Im Schatten der Wahrheit

Kriminalroman (Bussards zweiter Fall)

Ralf Kurz


ISBN: 978-3-95428-616-4
1. Auflage 2015
© 2015 Wellhöfer Verlag, Mannheim

info@wellhoefer-verlag.de
www.wellhoefer-verlag.de
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.

Inhalt

Ralf Kurz

 

Den geborenen Pfälzer, Jahrgang 1961, verschlug es nach dem Abitur nach Freiburg, wo es ihm so gut gefiel, dass er die Stadt zu seiner Wahlheimat erkor. Er erlernte den Kaufmannsberuf, spielte jedoch nebenbei viele Jahre als Gitarrist und Bassist in Rock- und Bluesbands, bevor er mit dem Schreiben begann.

 

Seine ersten beiden Romane „Sdaiv – die Entführung der Fußball-Nationalmannschaft“ (Krimi, 2005) und „Die Ziege im Anzug“ (Liebeskomödie, 2008) sowie einige Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien veröffentlichte er unter seinem Pseudonym FREEMAN. Im Jahr 2008 erschien unter seinem eigenen Namen der große, historische Portraitroman „Der Diplomat“ über den Staatsmann und Minister Johann Christian von Hofenfels (1744 – 1787). Mittlerweile ist Kurz zum Krimigenre zurückgekehrt.

Für Anna

Die raffiniertesten Lügen verbergen sich im Schatten der Wahrheit

Mit eisigen Klauen hielt die sibirische Kälte das Mädchen gefangen. Mühelos durchdrang sie Kleidung und Haut, die längst keinen Schutz mehr boten und lähmte jede Bewegung. Die Schritte wurden schwerer und die Kräfte des Mädchens schwanden von Minute zu Minute. Nase, Ohren und Hände hatten sich im Lauf der letzten Stunde violett verfärbt. Die Füße, die sich in hartgefrorenen Sneakers durch den kniehohen Schnee kämpften, spürte das Mädchen längst nicht mehr. Selbst die Schmerzen, die anfangs bei jedem Schritt wie glühende Messer durch den zerbrechlichen Körper gezuckt waren, hatten vor der Kälte kapituliert.

Irgendwann, irgendwo war Alyssa in der Dunkelheit vom Weg abgekommen. Vielleicht hatten Tränen ihren Blick verschleiert, bevor sie auf den Wangen zu Eisperlen gefroren waren. Alyssa wusste es nicht. Die Kälte war in ihren Kopf eingedrungen und hatte ihre Gedanken gefrieren lassen. Ihr Bewusstsein wich dem Instinkt, der nur den Kampf ums nackte Überleben kannte. Er trieb sie vorwärts, bis auch die letzten Reserven aufgebraucht waren und der ausgezehrte Körper stehen blieb.

Ich muss mich ausruhen.

Alyssa lehnte sich gegen den Stamm einer alten Fichte. Ihre Beine gaben nach, die Knie knickten ein und sie sank in sich zusammen. Die Schulter gegen den Stamm gelehnt, die Beine angezogen und die Arme verschränkt schloss sie die Augen. Es war vollkommen still im Wald.

Nur ein paar Minuten, dann muss ich weiter.

Wie ein bleierner Mantel legte sich die Nacht über Alyssa, hüllte sie ein und verhieß schöne Träume. Es war so verlockend, sich dem Schlaf hinzugeben, wo Müdigkeit, Erschöpfung und Kälte ihr nichts mehr anhaben konnten. Keine Schmerzen und keine Erinnerung an die qualvollen Stunden würden sie mehr peinigen. Je weiter sie sich der fließenden Grenze zwischen Wachen und Träumen näherte, desto wärmer wurde ihr. Der Schlaf, den man auch den kleinen Bruder des Todes nannte, nahm alles von ihr, wiegte sie federleicht und entführte sie aus der Welt, die voller Schmerz, Dunkelheit und Agonie war. Nicht einmal die tödliche Kälte konnte es mit seiner sanften Macht aufnehmen. Als der Schlaf Alyssa mit sich nahm, gestattete er ihr noch einen letzten, halben Gedanken.

Nur ein paar Minuten …

1

Das Gasthaus zur Linde war das letzte Gebäude im St. Wilhelmer Tal, das sich südöstlich von Freiburg zum Feldberg hinaufzog. Auf dem Parkplatz vor dem Gästehaus standen zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei, ein Dienstwagen mit dem Emblem des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Freiburg, ein Geländewagen der Forstverwaltung und ein Leichenwagen, dessen Anwesenheit das untrügliche Zeichen dafür war, dass jede Hilfe zu spät kam.

Kriminalhauptkommissar Bussard stellte seinen VW Passat ab und stieg aus. Der Leiter der Ermittlungsgruppe Gewaltverbrechen bei der Freiburger Kripo schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch, zog den Reißverschluss bis zum Kinn und stopfte seine Hände in die Hosentaschen. Die sibirische Kälte durchdrang den Stoff seiner Jeans mühelos und er dachte daran, dass es besser gewesen wäre, lange Unterhosen anzuziehen und Handschuhe mitzunehmen. Mit einem stummen Kopfnicken begrüßte er einen uniformierten Kollegen, der frierend von einem Bein auf das andere trat.

„Wohin?“, fragte Bussard.

„Ungefähr einen Kilometer den Waldweg hoch“, antwortete der Kollege und wies mit der behandschuhten Rechten zum Waldrand, „dann sehen Sie die Spuren schon.“

„Einen Kilometer?“

„Ja, aber Sie können nicht hochfahren. Es gibt keine Möglichkeit, den Wagen abzustellen, ohne den Weg zu versperren. Außerdem ist der Weg ziemlich glatt.“

Bussard betrachtete den Waldweg, soweit er ihn einsehen konnte. Die schwierigen Bedingungen störten ihn nicht, denn er fuhr gerne im Schnee und der winterliche Schwarzwald bot dazu viele Möglichkeiten. Es machte ihm Spaß, seinen Passat an und jenseits der Haftungsgrenze der Reifen zu bewegen, doch der Kommissar war an diesem Tag nicht ins St. Wilhelmer Tal gefahren, um sich zu amüsieren. Er nickte dem Kollegen noch einmal zu und stapfte los.

Der verschneite Waldweg, auf dem sich Reifenspuren und mehrere Schuhabdrücke deutlich abzeichneten, führte steil bergan. Das Marschieren wärmte den Körper auf, doch die Füße waren bereits nach wenigen Minuten eiskalt, obwohl Bussard feste Wanderschuhe trug. Sie hatten ein gutes Profil, doch sie boten keinen ausreichenden Schutz gegen die arktische Kälte, die der Kommissar vor allem in seinem Gesicht und auf seiner Kopfhaut spürte. Nach der Hälfte des Weges hatte er bereits den Eindruck, als seien seine Ohren zu Eiszapfen gefroren. Die Schönheit des Winterwaldes mit seinen bizarren Schnee- und Eisformationen nahm er kaum wahr, denn in Gedanken wappnete er sich für den Anblick, der ihn erwartete.

Die Fußspuren auf dem Waldweg endeten abrupt. Sie bogen nach links ab und führten zwischen den Bäumen den Hang hinauf. Die Böschung war zertrampelt worden und an einigen Stellen brach das dunkle Braun des Waldbodens durch den Schnee, während dornenreiche Brombeerranken den Aufstieg erschwerten. Bussard nahm die Hände aus den Hosentaschen und hielt sich am hartgefrorenen Stamm einer jungen Fichte fest. Er kämpfte sich die Böschung hinauf und folgte den Fußspuren im knietiefen Schnee. Die Kälte biss nun auch in seine Knöchel und Unterschenkel. Schon nach einhundert Metern waren seine Hosenbeine unterhalb der Knie gefroren. Seine Hände konnte er nicht in die Hosentaschen stecken, weil er im schwierigen Gelände mit seinen Armen immer wieder das Gleichgewicht ausbalancieren musste.

Fünf Minuten später hörte Bussard Stimmen im Wald. Er blieb stehen und sah den Hang hinauf. In einiger Entfernung erkannte er das rotweiße Absperrband, mit dem die Kollegen den Fundort der Leiche gesichert hatten. Kopfschüttelnd kämpfte er sich weiter durch den Schnee. In dieser gottverlassenen Gegend würde niemand die Arbeit der Kriminaltechniker stören, doch Vorschrift war Vorschrift und das Anbringen des Absperrbandes war stets die erste Amtshandlung bei der Aufnahme der Beweissicherung.

„Tag, Bussard“, rief Smirna, der Leiter der Kriminaltechnik, der mit seinem Kollegen Mallmann die Spuren sicherte.

„Tag, Bertold, Tag, Klaus“, erwiderte Bussard, als er die Absperrung erreichte.

Er atmete zweimal tief durch, denn die Anstrengung, sich durch den tiefen Schnee den Hang hinaufzukämpfen, hatte seinen Puls und seine Atmung beschleunigt.

An den Stamm einer mächtigen Fichte gelehnt saß ein Mädchen mit angezogenen Beinen und verschränkten Armen. Der Körper war von einer milchigweißen, hartgefrorenen Reifschicht überzogen. Die Gesichtshaut schimmerte bläulichweiß und Bussard war froh, dass die Augen des Mädchens geschlossen waren. Der Anblick war auch so schwer zu ertragen und trieb ihm fast die Tränen in die Augen.

„Professor Münchrath war schon da“, berichtete Smirna, „er konnte auf den ersten Blick keine äußerlichen Verletzungen feststellen. Allerdings ist die Leiche steifgefroren. Man muss sie erst im Rechtsmedizinischen Institut auftauen, bevor man sie obduzieren kann. Möglicherweise ist das Mädchen schlicht und einfach erfroren.“

„Schlicht und einfach“, fauchte Bussard und warf seinem Kollegen einen vernichtenden Blick zu, „kein Kind erfriert schlicht und einfach im Wald, Bertold! Wie zum Henker kam das Mädchen hierher?“

Smirna hob entschuldigend die Hand.

„Sorry, Bussard. So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, dass wir im Augenblick keinen Anhaltspunkt für ein Gewaltverbrechen haben. Es führt nur eine einzige Spur hierher. Alle anderen Spuren sind von uns beziehungsweise vom Förster und seinem Hund. Er hat die Leiche entdeckt.“

„Habt ihr ihren Ausweis gefunden?“

„Nein, allerdings haben wir auch nicht danach gesucht. Alles an ihr ist gefroren, selbst ihre Haare.“

Bussard schüttelte unwillkürlich den Kopf. Er konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Traurigeres gesehen zu haben. Das Mädchen mochte etwa zehn bis zwölf Jahre alt sein und hatte ein schmales, ausgezehrtes Gesicht mit eingefallenen Wangen und tiefliegenden Augen. Es trug Jeans und eine Winterjacke, aber weder Mütze noch Schal noch Handschuhe und die Füße steckten in dünnen, ausgetretenen Sneakers. Schon bei Temperaturen um null Grad hätte sich das Kind in dieser Aufmachung Erfrierungen zugezogen. Warum das Mädchen jedoch bei dieser arktischen Kälte und Temperaturen um minus zwanzig Grad ohne geeignete Kleidung durch den Wald geirrt war, wusste Bussard nicht.

„Hat Münchrath eine Einschätzung abgegeben, wie lange das Mädchen schon hier liegt?“, fragte er.

„Nein“, antwortete Smirna, „Münchrath konnte den Todeszeitpunkt nicht bestimmen, nicht einmal annähernd. Seit zwei Wochen liegen die Temperaturen dauerhaft im Minusbereich. Deshalb zeigt die Leiche auch keine Verwesungserscheinungen. Vielleicht findet er in seinem Institut etwas heraus.“

Bussard ging in die Hocke und betrachtete das tote Mädchen. Er hatte schon einige Leichen gesehen und doch schnürte ihm der Anblick die Kehle zu. Das Mädchen war einen einsamen und schrecklich kalten Tod gestorben.

„Was wolltest du hier?“, fragte er leise.

„Es gibt derzeit keinen Hinweis auf ein Gewaltverbrechen“, sagte Smirna noch einmal, „wenn Münchrath nichts anderes feststellt, dann ist das nicht unser Fall.“

„Nicht unser Fall“, wiederholte Bussard, stand auf und drehte sich zu Smirna um, „und was machen wir dann? Gehen wir einfach zur Tagesordnung über?“

„Bertold hat recht“, erklärte Mallmann, „wenn es sich nicht um ein Gewaltverbrechen handelt, ist zuerst einmal die Vermisstenstelle zuständig. Vielleicht ist das Mädchen von zu Hause ausgerissen und hat sich im Wald verlaufen. Es war vermutlich ein tragischer Unglücksfall.“

Bussard schüttelte den Kopf. Smirna und Mallmann hatten die Umstände richtig eingeschätzt. Wenn es sich nicht um ein Gewaltverbrechen handelte, dann war die entsprechende Ermittlungsgruppe auch nicht zuständig. Solange der Rechtsmediziner keinen gewaltsamen Tod diagnostizierte, gab es auch keinen Fall. Bussard hoffte fast, dass Münchrath etwas finden würde, das ein Ermittlungsverfahren rechtfertigte. Für den Kommissar spielte es keine Rolle, woran genau das Mädchen gestorben war. Sein Tod war eine Tragödie und Bussard wollte wissen, wie es dazu gekommen war. Wenn die genauen Todesumstände ermittelt waren, dann würde sich auch zeigen, ob man jemanden dafür zur Verantwortung ziehen musste.

 

*

 

Am „Schmutzige Dunschtig“, wie der Donnerstag vor dem Aschermittwoch in der badischen Mundart genannt wurde, begann die schwäbisch-alemannische Fastnacht. Das Wort „Schmotz“ bedeutete Schmalz oder Fett und je nach Gegend und Schreibweise war der „Schmutzige“ oder „Schmotzige Dunschtig“ der Tag, an dem traditionell geschlachtet und gebacken wurde, um vor der siebenwöchigen Fastenzeit noch einmal richtig zu schmausen und sich die Bäuche vollzuschlagen. Während in Freiburg die Narren das Rathaus stürmten, um den Stadtschlüssel und damit die Regierungsgewalt zu übernehmen, saßen im Gasthaus zur Linde die wenigen Anwesenden am Stammtisch direkt neben dem großen Kachelofen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Die bunten Girlanden und Luftschlangen, mit denen das Lokal wegen der Faschingstage geschmückt war, erschienen Bussard deplaciert. Der Kommissar war alles andere als in Feierlaune. Er setzte sich auf die Ofenbank, zog seine Schuhe aus und massierte seine eiskalten Füße, in die nur langsam Leben zurückkehrte.

„Einen heißen Tee“, fragte die Bedienung, die ebenfalls am Stammtisch gesessen hatte, „oder lieber einen Glühwein?“

„Einen Pfefferminztee“, entschied Bussard.

Die Bedienung, eine dralle, blonde Frau, die eine Pippi-Langstrumpf-Perücke und bunte Ringelstrümpfe trug, nickte ihm zu und ging zum Tresen, wo sie beim Wirt die Bestellung aufgab. Bussard sah die beiden Männer an, die in schwarze Anzüge gekleidet, zusammen mit dem Förster und einem uniformierten Polizeibeamten am Tisch saßen.

„Ihr könnt das Mädchen jetzt holen“, forderte er sie auf, „die Kollegen sind inzwischen fertig.“

Der Ältere der Angesprochenen nickte und wandte sich an den Förster.

„Sie haben doch bestimmt einen Wagen mit Allradantrieb. Können Sie uns nicht helfen, die Verblichene aus dem Wald zu holen?“

„Was“, entrüstete sich der Förster, „eine Leiche in meinem Auto transportieren? Auf keinen Fall!“

Der grün gekleidete, untersetzte Mann, dessen knollige, rote Nase von blauen Adern durchzogen war, schüttelte kategorisch den Kopf. Er faltete seine wurstigen Finger über dem mächtigen Bauch, der wie die Nase davon zeugte, dass der Mann im Lauf der letzten zwanzig oder dreißig Jahre unzählige Flaschen der guten badischen, von der Sonne verwöhnten Tropfen entkorkt und in sich hineingeschüttet hatte.

„Aber mit unserem Wagen kommen wir den Waldweg nicht hoch“, erklärte der Bestatter, „und wir können sie ja schlecht den ganzen Weg runtertragen.“

Der Förster zuckte stumm mit den Achseln und schüttelte gleichzeitig missbilligend den Kopf.

„Stell dich doch nicht so an“, mischte sich die Bedienung ein, die Bussards Tee brachte und auf den Tisch stellte, „eine tote Wildsau im Kofferraum juckt dich doch auch nicht. Jetzt hilf den Männern halt. Das arme Ding kann doch nicht im Wald bleiben.“

„Nix da“, erklärte der Förster, „ich fahr keine Leiche durch die Gegend.“

Bussard ließ seine kalten Zehen los und drehte sich um.

„Es ist mir scheißegal, wie Sie das anstellen“, rief er aufgebracht, schlug mit der flachen Hand knallend auf den Tisch und sah dem Bestatter direkt in die Augen, „Sie holen jetzt das Mädchen aus dem Wald und fahren es in die Rechtsmedizin!“

Der Bestatter zuckte zusammen, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Bussards zorniger Blick duldete keine Widerrede. Er nickte seinem Kollegen zu und die beiden Männer erhoben sich. Sie nahmen ihre schwarzen Mäntel von der Garderobe, setzten ihre schwarzen Mützen auf, zogen ihre schwarzen Handschuhe an und verließen grußlos das Lokal.

„Aasgeier“, knurrte Bussard ihnen nach, schüttelte den Kopf und wandte sich an den Förster. „Sie haben die Leiche gefunden?“

„Ja, Odin hat sie gewittert“, antwortete der Förster und tätschelte dem schwarzgrauen Jagdhund, der neben seinem Stuhl lag, den Kopf.

„Wann waren Sie zum letzten Mal an der Stelle, wo das tote Mädchen liegt?“

„Ende November, warum?“

Bussard hatte gehofft, Rückschlüsse auf den Todeszeitpunkt ziehen zu können, doch Ende November war es noch viel zu warm gewesen. So lange lag das Mädchen noch nicht im Wald.

„Haben Sie eine Idee, woher das Mädchen gekommen sein könnte“, fragte er, „oder vielleicht, wohin es wollte?“

„Nein“, antwortete der Förster achselzuckend, „keine Ahnung.“

„Kannten Sie das Mädchen oder haben Sie es schon einmal in der Gegend gesehen?“

Der Förster brummte verneinend und schüttelte den Kopf.

„Na gut, Herr …“

„Schmelzer.“

„… Herr Schmelzer. Sie fahren jetzt nach Freiburg zum Präsidium“, entschied Bussard, „die Kollegen werden Ihre Aussage zu Protokoll nehmen.“

„Ich habe jetzt keine Zeit“, widersprach der Förster, „außerdem ist bald Mittag und ich habe noch nichts gevespert.“

Bussard zog die Augenbrauen zusammen und sah Schmelzer drohend an.

„Ein junges Mädchen ist tot“, sagte der Kommissar schneidend, „es starb in Ihrem Revier. Sie waren der Erste am Tatort und Sie haben den Leichenfund gemeldet. Ich gebe Ihnen eine Stunde, um Ihre Unterschrift unter das Vernehmungsprotokoll zu setzten. Andernfalls lasse ich Sie zur Fahndung ausschreiben und in Handschellen vorführen.“

Der Förster klappte den Mund auf und wieder zu.

„Eine Stunde“, wiederholte Bussard und trank schlürfend von seinem Tee. „Scheiße! Gibt´s hier keinen Zucker?“

 

*

 

Es würde einen Tag dauern, den gefrorenen Leichnam aufzutauen, hatte Münchrath am Telefon erklärt. Auf Bussards Frage, ob sich der Vorgang nicht beschleunigen ließe, hatte der Rechtsmediziner zu bedenken gegeben, dass durch eine künstliche Erwärmung Spuren verfälscht oder schlimmstenfalls zerstört werden könnten. Der Kommissar müsse sich wohl oder übel in Geduld üben. Seinen Ärger unterdrückend hatte Bussard den Professor gebeten, so bald wie möglich Fingerabdrücke zu nehmen und die Kleidung der Toten zu durchsuchen, um ihre Identität möglichst schnell klären zu können.

Auch der Anruf bei der Vermisstenstelle verlief ergebnislos. In Freiburg und Umgebung war kein Mädchen als vermisst gemeldet, auf das die Beschreibung der Toten passte. Bussard forderte die Kollegin auf, die Suche bundesweit auszudehnen, dann rief er Smirna an, damit der Kriminaltechniker Fotos des Mädchens umgehend an die Vermisstenstelle weiterleitete.

„Was ist los, Bussard“, fragte Smirna am Telefon, „alles geht seinen Gang. Warum machst du die Pferde scheu?“

„Ist ein totes Kind nicht Grund genug?“, gab Bussard zurück.

„Wir wissen doch noch gar nicht, ob ein Verbrechen verübt wurde“, erklärte der Kriminaltechniker. „Warte doch erst einmal die Obduktion ab. Vielleicht hat sich das Mädchen einfach nur verlaufen. Das ist tragisch, aber kein Straftatbestand.“

„Jemand hätte …“, begann Bussard, doch er brach mitten im Satz ab.

Es gab wirklich keinen Grund, die Pferde scheu zu machen. Das Mädchen war tot und keine noch so große Eile machte es wieder lebendig.

„Was sagen die Tatortspuren?“, fragte er.

„Wir haben keinen Tatort, sondern einen Fundort“, korrigierte Smirna, „und die Spurenlage ist mager. Soweit wir festgestellt haben, hat sich außer dem Mädchen niemand in der unmittelbaren Umgebung des Fundorts aufgehalten. Es ist zwar nicht hundertprozentig auszuschließen, dass jemand im Schnee seine Spuren verwischt hat, doch das erscheint mir extrem unwahrscheinlich. Wir haben nicht den kleinsten Hinweis auf die Anwesenheit einer zweiten Person gefunden. Tut mir leid, Bussard.“

„Gib mir Bescheid, falls sich doch noch etwas ergibt“, forderte der Kommissar, verabschiedete sich und legte auf.

Seine Füße waren immer noch kalt, obwohl er schon seit einer Stunde in seinem Büro saß. Er drehte seinen Schreibtischstuhl zur Seite und legte die Füße auf die Heizung. Immerhin waren die Hosenbeine seiner Jeans mittlerweile wieder aufgetaut und getrocknet. Während Bussard aus dem Fenster sah, dachte er darüber nach, dass man sich über Wärme und Behaglichkeit, die eine Heizung spendete, eigentlich keine Gedanken machte. Sie waren ein Luxus, der längst zur Selbstverständlichkeit geworden war. Man drehte den Regler auf und innerhalb weniger Minuten erwärmte sich die Luft im Raum. Nur wenn die Heizung ausfiel, spürte man, wie wichtig Wärme war. Beheizbare Räume waren mehr als eine kulturelle Errungenschaft, mehr als Lebensqualität. Wärme war existenziell, Wärme war überlebenswichtig. Seit zwei Wochen lagen die Temperaturen in Deutschland dauerhaft weit unterhalb des Gefrierpunkts, weil ein anhaltendes Hochdruckgebiet sibirische Kaltluft nach Mitteleuropa brachte. In der Stadt waren die Temperaturen in der Nacht auf minus neunzehn Grad gefallen. Der Fundort des Mädchens lag auf etwa neunhundert Metern über Meereshöhe. Dort war es noch einige Grad kälter. Wenn man diesen Temperaturen schutzlos ausgeliefert war, sank die Lebenserwartung rapide. Solange man Kraft hatte und in Bewegung bleiben konnte, produzierte der Körper Eigenwärme. Wenn einen jedoch die Kraft verließ, wenn man sich hinsetzte, weil man nicht mehr weiter konnte, dann legte einem der Tod die Hand auf die Schulter.

Bussard war in guter körperlicher Verfassung. Bei einer Größe von einem Meter und achtzig wog der Vierzigjährige knapp achtzig Kilogramm. Er trieb regelmäßig Sport und war deshalb kräftig und ausdauernd. Am Morgen hatte er vom Gasthaus zur Linde bis zum Fundort des Mädchens etwa fünfzehn Minuten gebraucht und sich zehn Minuten später wieder auf den Rückweg gemacht. Insgesamt war er nur etwas mehr als eine halbe Stunde unterwegs gewesen. Trotzdem hatte er gespürt, dass die Kälte seinen Körper angegriffen hatte. Seine Beine waren kalt geworden und hatten die gewohnte Lockerheit beim Gehen verloren. Es war nur eine leichte, aber dennoch deutlich wahrnehmbare Bewegungseinschränkung gewesen. Beim Bergabgehen hatten sich seine Knie weich angefühlt, weil die auskühlenden Muskeln seiner Oberschenkel langsamer und weniger kräftig als gewohnt gearbeitet hatten. Bussard fragte sich, wie seine Beine wohl reagiert hätten, wenn er zwei oder drei Stunden unterwegs gewesen wäre. Dank seiner guten Kostitution wäre er nicht in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, doch für das dünne, ausgezehrte Mädchen waren zwei oder drei Stunden vermutlich mehr gewesen als es hatte ertragen können. Die extreme Kälte und die mangelhafte Kleidung hatten den wenig widerstandsfähigen Körper in kurzer Zeit ausgekühlt. Die Position, in der man das Mädchen gefunden hatte, deutete darauf hin, dass es sich hingesetzt hatte, um sich auszuruhen. Wahrscheinlich war es dann vor Erschöpfung eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Das Kind war einsam im Wald erfroren, kaum mehr als einen Kilometer vom nächsten Gasthaus entfernt, wo ein wärmender Kachelofen den grausamen Tod verhindert hätte. Bussard wusste nicht, wann das Mädchen gestorben war, aber er hatte den Eindruck gehabt, als hätte der Leichnam schon mindestens zwei bis drei Tage im Wald gelegen, vielleicht auch länger. Warum war das Kind dann nicht als vermisst gemeldet worden?

An den steilen Hängen des Schwarzwaldes machten knietiefer Schnee und widerspenstiges Unterholz jedes Vorwärtskommen zu einer Tortur. Das Mädchen hatte mit seinen wenigen Kräften in einer Stunde sicherlich nicht einmal einen Kilometer zurücklegen können. Bussard schätzte, dass es sich nicht länger als drei Stunden in der sibirischen Kälte aufgehalten haben konnte, bevor es sich müde und erschöpft unter eine Fichte gesetzt hatte, um sich auszuruhen. Demnach musste das Kind irgendwo im Umkreis von zwei bis drei Kilometern vom Fundort losgelaufen sein.

Er nahm die Füße von der Heizung, drehte seinen Stuhl zum Schreibtisch und griff nach der Computermaus. Wenige Klicks später hatte er eine Übersichtskarte vom südlichen Hochschwarzwald auf seinem Monitor. Vom Fundort des Mädchens bis zum Gipfel des Feldbergs, dem größten Skigebiet der Region, waren es ungefähr zwei Kilometer Luftlinie. Vielleicht war das Mädchen dort losgelaufen, doch seiner Kleidung nach hatte es keinen Wintersport betrieben. Außerdem war das Kind sicherlich nicht auf geradem Weg durch den Wald geirrt. Im unwegsamen Gelände hatte es sich wahrscheinlich in Schlangenlinien fortbewegt, war mal links, mal rechts abgebogen, ohne wirklich eine größere Strecke zurückzulegen. Rings um den Fundort, im Umkreis von einem Kilometer, gab es jedoch nur Wald. Die nächsten Ski- und Wanderhütten lagen jeweils zwei bis drei Kilometer entfernt und das Mädchen hatte kaum einen einsameren Ort zum Sterben finden können.

2

Mit dem Sonnenuntergang war es noch einmal spürbar kälter geworden. Bussard hatte das Präsidium verlassen, doch bevor er sich auf den Heimweg machte, wollte er zuerst noch eine Zigarette rauchen. Er nahm Tabak und Blättchen aus seiner Jacke und begann zu drehen.

„Ich leiste dir Gesellschaft.“

Bussard sah nach rechts und erkannte Susanne Bauer, die EDV-Spezialistin der Freiburger Kripo, die mit einer Zigarette in der Hand auf ihn zukam. Bussard klebte das Blättchen zu, rupfte die überstehenden Tabakreste ab und fischte sein Feuerzeug aus der Jackentasche. Mit der hohlen Hand die Flamme schützend gab er ihr Feuer, dann zündete er seine eigene Zigarette an.

„Du siehst nicht gerade wie ein strahlender Held aus“, stellte sie fest.

„Warum sollte ich so aussehen?“, gab er zurück und steckte seinen Tabak ein.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie, „aber ich habe den Eindruck, dass dir irgendetwas auf der Seele liegt.“

„Und woran siehst du das?“

„An deinem Gesicht und an deinem Blick.“

Bussard antwortete nicht. Seit Tagen war seine Laune auf dem Nullpunkt, weil seine Frau Helen eine Entscheidung von ihm verlangte, die er nicht in ihrem Sinn treffen konnte. Sie wollte, dass er seinen Job als Ermittler aufgab und sich zum Innendienst versetzen ließ, wo er geregelte Arbeitszeiten hatte. Er aber wollte das nicht und sie wollte das nicht akzeptieren.

Susanne zog an ihrer Zigarette und betrachtete Bussard von der Seite.

„Komm mit“, sagte sie spontan.

„Wohin?“

„Zu Angelos, ich geb dir ein Bier aus.“

Bussard wollte ablehnen, doch im Grunde sprach nichts gegen ihre Einladung. Helen war am Morgen mit den Kindern zu ihrer Mutter nach Bayern gefahren. Offiziell handelte es sich um eine unaufschiebbare Familienangelegenheit, doch in Wahrheit wollte sie einige Tage Abstand haben, um über ihre familiäre Situation nachzudenken. Sie hatte zwar nicht mit Trennung gedroht, falls er sich nicht für den Job im Innendienst entscheiden würde, doch zwischen den Zeilen hatte er genau verstanden, welche Konsequenzen seine Weigerung haben würde.

„Okay“, entschied er, weil ihn niemand zu Hause erwartete, „lass uns gehen, bevor wir hier festfrieren.“

Sie setzten sich in Bewegung und gingen schweigend nebeneinander her, während sie ihre Zigaretten rauchten. Zehn Minuten später saßen sie bei Angelos Papadoupulos, einem Griechen, dessen Lokal häufig von Polizisten frequentiert wurde. Bussards Handy läutete und er beantwortete den Anruf. Seine Tochter Miriam berichtete, dass sie wohlbehalten bei ihrer Oma angekommen waren. Es war die erste gute Nachricht des Tages.

Susanne bestellte zwei Pils, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und sah in Bussards Gesicht.

„Was hast du auf dem Herzen?“, fragte sie.

„Was meinst du?“, gab er zurück.

„Du siehst beschissen aus, Bussard.“

„Es war ein beschissener Tag“, erwiderte er.

„Wegen des toten Mädchens?“

„Ja“, antwortete er, obwohl es nur die halbe Wahrheit war.

„Habt ihr schon herausgefunden, wer sie ist?“, fragte sie und Bussard schüttelte den Kopf.

„Nein. Es gibt noch keinen Hinweis auf ihre Identität. Bei der Vermisstenstelle weiß niemand etwas über das Kind.“

Er lehnte sich zurück und rieb sich die Augen mit den Fingerspitzen.

„Irgendjemand wird sich schon melden“, erklärte Susanne zuversichtlich, „Kinder gehen nicht einfach so verloren, ohne dass jemand nach ihnen sucht.“

„So? Glaubst du?“, erwiderte er unwirsch. „Das Kind ist seit mindestens zwei Tagen tot, vermutlich sogar schon wesentlich länger. Warum haben es die Eltern nicht als vermisst gemeldet?“

Angelos brachte die beiden Pils, legte zwei Bierdeckel auf den Tisch und stellte die Gläser darauf.

„Zum Wohl“, wünschte der Wirt.

„Danke“, erwiderte Susanne, nahm ihr Glas und hielt es Bussard prostend entgegen, „wir können die Geschichten immer nur aufklären. Verhindern können wir sie nicht.“

Bussard zuckte mit den Achseln, nahm sein Glas und prostete ihr zu. Die beiden Polizisten nahmen den ersten Feierabendschluck und stellten ihre Gläser wieder ab. Eine Weile betrachtete Bussard stumm sein Bierglas und verlor sich in seinen Gedanken, bis Susanne ihn wieder ansprach.

„Du bist schon zehn Jahre länger beim Verein als ich“, stellte sie fest, „warum macht dir die Geschichte so zu schaffen?“

Bussard seufzte und schüttelte den Kopf.

„Es sind die Kinder“, antwortete er schließlich, „es sind immer die Kleinsten, die am meisten leiden.“

„Ja, das ist …“

„Tragisch“, unterbrach er sie, „das habe ich heute schon zweimal gehört und es kotzt mich an. Ich kann dieses Wort nicht mehr hören.“

Er griff nach seinem Glas, hob es an und stellte es wieder ab.

„Ich habe noch niemals etwas so … Herzzerreißendes gesehen“, berichtete er, „ein Kind erfriert einsam im Wald. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe schon viel gesehen, aber das …“

Er brach ab und ließ seine Worte in der Luft hängen. Susanne streckte den Arm aus, um Bussards Hand zu fassen, unterließ es aber und griff stattdessen nach ihrem Glas.

„Du hast selbst Kinder“, sagte sie verständnisvoll, „zwei Mädchen, oder?“

„Erfroren im Wald“, murmelte er, ohne ihre Frage zu beantworten, „alleine an einem gottverlassenen Ort, während diese verdammte Kälte ihr langsam und unbarmherzig das Leben ausgesaugt hat.“

Er schüttelte noch einmal den Kopf, dann nahm er sein Glas und leerte es auf einen Zug.

 

*

 

Der Passat tat sich schwer. Mühsam drehte der Anlasser zwei, drei Mal und Bussard befürchtete bereits, dass die Batterie den Geist aufgeben würde, doch dann sprang der Motor doch noch an. Die nächtlichen Temperaturen von minus zwanzig Grad ließen den Tag ebenso zäh beginnen wie die fünf Pils und einige Ouzos, die Bussard am Abend zuvor bei Angelos getrunken hatte. Eigentlich war es nicht seine Art, seinen Frust in Alkohol zu ertränken und er vertrug auch nicht so viel, weil er selten mehr als zwei Bier oder zwei Viertel Wein trank, doch er hatte sich mit Susanne verquatscht und dabei ein Pils nach dem anderen getrunken. Es war das erste Mal gewesen, dass er ein persönliches Gespräch mit ihr geführt hatte. Sie waren zwar Kollegen, hatten aber bei der täglichen Arbeit nur hin und wieder miteinander zu tun. Die Frau mit den langen blonden Haaren und der Figur eines Bikini-Models war EDV-Spezialistin und im Innendienst tätig, während er als leitender Ermittler meist im Außendienst unterwegs war. Drei Monate zuvor hatten sie zum letzten Mal gemeinsam an einem Fall gearbeitet. Nach einem Raubmord in einem Freiburger Juweliergeschäft hatten beide der SOKO angehört, die den Fall bearbeitet und schließlich auch gelöst hatte. Danach hatten sich ihre Arbeitsbereiche nicht mehr überschnitten. Man traf sich hin und wieder auf dem Flur oder in der Caféteria, wechselte ein paar belanglose Worte und ging seiner Wege. Warum er am Abend zuvor drei Stunden lang bei Angelos gesessen und mit ihr über Gott und die Welt geredet hatte, wusste Bussard selbst nicht.

Es war eine sehr trockene Kälte, die aus Sibirien kommend Deutschland in ihrem eisigen Griff hielt, und auf der Windschutzscheibe hatte sich im Lauf der Nacht nur eine dünne Eisschicht gebildet. Bussard kratzte das Eis vom Glas, während der Motor langsam warm lief. Seinem dumpfen Brummschädel, der sich anfühlte, als sei das Gehirn im Lauf der Nacht gewachsen und hätte nun zu wenig Platz in seiner Behausung, tat die Kälte gut. Er hatte schwarzen Kaffee und eine Aspirin gefrühstückt, die seinen Denkapparat langsam wieder in Bewegung brachten.

Oh Mann, dachte er, als ihm dämmerte, warum sein Passat vor seiner Haustür stand. Er war nach dem Besuch bei Angelos eigenhändig nach Hause gefahren, doch die konkrete Erinnerung daran verlor sich im Bierdunst. Vermutlich hatte er immer noch zuviel Restalkohol im Blut, aber das kümmerte ihn nicht. Beim Bahnhof gab es einen Kiosk und dort verkaufte man Pfefferminzbonbons.

Eine halbe Stunde später betrat Bussard sein Büro. Er zog seine Jacke aus, hängte sie an die Garderobe und brachte die Kaffeemaschine in Gang. Seit seine ehemalige Partnerin Sylvia Harter ein Jahr zuvor zum Landeskriminalamt nach Stuttgart gewechselt war, hatte er das Büro für sich alleine. Der zweite Arbeitsplatz war verwaist. Neudörfer, Bussards Chef, hatte zwar schon zweimal einen neuen Kollegen angekündigt, doch aus unerfindlichen Gründen war noch niemand aufgetaucht. Bussard bedauerte das nicht. Er arbeitete gerne alleine, auch wenn er es mehr als schade gefunden hatte, dass Sylvia zum LKA gewechselt war. Nach einem kurzen Klopfen wurde die Tür geöffnet und Polizeirat Ulf Neudörfer betrat den Raum.

„Morgen, Bussard.“

„Morgen, Chef.“

„Wissen wir schon etwas über das tote Mädchen?“, fragte Neudörfer und schloss die Tür.

„Nein“, antwortete Bussard, „aber ich frage gleich mal nach.“

Er stellte seine Tasse ab, nahm das Telefon und rief in der Rechtsmedizin an. Professor Münchrath berichtete, dass er Fotos geschossen und Fingerabdrücke genommen habe. Einen Personalausweis oder andere Dokumente, die die Identität der Toten klären konnten, habe er nicht gefunden.

„Woran ist sie gestorben?“, fragte Bussard.

„Das sage ich Ihnen nach der Obduktion“, antwortete Münchrath, „in ungefähr zwei Stunden.“

„Könnten Sie die Fotos und die Fingerabdrücke jetzt schon per Mail an mich schicken?“

„Ich werde meinen Assistenten damit beauftragen“, erwiderte der Rechtsmediziner.

Bussard bedankte sich und legte auf.

„Es gibt also noch keine Hinweise auf ein Gewaltverbrechen?“, fragte Neudörfer.

„Wir müssen die Obduktion abwarten“, antwortete Bussard, „dem ersten Anschein nach ist das Mädchen erfroren, aber vielleicht findet Münchrath noch etwas anderes heraus.“

„Informieren Sie mich, wenn sich etwas Neues ergibt“, sagte Neudörfer und verabschiedete sich.

Nachdem der Polizeirat Bussards Büro verlassen hatte, nahm der Kommissar seine Tasse und ging zum Fenster. Nachdenklich schlürfte er sein schwarzes Gebräu, während sein Blick über den Freiburger Westen schweifte, wo sich die Konturen der Hochhäuser im hellen Morgenlicht deutlich und scharf vor den Hängen der Vogesen jenseits des Rheins abzeichneten. Vielleicht stammte das Mädchen aus einem dieser schlichten Bauten, in denen meist vielköpfige Familien mit geringen Einkommen in viel zu kleinen Wohnungen lebten, doch es war sinnlos, mit den Ermittlungen dort beginnen zu wollen. Bussard konnte nicht nach der Nadel suchen, wenn er nicht einmal wusste, in welchem Heuhaufen sie sich verbarg.

Der Computer meldete den Eingang einer E-Mail. Bussard rief die Mail auf und atmete tief durch, als er die Fotos des toten Mädchens betrachtete. Er leitete die Nachricht an die Kriminaltechnik weiter und bat Smirna, Fotos und Fingerabdrücke mit den Einträgen in den entsprechenden Datenbanken abzugleichen.

Gegen zehn Uhr fuhr Bussard in die Rechtsmedizin. Professor Münchrath hatte die Obduktion bereits abgeschlossen, als der Kommissar das Institut betrat. Wie bei jedem Besuch traf der Geruch Bussards Magen wie ein Faustschlag. Unzählige Leichen hatten im Lauf der Jahre den Obduktionssaal mit ihren Verwesungsgerüchen verpestet. Selbst die scharfen Reinigungs- und Desinfektionsmittel konnten den Gestank nicht wirkungsvoll übertünchen und Bussard war froh, dass er den Rechtsmediziner in dessen Arbeitsbereich nur selten aufsuchen musste.

Die Leiche des unbekannten Mädchens lag noch auf dem Tisch, war aber mit einem großen, grünen Tuch abgedeckt, das die Konturen des schmächtigen Körpers undeutlich hervortreten ließ. Lediglich der Kopf schien die richtige Größe zu haben, während Rumpf und Gliedmaßen viel zu dünn und flach wirkten. Bussard trat an den Tisch, atmete einmal durch und zog das Tuch vom Gesicht weg bis zum Hals. Den Körper mit dem vernähten Y-Schnitt wollte er nicht sehen.

„Woran ist sie gestorben?“, fragte er, während er das bleiche, schmale Gesicht mit den eingefallenen Wangen betrachtete.

Münchrath, dessen dichter, ehemals schwarzer Lockenschopf im Lauf der letzten Jahre völlig ergraut war, ging zu einem der Tische an der Seite des Saals, wo aus einem Ghettoblaster klassische Musik erklang.

„Sie ist erfroren“, antwortete er und drehte die Musik leiser.

„Keine Hinweise auf Gewalteinwirkung?“

„Nicht, was die Todesursache angeht“, erwiderte der Rechtsmediziner.

Bussard wurde sofort hellhörig.

„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte er gespannt.

„Eins nach dem anderen“, erklärte der Professor, „zunächst einmal lässt sich zweifelsfrei feststellen, dass das Mädchen im Wald erfroren ist. Finger und Zehen …“

„Bitte keine Details“, unterbrach Bussard, „eine Zusammenfassung genügt mir vollkommen. Was haben Sie herausgefunden, das uns helfen könnte, das Mädchen zu identifizieren?“

Münchrath ging zu einem Lichtkasten an der Wand, an dem mehrere Röntgenaufnahmen befestigt waren und betätigte einen Schalter. Als die Leuchtstoffröhren den Kasten erhellten, deutete er auf eine Aufnahme der linken Hand des Mädchens.

„Bei der forensischen Altersdiagnostik vermisst man die Handwurzelknochen und vergleicht sie mit Referenzwerten“, erklärte er, „aus der Größe und den Abständen der Knochen zueinander lassen sich Rückschlüsse auf das Alter eines Kindes oder eines Heranwachsenden ziehen. Je älter der Mensch wird, desto weiter schließen sich die Lücken zwischen den Knochen. Anhand dieser Aufnahmen und unter Berücksichtigung des Allgemeinzustandes lässt sich das Alter des Mädchens auf vierzehn bis fünfzehn Jahre eingrenzen.“

„Vierzehn bis fünfzehn“, fragte Bussard überrascht, „ich hätte sie eher auf zehn bis zwölf geschätzt.“

„Kein Wunder“, erwiderte der Professor und nickte, „wir haben das Mädchen in einer Fötushaltung vorgefunden, mit angewinkelten Armen und Beinen, was keine Einschätzung seiner tatsächlichen Größe erlaubte und die mangelhafte Ernährung hat dazu beigetragen, die Entwicklung des Kindes zu verzögern.“

„Mangelhafte Ernährung“, wiederholte Bussard, „das heißt, dass das Mädchen magersüchtig war.“

„Nein“, widersprach der Rechtsmediziner, „Magersucht tritt frühestens bei pubertierenden Jugendlichen auf, nicht bei Kindern. Dieses Mädchen hat über viele Jahre zu wenig Nahrung zu sich genommen, was seine körperliche Entwicklung verlangsamt hat. Die Körperlänge liegt im unteren Normbereicht, aber die Ausbildung des Skeletts und der Organe sowie das Verhältnis von Körpergewicht zu Körperlänge liegen deutlich unterhalb der Norm.“

„Sie war zu dünn und hatte keine Widerstandskraft“, stellte Bussard fest.

Das Bild des viel zu mageren Mädchens, das sich mit letzter Kraft durch den knietiefen Schnee im Wald kämpfte, stand überdeutlich vor seinem inneren Auge.

„Ja, in der Tat“, bestätigte Münchrath.

Er nahm seine Brille ab und seine grauen Augen sahen den Kommissar traurig an.

„Aufgrund ihrer schwachen Konstitution konnte sie bei den extrem niedrigen Temperaturen nicht lange im Freien überleben.“

Bussard streckte die Hand aus und fuhr mit seinen Fingerspitzen sanft über die kalte Wange des toten Mädchens. Das Gesicht des Kindes, das von glatten, schwarzen Haaren umrahmt wurde, wirkte so zerbrechlich, als sei es aus hauchfeinem Porzellan. Der Kommissar musste zuerst schlucken, bevor er die nächste Frage stellen konnte.

„Wann ist sie gestorben?“

„Vor etwa acht bis zehn Tagen“, antwortete Münchrath, „genauer kann ich den Zeitpunkt leider nicht eingrenzen. Die Kälte hat den Körper konserviert und eine exakte Bestimmung des Todeszeitpunkts ist deshalb nicht möglich.“

Bussard schüttelte den Kopf. Wenn sich der Todeszeitpunkt nicht näher eingrenzen ließ, würde es schwierig werden, die genauen Todesumstände zu ermitteln.

„Das Mädchen litt nicht nur unter einer jahrelangen Mangelernährung“, fuhr Münchrath fort und setzte seine Brille wieder auf, „sondern auch unter mangelhafter Hygiene. Der Körper ist von Parasiten befallen. Ich habe Kopfläuse gefunden und zwei verschiedene Pilzerkrankungen. Am Hals hat sich ein Hautpilz ausgebildet und zwei Zehen des linken Fußes sind von einem Nagelpilz befallen. Beide Symptome gehen wahrscheinlich auf einen Darmpilz zurück. Näheres weiß ich, wenn der histologische Befund vorliegt. An den Fingern beider Hände finden sich Nagelbettentzündungen. Das Gebiss lässt darauf schließen, dass Zahnhygiene ebenfalls nur unregelmäßig oder selten stattgefunden hat. Sieben Zähne sind kariös und das Mädchen litt unter fortgeschrittener Parodontose sowie ausgeprägtem Zahnbelagsbefall. Einen toxikologischen Befund habe ich noch nicht, doch dem ersten Anschein nach deutet nichts auf fortgeschrittenen Drogenmissbrauch hin. Es finden sich keine typischen Einstichstellen in den Extremitäten und die Leber zeigt keine signifikante Veränderung.“

„Oh, Mann“, stöhnte Bussard, „Pilze und Läuse, Karies und Unterernährung. In welchem Loch musste das Mädchen wohl leben?“

„Das herauszufinden ist vermutlich Ihre Aufgabe“, erwiderte der Rechtsmediziner, „aber es gibt noch etwas, das Sie wissen sollten. Das Mädchen hatte kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr.“

„Sie wurde vergewaltigt?“

„Möglicherweise“, antwortete Münchrath mit einer vagen Handbewegung, „es finden sich kleine Verletzungen im Vaginal- und Analbereich. Ob es sich dabei um eine Vergewaltigung oder um einvernehmlichen, wenn auch ziemlich heftigen Sex gehandelt hat, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Es gibt weder typische Abwehrverletzungen noch Spuren, die auf eine Fesselung hindeuten. Ich habe auch keine fremden Hautpartikel unter ihren Fingernägeln gefunden. Sicher ist nur, dass sie mit mindestens zwei verschiedenen Männern Geschlechtsverkehr hatte. Ich habe zwar kein Sperma, aber Schamhaare von zwei männlichen Personen gefunden.“

 

*

 

Nach dem Besuch in der Rechtsmedizin fuhr Bussard zum Präsidium zurück und suchte zuerst die Kriminaltechnik auf, doch Smirna hatte keine positiven Nachrichten. Weder die Fotos noch die Fingerabdrücke des toten Mädchens ließen sich einer bekannten Person zuordnen.

„Wähle eine Aufnahme aus und schicke sie an die Badische Zeitung“, wies Bussard den Kollegen an, „sie sollen einen Aufruf an die Bevölkerung abdrucken. Irgendjemand muss das Mädchen kennen. Ich will so bald wie möglich ihren Namen wissen.“

„Alles klar“, erwiderte Smirna, „ich kümmere mich gleich darum. Wenn wir Glück haben, dann ist das Foto schon morgen früh in der Zeitung.“

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und nahm seine Computermaus zur Hand, während Bussard seine Schläfen mit den Fingerspitzen massierte.

„Kopfschmerzen?“, fragte Smirna.

„Nicht der Rede wert“, antwortete Bussard, „Kopfzerbrechen bereitet mir das, was Münchrath gesagt hat. Das Mädchen ist tatsächlich erforen. Es gibt keine Hinweise auf Gewalteinwirkung, die mit seinem Tod in Zusammenhang stehen. Außerdem sagt er, die Kleine sei vierzehn oder fünfzehn Jahre alt.“

„Tatsächlich“, fragte Smirna überrascht, „so alt hätte ich sie gar nicht geschätzt.“

„Ich auch nicht“, gab Bussard zu, „er meint, das käme von der Mangelernährung.“

„Mangelernährung?“

„Ja, das Mädchen hat wohl über Jahre hinweg zu wenig gegessen. Deshalb hat sich die Entwicklung des Körpers verzögert und sie wirkt jünger als sie ist.“

„Mangelernährung“, sagte Smirna noch einmal und schüttelte den Kopf, „von mir hätte sie gerne ein paar Kilo abhaben können.“

Bussard zog die Augenbrauen zusammen und sah Smirna durchdringend an. Er wollte den Kollegen, der bei einer Größe von einem Meter und achtzig deutlich mehr als einhundert Kilogramm auf die Waage brachte, zurechtweisen. Über ein halbverhungertes, totes Mädchen machte man keine Späße, doch er erkannte in Smirnas Gesicht, dass dessen Bemerkung nicht witzig gemeint war. Smirna ging der Tod des Mädchens näher als er zeigte. Am Fundort der Leiche hatte der Kriminaltechniker ebenso distanziert und geschäftsmäßig gewirkt wie in seinem Labor. Es war seine Art, mit der Tragödie umzugehen und Bussard wusste selbst, dass man viele Dinge nicht zu nahe an sich herankommen lassen durfte, wenn man den Job über Jahre hinweg durchstehen wollte.

„Die Kleine muss ein schlimmes Leben gehabt haben“, erklärte Bussard, „sie war unterernährt, hatte Läuse, Pilze, Karies und was weiß ich noch alles. Vermutlich ist sie vor ihrem Tod auch noch vergewaltigt worden. Ich könnte kotzen, wenn ich nur daran denke.“

„Oh, Scheiße“, fluchte Smirna, „haben wir wenigstens DNA-Material?“

„Münchrath hat Schamhaare von zwei verschiedenen Männern gefunden.“

„Mann, Mann, Mann“, stöhnte Smirna und schüttelte fassungslos den Kopf, „ich hoffe, dass wir die Schweine in die Finger kriegen!“

„Ich auch, Bertold“, erwiderte Busard grimmig, „ich auch.“