Steinzeit-Astronauten

Reinhard Habeck

Steinzeit-
Astronauten

Felsbildrätsel der Alpenwelt

Fotos von Reinhard Habeck und Elvira Schwarz

GEWIDMET meinen Freunden und Kollegen der Forschungsgesellschaft für Archäologie, Astronautik und SETI (A. A. S.), die nicht nur das Unbekannte durchleuchten, sondern kühn genug sind, das Bekannte zu bezweifeln.

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Vorwort von Erich von Däniken

Auftakt: Val Camonica ruft!

VERSTEINERTE GEHEIMNISSE

Die Entdeckung fantastischer Bilderwelten

Wer waren die Camuni?

Rätische Rätsel

Merkwürdige Musterbilder

Aberglaube oder Außerirdische?

KOSMISCHE KONTAKTE

Das Geheimnis der „Rosa Camuna“

Überirdisches Vermächtnis

Die Prä-Astronauten von Zurla

Das Comeback der Sternengötter

Stufen zum Kosmos

VERLORENES WISSEN

Sonnengötter in der Sackgasse

Die Magie der „Geisterberge“

Fliegende Häuser – Wohnstätten der Götter

Kunterbunte Multimediashow

Noch mehr Staunenswertes

Resümee

Mille Grazie!

Anhang

Impressum

Vorwort von Erich von Däniken

„Der Unterschied zwischen Gott und den Historikern besteht vor allem darin, dass Gott die Vergangenheit nicht mehr ändern kann.“
Samuel Butler (1835  1902), brit. Schriftsteller u. Sprachforscher

Vor Jahrtausenden kamen die steinzeitlichen Menschen weltweit auf den gleichen Gedanken: Sie beschlossen, Zeichnungen und Ritzungen an ihre Fels- und Höhlenwände zu kritzeln. Diese Kunstform, von Völkern zelebriert, die nichts voneinander wussten, nichts voneinander wissen konnten, ist faszinierend. Was soll an langweiligen Felszeichnungen interessant sein? Sie existieren im fernen Jemen, in Brasiliens Dschungel des Mato Grosso genauso wie an den Küsten Südchiles. Von Hawaii bis Zentralchina, von Sibirien über die Sahara bis Südafrika kleben Bildergrüße aus der Vergangenheit. Es gibt sie in allen Teilen Europas, auf verlassenen Inseln irgendwo im weiten Pazifik, im eiszeitlichen Alaska wie in den glühenden Felswänden der Kimberley-Berge Australiens. Desgleichen im fernen Kalifornien, auf den Osterinseln oder im Industal von Pakistan. Wie viele Felszeichnungen und Ritzungen mag es weltweit geben? Es müssen Abermillionen sein. Und das Unheimliche daran sind die Motive.

Dass Steinzeitmenschen immer wieder Jagdszenen kritzelten, die Sonne, den Mond, Kreise, Strichmännchen und Handflächen darstellten, ist normal. Kurios wird es, wenn bestimmte Formen unisono mit den gleichen Attributen versehen werden, als ob eine Buschtrommel die Schwingungen über alle Kontinente getragen hätte: Die mit den Strahlen sind die Götter!

Drei Voraussetzungen bilden die Grundlage aller Forschung: Freiheit des Denkens, Gabe der Beobachtung, Sinn für Zusammenhänge. Dem möchte ich noch eine vierte beifügen: die Überwindung des Zeitgeistes. Wir müssen die Felsbildkunst nicht nur mit den psychologischen Argumenten von vorgestern interpretieren, sondern auch mit den Fragen unserer Gegenwart. Was beeinflusste die Menschen weltweit zu ähnlichen Motiven? Ein gemeinsames Erlebnis? Die Menge der Felszeichnungen im alpinen Val Camonica belegt: Hier wirkte keine Einzelperson. Das Mitteilungsbedürfnis muss die ganze Gruppe erfasst haben. Alle wünschten, beachtet zu werden – zu ihrer Zeit und darüber hinaus.

Reinhard Habeck nimmt die Botschaften der Vergangenheit ernst. Sein Beitrag zum Verständnis der Frühgeschichte ist wichtig. Es geht um vergleichendes Material, um das Erkennen von Denkmustern, die vor Jahrtausenden auf allen Kontinenten sichtbar wurden. Welche Erlebnisse prägten unsere steinzeitlichen Vorfahren? Was war die Triebfeder der jungen Religionen? Und daraus abgeleitet: Warum wurden wir, was wir sind?

Auftakt: Val Camonica ruft!

„Wer weiß, was in der Zeiten Hintergründe schlummert.“
Friedrich Schiller (1759  1805), meistgespielter Klassiker dt. Bühne

Waren die Götter Astronauten? Hatten unsere Vorväter Kontakt mit Besuchern von fremden Sternen? Eine ungeheuerliche Vorstellung! Das würde buchstäblich alles auf den Kopf stellen, was wir bisher über unsere Vergangenheit gelernt haben. Nur Fantasten können so etwas behaupten, heißt es oft. Vertreter etablierter Lehren lehnen solche Thesen kategorisch ab. Was aber, wenn unser Geschichtsbild Sprünge erkennen lässt, sich vieles womöglich ganz anders zugetragen hat, als die offizielle Lehrmeinung versichert?

Angenommen, Archäologen fänden in einem keltischen Grab den Knopf eines außerirdischen Raumanzugs: Würden die Gelehrten das Ding aus einer anderen Welt überhaupt erkennen und richtig zu deuten wissen? Wer klassifiziert etwas fehlerfrei, das es nach gängiger Auffassung gar nicht geben kann? Will man jedoch etwas Handfestes finden, das mögliche extraterrestrische Eingriffe im Altertum bestätigen könnte, bedarf es zweier mutiger Schritte. Erstens: die Möglichkeit, solche Kontakte in Betracht zu ziehen. Und zweitens: die Bereitschaft, nach Indizien zu suchen – in alten Überlieferungen, verstaubten Museumsdepots, verschütteten Kultstätten und an heiligen Plätzen oder irgendwo in unserem Sonnensystem! Was wäre mit der Entdeckung eines „regelwidrigen“ Artefaktes verbunden? Entsetzen? Vertuschung? Oder eine neue fantastische Perspektive für die Menschheit? Die Kontroverse um die „Astronautengötter“ und die Faszination des Unbekannten waren für mich Anreiz genug, das vorliegende Buch zu schreiben. Die zentrale Frage bei meiner Spurensuche lautete: Wo könnte es begründete Belege für eine vorgeschichtliche, überirdische Einflussnahme geben? Nicht irgendwo in fernen Ländern, sondern unmittelbar vor unserer Haustür?

Eine Zeitmaschine wäre für historische E. T.-Ermittlungen hilfreich. Damit ließe sich hautnah miterleben, was in grauer Vorzeit wirklich geschah. Wäre ich im Besitz eines solchen utopischen Vehikels, wüsste ich einen idyllischen Schauplatz in den Alpen, wo ich mich Hals über Kopf hinkatapultieren würde: ins neolithische Freilichtmuseum Val Camonica, eine ländliche Region in der italienischen Lombardei nordöstlich von Mailand. Was es hier an den Berghängen entlang des Südalpentales zu sehen gibt, ist schlichtweg gigantisch! Mit Hunderttausenden Graffiti ist Val Camonica das größte steinzeitliche Bilderbuch Europas, ja wahrscheinlich sogar der ganzen Welt.

Und mittendrin im Gewirr der Illustrationen: seltsame Felszeichnungen, die Talbewohner unverblümt mit „astronauti“ betiteln. Seit Jahrzehnten geistern sie in schlechter Fotoqualität oder dilettantisch abgezeichnet durch die grenzwissenschaftliche Literatur. Aber kaum einer hat sie persönlich zu Gesicht bekommen. Das machte mich stutzig, skeptisch und neugierig zugleich. Gewissheit konnten nur persönliche Recherchen vor Ort erbringen. Also begab ich mich auf die Jagd nach den legendären „Steinzeit-Astronauten“ im Val Camonica, sprach mit führenden Felskunstexperten, diskutierte mit Forschern gängige sowie alternative Denkmodelle und besichtigte Fundplätze, die touristisch noch gar nicht erschlossen sind.

Man könnte annehmen, die Felsbildkunst würde sich auf einige wenige Gebiete wie das Val Camonica beschränken. In Wirklichkeit ist aber die gesamte Alpenwelt mit Piktogrammen und Felsritzungen durchzogen. Viele Bildmotive sind eher Zufallsfunde, manche hat man wieder vergessen oder sie wurden von Vandalen und Umwelt zerstört, andere sind wiederentdeckt worden oder müssen noch entdeckt werden. Die wichtigsten Fundorte können besichtigt werden. Vorausgesetzt, man ist gut zu Fuß, weiß von ihrer Existenz und hat Kenntnis ihrer genauen Lage. Mein Streifzug zu den letzten Rätseln unserer Vergangenheit führte mich weiter zu prähistorischen Kultplätzen in Österreich und der Schweiz. Eine auffällig identische Symbolik lässt vermuten, dass es bereits in der Steinzeit Verknüpfungen zum Felsbildheiligtum in Norditalien gegeben hat. Das verraten die geometrischen Ritzungen in Carschenna im Kanton Graubünden genauso wie die seltsamen Felsgravuren von „Sonnenrädern“ und „Himmelsleitern“ in der Kienbachklamm im Salzkammergut oder das rätische Schrifträtsel am Schneidjoch in Nordtirol. Auch Südtirol mit den Dolomitensagen (und verblüffend ähnlich lautenden Legenden „fliegender Menschen“ und antiker Flugvehikel aus dem alten China) spielt bei der kosmischen Nachforschung eine bedeutende Rolle.

Bei der Erkundungstour begleitete mich – wie fast immer im letzten Jahrzehnt – meine Lebenspartnerin Elvira Schwarz aus Basel. Viele Fotos in diesem exklusiven Report stammen von ihr. Die wertvollste Stütze bei der „Alpen-Mysterytour“ waren ihre sorgfältigen Reisevorbereitungen und das fremdsprachliche Talent. Und natürlich vagabundiert man im Zweiergespann stets angenehmer und amüsanter zu geheimnisvollen Stätten. Was es an Strapazen, Entdeckungen, Kameramotiven und allerlei Staunenswertem zu erleben gab, davon erzählen die folgenden Seiten in Wort und Bild. Steinzeitliche Alpen-Astronauten? Unglaublich, aber wahr! Wer ihren himmlischen Fährten folgt, darf sich auf handfeste Überraschungen gefasst machen. Überzeugen Sie sich selbst!

VERSTEINERTE GEHEIMNISSE

„In ihrer ganzen Großartigkeit wird die vorgeschichtliche Zivilisation niemals erkannt werden; zu viel ist durch die Verwüstung der Zeit, durch menschliche Vernachlässigung und Vandalismus verloren gegangen.“ 

Richard Rudgley, britischer Ethnologe

Die Entdeckung fantastischer Bilderwelten

UNVERSTANDENES ERBE

Wohl jeder kennt den Sinnspruch „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“. Wenn wir diese Idee mit einer Drittelmillion multiplizieren, sind wir in Val Camonica gelandet. Das rund 70 Kilometer lange Tal liegt am südlichen Alpenrand in der Lombardei. Es erstreckt sich im Norden ab der Ortschaft Edolo, führt entlang des Flüsschens Oglio und mündet gegen Süden in den kleinen Iseosee zwischen Bergamo und Brescia. Hier begegnen Forscher und Wanderer auf Schritt und Tritt einem reich illustrierten Multiversum voller fantastischer Geschichten, Gedanken und Spiegelbilder des Lebens.

Der revolutionäre Geistesblitz schlug in der Alpenregion mit dem Ende der letzten Eiszeit ein, verbreitete sich über die Jahrtausende in immer komplexeren Formen und endete ziemlich abrupt mit der Zeitenwende. Die Urväter haben uns eine unbegreifliche Bilderflut an Wundern und Wissen hinterlassen. Diese Zeugen der Vorzeit wurden – fein eingeritzt – auf Steinplatten, Felswänden und Monolithen verewigt. Die einzelnen Motive sind oft nicht größer als wenige Zentimeter. Doch wer sie einmal entdeckt hat, kann sich ihrer Faszination nicht mehr entziehen. Als bevorzugte Themen wählten die Steinzeitkünstler einfache Abbilder des Alltagslebens, naturalistische Wiedergaben von Tieren, bewaffnete Krieger im Kampf und Szenen der Jagd. Solche Darstellungen sind unmissverständlich. Dagegen haben geometrische Bildersymbole und figürliche Begriffzeichen ihr Geheimnis bewahrt. Verwirrende Spiralen, Labyrinthe, Schlangenlinien, Rauten, Netz- und Zickzackmuster sowie einfache und mehrfache Ringe mit „Strahlenmustern“ – was war damit gemeint? Und wieso zeigen Felsbilder auf der ganzen Welt typologische Ähnlichkeiten mit der Galerie aus Val Camonica?

Val Camonica in der Lombardei: atemberaubende Landschaft entlang des Oglio

Erstaunliche Analogien: Val Camonica/​Italien; Narigua/​Mexiko; Ballygowan/​Schottland; Galicien/​Spanien; Lombo da Costa/​Portugal; Carschenna/​Schweiz (v.o.n.u.)

Dazu passt eine vor wenigen Jahren gemachte Entdeckung in der Wüste bei Narigua im mexikanischen Bundesstaat Coahuila. Hier fanden Archäologen rund 500 Felsen mit Abertausenden Abbildungen, darunter schwer deutbare, abstrakte Muster. Viele der Felszeichnungen (Petroglyphen) zeigen „Cup-and-Ring-Markierungen“. Es sind dies konzentrische Kreissymbole und Spiralen, die hierzulande „Schälchen“ oder „Näpfchen“ genannt werden. Der Durchmesser und die Anzahl der Ringe variieren. Erst 2012 haben Wissenschaftler begonnen, die mexikanischen Funde genauer zu erforschen. Dabei stellte sich heraus, dass der Großteil der Zeichen bereits vor etwa 6.000 Jahren – mutmaßlich von Nomaden – mit Steinwerkzeugen in die Felsen geschlagen wurde. Wenn die Datierungen stimmen, sind die Ringmuster, die bevorzugt als „Sonnenscheiben“ gedeutet werden, älter als die Ebenbilder aus der europäischen Vergangenheit. Da wird der Betrachter stutzig: Warum sind Abbilder aus Altamerika nahezu identisch mit den Motiven der Alpenwelt und ebenso mit Felsgrafiken auf den Britischen Inseln? Gleiches gilt für Fundstellen im spanischen Galicien oder der neolithischen Felskunst im nordchinesischen Helan-Gebirge. Kann das wirklich nur Zufall sein? Wer hat wen, wann beeinflusst? Und was war die Initialzündung für den globalen Schaffensdrang? Wir wissen es nicht.

Die zentrale Frage zur frappanten Analogie weltweit hinterlassener Felsbilder ist immer dieselbe: Was haben die kryptischen Vorzeitbilder zu bedeuten? Sind es frühe archetypische Ursymbole aus dem kollektiven Unterbewusstsein, was die Gleichartigkeit in vielen Erdteilen erklären würde? Oder, auch wenn der Gedanke gewiss fantastisch anmutet: Besaßen Priester und Schamanen des Altertums überempirische Begabungen, um Informationen über große Distanzen hinweg auszutauschen? Konnten verborgene Energien nutzbar gemacht werden oder besaßen Priester hellseherische Fähigkeiten, von denen wir heute keine Ahnung mehr haben? Was wissen wir hypertechnisierten Facebook- und Twitter-Menschen wirklich über die Anfänge unserer Zivilisation und die Zeiten davor?

HEXEN UND SPASSMACHER

Der Alpenraum ist übersät von schwer deutbaren Vorzeitspuren. Wir finden ein großes Bildgestöber vor allem in den französischen Seealpen (Monte Bégo), in den Schweizer Kantonen Wallis (Martigny sowie Saint-Léonard) und Graubünden (Carschenna, Bregaglia und Engadin), in den norditalienischen Provinzen Ligurien (Finale Ligure, Monte Beigua und Acquasanta), Piemont (Pinerolo, Monte Musinè und Eschental), in der ganzen Region Aosta, Trentino-Südtirol (Brixen, Meran, Altenberg und rund um den Gardasee) und auf österreichischem Gebiet in Tirol (Schneidjoch), in Oberösterreich (Kienbachklamm und Wurzeralm) sowie in der Steiermark (Notgasse).

Val Camonica in der Lombardei übertrifft jedoch alles. Die norditalienische Region gilt heute als das Mekka der Felsbildforschung schlechthin. Internationale Experten, begeisterte Forscher und entdeckungshungrige „Wandervögel“ lockt es alljährlich ins Camonica-Tal, das zum Weltkulturerbe zählt. Wie kam es dazu? Wer stolperte wann und wo über das erste prähistorische Kunstwerk? Welche Schlüsse wurden aus der Entdeckung gezogen?

Die erste schriftliche Erwähnung von Felszeichnungen reicht zurück ins Jahr 1650. Damals notierte der aus Nizza stammende Historiker Pietro Gioffredo in seiner Aufzeichnung „Histoire des Alpes maritimes“: „Mit Verwunderung und Staunen begegnen die Betrachter verschiedenen Steinen, alle von verschiedenen Farben, flache und schlüpfrige, die mit tausend Erfindungen gestaltet sind und geritzte Vierfüßler, Vögel und Fische darstellen, dazu mechanische, landwirtschaftliche und militärische Geräte, geschichtliche und fabulöse Geschehnisse verschiedenster Art …“ Der Gelehrte vermutete, dass es „Werke vergangener Jahrhunderte“ seien, und hatte auch eine Begründung für den Schaffensdrang parat: „Wahrscheinlich waren die Urheber dieser lustigen Scherze nichts anderes als Hirten und Schafzüchter, die sich so die Langeweile vertrieben …“

Schälchen und Zauberzeichen: Einst glaubte man, es seien Werke von Dämonen und Hexen.

Es stimmt, die Talbewohner haben sich im Mittelalter als Steinklopfer versucht. Sie ergänzten und „verschönerten“ aber nur die alten Zeichnungen ihrer Vorväter, die sie für „heidnisches Teufelswerk“ hielten. Es sollte noch Jahrhunderte dauern, bis die Felszeichnungen genauere Beachtung fanden und Gegenstand gründlicher Studien wurden.

SPURENSUCHE MIT „SCHNEEBALLEFFEKT“

Die Anfänge des 20. Jahrhunderts gelten als offizielle Entdeckerzeit. Einheimische machten auf die Vielfalt dargestellter Motive aufmerksam, die auf großen freigelegten Felsplatten sichtbar wurden.

Im Jahre 1909 prüfte der in Brescia lebende Schweizer Geograf Walter Läng die Fundplätze und entdeckte auf zwei Felsblöcken – „Massi di Cemmo“ genannt – weitere Ritzungen. Brieflich informierte er das „Nationalkomitee für Denkmalschutz“ von seinem bedeutenden Fund. Vergebens: Die Autoritäten zeigten kein Interesse und die Angelegenheit wurde vergessen. Als dann wenige Jahre später der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet wurde, kam es zur Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Es folgte die Katastrophe des Ersten Weltkriegs (1914  1918). An eine systematische Untersuchung der archäologischen Schätze von Val Camonica war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken. Die Menschen hatten andere Sorgen.

Historisches Foto von Capo di Ponte

Ab 1929 blühte der Forschergeist wieder auf. Erste Felsbildstudien und Fachkongresse sorgten für mediale Aufmerksamkeit. Der Turiner Professor Giovanni Marro (1875  1952) lieferte dazu wertvolle Beiträge. Seine Pionierarbeit machte deutlich, dass man auf ein bisher unbekanntes Archiv der Menschheitsgeschichte gestoßen war. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs (1939  1945) wurde eine wissenschaftliche Aufarbeitung der spektakulären Funde erneut vereitelt. Abgesehen von zweifelhaften Althistorikern, die im Auftrag der Nationalsozialisten nach der „arischen Urheimat“ fahndeten, kümmerte sich niemand um die wundersame Bilderwelt des Val Camonica.

Erst Mitte der 1950er-Jahre überlegte das „Amt für Denkmalpflege von Altertümern und Kunstwerken“ der Lombardei, den ersten Nationalpark um die Hauptfundstelle Naquane zu errichten.

Mit dem 1964 gegründeten „Centro Camuno di Studi Preistorici“ (CCSP), initiiert von dem international renommierten Felskunstexperten Professor Emmanuel Anati, begann endlich die planmäßige Erfassung und Auswertung der Zeichnungen. Bis 1970 waren gerade mal 600 Plätze mit rund 25.000 Bildern bekannt. Fünf Jahre später zählte man bereits 130.000 prähistorische Figuren, und damit war klar, dass Val Camonica die bedeutendste und reichhaltigste in Europa bekannte Felskunstsammlung war. Inzwischen ist die Menge der mit freiem Auge nicht immer leicht zu erkennenden Zeichnungen auf rund 350.000 Bildwerke angewachsen. Viele liegen nur wenige Meter über dem Meeresspiegel, andere reichen vereinzelt bis ins Hochgebirge.

Allein in der Umgebung der Talmitte – rund um die Ortschaft Capo di Ponte mit den Nachbargemeinden Nadro, Cimbergo und Pasparado – gibt es an die 200.000 Gravuren. Ständig werden neue steinzeitliche Kunstwerke dem Erdboden entrissen. Teilweise lagen Fundstellen bereits frei, sind aber durch Verfall und Auflassung von Ackerland in den letzten Jahrzehnten wieder unter einer dicken Humusschicht begraben worden. Für manche Kunstwerke vielleicht besser so, denn es kommt immer wieder vor, dass Felsbilder dem Vandalismus zum Opfer fallen. Viele Ritzbilder, die in den 1930er-Jahren publiziert wurden, sind nicht mehr auffindbar. Wind und Witterung forderten ihren Tribut. Noch lange nicht sind alle gravierten Steinbuckel wissenschaftlich erfasst und dokumentiert.

1909 entdeckt: Graffiti-Felsen im Gebiet „Massi de Cemmo“

Eine der ältesten Darstellungen auf den gewaltigen Steintafeln zeigt einen Hirsch mit Halsband.

Hinzu kommt, dass vor allem im Nationalpark Naquane für Besucher Holzstege errichtet wurden, die zwar eine bequeme Besichtigung ermöglichen, aber viele Felsbilder uneinsehbar verdecken. Archäologen schätzen, dass im Val Camonica unter Moosen und Gestrüpp noch weitere Hunderttausende gezeichnete Strichmännchen und Ritzsymbole auf ihre Entdeckung warten!

Wo nahm alles seinen Anfang? Soweit bekannt, sind die ältesten Piktogramme im „Parco di Luine“, oberhalb von Darfo Boario Terme, erhalten. Sie sind rund 12.000 Jahre alt und stammen aus dem Paläolithikum, der Übergangszeit von der Alt- in die Mittelsteinzeit. Aus dieser Epoche sind im naturalistischen Stil vor allem Elche schemenhaft auf Felsen erkennbar. „Primitive Jäger“ sollen die Kunstwerke hinterlassen haben. Ein üppiges Tier mit dünnen Beinen, umgeben von konzentrischen Kreisen, fällt auf. Es ist auf einem großen Steinblock (im Park bezeichnet mit Nr. 6) abgebildet. Was überrascht: Der Vierbeiner scheint ein Halsband zu tragen. Ein seltener Bildbeleg für die frühe Domestizierung eiszeitlicher Wildtiere?

VOM SUMPF ZUM HEILIGTUM

Bevor es in der Alpenwelt zu ersten künstlerischen Impulsen kommen konnte, hatten sich gigantische Eismassen über Jahrmillionen durch das Val Camonica geschoben. Mit dem Einsetzen milderer Klimaverhältnisse und dem damit verbundenen Ende der letzten Eiszeit zogen sich die Gletscher zurück und hinterließen entlang der Berghänge riesige Steinmassive. Mutter Natur hatte die Felsen aus dunkelgrauem Permasandstein in flache, glatt polierte Tafeln verwandelt!

Val Camonica war das prähistorische Kreativzentrum der Alpenwelt. Was war die Triebfeder?

Wirklich einladend, um dauerhaft sesshaft zu werden, kann es in jenen Zeiten dort nicht gewesen sein. Das Eis war zwar weg, aber dafür prägten Schlamm und Morast noch Jahrtausende das Gesicht des Tales. Trotzdem siedelten sich prähistorische Menschen in der unwirtlichen Sumpflandschaft an, errichteten eigentümliche Pfahlbauten, die teilweise aus mehreren Stockwerken konstruiert waren, und begannen, Jagdtiere, symbolische Gebilde und geheimnisvolle Gestalten auf Felsplatten zu meißeln. Praktische Experimente zeigen: Die Gravierungen entstanden durch direkte Schläge mit Steinwerkzeugen, etwa Feuerstein, später durch Metallmeißel, seltener durch das Ritzen mit einem spitzen Instrument.

Wieso aber umspannt die kreative Tatkraft der Talbewohner einen ausgedehnten Zeitraum von Abertausenden von Jahren? Stile, Motive und Technik der Kunstfertigkeit hatten sich zwar laufend verändert, aber die Beständigkeit, mit der die Tradition der Felsbildkunst an einem Ort von Generation zu Generation weiter gepflegt wurde, ist außergewöhnlich. Was war die treibende Kraft für dieses beharrliche Kritzeln und Klopfen? Wozu diente die Felsbild-Galerie?

Es gibt keine einzige Gravur, die den Vorgang der Felsbildgestaltung darstellt. „Wir wissen nichts über die Einzelheiten der Zeremonien, die Momente, die aktiven und passiven Teilnehmer, die Autoren“, räumt der Archäologe Alberto Galbiati freimütig ein. Der Gründer des Nationalparks Archeocamuni in Capo di Ponte vermutet, dass das Tal einst ein „heiliger Kultplatz“ war, bei dem die mysteriöse Bildsprache nur von „Eingeweihten“ zu „bestimmten rituellen Festen“ ausgeübt wurde. Die wahre Bedeutung solcher Riten liegt aber genauso verborgen im Dunkel der Geschichte wie der anfängliche Grund und Zweck des rastlosen Arbeitseifers. „Heiliger Platz“ schön und gut: Aber wer oder was machte Val Camonica zum vorzeitlichen Heiligtum?

Denkt man an die größten christlichen Wallfahrtsorte wie Guadalupe, Lourdes oder Fatima, dann weiß man, warum seit vielen Generationen jährlich Abermillionen gläubige Menschen immer wieder zu diesen Stätten pilgern. Es sind Erscheinungsorte des Überirdischen! Den historischen Überlieferungen zufolge soll an diesen heiligen Plätzen die Gottesmutter Maria höchstpersönlich erschienen sein und Wunder bewirkt haben. Welch himmlisches Mirakel könnte also in der Steinzeit das fortlaufende Bedürfnis ausgelöst haben, eine gigantische Ansammlung archaischer Zauberzeichen auf Felsbildern einzukratzen?

Im ganzen Val Camonica zahlreich verewigt: Strichmännchen in Stein

Wer waren die Camuni?

EINE CHRONOLOGIE DER MEISTERWERKE

Die Entwicklung der Felskunst im Camonica-Tal erstreckt sich über mehr als zehn Jahrtausende. Die offizielle Zeitfolge nennt mehrere Schaffensperioden:

Altsteinzeit (um 8000 v. Chr. und eiszeitliche Epochen davor)
Hier liegen die Ursprünge der Val-Camonica-Kunst. Aus dieser Periode sind einige hundert Darstellungen bekannt. Sie zeigen hauptsächlich naturgetreue Wiedergaben von Tieren, aber auch geometrische Einkerbungen wie Schlangenlinien und Kreise, die als Teil „magischer Riten“ interpretiert werden. Felsbildforscher gehen davon aus, dass das Tal zu dieser frühen Zeit bereits als „Kultort“ diente, aber noch nicht besiedelt war.

Mittelsteinzeit (um 8000 v. Chr. bis 5000 v. Chr.)

Gruppen nomadischer Jäger ziehen ins Tal und werden sesshaft. Die naturalistische Tradition der Felszeichnungen wird mit vereinfachten Formen und Symbolen fortgeführt.

Von der Altsteinzeit bis zur römischen Eroberung: unermüdliches Klopfen, Kratzen und Gestalten

Jungsteinzeit (um 5000 v. Chr. bis 2800 v. Chr.)

Technologische Neuerungen verändern das Leben der Bevölkerung. Es erfolgt der Übergang vom Jäger und Sammler zum Bauern und der Beginn der Landwirtschaft. Die Felskunst wird abstrakter. Ins Zentrum der Gestaltung rücken „betende“ Menschen mit erhobenen Armen, „anthropomorphe“ Mischwesen sowie „Götter-“ und „Sonnensymbole“. Viele Bilder zeigen Verwandtschaft zu den Megalithkulturen, etwa durch typische „Zickzack-Muster“, „konzentrische Kreise“ oder „Spiralen“.

Kupfersteinzeit (um 2800 v. Chr. bis 2000 v. Chr.)

Die Metalle werden entdeckt und deren Verarbeitung beginnt. Die Graffiti werden „symbolischer“, „schematischer“ und „komplexer“. Szenen vermitteln gesteigert einen erzählenden Charakter. Aus dieser Zeit stammen imposante Menhir-Steine mit astronomisch und religiös deutbaren Gravuren, darunter erste Abbilder von Wesen mit helmartigem Aufputz und „Strahlenkränzen“.

Bronzezeit (um 2000 v. Chr. bis 1000 v. Chr.)

Geräte, Webstühle, Waffen und Schmuck werden hergestellt, der Handel nimmt zu. Erstmals werden Pfahlbauten errichtet und auch in den Zeichnungen dargestellt. Die Felskunst offenbart neue Formen, darunter topografische Karten und netzartige Geometrie. Es finden sich zunehmend illustrierte „Mischwesen“, die als Verehrung von „Geistern“ und „Göttern“ interpretiert werden.

Eisenzeit (um 1000 v. Chr. bis zur römischen Eroberung)

Der Kontakt zu eingewanderten Völkern wie den Etruskern, Rätern und Kelten beeinflusst die Kunstwerke. Es ist die kreativste Schaffensphase mit den umfassendsten Zeichnungen. Neben realistischen Szenen des Alltags überwiegt die „magisch-mythologische“ Symbolik. Fast alle Felsbilder, die mit „Raumfahrern aus dem Kosmos“ assoziiert werden, stammen aus der frühen Eisenzeit.

Christi Geburt bis Mittelalter

Im Val Camonica entstehen nur mehr vereinzelte Felsbilder. Daneben finden sich einige römische Gravuren mit lateinischen Inschriften. Im Zuge der Christianisierung wurden viele prähistorische Zeichnungen mit christlichen Symbolen ergänzt oder überschrieben. Im Spätmittelalter war Val Camonica als „Valmasca“ (Hexental) gefürchtet. Eine Legende erzählt von „furchtbaren Kämpfen zwischen Hexen, Dämonen und Klosterleuten“.

Die meisten Graffiti entstanden in der Eisenzeit. Vereinzelte Motive stammen aus jüngerer Zeit, es gibt auch folkloristische Erinnerungen aus dem Mittelalter.

Folkloristisches Überbleibsel

Aus dieser finsteren Epoche hat sich ein seltsamer Brauch bis in die Gegenwart erhalten. In Andrista, einem der tiefsten Seitentäler des Val Camonica, wird alljährlich vor dem Dreikönigstag einem Ungeheuer gedacht, das angeblich einst in den Wäldern für Angst und Schrecken sorgte: der Badalisc. Diese mythische Kreatur soll eine Mischung aus Schlange und Ziege gewesen sein, hätte rot leuchtende Augen besessen, ein Riesenmaul und Hörner auf dem Kopf. Wenn heutzutage eine Person im Badaliscen-Kostüm durch die Dörfer der Gemeinde Cevo spaziert, begleitet von Menschen in Gruselkostümen, die mit rhythmischen Stockschlägen auf den Boden stampfen, dann fürchtet sich niemand mehr vor der Spukgestalt. Aber wie war das in früheren Zeiten? Niemand kann wirklich abschätzen, wie ernst unsere Ahnen den Einfluss überirdischer Kräfte genommen haben.

KULTUR AUS DEM NICHTS

Vor etwas mehr als hundert Jahren hatten Geschichtsforscher noch keine Ahnung von der prähistorischen Felsbildkunst im Val Camonica – ganz zu schweigen von den Urhebern. Heute wissen wir, es waren die Camuni (auch Camunni, Camunen oder Camunier genannt), die uns den Großteil dieser bebilderten Wunderwelt hinterlassen haben.

Ihr Machtbereich war regional begrenzt. Im Norden versperren noch heute hohe Gebirgsketten den Weg aus dem Tal. Und im unteren Teil des früher moorähnlichen Tales liegt der landschaftlich zwar bezaubernde Iseosee, der aber für den damaligen Verkehr doch recht hinderlich gewesen sein dürfte. Dennoch müssen die Camuni schon früh Handelskontakte mit der Außenwelt gehabt haben. Die Art der im Val Camonica verwendeten und bildhaft dargestellten Webstühle ist mit jenen aus dem antiken Griechenland identisch. Umgekehrt wurden im griechischen Mykene Waffen gefunden, die genau den Abbildern auf Felsplatten im Val Camonica entsprechen.

Das wirft viele Fragen auf. Das beginnt schon mit der Ungewissheit, wer die Camuni waren und woher ihre Kultur stammt. Vermutet wird, dass sie wie andere Völker in mehreren Etappen in die Alpen einwanderten, sich im Val Camonica ansiedelten und sich dann mit anderen alpinen Stämmen vermischten. Bis 16 v. Chr. beherrschten sie die Region und gaben dem Tal seinen Namen. Obwohl bereits Jahrtausende zuvor ihre Vorfahren, die Proto-Camuni, erstaunliche Schaffenskraft bewiesen hatten, waren die neuen Immigranten der Bronzezeit, und noch deutlicher jene der Eisenzeit, am fleißigsten.

Woher kamen die Camuni?

Das Monument „Tropaeum Alpium“ liefert den Schriftbeleg zum Alpenvolk der Camuni.

Belegt ist, dass im 3. Jahrtausend v. Chr. mit der Metallgewinnung und -bearbeitung neue Innovationen ins Land kamen, die die geniale Kreativität der Camuni beflügelten. Erst die Römer stoppten den regen Schaffenseifer. Als Legionäre die lombardischen Täler eroberten und ins Römische Reich eingliederten, übernahmen die Camuni die neue Kultur offenbar kampflos. Ihre schöpferische Leistung verlor allmählich an Bedeutung, bis sie schließlich ganz erlosch und in Vergessenheit geriet.

Vom „Camuni-Volk“ blieb fast 2.000 Jahre lang nur ein spärlicher Hinweis durch die Erwähnung bei römischen Gelehrten und einer Inschrift auf dem Siegesdenkmal zu Ehren Kaiser Augustus’. Die Überreste dieses 35 Meter hohen Monuments, genannt „Tropaeum Alpium“, sind in der französischen Gemeinde La Turbie (in unmittelbarer Grenznähe zum Fürstentum Monaco) zu besichtigen. Einer der Steine des Turms, die Plinius der Ältere (23  79 n.