielt sie seine Hand einen Moment fest. Sie sagte nichts und lächelte nicht einmal, doch er verstand den stummen Dank.
„Auf Wiedersehen“, sagte er zu ihr, „und schöne Feiertage.“
Sie nickte, drehte sich um und schlurfte auf den Ausgang zu.
„Wenn sie nicht genug Geld dabei hat, kann ich ihr die Medikamente nicht geben“, erklärte die Apothekenhelferin entschuldigend.
Bussard sah die junge Frau an. Sie war Anfang zwanzig, hatte seidige, braune, schulterlange Haare und grünbraune Augen. Ihr Gesicht mit den gezupften Augenbrauen war perfekt geschminkt und um den Hals trug sie eine dünne Goldkette mit einem kleinen, funkelnden Stein.
„Wahrscheinlich hat sie nicht genug Geld“, antwortete er.
Die junge Frau zeigte keine Regung. Auch wenn es ihm missfiel, dass sie die alte Dame wegen dreißig Cent wieder nach Hause hatte schicken wollen, musste er akzeptieren, dass sie sich korrekt verhalten hatte. Sie war eine Angestellte und am Ende des Tages musste die Kasse stimmen. Einen Fehlbetrag würde ihr Chef vermutlich von ihrem Gehalt abziehen. Dass sie jedoch nicht bereit gewesen war, für dreißig Cent Menschlichkeit mit in die Tüte zu packen, ließ ihn für einen Augenblick seine juckenden Zehen vergessen.
„Bitte?“, fragte sie und unterbrach seine Überlegungen.
„Ich brauche etwas gegen Fußpilz“, erwiderte er.
Sie nickte ihm zu, drehte sich um und ging zu einem Wandregal, aus dem sie zwei kleine Schachteln nahm, die sie vor Bussard auf den Tresen legte. Nachdem sie ihm die Unterschiede in der Anwendung erklärte hatte, entschied er sich für das günstigere Präparat. Er bezahlte sechs Euro neunzig, steckte die Schachtel ein, verabschiedete sich und verließ die Apotheke.
In einiger Entfernung sah er die alte Dame, die langsam den Bürgersteig entlangschlurfte. Dreißig Cent, dachte er kopfschüttelnd. Einen Augenblick später läutete sein Handy.
*
Der dichte Freitagnachmittagsverkehr und eine Baustelle am Siegesdenkmal, einem der wichtigsten Knotenpunkte des Freiburger Straßennetzes, sorgten dafür, dass Kriminalhauptkommissar Steffen Bussard mehr als fünfzehn Minuten benötigte, um den Tatort zu erreichen. Der kleine Juwelierladen, der den Namen Lackners Goldschmiede trug, lag in der Freiburger Innenstadt am Kartoffelmarkt, wo früher die Bauern aus der Umgebung ihr Gemüse verkauft hatten. Später, als der Gemüsemarkt zum Münsterplatz umgezogen war, hatten fliegende Händler ihre Stände aufgeschlagen, um Stoffe, Kleidung, Skulpturen, Haschpfeifen und billigen Schmuck aus Indien zu verkaufen. Auch die Hippies mit ihren demontierbaren Holzständen hatten den Kartoffelmarkt verlassen und zum Schwarzen Kloster umziehen müssen, wo sie seither ihre Waren feil boten, denn der alljährliche Weihnachtsmarkt, der früher nur auf dem Rathausplatz beheimatet gewesen war, hatte sich im Lauf der Jahre immer weiter ausgedehnt und war über den Unterlindenplatz bis zum Kartoffelmarkt vorgedrungen.
Zwei Einsatzfahrzeuge der Kollegen und ein Rettungswagen des Roten Kreuzes standen mit eingeschalteten Blaulichtern neben den Weihnachtsständen. Rings um den Eingang des Juweliergeschäftes hatte man eine Absperrung errichtet, hinter der sich die Schaulustigen versammelten. Bussard drängte sich durch die Menge, begrüßten die Kollegen und betrat den kleinen Laden. Die Verkaufsfläche betrug kaum mehr als vier mal vier Meter und die Beamten der Spurensicherung standen sich gegenseitig auf den Füßen. Ein Durchgang zu einer winzigen Werkstatt erlaubte einen Blick auf den offenen Tresor, neben dem der Geschäftsinhaber zusammengesunken auf einem Stuhl saß, während Kriminalhauptkommissarin Sylvia Harter beruhigend auf ihn einsprach.
„Hallo, Sylvia“, begrüßte der Kommissar seine Kollegin.
„Hallo, Bussard“, erwiderte sie.
Er ließ seinen Blick einmal durch den Laden schweifen. Dem ersten Anschein nach war es ein kleines Juweliergeschäft für den nicht allzu großen Geldbeutel. In den Vitrinen waren nur wenige Schmuckstücke ausgestellt, deren Preise meist im dreistelligen, selten im vierstelligen Bereich lagen. Teurere Exemplare, deren Preis zehntausend Euro überstieg oder Schmuckstücke mit großen, auffälligen Steinen gab es nicht. Bussard trat einen Schritt zur Seite und entdeckte die Leiche, die zuvor seinem Blick verborgen gewesen war, hinter dem Verkaufstresen. Da sich weder Sanitäter noch Notarzt um die am Boden liegende Frau bemühten, bestand kein Zweifel daran, dass sie nicht mehr lebte.
„Wer ist die Tote?“, fragte er.
Sylvia nahm ihren Notizblock zur Hand und las den Namen ab.
„Sie heißt Bian Bleyle und wurde während des Überfalls getötet, ein Schuss, direkt ins Herz. Der Notarzt sagt, sie hätte keine Chance gehabt. Sie war sofort tot.“
„Ist sie eine Angestellte?“, fragte er.
„Nein“, antwortete sie, „eine Kundin. Sie war zusammen mit ihrem Mann Martin Bleyle im Laden, um Schmuck zu kaufen. Er hat einen Schock und wird draußen in der Ambulanz behandelt.“
Bussard zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. Die Stelle, an der die getötete Kundin lag, war ungewöhnlich.
„Wieso liegt sie hinter dem Tresen und nicht davor?“, fragte er.
„Hier“, antwortete Sylvia und deutete mit einem Kopfnicken auf etwas, das er nicht sehen konnte, „du kannst es dir direkt anschauen.“
Bussard ging am Verkaufstresen vorbei und entdeckte eine Überwachungskamera, die auf dem Tresor stand. Neben dem kleinen Goldschmiedetisch in der Werkstatt lag ein Notebook auf einem Beistelltisch. Der Monitor zeigte das Bild des Verkaufsraums.
„Das ist Herr Lackner, der Inhaber“, erklärte Sylvia und wandte sich an den Goldschmied, „können Sie die Aufnahme noch einmal laufen lassen?“
Lackner nickte und klickte auf PLAY.
„Die Kamera ist immer in Betrieb“, erklärte der Goldschmied, der bleich und mit hängenden Schultern auf seinem Stuhl saß, „die Daten werden automatisch an einen Server übermittelt, falls ein Einbrecher das Notebook klaut.“
Die beiden Kommissare beobachteten auf dem Monitor, wie die Eingangstür geöffnet wurde und das Ehepaar den Laden betrat. Die Frau hinkte ein wenig, während sie auf den Verkaufstresen zuging, hinter dem Lackner stand.
„Gibt es keinen Ton?“, fragte Bussard.
„Nein, die Kamera hat kein Mikrofon“, erwiderte der Goldschmied.
Der Monitor zeigte Lackner, der sich umwandte und etwas aus dem Tresor nahm, das er auf den Verkaufstresen legte.
„Ist der Tresor immer offen?“, fragte der Kommissar.
„Solange ich im Laden bin, schon“, antwortete Lackner, „es wäre zu aufwendig, ihn jedes Mal zu öffnen. Abends, bevor ich gehe, schließe ich ihn dann ab.“
Die Szene auf dem Notebook lief weiter und die Kommissare beobachteten, dass der Goldschmied plötzlich den Kopf in Richtung Schaufenster gewendet hatte. Einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet und eine Person, die einen Motorradhelm mit geschlossenem Visier trug, betrat den Laden. Sie nahm einen Revolver aus der Außentasche ihrer Lederjacke und richtete ihn auf Lackner.
„Das ist eine Frau“, folgerte Bussard beim Anblick des schlanken, fast zierlichen Täters.
„Ja“, bestätigte Lacker, während auf dem Monitor die Personen die Plätze wechselten, „das glaube ich auch. Die Stimme war undeutlich, aber von der Figur her schätze ich schon, dass es eine Frau war.“
Sie verfolgten auf dem Notebook, wie Lackner drei Ketten mit Anhängern in einer weißen Plastiktüte verstaute und die Räuberin dem Goldschmied die Tüte aus der Hand riss. Mit ihrem Revolver zielte sie zuerst auf den Kunden, dann auf Lackner und schließlich auf die Kundin. Plötzlich blitzte ein Mündungsfeuer auf und die Kundin, die am Bildrand gerade noch zu erkennen war, stürzte zu Boden.
„Warum hat sie geschossen?“, fragte Bussard überrascht.
Lackner zuckte mit den Achseln und schüttelte stumm den Kopf, während sich auf dem Monitor die Täterin umwandte und eilig den Laden verließ. Er klickte auf STOP und das Bild blieb stehen.
„Hat Frau Bleyle etwas zu der Täterin gesagt?“, fragte Sylvia.
„Nein“, antwortete Lackner und schüttelte erneut den Kopf, „weder sie, noch er, noch ich. Wir standen einfach nur da. Es gab überhaupt keinen Grund.“
Er schloss die Augen und atmete hörbar ein und aus. Auch wenn er gefasst wirkte und die Fragen präzise beantwortete, konnte man den Schock und das Entsetzen über den Raubmord in seinem Gesicht sehen.
„Was hat die Täterin erbeutet?“, fragte Bussard.
„Nur die drei Ketten mit den Anhängern“, erklärte Lackner, „die Anhänger bestehen aus Gold, Silber und Platin und sind mit Opalen besetzt.“
„Welchen Wert haben die Schmuckstücke?“
„Ein Anhänger 4.800, einer 2.800 und einer 3.300 Euro.“
„Rund zehntausend Euro“, summierte Sylvia und Lackner nickte bestätigend.
Der Kommissar wandte sich um und warf einen Blick in den offenen Tresor. Unzählige Präsentationsladen waren wie Schachteln übereinandergestapelt. Er nahm eine Lade heraus und betrachtete eine Kette mit einem Anhänger.
„So ähnlich haben die anderen auch ausgesehen“, erklärte Lackner, „sie sind aus einer Serie, aber es sind alles Unikate.“
„Die Täterin hat sich nicht für den Inhalt des Tresors interessiert?“, fragte Bussard und der Goldschmied schüttelte verneinend den Kopf.
„Wir brauchen das Notebook mit der Aufnahme“, forderte Sylvia.
„Ich brauche mein Notebook hier im Laden, aber ich kann Ihnen die Aufnahme auf DVD brennen“, bot Lackner an.
„Okay“, stimmte sie zu, „geben Sie die Kopie unseren Kollegen von der Kriminaltechnik.“
Bussard wandte sich um und ging zum Verkaufstresen.
„Entschuldige, Bertold“, sagte er zu einem Kollegen der Spurensicherung, der einen Schritt zur Seite trat, „ich will nur einen Blick auf die Leiche werfen.“
Er bückte sich und betrachtete die Tote. Ihr Körper lag auf dem Rücken. In der Höhe der Brust war die Jacke verfärbt und wies ein deutliches Einschussloch auf. Die rechte Handfläche und die Finger der Toten waren blutig. Vermutlich hatte sie die Hand auf ihr Herz gepresst, während sie gestorben war. Eine einzelne, schwarze Haarsträhne hing in das Gesicht mit den schönen, asiatischen Zügen. Die Augen waren geschlossen und der Mund leicht geöffnet. Sie sah aus, als würde sie schlafen.
„Ich werde mit dem Ehemann sprechen“, erklärte er, während er sich wieder erhob.
Bussard ging an seinem Kollegen vorbei und durchquerte den Verkaufsraum.
„Sylvia“, rief er, bevor er die Tür öffnete.
„Ja?“, antwortete sie.
„Wie ist die Täterin geflüchtet?“
„Mit einem Mountainbike.“
Bussard nickte und verließ den Laden. In der Gasse, die zum Unterlindenplatz führte, stand der Rettungswagen mit geöffneten Hecktüren. Ein Mann, den Bussard auf Anfang bis Mitte dreißig schätzte, saß, in eine graue Decke gehüllt, zusammengesunken auf einem Sitz und starrte zu Boden, während ein Sanitäter ihn abwartend beobachtete. Der Mann hielt seinen Oberkörper mit den Armen umfasst. Sein Gesicht zeigte deutliche Blutspuren. Wahrscheinlich hatte der Mann seine sterbende Frau angefasst und sich später ohne es zu bemerken das eigene Gesicht beschmiert.
„Herr Bleyle?“, fragte der Kommissar.
Der Mann wandte den Kopf und sah ihn an, antwortete aber nicht.
„Ich bin Kriminalhauptkommissar Bussard“, stellte er sich vor, „können Sie mir ein paar Fragen beantworten?“
„Der Notarzt hat ihm ein Beruhigungsmittel verabreicht“, erklärte der Sanitäter, „der Mann steht unter Schock.“
Bussard nickte dem Sanitäter zu und wandte sich wieder an Bleyle. Es war ein schwieriger Augenblick, denn der Mann hatte wenige Minuten zuvor zusehen müssen, wie seine Frau erschossen worden war. Trotzdem war es wichtig, so schnell wie möglich so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Selbst ein unbedeutend erscheinendes Detail lieferte manchmal den entscheidenden Hinweis auf den Täter.
„Bitte, Herr Bleyle“, sagte er leise, „es tut mir sehr leid, was mit Ihrer Frau passiert ist, aber es ist wichtig, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten.“
„Warum hat sie das getan?“, fragte Bleyle heiser.
„Sie?“, wiederholte Bussard.
„Warum hat sie meine Frau erschossen?“
Der Kommissar registrierte den ersten Hinweis, auch wenn er beim Betrachten des Überwachungsvideos zu der gleichen Erkenntnis gelangt war. Trotzdem fragte er noch einmal nach.
„Sind Sie sicher, dass es sich bei dem Täter um eine Frau handelt?“
Bleyle zuckte stumm mit den Achseln.
„Haben Sie die Täterin erkannt?“, fragte Bussard weiter.
„Nein.“
„Ist Ihnen etwas an der Frau aufgefallen, was uns weiterhelfen könnte? Irgendein Merkmal, eine Besonderheit?“
Bleyle schüttelte stumm den Kopf und sah wieder zu Boden. Bussard wusste, wie schwer es für den Mann sein musste, die Fragen zu beantworten. Bei den meisten Menschen führte ein solch schreckliches Erlebnis zu einem Schock, bei dem sich das Bewusstsein aus Selbstschutz gegen alles Äußere abschottete. Manche konnten in diesem Zustand nicht einmal mehr ihren eigenen Namen nennen. Bleyle verstand zumindest Bussards Fragen, auch wenn er in diesem Moment nichts zur Aufklärung des Verbrechens beitragen konnte.
„Wir fragen uns, warum die Täterin geschossen hat“, erklärte der Kommissar, „gab es dafür einen Grund?“
„Woher soll ich das wissen?“, antwortete Bleyle ohne aufzusehen.
„Ist es möglich, dass sich die Täterin provoziert oder bedroht gefühlt hat?“, spekulierte Bussard.
„Bedroht?“, wiederholte Bleyle fassungslos und sah Bussard an, „Sie fragen allen Ernstes, ob sich die Mörderin bedroht gefühlt hat? Sie hat eine Waffe auf uns gerichtet, hier, mitten auf meine Brust, und dann hat sie meine Frau erschossen, einfach so.“
Seine Stimme war beim Sprechen immer lauter geworden, doch plötzlich brach er ab und ließ den Kopf hängen. Bussard verstand den Schmerz des Mannes und sah ein, dass eine weitere Befragung zu nichts führen würde. Bleyle musste sich zuerst von seinem Schock erholen und der Kommissar hoffte, dass der Mann am nächsten Tag in der Lage sein würde, weitere Fragen zu beantworten.
„Können Sie mich morgen früh im Präsidium aufsuchen“, bat er und zog eine Visitenkarte aus seiner Jacke, „sagen wir, gegen neun?“
Bleyle nahm die Visitenkarte und steckte sie ein, ohne einen Blick darauf zu werfen. Das getrocknete Blut hatte seine Hand rotbraun verfärbt.
„Um neun?“, wiederholte der Kommissar.
„Ja, gut“, antwortete Bleyle und sah wieder zu Boden.
Bussard wollte sich verabschieden, doch eine Frage lag ihm noch auf der Zunge.
„Ist es möglich, dass Ihre Frau die Täterin erkannt hat?“
Bleyle hob den Kopf und sah den Kommissar verständnislos an.
„Nein“, antwortete er kopfschüttelnd, „wir kennen keine Mörder.“
*
Die Nachricht vom Raubüberfall auf Lackners Goldschmiede hatte sich in Windeseile in der ganzen Innenstadt verbreitet. Immer mehr Menschen strömten zum Kartoffelmarkt, obwohl es dort kaum etwas zu sehen gab. Bussard stellte sich an den Rand der Absperrung, zog ein Päckchen Tabak aus seiner Jacke, drehte sich eine Zigarette und zündete sie an. Während er rauchte, ließ er seinen Blick langsam über die Schaulustigen schweifen. Es war nicht ausgeschlossen, dass sich die Täterin unter ihnen befand. Nicht selten kam ein Täter an den Tatort zurück, um sich davon zu überzeugen, keinen Fehler begangen zu haben, doch die Menge der Leute, die sich hinter der Absperrung drängte, war zu groß, um sich die einzelnen Gesichter einprägen zu können.
Im Laden arbeitete die Spurensicherung und der Kommissar wollte den Kollegen nicht unnötig im Weg stehen. Er wandte seinen Blick von den Schaulustigen ab und betrachtete die Umgebung des Tatortes. Der Kartoffelmarkt lag in der Fußgängerzone, die für motorisierte Fahrzeuge gesperrt war, doch bis zur nächsten für den Autoverkehr freigegebenen Straße waren es nicht einmal fünfzig Meter. Etwa einhundert Meter weiter erreichte man eine Hauptverkehrsstraße, wo man mit einem PKW am Freitagnachmittag im Stau jedoch nur langsam und stockend vorankam. Ein Mountainbike war deshalb für den Überfall das ideale Fluchtfahrzeug, denn mit einem Motorrad hätte die Täterin in der Fußgängerzone sofort die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der günstige Fluchtweg war deshalb vermutlich das Kriterium für die Auswahl des Juweliergeschäftes gewesen. Der Wert der zu erwartenden Beute, dessen war sich Bussard sicher, hatte nicht den Ausschlag gegeben.
Zwei Kollegen standen an der Absperrung, sprachen mit Passanten und machten sich Notizen. Bussard warf seine Zigarettenkippe auf den Boden und trat sie aus. Seine Zehen juckten, doch er widerstand dem Drang, seine Schuhe sofort auszuziehen, um die Salbe, die er in der Apotheke gekauft hatte, aufzutragen. Er musste sich wohl oder übel noch eine Weile gedulden. Sylvia kam aus dem Juweliergeschäft, sah zur Seite, entdeckte Bussard und ging auf ihn zu.
„Hast du mit dem Ehemann gesprochen?“, fragte sie.
„Ja“, bestätigte er, „aber er hat wenig zu sagen. Er glaubt auch, dass es eine Frau war, aber er hat sie nicht erkannt. Ich habe ihn gebeten, morgen früh im Präsidium seine Aussage zu machen.“
„Wie geht es ihm?“, fragte sie nach.
Bussard zuckte mit den Achseln. Wie sollte man den Gemütszustand eines Mannes beschreiben, dessen Frau gerade vor seinen Augen erschossen worden war?
„Lackner kommt ebenfalls morgen früh“, erklärte sie, „fürs Erste sind wir hier fertig.“
„Okay“, erwiderte er, „wir treffen uns im Präsidium.“
*
Alle verfügbaren Streifenbeamten fahndeten nach einer Täterin, die etwa einen Meter fünfundsechzig groß und schlank war, bekleidet mit einer Jeans, einer schwarzen Lederjacke und weißen Sportschuhen der Marke Adidas. Die Täterin war mit einem Revolver bewaffnet und galt als äußerst gefährlich. Außerdem wurde das Fluchtfahrzeug, ein dunkelblaues Mountainbike unbekannter Marke, sowie ein schwarzer Motorradhelm mit getöntem Visier ohne weitere besondere Kennzeichen gesucht. Laut übereinstimmenden Zeugenaussagen war die Täterin die Schiffstraße hinunter Richtung Unterlindenplatz und weiter Richtung Bahnhof geflüchtet, wo sich ihre Spur jedoch verlor.
Zwei Stunden nach dem Überfall hatten sich einige Beamte der Freiburger Kriminalpolizei in einem Besprechungsraum im Präsidium versammelt. Susanne Bauer, die EDV-Spezialistin der Abteilung, hatte einen Video-Beamer aufgebaut und ließ das Überwachungsvideo laufen. Als die Aufnahme endete, stand Max Werner, Leitender Polizeidirektor und Chef der Freiburger Beamten, auf und stellte sich vor eine große Wandtafel, an die die Kollegen der Kriminaltechnik bereits mehrere Fotos angebracht hatten. Sie zeigten Aufnahmen vom Tatort und der Leiche sowie den erbeuteten Schmuckstücken. Außerdem hatte man einzelne Standbilder des Überwachungsvideos an der Tafel befestigt. Auf einer Ausschnittvergrößerung war die Hand der Täterin mit der Waffe zu sehen. Werner blickte in die Runde und sprach eindringlich auf die Kollegen ein.
„Wir haben es mit einem äußerst brutalen Überfall zu tun. Sie haben das Video gesehen. Die Täterin – wir gehen davon aus, dass es sich um eine Frau handelt – hat nicht gezögert, eine Unbeteiligte zu erschießen. Sie sind aufgefordert, den Raubmord so schnell wie möglich aufzuklären, aber ich ersuche Sie schon jetzt, bei einer Verhaftung alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen walten zu lassen. Ein Zugriff erfolgt – und das betone ich ausdrücklich – nur mit Schutzweste, sofern es nicht möglich ist, den Zugriff dem MEK (Mobiles Einsatzkommando; Anm.d.Aut.) zu überlassen. Haben Sie mich verstanden?“
Die Beamten nickten und Werner fuhr fort.
„Wir bilden eine Sonderkommission, SOKO Goldschmied. Kollege Neudörfer wird die Ermittlungen leiten.“
Er nickte Neudörfer zu, trat zur Seite und setzte sich. Polizeirat Ulf Neudörfer, Chef der Freiburger Kripo, erhob sich. Während er einige Namen aufrief, deutete er mit dem Finger auf die jeweiligen Beamten.
„Bussard, das ist Ihr Fall. Sie bilden mit Frau Harter ein Team. Sandmann und Freytag werden Sie unterstützen. Smirna, alle Ergebnisse der Kriminaltechnik laufen auf Ihrem Schreibtisch zusammen. Frau Bauer, Sie sind ebenfalls im Boot. Sie übernehmen die Recherchearbeiten für die Kollegen. Und damit eines von Anfang an klar ist“, er unterbrach sich und sah die Beamten mit erhobenem Zeigefinger eindringlich an, „Bussard und Harter, Sandmann und Freytag, Sie ermitteln nur paarweise, ist das klar? Es gibt keine Alleingänge, absolut keine!“
Wieder nickten die Beamten stumm. Sie hatten das Video gesehen und wussten, dass sie es mit einer gefährlichen Täterin zu tun hatten.
„Also“, fragte Neudörfer, „was haben wir bis jetzt? Mallmann?“
Der Angesprochene nickte dem Polizeirat zu.
„Bei der Tatwaffe handelt es sich um eine amerikanische Smith & Wesson, Kaliber Achtunddreißig Spezial mit kurzem Lauf, auch bekannt als Lady Smith“, referierte Klaus Mallmann, der wie Bertold Smirna der Abteilung Kriminaltechnik angehörte, „bei dem Überfall wurde ein einzelner Schuss abgegeben, der die Getötete vermutlich ins Herz traf. Die Leiche ist derzeit in der Rechtsmedizin. Wir werden das Ergebnis wahrscheinlich im Lauf des Abends noch erhalten, zumindest, was die genaue Todesursache angeht. Bei der Getöteten handelt es sich um Bian Bleyle, fünfunddreißig, deutsche Staatsangehörige seit ihrer Heirat mit Martin Bleyle, zweiunddreißig, ebenfalls deutscher Staatsangehöriger. Frau Bleyle stammt ursprünglich aus ...“, er unterbrach sich und suchte in seinen Notizen nach dem Namen, „... aus Nha Trang in Vietnam und kam vor zwölf Jahren nach Deutschland. Sie arbeitete als Krankenschwester in der Uni-Klinik. Herr und Frau Bleyle haben das Juweliergeschäft Lackners Goldschmiede aufgesucht, um ein Schmuckstück zu kaufen, als der Laden überfallen wurde.“
Er sah einmal in die Runde und wartete, ob jemand eine Frage stellen wollte.
„Weitere Fakten“, forderte Neudörfer ungeduldig.
„Der Inhaber des Ladens heißt Steffen Lackner“, fuhr Mallmann fort, „achtunddreißig, verheiratet, Goldschmied, keine Vorstrafen. Er führt das Geschäft mit seiner Frau Cornelia und seinem Bruder Torsten, fünfunddreißig, ledig, ebenfalls keine Vorstrafen. Steffen Lackner ist auf dem Video zu sehen. Torsten Lackner kam etwa eine Stunde nach dem Überfall an den Tatort. Er ist zwar schlank, aber mit ungefähr eins fünfundsiebzig zu groß, um als möglicher Täter zu gelten.“
Mallmann stand von seinem Stuhl auf, ging zur Wandtafel und wies mit dem Finger auf die Fotos der Schmuckstücke, die Lackner zur Verfügung gestellt hatte.
„Erbeutet wurden drei Goldketten mit auffälligen Anhängern. Sie sind zwischen acht und zehn Zentimeter groß, aus Gold, Silber und Platin gefertigt und jeweils mit einem Opal versehen. Die Schmuckstücke sind sehr auffällig. Es handelt sich um Einzelstücke. Der Juwelier beziffert den Gesamtwert auf 10.900 Euro. Die Schmuckstücke sind mit diesem Wert versichert.“
„Sonst noch was?“, fragte Neudörfer.
„Wir haben einen Reifenabdruck“, erklärte Mallmann und wies auf ein weiteres Foto, „der vermutlich von dem Mountainbike stammt, das als Fluchtfahrzeug benutzt wurde. Allerdings haben wir nur ein Foto, kein dreidimensionales Profil von dem Abdruck, den der Reifen auf dem Kopfsteinpflaster hinterlassen hat. Es handelt sich um einen Reifen der Marke Schwalbe, der leider sehr weit verbreitet ist. Außerdem wissen wir, dass die Täterin weiße Sportschuhe der Marke Adidas und Blue Jeans der Marke Levi´s getragen hat, wie auf dem Video zu sehen ist. Auch hier handelt es sich um weit verbreitete Modelle. Die Lederjacke, die Handschuhe und den Motorradhelm konnten wir noch nicht zuordnen. Das Mountainbike ist laut Zeugenaussagen dunkelblau. Marke und Modell sind nicht bekannt. Das sind, soweit ich weiß, im Moment alle gesicherten Fakten.“
Mallmann verließ die Wandtafel und setzte sich wieder auf seinen Platz.
„Okay“, sagte Neudörfer, „was wissen wir über den Täter?“
„Ich denke“, meldete sich Sylvia zu Wort, „dass wir davon ausgehen können, dass es sich um eine Frau handelt. Wir haben das Video gesehen und ich glaube, alle hatten diesen Eindruck, oder? Auch die beiden Zeugen sind sich sicher, dass es eine Frau gewesen ist. Können wir das Video noch einmal laufen lassen?“
Neudörfer nickte Susanne Bauer zu und die EDV-Spezialistin ließ das Video über den Beamer an die Wand projizieren.
„Stopp“, rief Sandmann plötzlich und Bauer hielt das Video an, „hier sieht Lackner zur Seite. Vielleicht hat er die Täterin schon vor dem Schaufenster gesehen. Wir sollten ihn danach fragen.“
„Tun Sie das“, ordnete Neudörfer an, „weiter.“
Das Video lief weiter und die Beamten verfolgten das Geschehen konzentriert.
„Stopp!“
Diesmal unterbrach Bussard die Vorführung.
„Lackner steht hinter dem Verkaufstresen. Die Täterin lässt Herrn Bleyle auf die linke Seite und Frau Bleyle auf die rechte Seite von ihm gehen. Warum tut sie das? Warum trennt sie die beiden? Ist das Zufall oder Absicht?“
Niemand antwortete und so ließ Susanne das Video weiterlaufen.
„Stopp!“, sagte Neudörfer und das Video hielt zum dritten Mal an.
Es war der Augenblick vor dem Schuss.
„Hier streckt sie den Arm und zielt“, stellte er fest, „zuerst richtet sie die Waffe auf Herrn Bleyle, dann auf Lackner und schließlich auf Frau Bleyle. Es sieht aus, als würde sie sich ein Opfer aussuchen. Weiter ...“
Das Mündungsfeuer blitzte auf und drei Sekunden später hielt Neudörfer die Vorführung wieder an.
„... und stopp! Sie hat abgedrückt. Danach zieht sie den Arm langsam zurück. Langsam! Nichts deutet darauf hin, dass die Täterin erschrocken ist. Sie hat nicht versehentlich abgedrückt und der Schuss hat sich auch nicht von selbst gelöst. Das war ein kalkulierter, vorsätzlicher Schuss und damit ist es vorsätzlicher Mord.“
Alle Anwesenden teilten Neudörfers Einschätzung. Jeder hatte den Eindruck, als sei es ein vorsätzlicher, sorgfältig gezielter Schuss gewesen.
„Das Opfer ist leider fast nicht zu sehen“, bemerkte Mallmann, „sie steht halb im toten Winkel und wird halb von Lackner verdeckt. Vielleicht hat sie die Täterin provoziert?“
„Nein“, widersprach Sylvia, „Lackner hat ausgesagt, dass weder er, noch sie, noch Herr Bleyle etwas gesprochen haben. Alle drei verhielten sich ruhig.“
„Vielleicht hat Frau Bleyle die Täterin erkannt“, schlug Smirna vor.
„Herr Bleyle hält das für ausgeschlossen“, erklärte Bussard, „aber wir wissen natürlich nicht mit Sicherheit, ob das auch stimmt.“
„Was ist mit den anderen Zeugen?“, fragte Neudörfer.
„Wir haben ungefähr dreißig Aussagen“, berichtete Sylvia, „es sind Passanten, zum überwiegenden Teil Besucher des Weihnachtsmarktes. Im Großen und Ganzen stimmen ihre Aussagen überein, aber niemand hat die Täterin erkannt. Als sie mit dem Mountainbike beim Laden ankam, trug sie bereits den Helm und sie ist auch mit dem Helm auf dem Kopf geflüchtet.“
„Haben wir alle Personalien?“
„Natürlich.“
„Gut“, sagte Neudörfer und wandte sich an die Kollegen, „Brunner, Bernauer und Wegner nehmen die Aussagen der Passanten zu Protokoll. Sehen Sie zu, dass Sie bis spätestens morgen Abend damit fertig sind. Frau Bauer, Sie durchforsten das Internet. Schauen Sie, ob sich Hinweise auf die Tat oder die Täterin finden lassen. Bussard und Harter, Sie vernehmen Lackner und Bleyle. Anschließend kümmern Sie sich um das persönliche Umfeld, sowohl des Opfers als auch des Goldschmieds. Sandmann und Freytag machen sich auf die Suche nach der Beute und dem Mountainbike. Mallmann, Sie suchen nach Kandidaten, die für den Überfall in Frage kommen. Außerdem stellen Sie eine Liste möglicher Hehler zusammen, bei denen die Beute auftauchen könnte. Smirna, Sie halten Kontakt zur Rechtsmedizin. Sobald wir das Projektil haben, will ich etwas über die Tatwaffe wissen. Noch Fragen?“
Alle Beamten schüttelten die Köpfe.
„Also dann, Kollegen“, sagte Neudörfer und klatschte in die Hände, „an die Arbeit.“
Ohne vorheriges Anklopfen wurde plötzlich die Tür geöffnet und ein beleibter Mann, der einen schwarzen Anzug und einen schwarzen Mantel trug, rauschte in den Raum. Sein Gesicht war gerötet und sein Auftreten verriet, dass er gewohnt war, Befehle zu erteilen.
„Wie ich höre, haben wir es mit einem Raubmord zu tun“, erklärte Oberstaatsanwalt Schmieder ohne Begrüßung, „bringen Sie mich auf den aktuellen Stand.“