ISBN: 978-3-95428-615-7
1. Auflage 2015
© 2015 Wellhöfer Verlag, Mannheim
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Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.
Ralf Kurz
Den geborenen Pfälzer, Jahrgang 1961, verschlug es nach dem Abitur nach Freiburg, wo es ihm so gut gefiel, dass er die Stadt zu seiner Wahlheimat erkor. Er erlernte den Kaufmannsberuf, spielte jedoch nebenbei viele Jahre als Gitarrist und Bassist in Rock- und Bluesbands, bevor er mit dem Schreiben begann.
Seine ersten beiden Romane „Sdaiv – die Entführung der Fußball-Nationalmannschaft“ (Krimi, 2005) und „Die Ziege im Anzug“ (Liebeskomödie, 2008) sowie einige Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien veröffentlichte er unter seinem Pseudonym FREEMAN. Im Jahr 2008 erschien unter seinem eigenen Namen der große, historische Portraitroman „Der Diplomat“ über den Staatsmann und Minister Johann Christian von Hofenfels (1744 – 1787). Mittlerweile ist Kurz zum Krimigenre zurückgekehrt.
Für Uwe
Erst die Gefahr einer totalen Niederlage
erhebt den Sieg zum Triumph
Nichts deutete darauf hin, dass die Zeitspanne von zehn Sekunden das Leben von Achim Strahle auf eine Art verändern würde, die er sich in seinen schlimmsten Alpträumen nicht vorzustellen vermocht hätte. Mit laufendem Motor stand sein Mercedes vor der Hofeinfahrt seines Hauses und Strahle wartete darauf, dass der automatische Antrieb das zweiflügelige, schmiedeeiserne Tor öffnete. Geduldig beobachtete Strahle die gleichmäßige Bewegung, ohne an etwas Besonderes zu denken. Es war kurz vor zwanzig Uhr und er freute sich auf das Abendessen nach einem langen Arbeitstag. Eine schemenhafte Bewegung im Rückspiegel ließ ihn aufschauen, doch der schwarze Schatten war bereits verschwunden. Eine Sekunde später wurde die hintere Tür auf der Beifahrerseite aufgerissen. Eine Gestalt sprang in den Wagen und schlug die Tür zu. Überrascht und erschrocken wandte Strahle sich um. Das Gesicht der Gestalt war mit einer schwarzen Motorradmaske vermummt und als sie die Hand hob, starrte Strahle direkt in die Mündung eines Schalldämpfers.
„Rückwärtsgang einlegen und langsam losfahren!“
„Was? Wer sind Sie?“, fragte Strahle verwirrt.
„Ich schieße dir die Nase aus dem Gesicht, wenn du nicht sofort losfährst!“
Die vermummte Gestalt sprach leise, aber bestimmt. Es war mehr ein Zischen als ein Flüstern, das Strahle ebenso sehr erschreckte wie die Waffe, die auf seinen Kopf gerichtet war. Der Schock ließ das Adrenalin durch seinen Körper strömen und er konnte das Hämmern seines eigenen Herzschlags in seinen Ohren spüren. Langsam und vorsichtig wandte er seinen Blick von der Gestalt auf dem Rücksitz ab, legte den Rückwärtsgang ein und drehte sich wieder um. Seine Knie zitterten, während er den Fuß von der Bremse nahm. Der Mercedes setzte sich in Bewegung und bog rückwärts in die Straße ein. Strahle bremste abrupt, obwohl er das nicht beabsichtigt hatte und das Fahrzeug kam ruckartig zum Stehen.
„Vorwärtsgang einlegen und losfahren!“
Strahle nickte und gehorchte. Er wandte seinen Blick wieder nach vorn, betätigte den Automatikhebel und fuhr los. Die längsten vierundzwanzig Stunden seines Lebens hatten begonnen.
Auf dem hölzernen Parkettboden klackten die Absätze seiner Stiefel viel zu laut. Das Geräusch wurde von den nackten Wänden zurückgeworfen und verhallte nur langsam. Missmutig sah Bussard sich um. Seine eigene Wohnung gefiel ihm nicht, obwohl er sie erst kurz zuvor komplett neu eingerichtet hatte. Nichts erinnerte ihn an ihn selbst und er fühlte sich, als habe man ihn in ein anderes Leben versetzt. An den Wänden hingen keine Bilder, keine vertrauten Stimmen drangen an sein Ohr und auf dem Fußboden lag kein Teppich. Seufzend ließ er sich auf einen der Stühle nieder, die er in einem schwedischen Möbelhaus gekauft hatte. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und ließ sein Kinn in seine Handflächen sinken. Der Anblick und der Geruch der Wohnung fühlten sich falsch an, fremd und ungewollt, doch Bussard hatte keine Alternative. Er hob den Kopf und schlug mit der flachen Hand knallend auf den Tisch.
„Scheiße!“, fluchte er.
Ein Monat war seit seinem Umzug vergangen, vier Wochen, die er am liebsten aus seinem Gedächtnis gestrichen hätte. Er mochte diese Wohnung nicht, die mehr war als seine neue Behausung. Sie war ein stummes Zeugnis seines Scheiterns, kein Neuanfang, sondern das Ende des Lebens, das er bisher geführt hatte. Bussard wollte sich nicht auf die neue Situation einstellen und wusste nicht, womit er diese plötzliche Freiheit ausfüllen sollte, nach der es ihn nie verlangt hatte. Er hatte alle Möglichkeiten, aber er hatte keine Idee.
Das Gitarrenintro von Hells Bells holte Bussard aus seinen trübsinnigen Gedanken. Er nahm sein Handy und das Display zeigte Sasha Wegner als Anrufer an.
„Was gibt´s?“, fragte Bussard.
„Wir haben hier eine Vermisstenmeldung“, antwortete Wegner.
„Und warum rufst du mich deshalb an?“
„Der Vermisste ist Achim Strahle.“
„Der Leitende Oberstaatsanwalt?“, fragte Bussard und hob überrascht die Augenbrauen.
„Ja“, antwortete Wegner, „seit gestern Abend ist er spurlos verschwunden. Seine Frau hat ihn als vermisst gemeldet. Sie ist gerade bei Neudörfer und der Chef will, dass du sofort ins Präsidium kommst. Hier brennt der Baum, Alarmstufe Rot!“
Bussard sah auf seine Armbanduhr. Es war Viertel vor neun und eigentlich war es nicht seine Art, zu spät zum Dienst zu erscheinen, doch seit er die neue Wohnung bezogen hatte, mangelte es ihm am nötigen Antrieb. Er wollte weder im Präsidium sein noch zu Hause, doch dort, wo er sein wollte, konnte er nicht hin.
„Sag Neudörfer Bescheid“, antwortete er, „ich bin unterwegs.“
Er beendete das Gespräch und stand auf. Vielleicht gab es Grund zur Panik, weil Achim Strahle verschwunden war, vielleicht aber auch nicht. Viele Vermisste tauchten nach kurzer Zeit wieder auf, ohne dass ein Verbrechen verübt worden war. Strahle jedoch war Leitender Oberstaatsanwalt und deshalb war es auch kein Wunder, dass überall die Alarmglocken schrillten. Die Suche nach einer vermissten Person gehörte nicht zu den Aufgaben des Kriminalhauptkommissars, der die Ermittlungsgruppe Gewaltverbrechen bei der Freiburger Kripo leitete, doch er ahnte schon, dass der Fall oberste Priorität genießen würde. Alles andere würde warten müssen, bis der Leiter der Staatsanwaltschaft wieder aufgetaucht war, und nach ihm zu fahnden war allemal besser als sich in dieser beschissenen Wohnung dem Selbstmitleid zu ergeben. Bussard nahm seinen Schlüsselbund und ging zur Tür, während seine klackenden Absätze auf dem Parkettboden wie das viel zu laute Ticken seiner Lebensuhr klangen. Er nahm seine Lederjacke von der Garderobe, schlüpfte hinein, verließ seine ungeliebte Wohnung und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
„Stell den Bass zur Seite, den laden wir als Letztes ein“, sagte jemand, als Bussard ins Treppenhaus trat und unvermittelt vor einem großen, schwarzen Kontrabasskoffer stand.
Zwei junge Männer waren gerade damit beschäftigt, diverse Regalteile aus der Wohnung, die der seinen gegenüberlag, zu tragen, während ein dritter an der Wand lehnte und den Koffer im Arm hielt. Offensichtlich zog sein Nachbar, dem Bussard drei oder vier Mal im Treppenhaus begegnet war, aus. Der Kontrabasskoffer versperrte Bussard den Weg und der Kommissar wartete, bis einer der Helfer das Ungetüm in einer Nische im Treppenhaus abgestellt hatte.
„Ein ziemlich trockener Umzug“, rief der Mann in die offene Wohnung, aus der postwendend die Antwort kam.
„Wenn wir in Kerry sind, kannst du dich in Guinness ertränken!“
„Bis dahin bin ich längst verdurstet“, maulte der Umzugshelfer, der sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischte.
Bussard ging an ihm vorbei, nickte ihm kurz zu und lief die Treppe hinunter. Als er den großen Möbelwagen passierte, der vor dem Haus stand, kam ihm der kuriose Gedanke, sich zwischen den Möbeln zu verstecken. Er hätte einfach alles stehen und liegen lassen können, um in Irland ein neues Leben zu beginnen, doch er wusste auch, dass er einen solchen Schritt niemals ohne Miriam und Tabea tun würde. Vor dem Möbelwagen parkte sein VW Passat. Bussard verscheuchte den verlockenden Gedanken an die grüne Insel, stieg in seinen Wagen und fuhr los.
*
„Morgen, Bussard“, sagte Susanne Bauer, die EDV-Spezialistin der Abteilung, als Bussard aus dem Aufzug trat, „wir haben schon auf dich gewartet. Neudörfer und die Kollegen sind im Besprechungsraum. Du kannst mich gleich begleiten.“
„Morgen, Susanne“, erwiderte Bussard und nickte.
Er folgte seiner gutaussehenden Kollegin, die wie immer ihr Notebook unter dem Arm trug. Der Geruch ihres Parfüms stieg ihm in die Nase und wieder einmal bewunderte er ihre langen, schlanken Beine. Auch Helens Beine hatte er stets gemocht, doch das war eine andere Geschichte. Susanne öffnete die Tür zum Besprechungszimmer, ließ Bussard eintreten und folgte ihm.
„Morgen“, murmelte der Kommissar und nickte den Anwesenden zu.
Neben Polizeirat Neudörfer, dem Chef der Abteilung, hatten sich Bussards Kollege Sasha Wegner und Oberstaatsanwalt Georg Schmieder sowie eine Frau, die nicht zur Kripo gehörte, zu der Besprechung eingefunden. Bussard suchte sich einen freien Stuhl und setzte sich.
„Da wir nun vollzählig sind, können wir beginnen“, sagte Neudörfer und warf Bussard einen missbilligenden Blick zu. „Das ist Frau Strahle, die Ehefrau unseres Leitenden Oberstaatsanwalts. Herr Strahle wird seit gestern Abend vermisst und wir müssen der Sache nachgehen.“
Bussard kannte die Frau flüchtig, die neben Neudörfer auf einem Stuhl saß und ein zusammengeknülltes Taschentuch in der Hand hielt. Sie war Anfang sechzig, gut gekleidet und perfekt frisiert, doch ein Blick in ihr Gesicht genügte, um zu wissen, dass sie sich große Sorgen machte. Ihre Augen waren gerötet und trotz ihrer Solariumbräune wirkte sie blass.
„Wir wissen noch nicht, ob Herr Strahle entführt wurde oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist“, fuhr Neudörfer fort. „Doch aufgrund der Position, die er bekleidet, gehen wir davon aus, dass er weder heimlich noch freiwillig verschwunden ist.“
„Könnte es nicht einen ganz harmlosen Grund für sein Verschwinden geben?“, fragte Bussard.
„Nein, sicher nicht“, erwiderte Oberstaatsanwalt Schmieder und schüttelte den Kopf.
„Aber vielleicht hat er die Nacht in einem anderen Bett verbracht“, mutmaßte der Kommissar.
Frau Strahle hob den Kopf und bedachte Bussard mit einem vernichtenden Blick.
„Das ist völlig ausgeschlossen“, erwiderte sie eisig.
Bussard zuckte mit den Achseln. Dass ein Ehegatte in einem fremden Bett übernachtete, war alles andere als völlig ausgeschlossen. Auch er hatte vor nicht allzu langer Zeit diese Erfahrung machen müssen, die ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen hatte.
„Sein letzter bekannter Aufenthaltsort ist die Staatsanwaltschaft, die er gestern Abend gegen 19:30 Uhr verließ“, berichtete Neudörfer und schob das delikate Thema damit zur Seite, „wir nehmen an, dass er nach Hause fahren wollte und vermutlich auch dort angekommen ist. Allerdings hat er sein Haus nicht betreten.“
„Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“, fragte Bussard.
„Das Hoftor stand offen“, antwortete Frau Strahle. „Achim muss es mit seinem Funksender geöffnet haben, doch er ist nicht in den Hof gefahren. Um sieben Uhr war es noch geschlossen, aber als ich gegen halb neun aus dem Fenster sah, stand es sperrangelweit offen. Von ihm oder seinem Wagen war jedoch nichts zu sehen. Ich habe versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen, doch es meldet sich immer nur die Mailbox.“
Bussard dachte daran, dass damit die Möglichkeit einer anderen Frau noch nicht aus der Welt geschafft war, doch er wollte nicht unnötig Öl ins Feuer gießen.
„Der Leitende Oberstaatsanwalt ist sich seiner Verantwortung sehr wohl bewusst“, erklärte Schmieder, „er weiß durchaus, welche Reaktionen ein ungeklärtes Verschwinden seinerseits zur Folge haben würde. Amt und Person lassen sich in seiner Position nicht voneinander trennen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass er sich bei Karin gemeldet hätte, wenn er vorgehabt hätte, die Nacht außer Haus zu verbringen.“
Er wandte den Kopf und sah Bussard von der Seite an. Allem Anschein nach wollte Schmieder nicht daran glauben, dass Strahle eine Geliebte haben könnte.
„Strahle will doch demnächst in Pension gehen, oder?“, fragte der Kommissar.
„Was hat das damit zu tun?“, erwiderte der Oberstaatsanwalt.
Bussard lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
„Der Übergang vom Berufs- zum Privatleben ist für manche Männer nicht ganz einfach“, erklärte er, „und manchmal neigen sie dazu, Dummheiten zu machen.“
„Was für Dummheiten?“
„Aus Angst, an Bedeutung zu verlieren, schlagen manche über die Stränge.“
„Wenn Sie damit andeuten wollen …“, begann Schmieder, doch Bussard schnitt ihm das Wort ab.
„Ich will überhaupt nichts andeuten, aber ich will von vornherein auch nichts ausschließen. Vielleicht hat Strahle einen Anruf gekriegt und ist kurzfristig zu einem Freund gefahren, wo er das eine oder andere Glas zu viel getrunken hat. Dabei hat er ganz einfach vergessen, seine Frau anzurufen. So etwas kommt vor.“
„Reden Sie keinen Unsinn, Herr Bussard“, blaffte Schmieder. „Ich kenne Achim Strahle schon mein halbes Leben. Er ist ein Mann ohne Fehl und Tadel und ich halte es für absolut ausgeschlossen, dass er eine, wie Sie es nennen, Dummheit gemacht hat. Als Leitender Oberstaatsanwalt ist er eine Person des öffentlichen Interesses und das würde er niemals außer Acht lassen. Ich bin davon überzeugt, dass ein Verbrechen der Grund für sein Verschwinden ist.“
Bussard ließ die Hände sinken, verschränkte die Arme vor der Brust und nickte. Er kannte Strahle, der nicht dafür bekannt war, ein Schürzenjäger zu sein.
„Ich stimme Herrn Schmieder zu“, erklärte Neudörfer. „Wir alle kennen Herrn Strahle als korrekten und zuverlässigen Mann. Selbst wenn er, was ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, die Nacht mit einer anderen Frau verbracht hätte, dann hätte er sich zumindest eine plausible Ausrede einfallen lassen. Er weiß ganz genau, welche Mechanismen in Gang gesetzt werden, wenn ein Leitender Oberstaatsanwalt spurlos verschwindet.“
Er unterbrach sich und sah alle Anwesenden nacheinander an. Jeder teilte seine Einschätzung und selbst Bussard musste zugeben, dass ein unfreiwilliges Verschwinden sehr viel wahrscheinlicher war als ein freiwilliges.
„Gehen wir von einer Entführung aus?“, fragte der Kommissar und Neudörfer nickte bedächtig.
„Solange wir keine anderen Informationen haben, müssen wir wohl mit einer Entführung rechnen“, bestätigte der Polizeirat. „Sprechen Sie mit Smirna. Er soll sich um die Handyortung kümmern und schreiben Sie Strahles Wagen zur Fahndung aus.“
Bussard nickte und wollte sich erheben, doch Neudörfer gebot ihm mit einer Handbewegung zu warten.
„Offiziell behandeln wir Achim Strahle für den Augenblick lediglich als vermisste Person“, fuhr der Polizeirat fort. „Halten Sie den Ball flach, Bussard, und wirbeln Sie keinen Staub auf. Solange wir nicht wissen, wer oder was hinter der Sache steckt, sollten wir dafür sorgen, dass nichts nach außen dringt. Wenn die Medien erst einmal Wind von der Sache kriegen …“
Neudörfer sprach nicht weiter, doch alle Anwesenden wussten, was er damit andeuten wollte. Schmieders Handy läutete und der Oberstaatsanwalt zog sein Telefon aus seiner Jacke. Er meldete sich und lauschte einen Augenblick, dann zog er plötzlich überrascht die Augenbrauen nach oben.
„Wer spricht da?“, fragte er und betätigte die Taste für den Lautsprecher.
Er hielt sein Handy hoch, damit alle die Stimme des Anrufers hören konnten. Sie klang nicht menschlich, sondern war elektronisch verzerrt.
„Das Spiel hat begonnen. Schicken Sie Ihren besten Mann aufs Feld!“
Die Verbindung brach ab und einen Augenblick lang regte sich niemand im Raum. Schließlich brach Schmieder das Schweigen.
„Er sagte, er habe sich Achim Strahle geholt. Den Rest haben Sie selbst gehört.“
*
Der ominöse Anruf hatte Neudörfers Ansinnen, den Ball flach zu halten, ad absurdum geführt. Jeder verfügbare Beamte der Freiburger Polizei wurde dienstverpflichtet. Neudörfer gründete eine dreißigköpfige SOKO, deren Leitung er selbst übernahm. Die Beamten im Außeneinsatz fahndeten nach Strahles Mercedes, während die Kollegen vom Innendienst sich alle Fälle vornahmen, in denen Strahle als Anklagevertreter fungiert hatte. Aufgrund des Anrufs gingen Bussard, Neudörfer und Schmieder davon aus, dass es sich um eine persönlich motivierte Tat handelte. Man suchte deshalb nach Straftätern, die innerhalb des vergangenen Jahres entlassen worden waren und die Grund gehabt hätten, sich an Strahle zu rächen. Innerhalb von zwei Stunden wurden vier potentiell Verdächtige ermittelt und zur Fahndung ausgeschrieben. Gegen elf Uhr wurden bereits zwei der Verdächtigen, die beide in Freiburg lebten, zum Verhör vorgeführt. Beide konnten Alibis vorweisen, die innerhalb einer Stunde von Zeugen bestätigt wurden. Trotzdem behielt man die beiden vorübergehend in Gewahrsam, um auch die Zeugen einer Überprüfung zu unterziehen und um Gefälligkeitsaussagen definitiv ausschließen zu können. Der dritte Verdächtige wohnte seit mehreren Monaten an der schwäbisch-bayrischen Grenze. Ein Augsburger Kollege meldete sich kurz vor halb zwölf und informierte die Freiburger Beamten, dass man den potentiell Verdächtigen im dortigen Krankenhaus aufgespürt habe, wo er seit einem Verkehrsunfall eine Woche zuvor stationär behandelt wurde. Ein doppelter Schien- und Wadenbeinbruch, schwere Prellungen des Beckenknochens, eine Fraktur des Jochbeins und eine schwere Gehirnerschütterung machten sein Alibi wasserdicht. Nur vom vierten Verdächtigen, einem 35-jährigen Mann, fehlte jede Spur.
„Sein Name ist Oliver Hafner“, berichtete Wegner und deutete auf das Foto auf dem Monitor seines PCs. „Ich habe mir seine Akte bereits angesehen.“
„Was wissen wir über ihn?“, fragte Bussard.
„Hafner wurde im Jahr 2005 wegen gefährlicher Körperverletzung und schweren Raubes zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt“, berichtete Wegner, „Strahle hat damals die Anklage selbst vertreten. Es war ein Indizienprozess, denn der Augenzeuge, der die Tat angeblich beobachtet hatte, hat später seine Aussage widerrufen. Strahle war davon überzeugt gewesen, dass der Zeuge von einem Helfershelfer Hafners unter Druck gesetzt worden war. Hafner selbst hat die Tat immer bestritten, konnte aber für die Tatzeit kein Alibi vorweisen.“
„Weißt du mehr über den Raub?“
„Das Opfer war ein Einzelhändler, der am Abend die Tageseinnahmen, etwa 2.500 Euro, zur Bank bringen wollte. Nach Aussage des Händlers hat ein maskierter Mann versucht, ihm die Tasche mit dem Geld zu entreißen. Als er sich wehrte, hat der Täter mit einem Schlagring auf ihn eingeschlagen. Der Mann erlitt schwere Verletzungen im Gesicht. Ein Zeuge, der die Tat beobachtet hat, beschrieb den Täter und dessen auffällige Jacke, die später bei Hafner gefunden wurde. Außerdem fand man bei ihm den Schlagring mit Blutspuren des Opfers. Hafner jedoch behauptete, man habe ihm den Schlagring untergeschoben. Obwohl der Zeuge seine Aussage später widerrief, wurde Hafner aufgrund der Indizien schuldig gesprochen. Da er bereits zwei Vorstrafen wegen Körperverletzung hatte, verurteilte ihn das Gericht zu acht Jahren Freiheitsentzug. Hafner hat die gesamte Strafe abgesessen und wurde vor vier Wochen aus der JVA Freiburg entlassen. Er hat sich nach seiner Entlassung jedoch nicht behördlich gemeldet und wir haben keine aktuelle Adresse von ihm.“
„Okay, Sasha“, erwiderte Bussard und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter, „schick einen Kollegen zur JVA. Ich will wissen, ob Hafner von jemandem abgeholt wurde.“
„Alles klar.“
Bussards Handy meldete den Eingang einer SMS. Er rief die Nachricht auf, die ihn in den Besprechungsraum rief. Zwei Minuten später fand er sich mit den anderen Kollegen der SOKO dort ein. Es gab weniger Stühle als Anwesende und Bussard suchte sich einen Platz am Fenster. Jemand hatte die Jalousien heruntergelassen und den Raum abgedunkelt. Alle warteten gespannt, was Neudörfer ihnen zu sagen hatte.
„Es gibt eine heiße Spur“, begann der Polizeirat, der von einem Beamer angestrahlt wurde und einen scharf umrissenen schwarzen Schatten auf die weiße Leinwand hinter ihm warf. „Frau Bauer, bitte.“
Er trat zur Seite und Susanne, auf deren Schreibtisch ein aufgeklapptes Notebook lag, stand auf.
„Ich habe Strahles Kreditkarten überprüft und herausgefunden, dass seine EC-Karte letzte Nacht zweimal benutzt wurde“, berichtete sie, „um 23:58 Uhr und um 00:01 Uhr wurden jeweils zweitausend Euro von einem Geldautomaten in Freiburg-Ebnet abgehoben. Die Aufnahmen der Überwachungskamera liegen uns bereits vor.“
Sie betätigte zwei Tasten ihres Notebooks und auf der Leinwand tauchte das Bild eines Geldautomaten auf. Von der rechten Seite kam eine Person ins Bild, deren Gesicht man nicht erkennen konnte. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine Jacke, deren Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Der Körperbau und die Bewegungen der Person deuteten darauf hin, dass es sich um einen Mann handelte. Seine schlanke Gestalt verriet, dass es sich eindeutig nicht um Achim Strahle handelte, der ebenso wie Schmieder im Laufe der Jahre immer weiter an Gewicht zugelegt hatte. Der Unbekannte stellte sich vor den Geldautomaten und zog etwas aus seiner Jacke, das vermutlich Strahles EC-Karte war. Obwohl die Überwachungskamera ungünstig postiert war und nur die Rückansicht des Mannes von schräg oben zeigte, war es offensichtlich, was der Unbekannte tat. Die digitale Zeitanzeige in der unteren rechten Ecke des Bildes stand bei 23:57 Uhr, als der Mann die Karte in den Automaten steckte. Er verdeckte das Tastenfeld mit seinem Körper und so konnten die Beamten nicht sehen, was er eingab. Kurz darauf zog er die Karte heraus, entnahm die Geldscheine und stopfte sie in seine vordere, rechte Hosentasche, dann stand er eine Weile reglos vor dem Automaten. Als die Zeitanzeige 00:00 Uhr übersprungen hatte und das Datum des neuen Tages angezeigt wurde, steckte er die EC-Karte erneut in den Automaten. Nach wenigen Augenblicken zog er sie wieder heraus, entnahm die Geldscheine und stopfte sie abermals in seine Hosentasche, dann hob er plötzlich den linken Arm und formte mit Zeige- und Mittelfinger das V-Zeichen, ohne sich dabei umzudrehen. Er verharrte zwei, drei Sekunden, dann wandte er sich nach rechts und verschwand aus dem Bild. Die Zeitanzeige stand bei 00:03 Uhr. Susanne tippte auf eine Taste ihres Notebooks und das Bild des nun verwaisten Geldautomaten verschwand. Bertold Smirna, der Leiter der Kriminaltechnik, der neben der Tür stand, betätigte den Lichtschalter und die Leuchtstoffröhren an der Decke flammten auf.
„Der Dreckskerl verhöhnt uns“, sagte jemand und Neudörfer nickte.
„Richtig“, erklärte der Polizeirat, „und damit hat er schon seinen ersten Fehler gemacht. Wir werden das Video analysieren und ich bin sicher, dass uns Kollege Smirna einiges über den Täter erzählen wird.“
„Geben Sie uns eine Stunde“, bat der Kriminaltechniker und nickte der EDV-Spezialistin zu. „Hast du eine Kopie für mich?“
„Ist bereits als Mail auf deinem Rechner“, antwortete sie.
„Wir melden uns, sobald wir erste Ergebnisse haben“, erklärte Smirna.
„Okay. Schicken Sie Mallmann mit einem Team nach Ebnet“, wies Neudörfer den Kriminaltechniker an, „vielleicht haben wir Glück und finden verwertbare Spuren, vielleicht sogar einen Fingerabdruck des Täters.“
„Mallmann ist bereits unterwegs“, erklärte Smirna. „Ich schätze, dass er schon vor Ort ist.“
Er nickte den Anwesenden zu und verließ den Besprechungsraum.
„Der Täter hat viertausend Euro erbeutet, aber er hat Strahle nicht gehen lassen“, erklärte Neudörfer und sah auf seine Armbanduhr. „Das ist kein gutes Zeichen. Trotzdem hoffe ich, dass wir Achim Strahle lebend und unversehrt finden werden.“
„Vielleicht liegt Strahle irgendwo gefesselt in seinem Wagen und wartet darauf, dass er gefunden wird“, spekulierte Susanne. „Schließlich hat der Täter bekommen, was er wollte.“
Bussard teilte den Optimismus seiner Kollegin nicht und schüttelte langsam den Kopf.
„Ich glaube nicht, dass wir Strahle irgendwo zufällig finden werden. Der Entführer hat Schmieder angerufen und erklärt, dass das Spiel eröffnet sei. Er weiß nicht nur, dass er von der Überwachungskamera aufgenommen wird, er nutzt sie sogar für eine Botschaft. Das beweist das Victory-Zeichen. Er will uns damit zeigen, dass er überlegen ist. Sein Spiel, was auch immer das sein mag, hat gerade erst begonnen und ich bin sicher, dass es noch längst nicht zu Ende ist.“
„Und was, glauben Sie, beabsichtigt er damit?“, fragte Neudörfer.
„Keine Ahnung“, erwiderte Bussard, „aber ich denke, dass Strahle kein zufälliges Opfer war. Kein Junkie oder Kleinkrimineller ruft den Staatsanwalt an, wenn er schnell ein paar tausend Euro abzocken will. Der Täter hat mit seinem Anruf selbst auf sich aufmerksam gemacht und ich bin sicher, dass Strahle gezielt ausgewählt wurde. Wir sollten uns darauf einstellen, dass diese Geschichte noch ziemlich hässlich werden könnte.“
*
Die Märzsonne schien schon ziemlich kräftig. Nach einem langen und schneereichen Winter hatten die Temperaturen pünktlich zum Frühlingsanfang endlich die Zwanzig-Grad-Marke übersprungen und die Wettervorhersage versprach ein anhaltendes Hoch für die folgenden Tage. Bussard und Susanne standen im Hof des Präsidiums, wohin sie nach der Besprechung gegangen waren, um zu rauchen. Ein paar Minuten lang genossen sie schweigend die Sonnenstrahlen auf ihren Gesichtern, dann grinste Susanne ihren Kollegen plötzlich an.
„Vor einem Jahr haben wir beide hier unser Invalidentreffen abgehalten“, erklärte sie, „erinnerst du dich?“
Bussard zog an seiner Selbstgedrehten und nickte. Natürlich erinnerte er sich daran. Nachdem sie gemeinsam einen Fall abgeschlossen und den Täter überführt hatten, waren sie, sich gegenseitig stützend, die wenigen Stufen zum Hof hinuntergehumpelt und hatten frierend zwei Zigaretten geraucht. Es war verflucht kalt gewesen und eigentlich hätte keiner von beiden arbeiten sollen, doch beide hatten unbedingt einen Mann dingfest machen wollen, der sich an jungen Mädchen vergangen hatte. Im Laufe der nervenaufreibenden Ermittlungen hatten sie einen Abend lang in einem griechischen Restaurant gesessen und mehr getrunken als ihnen beiden gut getan hatte. Bussard hatte Susanne nach Hause gebracht, wo sie auf der Treppe vor ihrem Haus torkelnd umgeknickt war. Sie hatte sich dabei die Bänder im Fuß verletzt und anschließend zwei Wochen lang an Krücken gehen müssen. Kurz nach ihrem Missgeschick hatte Bussard bei der Verfolgung einer Verdächtigen selbst einen Unfall erlitten. Auf einem abschüssigen Waldweg im Schwarzwald hatte er versucht, auf Skiern einen Porsche Cayenne zu überholen. Er hatte es fast geschafft, doch er war zu schnell gewesen und hatte sich bei dem unvermeidlichen Sturz eine Gehirnerschütterung zugezogen, einen Schlüsselbeinbruch und einen Kreuzbandriss im linken Knie. Nach einem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt war er für kurze Zeit wieder an seinen Schreibtisch zurückgekehrt, weil er zusammen mit der damals immer noch humpelnden EDV-Spezialistin den Täter unbedingt selbst hatte überführen wollen. Das Invalidenteam hatte dem Vergewaltiger dessen Taten zweifelsfrei nachgewiesen und er war später zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Bussard hatte danach eine vierwöchige Auszeit genommen, um seine Verletzungen auszukurieren. Einen Monat lang hatte er seine Tage mit Helen, Miriam und Tabea verbracht. Trotz seines malträtierten Körpers hatte er die Zeit sehr genossen, doch dieses Kapitel seines Lebens gehörte der Vergangenheit an.
„Wir haben ausgesehen wie Bruce Willis und Uma Thurman nach dem Showdown“, bemerkte er, warf seine Kippe auf den Boden und trat sie aus.
„Stimmt“, bestätigte Susanne und trat ihre Kippe ebenfalls aus, „obwohl du noch wesentlich mehr Haare hast.“
Bussard lehnte sich gegen das Treppengeländer und blickte in den wolkenlosen Frühlingshimmel. Es waren noch zwei Wochen bis Ostern, doch er hatte noch keine Ahnung, wie er die Feiertage verbringen würde.
„Woran denkst du?“, fragte Susanne, der nicht entgangen war, dass ihr Kollege schon seit Wochen kaum noch lächelte. „Du wirkst in letzter Zeit manchmal ziemlich abwesend.“
„Ich frage mich, was der Täter mit Strahle vorhat“, antwortete Bussard ausweichend.
Die EDV-Spezialistin betrachtete den Kommissar einen Augenblick lang nachdenklich. Bussard hatte ihre eigentliche Frage nicht beantwortet, doch wenn er nicht über sein Problem sprechen wollte, dann wollte sie ihn auch nicht dazu drängen.
„Glaubst du, dass er ihn gefangen hält?“, fragte sie stattdessen.
„Ja, ich denke schon“, erwiderte Bussard. „Der Täter will etwas von uns.“
„Und was will er?“
„Zunächst einmal Aufmerksamkeit. Er hat sich quasi zweimal bei uns gemeldet. Mit der Entführung des Leitenden Oberstaatsanwalts ist ihm unsere Aufmerksamkeit sicher. Er weiß jetzt, dass wir ihm zuhören werden, wenn er seine Forderungen stellt.“
Bussards Handy läutete und er nahm sein Telefon aus seiner Jacke. Im Display stand der Name „Smirna“.
„Bertold, was gibt’s?“, fragte der Kommissar.
Er hörte eine Weile zu, dann bedankte er sich und steckte sein Handy wieder ein.
„Mallmann und sein Team haben den Geldautomaten untersucht“, berichtete er. „Auf dem Tastenfeld haben sie Fingerabdrücke von mehreren Personen sichergestellt. Einer dieser Abdrücke konnte bereits jemandem zugeordnet werden.“
„Jemanden, den wir kennen?“
„Ja, Mallmann hat einen Fingerabdruck von Oliver Hafner auf dem Tastenfeld des Geldautomaten sichergestellt.“