Rohinton Mistry
So eine lange Reise
Ein Indien-Roman
Aus dem Englischen von Matthias Müller
FISCHER E-Books
Rohinton Mistry wurde 1952 in Bombay geboren und lebt nun in Toronto, Kanada. Für seine Romane erhielt er viele Auszeichnungen, u.a. den kanadischen Staatspreis, den Commonwealth-Preis und zuletzt, für »Die Quadratur des Glücks«, den Kiriyama-Preis.
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Covergestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger
Foto: 1964 Marilyn Silverstone, Magnum Photos, Inc. Focus
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel ›Such a Long Journey‹
bei Faber and Faber, London und Alfred A. Knopf, New York
© by Rohinton Mistry 1991
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© Benzinger Verlag, Solothurn und Düsseldorf 1994
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402934-4
Für Freny
«Er versammelte die ehrwürdigen Priester und stellte ihnen Fragen bezüglich der Könige, die einst im Besitz der Welt gewesen waren. ‹Wie haben sie am Anfang die Welt gehalten›, erkundigte er sich, ‹und wie kommt es, daß sie uns in so einem traurigen Zustand hinterlassen wurde? Und wieso konnten sie in den Tagen ihrer heroischen Mühen frei von Sorgen leben?›»
Firdausi, Shah-Nama
«Eine kalte Angelegenheit war das für uns, Gerade die schlimmste Zeit des Jahres Für eine Reise, und so eine lange Reise …»
T.S. Eliot, Die Reise der Weisen
«Und wenn alte Worte auf der Zunge aussterben, strömen neue Melodien aus dem Herzen hervor; und wo die alten Spuren verlorengehen, offenbart sich neues Land mit seinen Wundern.»
Rabindranath Tagore, Gitanjali
Kaum daß der Himmel im ersten Morgenlicht erstrahlte, wandte sich Gustad Noble nach Osten, um Ahura Mazda seine Gebete darzubringen. Es ging auf sechs zu, oben im einzigen Baum des Hofes begannen die Spatzen zu rufen. Jeden Morgen, während er seine Kusti-Gebete sprach, lauschte Gustad ihrem Zwitschern. Es hatte etwas Beruhigendes an sich. Die Spatzen waren immer die ersten. Das Krächzen der Krähen kam später.
Ein paar Wohnungen weiter knabberte das metallische Geklapper von Töpfen und Schüsseln an den Rändern der Stille. Der bhaiya hockte neben der großen Aluminiumkanne und verteilte Milch an die Hausfrauen. Sein kleines Maß mit dem langen Hakengriff tauchte in den Behälter ein und wieder heraus, hinein und heraus, flink, ohne kaum einen Tropfen zu verschütten. Wenn eine Kundin bedient war, hängte er den Schöpfer in die Milchkanne, zog seinen dhoti zurecht und rieb sich die bloßen Knie, während er auf seine Bezahlung wartete. Schuppen trockener Haut rieselten von seinen Fingern herab. Die Frauen erbleichten vor Ekel, doch die ruhige Stunde und das frühe Licht erhielten den Frieden.
Gustad Noble schob sich die Gebetsmütze aus der breiten Stirn mit ihren vielen Falten, bis sie ihm bequem auf dem weißgrauen Kopfhaar saß. Der schwarze Samt bildete einen starken Gegensatz zu seinen aschgrauen Koteletten, doch sein dichter, gepflegter Schnurrbart war genauso schwarz und samtig. Großgewachsen und breitschultrig wie er war, wurde Gustad, wenn von Gesundheit oder Krankheit die Rede war, von Freunden und Verwandten stets bewundert. Für einen Mann, der auf der Flut seines fünften Lebensjahrzehnts schwamm, meinten sie, sah er noch so kräftig und rüstig aus. Besonders für jemand, der erst vor wenigen Jahren einen schweren Unfall erlitten hatte. Und selbst das hatte ihm nichts Ernsteres als ein leichtes Hinken beschert. Seine Frau haßte solches Gerede. Dreimal auf Holz geklopft, dachte dann Dilnavaz und sah sich nach einem geeigneten Tisch oder Stuhl um, um heimlich dagegenzuklopfen. Doch Gustad machte es nichts aus, ihr von dem Unfall zu erzählen, von dem Tag, an dem er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um seinen Ältesten zu retten.
Über dem geschäftigen Geklapper des Milchbehälters hörte er ein Kreischen: «Muà, du Dieb! Der Polizei sollten wir dich übergeben! Wenn sie dir die Arme brechen, werden wir ja sehen, wie du Wasser beimischst!» Die Stimme gehörte Miss Kutpitia, und der Friede der Morgendämmerung machte widerstrebend einem neuen hektischen Tag Platz.
Miss Kutpitias Drohungen waren wenig überzeugend. Obwohl sie selbst ihre Milch nie vom bhaiya kaufte, war sie der festen Überzeugung, daß sie ihn dadurch, daß sie regelmäßig über ihn herzog, in Trab hielt und dies auch im Interesse der andern sei. Irgend jemand mußte diesem Halunken doch klarmachen, daß die Leute, die hier im Khodadad-Gebäude wohnten, keine Dummköpfe waren. Sie war eine verhutzelte Siebzigjährige und ging selten außer Haus, weil, wie sie sagte, ihre Knochen täglich steifer wurden.
Doch wegen ihres über die Jahre erworbenen Rufs, gemein, griesgrämig und beleidigend zu sein, gab es nicht viele im Gebäude, denen sie von ihren Knochen oder überhaupt von sonst irgendwas erzählen konnte. Für die Kinder war Miss Kutpitia die allgegenwärtige Hexe, die direkt den Märchen entstiegen war, die sie immer erzählt bekamen. «Flüchtet vor der daaken! Flüchtet vor der daaken!» schreiend, rannten sie an ihrer Tür vorbei, wobei ihre Angst genauso groß war wie das Vergnügen, wenn die Alte sich dazu hinreißen ließ, zu schimpfen und zu fluchen und ihnen mit der Faust zu drohen. Steife Knochen oder nicht, wenn sich in der Außenwelt etwas ereignete, das sie beobachten wollte, konnte sie sich mit erstaunlicher Schnelligkeit bewegen. Dann sah man sie zwischen Fenster, Balkon und Treppe hin und her flitzen.
Der bhaiya war es gewohnt, diese gesichtslose Stimme zu hören. An die Adresse seiner Kundinnen gerichtet, murmelte er: «Als ob ich die Milch mache. Kuh macht das. Der malik sagt, geh und verkauf die Milch, und was anderes mach ich nicht. Was hat man davon, einen armen Mann wie mich so zu schikanieren?»
Im unentschlossenen frühen Licht verwandelten sich die resignierten und müden Gesichter der Frauen flüchtig in Antlitze sanfter Würde. Sie hatten es eilig, die blasse, verwässerte weiße Flüssigkeit zu erstehen und zu ihrer Hausarbeit zurückzukehren. Auch Dilnavaz wartete, in einer Hand die Aluminiumschüssel, das Geld in der andern. Sie war eine zierliche Frau, ihre dunkelbraunen Haare hatte sie sich vor acht Jahren zur ersten Geburtstagsfeier ihrer Tochter Roshan zu einem Bubikopf schneiden lassen und trug sie immer noch so. Sie war sich unsicher, ob ihr die Frisur immer noch stand, obwohl Gustad ihr das energisch bestätigte. Sie hatte sich noch nie auf seinen Geschmack verlassen können. Als der Minirock in Mode kam, hatte sie nur zum Jux ihr Kleid hochgerafft und war durchs Zimmer stolziert, was die kleine Roshan zum Lachen brachte. Aber er fand, sie sollte es sich ernsthaft überlegen – «Stell dir vor, eine vierundvierzigjährige Frau im Minirock.» «Mode ist was für junge Leute», hatte sie etwas verunsichert erwidert. Dann begann er mit seiner tiefen Stimme diesen Song von Nat King Cole zu singen:
You will never grow old,
While there’s love in your heart,
Time may silver your dark brown hair,
As you dream in an old rocking chair …
Sie fand es immer wunderbar, wenn Gustad die Worte ‹golden hair› umänderte und bei der dritten Zeile ein breites Lächeln auf seinem Gesicht erschien.
In der Schüssel, die sie in der Hand hielt, waren noch Spuren der gestrigen Milch. Die letzten Tropfen hatten Gustad und sie gerade eben noch für ihren Tee verwendet, und sie hatte keine Zeit mehr gehabt, die Schüssel auszuspülen. Es wäre genug Zeit gewesen, fand sie, wenn sie nicht so lange sitzen geblieben wäre, um sich von Gustad aus der Zeitung vorlesen zu lassen. Und wenn sie sich vorher nicht so lange über ihren Ältesten unterhalten hätten, und darüber, daß er bald am Indian Institute of Technology studieren würde. «Sohrab wird sich einen Namen machen, wart’s nur ab», hatte Gustad mit berechtigtem väterlichem Stolz gemeint. «Endlich werden sich unsere Opfer bezahlt machen.» Was an diesem Morgen nur über sie gekommen war, vermochte sie nicht zu sagen. So plaudernd herumzusitzen und ihre Zeit zu vergeuden. Aber andererseits kam nicht jeden Tag eine so gute Nachricht für ihren Sohn.
Als einige Frauen gingen, rückte Dilnavaz wieder ein Stück auf. Sie war bald an der Reihe. Wie alle andern warteten die Nobles schon ewig auf eine Milch-Lebensmittelkarte von der Behörde. In der Zwischenzeit mußte sie beim bhaiya kaufen, über dessen dünnes, kurzes Haarschwänzchen, das aus der Mitte eines ansonsten völlig kahlgeschorenen Schädels herauswuchs, sie immer wieder schmunzeln mußte. Sie wußte, daß es in irgendeiner Hindu-Kaste Brauch war, mußte dabei aber immer an einen grauen Rattenschwanz denken. An den Morgen, an denen er seinen Schädel einölte, glänzte der Schwanz.
Sie erstand seine Milch und erinnerte sich dabei an die Zeiten, als Lebensmittelkarten nur für Arme oder Diener bestimmt waren, die Zeiten, als sie und Gustad es sich noch leisten konnten, das feine, cremige Erzeugnis von der Parsi Dairy Farm zu kaufen (für Miss Kutpitia immer noch erschwinglich), bevor die Preise stiegen, immer weiter und weiter, und nie wieder fielen. Wenn doch Miss Kutpitia bloß aufhören würde, den bhaiya anzubrüllen. Es bewirkte nichts, außer daß sich seine Feindseligkeit ihnen allen gegenüber nur noch verstärkte. Weiß der Himmel, was er mit der Milch noch alles anstellte – diese Armen in den Slumhütten in und um Bombay sahen einen sowieso manchmal so an, als wollten sie einen aus den eigenen vier Wänden hinauswerfen und selber mit ihren Familien einziehen.
Sie wußte, daß Miss Kutpitia es eigentlich gut meinte, trotz der bizarren Geschichten über die Alte, die seit Jahren im Gebäude im Umlauf waren. Gustad wollte mit Miss Kutpitia so wenig wie möglich zu tun haben. Er sagte, ihr verrückter Blödsinn könnte sogar ein gesundes Gehirn zum endgültigen Salto treiben. Dilnavaz war vielleicht die einzige Freundin, die Miss Kutpitia hatte. Dadurch, daß sie als Kind zu unbedingter Achtung gegenüber Älteren erzogen wurde, fiel es ihr leicht, Miss Kutpitias Eigenheiten zu akzeptieren. Sie fand an ihnen nichts Abstoßendes oder Ärgerliches – manchmal belustigend, manchmal ermüdend, ja. Aber nie beleidigend. Im Grunde wollte Miss Kutpitia einem nur mit Rat und Tat zur Seite stehen, wenn es um Dinge ging, die sich nicht mittels der Gesetze der Natur erklären ließen. Sie behauptete, sie wisse über Hexerei und Zauberei Bescheid, wie man einen Bann verhänge und wieder löse; über Magie, Schwarze und Weiße; über Omen und Wahrsagungen; über Träume und ihre Deutungen. Am allerwichtigsten war, Miss Kutpitia zufolge, die Fähigkeit, den hinter einfachen Ereignissen und zufälligen Begebenheiten verborgenen Sinn zu verstehen, und ihre abstruse, skurrile Phantasie konnte manchmal recht erheiternd sein.
Dilnavaz achtete darauf, sie nie unnötig zu ermutigen. Aber sie erkannte, daß in Miss Kutpitias Alter ein geduldiges Ohr wichtiger war als alles andere. Und außerdem, gab es denn irgend jemand auf der Welt, dem es gelegentlich nicht schwergefallen ist, die Existenz übernatürlicher Kräfte völlig auszuschließen?
Das Geklapper und Geschnatter um den Milchmann herum kam Gustad Noble sehr fern vor, während seine ansehnliche, weißgewandete Gestalt, vom Morgenlicht umspielt, unter dem Neem-Baum leise seine Gebete murmelte. Er sprach die entsprechenden Abschnitte und entknotete das kusti, das er um die Hüfte trug. Als er die drei Meter schmalen, heiligen, handgewebten Stoff entrollt hatte, knallte er damit, wie mit einer Peitsche, einmal, zweimal, dreimal. Und so wurde Ahriman, der Böse, vertrieben – mit dieser gekonnten schnipsenden Drehung des Handgelenks, die nur jene beherrschten, die ihr kusti regelmäßig verrichteten.
Dieser Teil der Gebete machte Gustad am meisten Spaß. Das war schon als Kind so, als er sich immer vorgestellt hatte, er wäre ein mächtiger Jäger, der sich furchtlos in unerforschte Dschungel stürzte, tief in Gebiete, die auf keiner Karte verzeichnet waren, allein mit der Kraft seines heiligen kusti bewaffnet. Mit diesem geweihten Band durch die Luft peitschend, säbelte er Ungeheuern die Köpfe ab, weidete er Säbelzahntiger aus, dezimierte er wilde Kannibalenheere. Als er einmal die Regale in der Buchhandlung seines Vaters durchstöberte, hatte er die Geschichte von Englands geliebtem Drachentöter entdeckt. Von diesem Tag an war Gustad, wenn er seine Gebete sprach, ein parsischer heiliger Georg, der mit seinem treuen kusti Drachen spaltete, wo immer er sie aufspürte: unter dem Eßtisch, im Schrank, unter seinem Bett, sogar hinter dem Wäscheständer. Von überall purzelten die blutigen, abgeschlagenen Köpfe feuerspeiender Ungeheuer.
Türen wurden geöffnet und zugeschlagen, Geld klimperte, eine Stimme rief dem bhaiya besondere Anweisungen für seine nächste Lieferung zu. Irgend jemand scherzte mit dem Mann: «Arré bhaiya, verkauf doch Milch und Wasser getrennt. Besser für den Kunden, und auch für dich leichter – sparst du dir das Mischen.» Es folgten die üblichen leidenschaftlichen Beteuerungen des bhaiya.
Aus einem geöffneten Fenster drangen leise und behutsam die Morgennachrichten des staatlich kontrollierten All-India Radio. Der klare Wohlklang der Hindi-Laute betastete die Morgenluft und bot alsbald einen selbstbewußten Kontrast zum BBC World Service, der sich aus einer andern Wohnung dreist dazwischendrängelte, gespickt mit Kurzwellengebrutzel und Gezische.
Gustad ließ sich in seinen Gebeten weder von dem Geplänkel stören noch vom Radio ablenken. Heute waren die Nachrichten machtlos, ihn zur Pietätlosigkeit zu verführen, denn er hatte bereits «The Times of India» gelesen. Da er nicht mehr schlafen konnte, war er früher als gewohnt aufgestanden. Als er den Wasserhahn aufdrehte, um zu gurgeln und sich die Zähne zu putzen, kam das Wasser in einer lauten, nassen Explosion herausgeschossen. Er hatte nicht damit gerechnet. Er machte einen Satz nach hinten und riß die Hand zurück. Luft, sagte er sich, die aus den Leitungen abgelassen wird, die seit gestern morgen sieben Uhr, als die Stadt das tägliche Wasserkontingent beendet hatte, leer waren. Er schämte sich. Sich von einem lauten Wasserhahn erschrecken zu lassen. Er stellte das Wasser ab und drehte dann den Hahn langsam wieder auf, nur ein wenig. Wieder gluckste es bedrohlich.
Für Dilnavaz war dieses vertraute Zischen, Spucken, Blubbern die Aufforderung zum Aufwachen. Sie spürte das leere Bett neben sich und lächelte, denn sie hatte erwartet, daß Gustad heute als erster aufstehen würde. Sie starrte verschlafen auf die Uhr, bis sie ihr die Zeit verriet, dann drehte sie sich auf den Bauch und schloß die Augen.
Lange bevor die Sonne an diesem Morgen aufging, bevor es Zeit war zu beten, hatte Gustad ungeduldig auf die «Times of India» gewartet. Es war stockdunkel, aber er knipste das Licht nicht an, denn die Dunkelheit ließ alles klar und wohlgeordnet erscheinen. Er streichelte die Lehnen des Sessels, in dem er saß, und dachte an die Jahrzehnte, die vergangen waren, seit sein Großvater ihn in seiner Möbelwerkstatt liebevoll gezimmert hatte. Und dieser schwarze Schreibtisch. Gustad erinnerte sich an das Schild am Laden, er sah es jetzt noch vor sich. Deutlich, wie eine Fotografie vor meinen Augen: Noble & Söhne, Hersteller guter Möbel, und ich erinnere mich auch an das erste Mal, als ich das Schild sah – noch zu jung, um die Wörter lesen zu können, aber nicht um die Bilder zu erkennen, die um die Wörter herumtanzten. Ein Schränkchen aus glänzendem kirschfarbenem Holz mit Glastür; ein riesiges Himmelbett; Stühle mit geschwungenen Rückenlehnen und wunderbar proportionierten Kapriolen; ein zutiefst würdevoller schwarzer Schreibtisch: Stück für Stück wie die Möbel im Haus meiner Kindheit.
Einiges davon jetzt hier, in meiner Wohnung. Gerettet vor den Fängen des Konkurses – das Wort kalt wie ein Meißel. Der Laut grausam und scharf und unerbittlich wie die Absatzeisen an den Schuhen des Gerichtsvollziehers. Die Absatzeisen hatten bösartig auf den Steinfliesen geklappert. Mistkerl von Gerichtsvollzieher – pfändete alles, was er in seine dreckigen Hände kriegen konnte. Mein armer Vater. Hat alles verloren. Bis auf die paar Stücke, die ich gerettet habe. Mit Malcolms Hilfe, mit dem alten Lieferwagen. Der Gerichtsvollzieher kam nie dahinter. Was für ein guter Freund Malcolm Saldanha doch war. Schade, daß wir nicht in Verbindung geblieben sind. Ein echter Freund. Wie Major Bilimoria es früher einmal gewesen war.
Beim letzten Namen mußte Gustad den Kopf schütteln. Dieser Scheiß-Bilimoria. Nach seinem schamlosen Verhalten besaß er jetzt auch noch die Unverfrorenheit, ihm zu schreiben und ihn um einen Gefallen zu bitten, so als wäre überhaupt nichts geschehen. Auf die Antwort konnte er warten, bis er im Sarg lag. Gustad verbannte den dreisten Brief des Majors aus seinen Gedanken, er drohte die wohlgeordnete Dunkelheit zu stören. Wieder sammelten sich die Möbel seiner Kindheit tröstend um ihn. Die Stücke standen wie Parenthesen um sein gesamtes Leben, die Wächter seiner geistigen Gesundheit.
Er hörte, wie die Metallklappe des Briefschlitzes hochging, und beinahe im selben Moment konnte er die weißen Umrisse der Zeitung ausmachen, als sie ins Zimmer glitt. Er blieb sitzen, ohne sich zu bewegen. Laß den Mann erst weggehen, er braucht nicht zu wissen, daß ich warte. Warum er das tat, wußte er nicht zu sagen.
Als sich das Rad entfernt hatte, war alles wieder still. Gustad knipste das Licht an und setzte sich die Brille auf. Er überflog die düsteren Schlagzeilen über Pakistan, warf kaum einen Blick auf die halbnackte Mutter, die das tote Kind in ihren Armen beweinte. Die Bildunterschrift, die er auch nicht las, weil das Bild all den andern ähnelte, die in den letzten Wochen regelmäßig erschienen waren, berichtete von Soldaten, die mit bengalischen Babys Bajonettübungen machten. Er blätterte zu der Innenseite, auf der die Ergebnisse der Aufnahmeprüfung für das Indian Institute of Technology aufgeführt waren. Er breitete das Blatt auf dem Eßtisch aus. Von der Anrichte holte er den kleinen Zettel mit Sohrabs Registrierungsnummer, verglich sie und ging dann Dilnavaz wecken.
«Komm, steh auf! Er ist aufgenommen!» Er streichelte ihre Schulter. Mit Zärtlichkeit und Ungeduld. Auch mit etwas schlechtem Gewissen: dieser Brief. Er hatte Major Bilimorias Brief vor ihr versteckt.
Dilnavaz drehte sich um und lächelte. «Ich hab’s dir doch gleich gesagt. Aber du hast dir immerzu Sorgen gemacht.» Sie ging ins Badezimmer und schloß den durchsichtigen Plastikschlauch an, um die Wassertrommeln zu füllen, obwohl sie heute genug Zeit hatte, sich vorher die Zähne zu putzen und Tee zu machen. Es war erst fünf Uhr – noch zwei ganze Stunden, bis die Hähne versiegten. Sie drehte den Messinggriff, und dann brauste das Wasser durch den Schlauch, dicht gefolgt von einem langen Schwanz Luftblasen. Wie die Blasen, die früher in dem kleinen Aquarium ihres jüngeren Sohnes aufgesprudelt waren. Wie Darius sie geliebt hatte, diese winzigen bunten Geschöpfe mit den hübschen Namen, die er stolz aufsagte, wenn er sie vorzeigte: Ramirezi, Paradiesfisch, Zwergfadenfisch, Zierhechtling, Prachtkärpfling – eine kurze Zeitlang waren sie der Mittelpunkt seines Universums gewesen.
Aber das Aquarium war jetzt leer. Ebenso die Vogelkäfige. Bedeckt mit Staub und Spinnweben standen sie auf dem dunklen Regal im chawl neben der Toilette, zusammen mit Sohrabs Schmetterlingskästen. Und diesem albernen Buch, das er vor Jahren am Preisverleihungstag bekommen hatte. «Der kleine Entomo …» dingsda. Es hatte einen großen Streit gegeben, nur weil sie gemeint hatte, daß es grausam sei, die kleinen bunten Wesen zu töten. Doch Gustad sagte, daß man Sohrab unterstützen sollte. Wenn er dabeiblieb und das Fach im College studierte, mit Forschung und allem, könnte er sich einen weltberühmten Namen machen.
An den rostigen Präpariernadeln steckten noch ein paar Thoraxe. Auf dem Kastenboden verstreut lag eine Ansammlung von Flügeln, wie abgefallene Blütenblätter exotischer Blumen, vermischt mit zerbrochenen Fühlern und winzigen Köpfen, die nicht mehr wie Köpfe aussahen, nachdem sie vom Thorax getrennt waren. Sie hatten Dilnavaz einmal dazu veranlaßt, sich zu fragen, wie denn da bloß schwarze Pfefferkörner hineingekommen waren, bis sie schaudernd begriff, was die kleinen runden Dinger waren.
Der Schwall Wasser, das sprudelnde Emporströmen, das Zappeln des Schlauchs fesselten sie immer wieder. Dann wurde der Fluß gleichmäßig, und es hätte ebensogut ein leeres Stück Schlauch sein können, wenn da nicht das leichte Pochen gewesen wäre, das sie in ihrer Handfläche spürte, dort, wo sie den Schlauch hielt, um zu verhindern, daß er aus der Trommel rutschte.
Gustad wollte Sohrab wecken. Dilnavaz hielt ihn zurück. «Laß ihn schlafen. Das Ergebnis seiner Aufnahmeprüfung wird sich ja nicht ändern, wenn er es eine Stunde später erfährt.»
Er stimmte bereitwillig zu. Trotzdem ging er ins hintere Zimmer. In der Dunkelheit konnte er die Lattentür erkennen, die er vor fünfzehn Jahren an die Seite von Sohrabs Bett gehängt hatte, der ein turbulenter kleiner Schläfer gewesen war, als würden sich seine spitzbübischen Tagspiele auch noch bis in die Nacht hinein fortsetzen. Die nächtliche Barrikade aus Eßzimmerstühlen, die sie anfangs neben dem Bett errichtet hatten, funktionierte nicht, er stieß die Stühle immer weg. Also mußte die Lattentür her. Sohrab taufte sein Bett unverzüglich Bett-mit-der-Tür und betrachtete diesen Zusatz als ein brauchbares Element, wenn er sich aus all den Polstern, Decken und Kissen, die er finden konnte, ein Betthaus baute.
Das Bett-mit-der-Tür gehörte jetzt Roshan. Eins ihrer dünnen Ärmchen hatte sich zwischen die Latten geschoben und hing seitlich heraus. Ihr neunter Geburtstag stand kurz bevor. Schlägt ihrer Mutter nach, dachte Gustad, als er ihre zerbrechliche Gestalt betrachtete. Sein Blick wanderte zu Sohrab, der auf dem schmalen dholni schlief, das tagsüber zusammengerollt und unter Darius’ Bett verstaut wurde. Gustad hatte immer schon ein richtiges drittes Bett anschaffen wollen, aber in dem kleinen Zimmer war einfach kein Platz dafür.
Während sein Blick auf seinem Sohn ruhte, füllten sich seine Augen mit fröhlichem Stolz, und er war beruhigt: Das Gesicht von neunzehn Jahren war immer noch unbeschwert, wie in den Nächten seiner Kindheit in dem Bett-mit-der-Tür. Er fragte sich, ob die Zeit dem ein Ende setzen werde. Für ihn selbst, das wußte er, war dieser Tag gekommen, als die Buchhandlung seines Vaters schändlich geplündert und zugrunde gerichtet wurde. Der Schock, die Schmach hatten seine Mutter krank gemacht. Wie schnell sich die Finger der Armut bewegten und alles verschmutzten und verunreinigten. Bald danach war seine Mutter gestorben. Schlaf war für ihn nichts Glückliches mehr, sondern eine Zeit, in der sich alle Ängste verstärkten und die Wut wuchs – eine seltsame, ziellose Wut – und Hilflosigkeit, und wenn er erwachte, verfluchte er den Tag, der anbrach.
Und so, während er Sohrab in seinem unschuldigen Schlaf beobachtete, mit diesem Gesichtsausdruck, am Rande eines Lächelns; und Darius, mit fünfzehn eine jüngere, kürzere Spiegelung der muskulösen Gestalt seines Vaters; und die kleine Roshan, die nur wenig vom Bett-mit-der-Tür ausfüllte, ihre beiden Zöpfe längs auf dem Kissen: Während Gustad sie schweigend nacheinander betrachtete, wünschte er seinen Söhnen und seiner Tochter, daß alle Nächte ihres Lebens von Ruhe und Frieden erfüllt sein mögen. Sehr, sehr leise summte er das Lied aus der Kriegszeit, das er damals, als sie klein waren, umgedichtet hatte, um sie in den Schlaf zu singen:
Segne sie alle, segne sie alle,
Segne meinen Sohrab und Darius und alle,
Segne meinen Sohrab und Darius
Und Roshan und …
Sohrab drehte sich im Schlaf, und Gustad hörte auf zu summen. In dem Zimmer war es ebenso dunkel wie in den andern Räumen der Wohnung, da die Fenster und Lüftungsöffnungen mit Verdunkelungspapier überklebt waren. Gustad hatte es vor neun Jahren angebracht, in dem Jahr, als Krieg mit China war. Wieviel in jenem Jahr geschehen war, dachte er. Roshans Geburt, und dann mein schrecklicher Unfall. Was für ein Glück ich gehabt habe. Zwölf Wochen im Bett, mit meiner gebrochenen Hüfte zwischen Madhiwalla Bonesetters Sandsäcken. Und Unruhen in der Stadt – Ausgangssperren und Lathi-Angriffe und überall brennende Busse. Was für ein schreckliches Jahr 1962 gewesen war. Und so eine demütigende Niederlage, überall wurde nur darüber geredet, wie die Chinesen vorgerückt waren, als bestünde die indische Armee aus Zinnsoldaten. Und daß bis ganz zum Schluß beide Seiten Frieden und Brüderlichkeit verkündet hatten. Vor allem Jawaharlal Nehru, mit seinem Lieblingsslogan «Hindi-Chinee bhai-bhai», seinem Beharren, daß Chou En-lai ein Bruder und die beiden Nationen gute Freunde seien. Und wie er sich geweigert hatte, dem Gerede von Krieg Glauben zu schenken, obwohl die Chinesen zuvor in Tibet einmarschiert waren und mehrere Divisionen an der Grenze stationiert hatten. Immerzu «Hindi-Chinee bhai-bhai», als bräuchte man es nur oft genug zu wiederholen, um richtige Brüder aus ihnen zu machen.
Und als dann die Chinesen die Berge überrannten, sagte jeder, daß das nur das falsche Wesen der gelben Rasse bestätige. Chinesische Restaurants und chinesische Frisiersalons verloren ihre Kundschaft, und der Chinese wurde schnell zum Buhmann Nummer eins. Dilnavaz warnte Darius gerne mit dem Satz: «Wenn du nicht aufißt, trägt dich der böse Kinamann fort.» Aber Darius trotzte ihr, er hatte keine Angst. Nach Diskussionen mit seinen Klassenkameraden hatte er schon seine Pläne bezüglich der gelben Burschen gemacht, die Kinder fingen, um sie zu Gulasch zu verarbeiten, zusammen mit Ratten, Katzen und jungen Hunden. Er sagte, er werde seine Diwali-Spielzeugpistole holen, eine Rolle toati einlegen und päng-päng jeden Kinamann töten, der es wagte, sich in der Nähe ihrer Wohnung blicken zu lassen.
Doch zu Darius’ großer Enttäuschung rückten keine chinesischen Soldaten gegen das Khodadad-Gebäude vor. Statt dessen machten Gruppen von Spenden sammelnden Politikern ihre Runden im Viertel. Je nachdem, welcher Partei sie angehörten, priesen sie in ihren Reden die heldenhafte Haltung der Congress-Regierung oder prangerten ihre stümperhafte Politik an, die dazu geführt hatte, daß mutige indische Jawans mit veralteten Waffen und Sommerkleidung losgeschickt worden waren, um im Himalaja von den Chinesen abgeschlachtet zu werden. Jede politische Partei ließ fahnenbehängte LKWs kreuz und quer durch die Stadt fahren, mit Spruchbändern, die Paradebeispiele von Findigkeit waren: Auf geniale Weise wurde darauf die Unterstützung für die Partei mit der Unterstützung für die Soldaten verflochten, während die Spendensammler sich durch ihre Megaphone heiser brüllten und die Leute ermahnten, so selbstlos wie die Jawans zu sein, die den Schnee des Himalaja mit ihrem kostbaren Blut röteten, um Bharat Mata zu verteidigen.
Und die Menschen ließen sich dazu bewegen, den Strom der gelben Feinde einzudämmen. Sie warfen Decken, Pullover und Schals aus den Fenstern in die offenen LKWs, die unten vorbeifuhren. In einigen wohlhabenden Bezirken verwandelte sich die Sammelbewegung in einen regelrechten Wettbewerb, bei dem die Nachbarn sich gegenseitig auszustechen versuchten in ihrem Bemühen, gleichzeitig reich, patriotisch und mitfühlend zu erscheinen. Frauen entledigten sich ihrer goldenen Armreife, Ohrringe und Ringe und verschenkten sie. Geld – Scheine und lose Münzen – wurde in Taschentücher gewickelt und in die dankbaren Hände der Spendensammler geworfen. Männer rissen sich Hemden und Jacken vom Leib, zerrten sich Schuhe von den Füßen und Gürtel von den Hüften und schleuderten sie in die Lastwagen. Das war eine Zeit, und jedem, der so viel Solidarität, so viel Großzügigkeit erlebte, traten Tränen der Freude und des Stolzes in die Augen. Später erzählte man sich, daß einige der gespendeten Gegenstände im Chor Bazar und im Nur Bazar sowie überall in den Ständen der Straßenverkäufer wieder aufgetaucht und zum Verkauf angeboten worden seien. Doch dieser häßlichen Unterstellung wurde nicht viel Beachtung geschenkt, die Glut nationaler Einheit war noch warm und tröstend.
Doch jeder wußte, daß der Krieg mit China Jawaharlal Nehrus Herz erfrieren ließ und es ihm dann brach. Er kam nie über das, was er als Chou En-lais Verrat betrachtete, hinweg. Des Landes geliebter Panditji, jedermanns Chacha Nehru, der unbeirrbare Humanist, der große Visionär, war verbittert und boshaft geworden. Von jetzt an duldete er keine Kritik mehr, ließ sich keinen Rat mehr geben. Jetzt, da er den Geschmack an Philosophie und Träumen endgültig verloren hatte, fand er sich mit politischen Intrigen und internem Gezänk ab, obschon es auch schon vor dem Krieg mit China Anzeichen für seinen tyrannischen Jähzorn und seine Pikiertheit gegeben hatte. Seine Fehde mit seinem Schwiegersohn, dem Dorn in seiner politischen Seite, war allgemein bekannt. Nehru hatte es Feroze Gandhi nie verziehen, daß er Skandale in der Regierung aufgedeckt hatte. Er hatte keine Verwendung mehr für die Verteidiger der Geknechteten und die Verfechter der Armen, Rollen, die er früher selbst mit großer Begeisterung und ungeheurem Erfolg gespielt hatte. Seine einzige, alles beherrschende Besessenheit bestand jetzt darin, dafür zu sorgen, daß seine geliebte Tochter Indira, die einzige, die, wie er behauptete, ihn wirklich liebte, die sogar ihren nichtsnutzigen Ehemann verlassen hatte, um bei ihrem Vater zu sein – dafür zu sorgen, daß sie nach ihm Ministerpräsidentin wurde. Diese monomanische Fixierung beschäftigte ihn all seine Tage und Nächte hindurch, Tage und Nächte, die Chou En-lais Verrat auf ewig zerstört, für immer verfinstert hatte, anders als die verdunkelten Städte, die nach Beendigung des Konflikts, und nachdem die Menschen ihre Türen und Fenster wieder freigelegt hatten, zum Licht zurückkehrten.
Gustad jedoch ließ sein Verdunkelungspapier, wo es war. Er sagte, die Kinder könnten so besser schlafen. Dilnavaz fand das lächerlich, aber weil sein Vater kurz zuvor im Pflegeheim entschlafen war, sagte sie nichts dagegen. Vielleicht, dachte sie, fand er die Dunkelheit tröstend nach dieser Heimsuchung durch den Tod.
«Du brauchst das schwarze Papier erst zu entfernen, wenn du soweit bist, baba. Nichts liegt mir ferner, als dich zu etwas zwingen zu wollen», sagte sie, gab aber in regelmäßigen Abständen unverblümte Beobachtungen zu Protokoll: Das Papier fing Staub und war schwer sauberzuhalten; es bot Spinnen ideale Bedingungen, um ihre Netze zu spinnen; es war wie geschaffen für Schaben, die eine geschützte Stelle für ihre Eiablage suchten; und es machte das ganze Haus dunkel und bedrückend.
Wochen vergingen, dann Monate, in denen das Papier das Eindringen jeglicher Form von Licht, irdischem und himmlischem, verhinderte. «In diesem Haus hat man das Gefühl, daß es nie Morgen wird», beschwerte sich Dilnavaz immer wieder. Mit der Zeit lernte sie, mit Staub, Spinnenetzen und Ungeziefer auf andere Art fertigzuwerden. Die Familie gewöhnte sich daran, in weniger Licht zu leben, als wären die Fenster schon immer mit Verdunkelungspapier bedeckt gewesen. Doch gelegentlich, wenn die Alltagssorgen Dilnavaz mal besonders heftig zusetzten, wurde das Papier zur Zielscheibe ihres Unmuts: «Wirklich reizend, das hier. Sohn sammelt Schmetterlinge und Falter, Vater sammelt Spinnen und Schaben. Bald wird das Khodadad-Gebäude ein einziges großes Insektenmuseum.»
Doch drei Jahre später griffen die Pakistanis an, um sich ein Stück von Kashmir zu schnappen, so wie sie es gleich nach der Teilung versucht hatten, und ein weiteres Mal wurde Verdunkelung angeordnet. Dann wies Gustad sie triumphierend darauf hin, welch weise Entscheidung er getroffen hatte.
Er verließ seine schlafenden Kinder und ging zurück, um die Zeitung weiterzulesen. Es war noch nicht Zeit für seine Gebete: Das Licht war noch nicht am Horizont angebrochen. Er folgte Dilnavaz in die Küche und las ihr die Schlagzeile vor: «Schreckensherrschaft in Ostpakistan.»
«Moment, ich fülle gerade den matloo», sagte sie, da sie wegen des Rauschens des laufenden Wassers nichts verstehen konnte. Der Wasserdruck war schwach heute, es dauerte länger, bis die Trommel voll war. Während sie das Stück Batiststoff wusch, das sie für das Durchseihen und Lagern des täglichen Trinkwassers benutzte, fragte sie sich, warum. Sie warf den nassen Lappen flach über die offene Mündung des Tontopfes. Er landete mit einem scharfen, feuchten Klatschen. Sie drückte ihn fachkundig mit den Fingern in der Mitte ein, um einen Stofftrichter zu bilden.
«Hier steht, daß die Awami-Liga die Republik Bangladesh ausgerufen hat», fuhr Gustad fort, als der Hahn wieder zugedreht war. «Mittags in der Kantine hab ich zu allen Kollegen gesagt, daß genau das passieren werde. Die haben gemeint, General Yahya werde Sheikh Mujibur Rahman erlauben, eine Regierung zu bilden. Meine rechte Hand will ich abschneiden und euch geben, hab ich gesagt, wenn diese Fanatiker und Diktatoren das Wahlergebnis respektieren.»
«Was wird jetzt passieren?»
Ohne ihr zu antworten las er leise weiter, über bengalische Flüchtlinge, die über die Grenze strömten und von Terror und Bestialität berichteten, von Folterungen, Massakern und Verstümmelungen, von Frauen, die mit abgeschnittenen Brüsten in Gräben lagen, auf Bajonetten aufgespießten Babys, überall verkohlten Leichen, verwüsteten Dörfern.
Der Tontopf war bis zum Rand gefüllt. Dilnavaz maß sechs Tropfen der dunkelroten Lösung ab. Sie ärgerte sich jedesmal, daß sie das Wasser nicht abkochten. Doch Gustad sagte, Durchseihen und Kaliumpermanganat-Hinzufügen seien Vorsichtsmaßnahme genug. Sie versuchte, einen durchnäßten Zipfel ihres verwaschenen geblümten Nachthemds auszuwringen. Die Adern, sichtbar blau auf ihren viel zu schnell alternden Händen, schwollen vor Anstrengung an. Der Deckel des Kessels klirrte und klapperte über dem kochenden Wasser.
«Was Major Bilimoria wohl dazu gesagt hätte», sagte sie, während sie drei Teelöffel Brook-Bond-Tee hineinschüttete. Das lärmende Gegurgel des Kessels ging in leises Murmeln über. Sie haßte es, Tee direkt im Kessel zu machen, aber die dunkelbraune englische Teekanne, die sie über zwanzig Jahre lang benutzt hatten, hatte einen Sprung bekommen. Der zerschlissene Teewärmer, aus dem schon schimmelige Füllung herausquoll, mußte auch ersetzt werden.
«Major Bilimoria? Wozu was gesagt hätte?» Er fragte sich, ob sie irgend etwas von dem versteckten Brief ahnte, und versuchte, gleichgültig zu klingen.
«Zu diesen Unruhen in Pakistan, zu den Gerüchten, daß es Krieg geben wird. Er hätte sicher interne Informationen darüber, wo er doch beim Militär war.»
Major Jimmy Bilimoria hatte beinahe so lange wie die Nobles im Khodadad-Gebäude gewohnt. Gustad hatte ihn seinen Kindern immer als leuchtendes Beispiel präsentiert, sie ermahnt, aufrecht zu gehen, Brust raus, Bauch rein, wie Onkel Major. Der pensionierte Major genoß es, Sohrab und Darius mit Geschichten über seine ruhmreichen Zeiten in der Armee und im Gefecht zu ergötzen. Für seine jungen Zuhörer nahmen die Geschichten schnell den Charakter von Legenden an, in denen ihr Onkel Major der legendäre Held war, während er ihnen von den feigen Pakistanis erzählte, die 1948 die Flucht ergriffen, als sich ihnen in Kashmir indische Soldaten entgegenstellten, oder vom Fiasko der gefürchteten Stammeskrieger vom North-West Frontier, die in den Zeiten des Empire die Geißel der mächtigen britischen Armee gewesen waren. Für die wilden und grimmigen Stammeskrieger, sagte Onkel Major, war Kämpfen und Töten nichts weiter als ein besonders beliebter Zeitvertreib. Von den Pakistanis losgelassen, betranken sie sich und plünderten das erste Dorf, durch das sie kamen, statt vorzurücken und die Hauptstadt anzugreifen. Die Stunden vergingen, während sie ihre Opfer zerhackten und von Haus zu Haus zogen auf der Suche nach Geld, Schmuck und Frauen. Dank Spaß und Spielen, sagte Onkel Major, konnte die indische Verstärkung wertvolle Zeit gewinnen. Kashmir war gerettet, die Schlacht gewonnen. Dann atmeten die Kinder erleichtert auf und klatschten. Seine Geschichten und seine Beschreibung der verschiedenen Episoden – die Überquerung des Banihal-Passes, die Schlacht von Baramullah, der Sieg von Srinagar – waren so fesselnd, daß auch Gustad und Dilnavaz begeistert zuhörten.
Letztes Jahr war Major Bilimoria aus dem Khodadad-Gebäude verschwunden. Er ging, ohne jemandem ein Wort zu sagen, und niemand hatte eine Vorstellung, wo er sein könnte. Kurze Zeit später war ein Lastwagen gekommen, man hatte einen Schlüssel für seine Wohnung und Anweisung, seine Sachen abzuholen. Auf der hinteren Stoßstange stand die handgemalte, mit stark verschnörkelten Buchstaben geschriebene Botschaft: VERTRAU IN GOTT – BEI ÜBERHOLWUNSCH BITTE HUPEN. Von den Nachbarn befragt, wollten der Fahrer und sein Helfer nichts sagen: Humko kuch nahin maaloom, wir wissen von nichts, war alles, was aus ihnen herauszukriegen war.
Das plötzliche Verschwinden des Majors hatte Gustad Noble tiefer verletzt, als er zu zeigen bereit war. Allein Dilnavaz konnte die Heftigkeit seines Schmerzes spüren. «Einfach so wegzugehen, nachdem man so viele Jahre lang Nachbar gewesen ist, ist ein schändliches Benehmen. Verdammt schlechte Manieren.» Mehr als das sagte er nicht zu dem Thema.
Doch obwohl Gustad es nicht zugeben würde, war Jimmy Bilimoria mehr als nur ein bloßer Nachbar gewesen. Allermindestens war er wie ein liebevoller Bruder gewesen. Er hatte fast schon zur Familie gehört, ein zweiter Vater für die Kinder. Gustad hatte sogar schon daran gedacht, ihn in seinem Testament als Vormund zu bestimmen, sollte ihm und Dilnavaz irgend etwas Unvorhergesehenes zustoßen. Ein Jahr nach dem Verschwinden konnte er immer noch nicht an Jimmy denken, ohne daß sich die alte Verletzung bemerkbar machte. Hätte Dilnavaz doch bloß nicht seinen Namen erwähnt. Es war schlimm genug, daß er den Brief bekommen hatte. Und dann so einen Brief – da kocht mir das Blut, jedesmal, wenn ich dran denke.
In dem Versuch, seine gleichgültige Haltung beizubehalten, übertrieb er die Ironie: «Woher sollte ich denn wissen, was Jimmy zu Pakistan sagen würde? Er hat uns seine neue Adresse ja nicht hinterlassen, oder? Dann hätten wir ihm schreiben und ihn um seine fachmännische Meinung bitten können.»
«Du regst dich immer noch drüber auf», sagte Dilnavaz. «Aber ich bin nach wie vor überzeugt, daß er nicht auf diese Weise fortgegangen wäre, wenn er keinen triftigen Grund dazu gehabt hätte. Irgendwann werden wir herausbekommen, warum. Er war ein guter Mensch.» Sie nickte nachdenklich, während sie den Tee im Aluminiumkessel umrührte. Die Farbe schien jetzt richtig zu sein, und sie goß zwei Tassen ein. Aus dem Kühlschrank holte sie das bißchen Milch, das noch von gestern übriggeblieben war. Der bhaiya war noch nicht da, aber das würde für jetzt noch reichen. Gustad goß seine Untertasse voll und blies drauf. Als er mit der Zeitung fertig war, war schon fast Gebetszeit, und so holte er seine schwarze samtene Gebetskappe und trat nach draußen. Die Spatzen zwitscherten aufmunternd in dem einsamen Baum im Hof.
Und als er mitten in seiner Kusti-Rezitation war und irgendwo das Radio anging, zuerst auf Hindi und dann vermischt mit dem BBC World Service, war er nicht abgelenkt, weil er die Neuigkeiten schon alle kannte.
Nach der Hindi-Übertragung kam im Radio eine Reihe von Werbesprüchen: Amul-Butter («Butter, so lecker wie von Mutter …»), Hamam-Seife, Kirschblüten-Schuhcreme. Das andere Gerät, das auf den schnarrenden, brutzelnden BBC eingestellt war, wurde ausgeschaltet.
Gustad band sich das kusti wieder um die Hüfte und bemerkte mit Befriedigung, daß die beiden Enden, wie immer, gleich lang waren. Er hob und senkte die Schultern, damit sein sudra sich bequem um ihn legen konnte. Die Weste rutschte durch die Bewegung unter dem kusti hervor und erzeugte so die Lockerheit, die er gerne um den Bauch spürte. Über sein Kreuz kroch ein kühler Luftzug. Das erinnerte ihn an den vertikalen Riß. Die meisten seiner sudras hatten irgendwelche Spalten, und Dilnavaz jammerte immer, daß endlich ein paar neue gekauft werden müßten. Stopfen war zwecklos – kaum war ein Riß vernäht, war schon gleich der nächste da, weil das mulmul selbst abgetragen war. Sie solle sich keine Sorgen machen, sagte er: «Ein bißchen Luftkühlung schadet nichts», und lachte, wie immer, über die Zeichen ihrer bescheidenen Verhältnisse hinweg.
Mit geschlossenen Augen wandte er sein Gesicht zum Himmel, und gerade als er den Sarosh Baaj zu sprechen begann, lautlos, die Worte nur mit den Lippen formend, wurden die häuslichen Geräusche des Gebäudes vom Gebrüll eines Dieselmotors übertönt. Ein Lastwagen? Der Motor blieb kurz im Leerlauf, und er widerstand dem Drang, sich umzusehen. Nichts mißfiel ihm mehr, als bei seinen Morgengebeten unterbrochen zu werden. Schlechte Manieren, nichts anderes. Er würde nie einen andern Menschen, mit dem er sich unterhielt, unhöflich unterbrechen, warum es also bei Dada Ormuzd tun? Vor allem heute, wo es so viel gab, wofür man dankbar zu sein hatte, mit Sohrabs Aufnahme ins IIT, die mit einem wunderbaren, gesegneten Streich alle seine Bemühungen, alle Entbehrungen wettmachte.
Der donnernde Lastwagen fuhr weg und ließ eine Wolke von Dieselabgasen am Tor zurück. Langsam trug die Morgenluft den scharfen Geruch herein. Gustad rümpfte die Nase und setzte sein Sarosh Baaj fort.
Als er fertig war, war der Lastwagen schon längst wieder vergessen. Er ging zu den beiden Büschen, die auf dem kleinen Fleckchen staubiger Erde unter seinem Fenster wuchsen, gegenüber der schwarzen Steinmauer, und verrichtete sein tägliches Pensum Gartenarbeit. Zwischen den Blättern hingen Papierfetzen. Jeden Morgen pflegte er beide Büsche, obwohl er selber nur den Vinca gepflanzt hatte – die Minze war eines Tages von selbst gesprossen. In der Annahme, es sei Unkraut, hätte er sie fast ausgerissen. Doch Miss Kutpitia, die oben von ihrem Balkon aus zusah, hatte flink die medizinischen Verwendungsmöglichkeiten dieser besonderen Art erklärt. «Das ist ein sehr seltener subjo, sehr selten!» brüllte sie herunter. «Der Duft senkt hohen Blutdruck!» Und die winzigen zweilippigen Blüten, die in Ähren wachsen, enthielten Samen, die, in Wasser eingelegt und eingenommen, zahlreiche Magenleiden kurierten. Und so bestand Dilnavaz darauf, daß er die Pflanze stehenließ, wenigstens der Alten zuliebe. Die Nachricht von der neu entdeckten Medizin hatte sich jedoch schnell verbreitet, und die Leute kamen vorbei, um die Blätter oder die Zaubersamen zu erbitten. Die tägliche Nachfrage für subjo hielt ihr energisches Wachstum in Schach, das den Vinca und seine fünfblättrigen rosa Blüten, die Gustad so viel Freude bereiteten, zu überwuchern drohte.
Er säuberte die Pflanze von den Papieren, Zellophan-Bonbonhüllen und einem Kwality-Eisstiel und wandte sich dann seiner Rose zu. Er hatte ihren Topf mit dickem Bilderrahmendraht an einen Pfosten vor dem Eingang befestigt, mit mehreren komplizierten Schlingen und Knoten, so daß jeder mit Unfug im Kopf Stunden zubringen müßte, um sämtliche Verknotungen zu lösen. Er hob die Blütenblätter einer verwelkten Rose auf. Dann roch er wieder diese Dieselabgase, die ihn jetzt zum Tor lockten.
An der Säule klebte ein Zettel, und eine glänzende schwarze Öllache kennzeichnete die Stelle, wo der Lastwagen gehalten hatte. Die offizielle Bekanntmachung der Stadtverwaltung wölbte sich an manchen Stellen vor Kleber und Luftblasen. Nachdem er sie gelesen hatte, stellte er ein paar schnelle Berechnungen an. Diese Dreckskerle hatten wohl den Verstand verloren. Wozu brauchte denn die Straße erweitert zu werden? Er maß den Boden mit hastigen Schritten aus. Der Hof würde auf die Hälfte seiner gegenwärtigen Breite zusammenschrumpfen, und die schwarze Mauer würde wie ein Berg vor den Mietern im Erdgeschoß emporragen. Eher ein Gefängnis als ein Gebäude, alle zusammengepfercht wie Schafe oder Hühner. Und der Lärm und die Belästigung von der Straße wären dann viel näher. Die Fliegen, die Moskitos, der gräßliche Gestank von diesen verdammten schamlosen Leuten, die gegen die Mauer pissen und sich danebenhocken. Spätnachts verwandelte sie sich in eine öffentliche Massenlatrine.
Aber es war bloß ein Vorschlag, es würde nichts draus werden. Der Eigentümer würde doch bestimmt nicht zu dem von der Stadt angebotenen «fairen Marktwert» die Hälfte seines Hofs hergeben. Heutzutage war es schwierig, etwas Unfaireres zu finden als den fairen Marktwert des Staates. Der Eigentümer würde mit Sicherheit vor Gericht gehen.
Der Dieselgeruch hielt an und verfolgte ihn durch den Hof auf dem Weg zurück zu seiner Wohnung. Es erinnerte ihn an den Tag seines Unfalls vor neun Jahren, als der gleiche Geruch vorhanden gewesen war, genauso stark und anhaltend, während er mit seiner zertrümmerten Hüfte auf der Straße lag, bedroht von den herankommenden Autos. Er rümpfte die Nase und wünschte sich, der Wind würde drehen. Als er seine Wohnung betrat, begann seine Hüfte, diejenige, die sein Hinken verursachte, etwas weh zu tun.