Herausgeber: Jean-Paul Manzo

Text: James Smalls

Übersetzung: Dr Martin Goch

Layout: Cédric Pontes

Umschlagsgestaltung: Jennifer Mottais

 

Layout:

Baseline Co. Ltd

61A-63A Vo Van Tan Street

4. Etage

Distrikt 3, Ho Chi Minh City

Vietnam

 

© Centro Elisarion, Abb. 1, 2

© Smithsonian American Art Museum, Abb. 1, 2, 3

© Herbert List/Magnum photo, Abb. 1, 2

© Richmond Barthé, courtesy Childs Gallery, Abb.

© Jeanne-Mammen-Gesellschaft e.V., Abb.

© George Platt Lynes, II, Abb. 1, 2, 3

© The Estate of Francis Bacon/ARS, Abb. 1, 2

© Under international copyright by The Tom of Finland Foundation, Abb. 1, 2

© Andy Warhol Foundation/ARS, Abb.

© Pierre Molinier, courtesy Galerie A LEnseigne des Oudin, Paris/ADAGP/ARS, Abb. 1, 2

© Harmony Hammond, Abb. 1, 2

© Robert Mapplethorpe/Michael Van Horne, Abb. 1, 2

© Pierre et Gilles. courtesy Jerome de Noirmont, Paris, Abb. 1, 2

© David Wojnarowicz/P.P.O.W., New York, Abb.

© George and Helen Segal Foundation/VAGA, Abb.

© Catherine Opie. Courtesy Regen Projects, Los Angeles, Abb.

© Mardsen Hartley, Art Museum, University of Minnesota, Minneapolis, Abb.

© Ajamu, Abb. 1, 2

© Rotimi Fani Kayode/Autograph, Association of Black Photographers, Abb. 1, 2

© Sunil Gupta, Abb.

© Nan Goldin, Abb. 1, 2

© Tee Corinne, Abb.

© ARS, Abb. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7

 

© Confidential Concepts, worldwide, USA

© Parkstone Press International, New York, USA

Image-Bar www.image-bar.com

 

ISBN: 978-1-78310-623-3

 

Weltweit alle Rechte vorbehalten.

Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Photographen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

James Smalls

 

 

 

Die Homosexualität in der Kunst

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

Einleitung

Kapitel 1. Homosexualität in der Antike (vom antiken Griechenland bis zum Römischen Imperium)

Waffenbrüder und schöne Körper

Die hellenistische Epoche: Das Zeitalter des Dionysos

Griechischer Einfluss im Ausland

Die Ernüchterung der Sappho

Rom von der Republik bis zum Imperium

Pompeji

Kapitel 2. Homosexualität im Mittelalter

Das unaussprechliche Laster

Feuer und Schwefel

Geheiligte Verbindungen in der byzantinischen Welt

Die Romanische Epoche (1000-1200)

Intoleranz und Unterdrückung (1200-1400)

David und Jonathan

Moralisierende Manuskripte

Abstieg ins Inferno

Das Spätmittelalter

Weibliche Homosexualität im Mittelalter

Kapitel 3. Homosexualität in der italienischen Renaissance

Der Neoplatonismus in der Renaissance

Leonardo da Vinci (1452-1519)

Michelangelo Buonarroti (1475-1564)

Benvenuto Cellini (1500-1571)

Die Renaissance im übrigen Europa

Die späte italienische Renaissance

Das Barock

Weibliche Homosexualität in der Renaissance

Kapitel 4. Homosexualität in der Kunst nicht-westlicher Kulturen (Asien und Islamische Welt)

Indien

China

Japan

Die islamische Welt

Kapitel 5. 1700–1900: Auf dem Weg zu einer sexuellen Identität

Libertins und Libertinage

Klassizismus und Romantik

Realismus

Der Symbolismus und der Sprung der Vorstellungskraft

Vom Ästhetizismus zur Sexualwissenschaft

Kapitel 6. Homosexualität in der Kunst der Moderne und der Postmoderne (1900–2000)

I. Vom Modernismus bis Stonewall (1900-1969)

Sappho am linken Ufer

II. Von Stonewall zur Postmoderne (nach 1969)

Schlusswort

Bibliographie

Anmerkungen

Liste der Abbildungen

01. Griechische Malerei, ein Paar darstellend, 480 v. Chr.

Museum in Paestum, Italien.

 

 

Einleitung

 

 

Kunst und Homosexualität mag wie eine merkwürdige Kombination wirken. Beide Phänomene sind, seit es eine Überlieferung gibt, jedoch Teil der Geschichte der Menschheit. Zwei so umfassende Konzepte wie die Homosexualität und die Kunst zusammenzubringen, ist dennoch eine Herausforderung. Beide Kategorien werfen eine Reihe konzeptioneller Probleme und ungelöster Fragen auf.

Die grundsätzliche Frage „Was ist die Kunst und welche Funktion erfüllt sie?” hat die Menschheit über Jahrhunderte beschäftigt und ist immer noch nicht endgültig beantwortet. Es gibt so viele Konzepte und Definitionen dessen, was Kunst ist (bzw. was sie nicht ist) und was Kunst bedeutet, wie es Individuen gibt. In dieser Studie über Homosexualität in der Kunst verwende ich den Begriff „Kunst“ in einem umfassenden Verständnis als menschliche Schöpfung und Kommunikation in einem visuellen Feld. Obwohl der Großteil der Bilder in diesem Buch aus traditionellen Medien wie der Malerei, der Bildhauerei, der Grafik und der Photographie stammt, gehören zur Kunst in diesem Sinne auch Bilder und Formen aus der populären Kultur, der Werbung, Aufführungen, computergenerierte Bilder etc. Letzten Endes bleibt es dem Leser überlassen, was er als Kunst anerkennt und was nicht.

Anders als “Kunst“ lässt sich der Terminus „Homosexualität“ genauer bestimmen. Homosexualität und die mit ihr einhergehenden Emotionen hat es in allen Kulturen und zu allen Zeiten gegeben, lange bevor dieser Begriff geprägt wurde. Sie ist schon immer ein Teil der komplexen menschlichen Sexualität gewesen. Die Art, in der homosexuelle Liebe und Gefühle visuell artikuliert werden, reflektiert häufig den Status von Homosexuellen in der jeweiligen Kultur. In den Kunstwerken kommen entweder eine gewisse Toleranz oder Anzeichen restriktiver Vorurteile, die von Tradition und Religion genährt werden, zum Vorschein.

Vor 1869 gab es die Begriffe „Homosexualität“ und „Heterosexualität“ nicht. Beide Begriffe wurden von Karl Maria Kertbeny geprägt, ersterer 1869, der zweite im Jahr 1880. Kertbeny verwandte den Terminus „Homosexualität“ in einer Reaktion auf einen Paragraphen des preußischen Strafrechts, der sexuelle Beziehungen zwischen Männern kriminalisierte. Kertbeny wollte diesen Paragraphen getilgt sehen, hatte damit aber keinen Erfolg. Die entsprechenden Bestimmungen wurden 1871 zu einem Bestandteil des preußischen Rechts, sie galten bis zur Nazi-Zeit fort, wurden 1935 noch verschärft und galten bis 1969 auch noch in Westdeutschland (Haggerty, 451). Kertbeny hatte seine eigenen Ansichten zur menschlichen Sexualität. Obwohl er vielleicht nie eine umfassende Theorie der Homosexualität entwarf, unterteilte er Homosexuelle in verschiedene Kategorien: in „aktive“, „passive“ und „platonische“ Homosexuelle sowie solche, die die Gesellschaft von Mitgliedern ihres eigenen Geschlechts lieben, ohne Geschlechtsverkehr mit ihnen haben zu wollen. Die Bezeichnung „Homosexualität“ entstand also als ein Ausdruck der Sympathie und des politischen Aktivismus mit dem Ziel, ein repressives Gesetz aufzuheben. Im Lauf der Zeit jedoch entwickelte sich das Wort zu einem Konzept, das schließlich zur Beschreibung der sexuellen Neigungen des Individuums diente.

Der Begriff und seine neue Bedeutung benötigten einige Zeit, um Eingang in die europäischen Sprachen und Gedankenmuster zu finden.

In den 1880er Jahren erweckte Kertbenys griffige neue Bezeichnung die Aufmerksamkeit von Richard von Krafft-Ebing, einem bekannten Sexualwissenschaftler, der das Wort in seinen äußerst populären Psychopathia Sexualis (1886-87), einer umfassenden Enzyklopädie sexueller Abweichungen, verwandte. Durch diese Publikation und weitere Arbeiten bekannter Sexualwissenschaftler des späten 19. Jahrhunderts erlangte der Begriff „Homosexualität“ seine medizinischen und klinischen Konnotationen. Krafft-Ebing war ein wichtiger Vertreter der Erforschung des menschlichen Sexualverhaltens vor der Kodifikation der modernen Psychologie und Psychoanalyse im Gefolge der Gedanken und Schriften Sigmund Freuds (siehe Gregory W. Bredbeck, „Sexology“, in Haggerty, 794). Der Begriff „Homosexualität“ fand erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts Eingang in die englische und amerikanische Alltagssprache, im Wesentlichen als Folge des Kinsey-Reports von 1948. Alfred Kinseys wissenschaftliche Daten zur menschlichen Sexualität stellten die bis dahin herrschende Sicht der Homosexualität als eine Geisteskrankheit in Frage.

Das Konzept „Homosexualität“ umfasst ein ganzes Spektrum einander widersprechender Ideen über die Geschlechter und gleichgeschlechtliche Beziehungen. Gerade dieses große Spektrum möglicher Bedeutungen macht „Homosexualität“ heute zu einem so unwiderstehlichen, mächtigen und mehrdeutigen Konzept. In seiner modernen Bedeutung bezeichnet „Homosexualität“ sowohl einen psychologischen Zustand als auch erotisches Verlangen und sexuelle Praktiken (David Halperin, „Homosexuality“, in Haggerty, 452). Alle drei Bedeutungsgehalte werden mit Mitteln der Kunst artikuliert. Die Homosexualität oder, um einen neueren Ausdruck zu gebrauchen, die Homoerotik kann als ein tatsächliches oder potenzielles Element der Erfahrung eines jeden Individuums verstanden werden, welche sexuelle Orientierung der Einzelne auch immer hat. Homosexualität und Homoerotik überschneiden sich häufig, sind aber nicht notwendigerweise identisch. Viele der Bilder in diesem Buch sind eher homoerotischer als homosexueller Natur. Die Unterschiedlichkeit der Begriffe „homosexuell“ und „homoerotisch“ ist nicht allein in den Grundbedeutungen von „sexuell“ und „erotisch“ begründet. Während „sexuell“ sich auf die körperliche Seite der Sexualität bezieht, geht es bei der Homoerotik um ein Konzept, das eine ganze Bandbreite an Ideen und Gefühlen über gleichgeschlechtliche Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte betrifft, die nicht immer in Geschlechtsverkehr kulminieren. Anders als die Homosexualität legitimiert die Homoerotik erotische Sehnsüchte zwischen Mitgliedern desselben Geschlechts, indem diese Gefühle in einen Kontext eingebettet werden, der sie begründet – wie den Klassizismus, militärische Strukturen, athletische Wettkämpfe etc. Auf diese Weise wird die Homoerotik verschleiert und nicht als abweichendes Verhalten wahrgenommen. Während alle Homosexuellen homoerotische Sehnsüchte kennen, sind keineswegs alle, die homoerotische Gefühle empfinden und schätzen, notwendigerweise homosexuell. Homoerotische Gefühle können für manche heterosexuelle Menschen eine derart erschreckende Erfahrung sein, dass sie mit ablehnenden homophoben Emotionen reagieren. Homoerotische Empfindungen stehen auch in Verbindung mit dem neueren Konzept homosozialer Beziehungen. Männliche homosoziale Beziehungen spielen in allen ausschließlich männlichen Milieus eine Rolle und sind ein Instrument, mit dem Männer ihre Identität konstruieren und ihre Privilegien und soziale Machtstellung, die sie zumeist auf Kosten der Frauen genießen, konsolidieren (siehe Eve Sedgwick, Between Men: English Literature and Male Homosocial Desire (New York: Columbia University Press, 1985). Es gibt natürlich auch weibliche homosoziale Beziehungen, aber ihre Wirkungsweisen sind vor dem Hintergrund einer patriarchalischen Kultur völlig andere.

Obwohl die männliche und die weibliche Homosexualität oft scharf voneinander getrennt werden, werden sie in diesem Buch zusammen thematisiert. Der Begriff „Homosexualität“ bezieht sich dabei grundsätzlich auf Beziehungen zwischen Männern, wenn er nicht ausdrücklich auf weibliche Homosexualität angewandt wird.

Die Begründung hierfür findet sich in der Tatsache, dass die meisten Gesellschaften männlich dominiert und geprägt sind und die sexuellen Aktivitäten des Mannes eine größere Rolle spielen als die der Frauen.

02. Albrecht Dürer, Selbstbildnis, 1493.

Pergamentpapier auf Holz, 56.5 x 44.5 cm. Louvre, Paris.

03. Michelangelo Merisi da Caravaggio, Die Ekstase des
Heiligen Franziskus, 1595-1600. Öl auf Leinwand,

92.5 x 128 cm. Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut.

04. Thomas Eakins, Die Ringer, 1899.

Öl auf Leinwand, Philadelphia Museum of Art.

 

 

Im Vergleich zur Kunst von und über homosexuelle Männer „...zeigt die geringe Menge an Kunst von oder über Lesbierinnen, dass die kulturelle Überlieferung von Männern dominiert wird“ (Saslow, 7). Der absolut überwiegende Teil der tradierten literarischen und künstlerischen Belege wurde von Männern geschaffen und befasst sich deshalb zumeist mit den Aktivitäten von Männern.

Die Definition der Homosexualität wird ferner durch die Unterschiede zwischen der modernen und vormodernen Perspektive erschwert. In der aktuellen Fachliteratur zu diesem Thema gibt es eine heftige Kontroverse darüber, ob man den Begriff „homosexuell“ auf gleichgeschlechtliche Beziehungen in nicht-westlichen, vormodernen und alten Kulturen anwenden kann. Wie das Wort „Sexualität“ beschreibt „Homosexualität“ ein kulturell determiniertes Konzept der modernen westlichen Gesellschaft.

Auf diese Weise oktroyiert man der alten und vormodernen Welt moderne und westliche Ideen des Ich und des Anderen auf, wenn man das Konzept „Homosexualität“ auch auf historische Erscheinungen anwendet. In den meisten alten und vormodernen Kulturen gibt es keinen vergleichbaren Begriff zur Beschreibung des Zustands der Homosexualität oder homosexueller Praktiken. Jeder Versuch, die Darstellungen von Männern in alten Kunstwerken oder Texten mit dem Status oder den Praktiken moderner Homosexueller gleichzusetzen, wäre anachronistisch. Zudem ist das moderne Konzept „Homosexualität“ mit einem negativen moralischen Stigma behaftet, das jede positive Würdigung männlicher oder weiblicher gleichgeschlechtlicher Praktiken in vormodernen Gesellschaften verstellt. Aber auch wenn die Menschen der Vergangenheit das moderne Konzept „Homosexualität“ nicht im Kopf hatten, heißt dies nicht, dass es keine Homosexualität und keine Homophobie gab.

In der modernen westlichen Welt gehört das Konzept „Homosexualität“ in den Kontext eines binären Verständnisses von Sexualität und Geschlecht. Es impliziert, dass gleichgeschlechtliche emotionale und sexuelle Beziehungen, in all den unterschiedlichen sexuellen und erotischen Formen, die sie annehmen, eine ganz eigene Qualität haben und das „Homosexualität“ genannte Phänomen konstituieren, das eindeutig von der Heterosexualität zu unterscheiden ist. In den alten, vormodernen und nicht-westlichen Gesellschaften, die in diesem Buch vorgestellt werden, war die Ähnlichkeit oder Unterschiedlichkeit der Geschlechter der Personen, die Geschlechtsverkehr hatten, jedoch weniger wichtig als das Ausmaß, in dem durch den Geschlechtsverkehr religiöse Vorschriften und die auf Geschlecht, Alter und sozialem Status beruhenden Verhaltensregeln und Traditionen befolgt oder verletzt wurden.

Die komplexe historische und gesellschaftliche Entwicklung der Homosexualität in der westlichen Welt belegt, dass es sich um mehr als bloß eine bewusste sexuelle und erotische Präferenz für Mitglieder des eigenen Geschlechts handelt. Die Homosexualität hat sich zu einem neuen sexuellen System entwickelt, mit dessen Hilfe das Individuum seine sexuelle Orientierung und Identität definiert. Auf diese Weise hat die Homosexualität „...ein neuartiges Element in soziale Organisationen, die menschlichen Unterschiede, die soziale Produktion von Wünschen und, letzten Endes, in die soziale Konstruktion des Selbst eingeführt“ (David Halperin, „Homosexuality“, in Haggerty, 454-55).

Ein bedeutsamer Aspekt der Geschichte der Homosexualität betrifft die Sprache und die Etikettierung. Die Ersetzung des Wortes „homosexuell“ durch „schwul“ veranschaulicht am besten die politischen Dimensionen der Individualität und Identität als wichtige Komponenten des homosexuellen Selbstverständnisses. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts trat das Wort „schwul“ immer stärker an die Stelle des Begriffs „homosexuell“, weil viele schwule Aktivisten die klinischen und medizinisch-pathologischen Bedeutungen des Letztgenannten ablehnten. Zur Zeit der Stonewall-Unruhen im Jahr 1969 war „schwul“ der vorherrschende Begriff, mit dem eine Gruppe junger und politisch bewusster homosexueller Aktivisten ihre sexuelle Identität artikulierten.

05. Gustav Klimt, Freunde (Detail), 1916/17.

Öl auf Leinwand, verbrannt im Jahr 1945

im Schloss von Immendorf.

 

 

Man meinte, dass dieses Wort, anders als „homosexuell“, das wachsende politische Bewusstsein der schwulen Emanzipationsbewegung zur Geltung bringe. Wie „homosexuell“ kann sich „schwul“ sowohl auf Männer als auch auf Frauen beziehen. Einige Frauen fühlen sich jedoch aus der Kategorie „schwul“ implizit ausgeschlossen und ziehen die Bezeichnung „lesbisch“ vor. Diese Streitereien über Wörter und Etiketten sind ein wichtiger Teil der Geschichte der Homosexualität. Die Debatte um die Begriffe „lesbisch“ und „schwul“ offenbart, dass das Verhältnis zwischen der homosexuellen und der Geschlechteridentität schon immer schwierig war. In diesem Buch wird der Begriff „schwul“ nur für die Zeit nach 1969, der Zeit des wachsenden politischen Bewusstseins der Homosexuellen-Bewegung, benutzt.

Im Verlauf der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde das Wort „schwul“ immer geläufiger. Praktisch jede politische und soziale Organisation, die irgend etwas mit der schwulen Emanzipationsbewegung zu tun hatte, benutzte diesen Begriff oder verschiedene seiner Varianten in ihrem Namen. In den letzten Jahren hat es in der angelsächsischen Schwulenkultur erneut Auseinandersetzungen über Worte gegeben, weil viele das Wort gay für schwul durch das Wort queer (im Deutschen ebenfalls „schwul“) ersetzt sehen wollen. Das letztgenannte Wort soll alle nicht-heterosexuellen Personen und Aktivitäten umfassen [siehe hierzu Haggerty, 362-63 und Daniel F. Pigg, „Queer“, in Haggerty, 723-724]. Homosexuelle Männer eigneten sich in den 90er Jahren das ursprünglich der Verurteilung der Homosexualität dienende Wort queer an, um sich von der dominierenden Schwulenkultur abzusetzen, der sie vorwarfen, dass sie sich mit dem status quo arrangiert habe.

Nach diesen terminologischen Klärungen stellen sich immer noch einige wichtige und schwierige Fragen, die besonders die Erscheinungsformen der Homosexualität in der Kunst betreffen. Wie entscheiden wir z.B., ob ein Kunstwerk die Homosexualität thematisiert? Ist ein Bild zweier nackter Männer oder zweier nackter Frauen, die eng beieinander stehen, ein Bild über die Homosexualität? Müssen Kunstwerke offen oder verdeckt homosexuelle Themen ansprechen, um einschlägig zu sein? Ist für das Verständnis eines Kunstwerks die Thematik oder die sexuelle Identität des Künstlers von ausschlaggebender Bedeutung? Welche Rolle spielt der Betrachter dabei, ob ein Kunstwerk sich mit der Homosexualität befasst oder nicht? Was ist die Bedeutung und die unterschwellige „Botschaft“ der Homosexualität in der Kunst, über kulturelle und historische Grenzen hinweg? Verleiht die Homosexualität einem Künstler eine andere Weltsicht?

Obwohl diese Fragen alle wichtig sind, wäre es falsch, eine universale Antwort auf sie zu suchen. Die Homosexualität ist dafür bei weitem zu vielfältig und komplex. Die Homosexualität „...überwindet alle Grenzen und ist in einem Spektrum visueller und physischer Objekte enthalten, die Emotionen und Werte symbolisieren und kommunizieren“ (Saslow, 2). „Homosexualität“ ist ein schillerndes Konzept, das eine große Bandbreite an Gefühlen und Emotionen bezeichnet. Die Bedeutung des Begriffs ist von Mensch zu Mensch, von Epoche zu Epoche und von Kultur zu Kultur extrem unterschiedlich. Die Homosexualität sollte jedoch auf keinen Fall auf sexuelle Praktiken allein beschränkt werden. Obwohl sich in diesem Buch zahlreiche explizite Darstellungen von Männern und Frauen beim homosexuellen Geschlechtsverkehr finden, ist es nicht als ein bloßes Bilderbuch sexueller Praktiken gedacht. Beim Begriff und Konzept der Homosexualität geht es um weit mehr als nur um körperliche Liebe. Der Gegenstandsbereich dieses Buchs ist wesentlich weiter gefasst. Es befasst sich auch mit den ungeheuer vielfältigen emotionalen und psychologischen Wünschen, Bedürfnissen und Empfindungen zwischen Menschen desselben Geschlechts.

Wie der Kunsthistoriker James Saslow festgestellt hat, ist der Begriff „Homosexualität“ ebenso mehrdeutig und flexibel wie das Wort „Liebe“ (Saslow, 7). Die Bilder in diesem Buch veranschaulichen, wie diese Aktivitäten, Gefühle, Bedürfnisse und Sehnsüchte visuell artikuliert werden. Aufgrund der großen Bandbreite an Kulturen und Kunst, die in diesem Buch vorgestellt werden sowie der kulturellen und sozialen Komplexität des Begriffs und des Konzepts „Homosexualität“ kann nur ein grober Überblick über die Homosexualität in der visuellen Kunst sowie eine impressionistische Auswahl an Bildern aus unterschiedlichen Zeiten und Regionen geboten werden. Homosexualität in der Kunst ist nicht als umfassende Abhandlung über das Thema gedacht. Aber auch eine kursorische Behandlung dieses Themenkreises dürfte jeden interessieren, der für die komplexen und komplizierten Beziehungen zwischen der Sexualität und der Kreativität der Menschen aufgeschlossen ist.

06. Photographie von George Platt Lynes, Nicholas Magallanas
und Francisco Moncion in der Pose von Orpheus, Ballet Society, 1948.

1. Malerei von Euaion, Eraste mit einem
jungen Musiker, ca. 460 v. Chr.,

rotfigurige Schale, Louvre, Paris.

 

 

Kapitel 1. Homosexualität in der Antike
(vom antiken Griechenland bis
zum Römischen Imperium)

 

 

Bei den frühen Griechen handelte es sich um einen losen Verbund ländlicher Stämme, die schließlich kleine Stadtstaaten bildeten. Schon im frühen 3. vorchristlichen Jahrhundert war die offene Homosexualität in den griechischen Stadtstaaten weit verbreitet. Sie entwickelte sich zu einem integralen Bestandteil des archaischen und klassischen Griechenlands. Männliche Homosexualität, genauer gesagt: Päderastie, war eng mit dem Militärdienst und der Initiation männlicher Jugendlicher in die Bürgerschaft verknüpft. Der Großteil unseres Wissens über die Homosexualität bei den Griechen basiert auf der Kunst, Literatur und Mythologie der griechischen Stadtstaaten. Die Frage, warum die Athener des 4. Jahrhunderts v. Chr. die Homosexualität und ein homoerotisches Ethos so problemlos akzeptierten, ist nicht leicht zu beantworten. Obwohl die Stadtstaaten eigene Gesetze und jeweils spezifische Moralvorstellungen hatten, gibt es auch aus Korinth, Sparta, Theben und anderen Städten sowie von Kreta visuelle und literarische Belege für homosexuelle Interessen und Praktiken. Homoerotische Beziehungen im antiken Griechenland sind erstmals in einem Fragment des Ephorus von Kyme belegt. Hier wird von einem alten Ritual berichtet, das im siebten Jahrhundert v. Chr. im dorischen Kreta stattfand und in dessen Rahmen ältere Männer männliche Jugendliche in Aktivitäten wie die Jagd, Festlichkeiten und wahrscheinlich auch sexuelle Beziehungen initiierten. (Lambert in Haggerty, 80).

Die Bedeutung der Homosexualität in der griechischen Kultur der Antike kommt in den Bräuchen, Riten, in Mythen und Legenden, in Kunst und Literatur und in den gesellschaftlichen Verhältnissen insgesamt zum Ausdruck. Die wichtigsten künstlerischen und literarischen Dokumente zur Homosexualität im antiken Griechenland finden sich in der spätarchaischen und frühklassischen Töpferei, den Komödien des Aristophanes und anderer Autoren wie Euripides, Aischylos und Sophokles, ferner in den Dialogen Platos und in der griechischen Vasenmalerei (Dover, 9). In den Schriften Platos findet sich die intensivste Diskussion homosexueller Liebe. Er konzentrierte sich in seinen Dialogen auf die männliche Homosexualität, die er als ein höheres spirituelles Ziel als heterosexuelle körperliche Liebe und Fortpflanzung ansah. Die drei bekannten Dialoge Platos – Lysis,Phaidr os und Symposion – geben fiktive und manchmal ironische Gespräche über sexuelle und erotische Beziehungen zwischen Männern wieder (Jordan in Haggerty, 695). Viele Passagen der Dialoge beschreiben die Liebe zwischen Männern als paiderasteia (Päderastie - das Wort paiderasteia setzt sich zusammen aus pais (Junge) und eran (lieben)) – die erotische, aktive Liebe eines erwachsenen Mannes zu einem schönen, passiven Jüngling. In Lysis und Symposion wird Sokrates (ein Protagonist in den Dialogen) als der aktive Werber um eine jugendliche männliche Schönheit charakterisiert. Für Sokrates stellt hier die Homoerotik das Streben nach hehren Zielen in Taten und Gedanken dar. Es herrscht keine Einigkeit darüber, wie sich die Päderastie im antiken Griechenland entwickelte. Der überkommenen antiken Mythologie zufolge war es Minos , der sie einführte, um die Übervölkerung der Insel zu verhindern. Die athenische Gesellschaft sah die Päderastie als ein wesentliches Instrument der Sozialisation junger, frei geborener Jungen an, die so zu Männern erzogen und in die Bürgerschaft eingeführt wurden. Als Institution trat sie neben, nicht an die Stelle der heterosexuellen Ehe.

Obwohl der Ausdruck „Päderast“ heute ein Schimpfwort ist und Sexualstraftäter bezeichnet, hatte der Begriff im antiken Griechenland keine negativen Konnotationen und wurde auf Beziehungen zwischen erastes und eromenos angewandt. In einere solchen Beziehung wurde von einem älteren Mann (der erastes oder Liebhaber - in sparta „inspieren“), zumeist bärtig und von hohem sozialen Rang, erwartet, dass er einen Jugendlichen (ein eromenos, oder geliebter - in Sparta «Hörer») auswählen und für sich gewinnen sollte, um ihn Verständnis und Respekt für die maskulinen Werte Mut und Ehre zu vermitteln. Solche Attribute waren nicht nur für die gesellschaftliche Stabilität wichtig. Sie dienten auch als Grundlage für Tapferkeit und Loyalität, wenn es um die Verteidigung der Stadstaaten auf dem Schlachtfeld ging.

In Platos Symposion wird die homosexuelle Liebe in einem Gespräch zwischen einem älteren, bärtigen Liebhaber (erastes) und einem jüngeren, haarlosen Geliebten (eromenos; im Alter von der Pubertät bis etwa 17 Jahren) ausführlich illustriert und gepriesen. Das Symposion gehört zur so genannten Bankettliteratur, einer Mischung informeller Diskussionen über unterschiedliche Themen, darunter der philosophische und moralische Wert der Liebe und der Genuss von Jungen und jungen Männern. Es gibt zahlreiche Vasenmalereien, die illustrieren, was bei diesen Banketten oder Symposien, bei denen die Jungen den Gästen oft als Mundschenk dienten, geschah. Platos Symposion beschreibt die strengen Regeln des Werbens und der Liebe in der Beziehung zwischen erastes und eromenos. Es gab aber auch einige Tabus. Zum Beispiel durfte der Junge auf keinen Fall die Rolle des Aggressors oder Freiers übernehmen oder den erastes penetrieren. Auch das Werben oder die sexuelle Aktivität zwischen zwei Jungen oder Männern desselben Alters oder deselben sozialen Rangs waren verpönt. Das Ideal bestand in der Liebe zwischen den Generationen unter Berücksichtigung der sozialen Stellung.

Der Großteil unserer primären visuellen Informationen über die homosexuellen Bräuche und Gewohnheiten und die sexuellen Praktiken im antiken Griechenland stammt von Vasenmalereien. Griechische Vasen, die zum Wassertransport, zur Aufbewahrung von Wein und Olivenöl und zum Servieren von Speisen und Getränken dienten, wurden von lokalen Handwerkern in großen Mengen hergestellt und in die gesamte Mittelmeerregion exportiert. Viele wurden an Mitglieder der Mittel- oder Oberschicht verkauft und trugen oft handgemalte Götterbilder oder Szenen aus Mythen, Legenden oder dem Alltagsleben. Zahlreiche Vasen aus dem 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. zeigen ältere Männer im Gespräch mit Jugendlichen, denen sie Geschenke anbieten, deren Genitalien sie berühren und die sie umarmen.

2: Mann und Jugendlicher vor dem Geschlechtsverkehr,

Brygos-Maler, ca. 500-480 v. Chr.,

Oxford, Ashmolean Museum.

3: Männer und Jugendliche, spätes 6. Jahrhundert v. Chr.,

Boston, Museum of Fine Arts

4: Pan verfolgt einen jungen Schäfer, ca. 470 v. Chr.

Keramik, Boston, Museum of Fine Arts.

5. Mann berührt jungen Mann, 6. Jahrhundert vor Chr.

Staatliche Antikensammlun und Glyptothek, München.

 

 

 

Ebenso häufig sind Darstellungen athletischer Wettkämpfe, des erotischen Werbens und plastischer sexueller Aktivitäten. Recht häufig ließ ein erastes eigens für seinen eromenos eine Vase fertigen, die ihm dann zusammen mit anderen Geschenken wie einem Hasen, einem jungen Hahn oder einem Hirsch überreicht wurden. Dies waren mit der Jagd assoziierte Standardgeschenke, die die Funktion der Päderastie als Initiationsritus unterstrichen. Manchmal wurden kurze Inschriften hinzugefügt oder hinter dem Namen des Lieblingsjungen erschien das Wort kalos („ist schön“). Mit etwa 18 Jahren wurde ein eromenos ein erastai. Man erwartete nun von ihm, dass er heiratete, Kinder zeugte und seinerseits um Jungen warb. Derart strenge soziale Regeln führten häufig zu Verstößen. Auch diese wurden manchmal auf Vasen dargestellt. Man kann sie mit Platos häufigen Mahnungen und Warnungen, die athenischen Männer sollten sexuell nicht maßlos sein, in Verbindung bringen. Obwohl schockierend, waren diese Verstöße für die antiken Menschen im Vergleich zu den größten Tabus – Oral- und Analverkehr – von untergeordneter Bedeutung. Diese Praktiken galten als unter der Würde männlicher athenischer Bürger und waren für Frauen, männliche und weibliche Prostituierte, Fremde (von den Griechen „Barbaren“ genannt) und Sklaven reserviert. Anale Penetration und Oralverkehr wurden mit weiblicher Passivität und Tieren assoziiert und oft auf Vasen dargestellt, die als Symbole des Konflikts zwischen dem zivilisierten Menschen und seinen unkontrollierbaren tierischen Trieben und Bedürfnissen Satyrn oder andere mythische Figuren zeigten. Ihre Männlichkeit war unersättlich und sie werden üblicherweise betrunken, mit enormen Genitalien und beim Geschlechtsverkehr oder der Masturbation gezeigt.

Trotz der sozialen und moralischen Ächtung von oralem und analem Sex zwischen Partnern gleichen Geschlechts wurden diese Formen privat doch praktiziert. Deshalb wird Analsex zwischen Männern und Jungen in der griechischen Kunst zwar selten, aber durchaus dargestellt. Auf der anderen Seite sind Wiedergaben des Analverkehrs zwischen Männern und Frauen relativ häufig.

Die meisten Abbildungen homosexueller Beziehungen auf Vasen zeigen erastai dabei, wie sie die Genitalien von eromenoi [Plural von eromenos] liebkosen oder aber die akzeptierte stehende Position, bei der die Partner sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und gemeinsam mit dem erigierten Penis zwischen den Schenkeln des Partners masturbieren.

Viele Schriftsteller verspotteten den Analverkehr und setzten ihn als Maß für die Moral einer Person ein. Die ambivalente soziale und sexuelle Rollenverteilung zwischen erastai und eromenoi wird in einigen Komödien von Aristophanes ersichtlich, in denen der Mann, der anal penetriert wird, ein Ziel von Spott und Schmähungen wird. Es gibt hierzu korrespondierende Bilder auf Vasen, in denen der Anus der Fokus von Beleidigungen und Scherzen ist. Passiv zu sein und penetriert zu werden war ein Zeichen der Schande und unmoralischen Verhaltens. Obwohl Jungen und Männer die Homosexualität als eine Form der Initiation in den privilegierten Status eines Bürgers einsetzten, musste das herrschende Konzept aktiver und dominierender Männlichkeit aufrecht erhalten werden. Es galt als ein Zeichen der Schwäche, wenn man Avancen zu rasch nachgab und schürte Zweifel bezüglich der Eignung als aufrechter Bürger und Krieger. Dies ist ein Grund, warum man auf vielen Vasen Jugendliche sieht, die ihre älteren Freier zurückweisen oder ihnen Widerstand leisten.

6: Zwei Hetaeren, von Apollodoros,
attischer rotfiguriger Pokal, ca. 500 v. Chr.,

Tarquinia, Archäologisches Museum.

 

 

Waffenbrüder und schöne Körper

 

Die Kultur des antiken Griechenland war sehr maskulin. Männer und Jungen waren gegenüber Frauen und Mädchen stark privilegiert. Die korrekte Erziehung der Jungen war von herausragender Bedeutung, da es um die Zukunft des Stadtstaates ging. Das Ziel des griechischen Erziehungssystems – die so genannte padeia – bestand in der Perfektion des Mannes durch die Kultivierung des Körpers, des Geistes und der Seele. Die Päderastie mit ihrer Funktion der Förderung der erotischen Liebe zwischen Männern und Jugendlichen galt als ein effektiver Weg, dieses Ideal zu realisieren. Die Erziehung der Jugendlichen fand im gymnasium statt. Das Gymnasium war nicht ein einzelnes Gebäude, sondern ein ganzer Komplex im Zentrum jedes griechischen Stadtstaates. Hier verbrachten Männer, Jungen und ephebes (junge Männer zwischen 18 und 25) täglich viele Stunden mit körperlichen und geistigen Übungen. Künstler, Poeten und Philosophen unterschiedlichen Alters waren ebenfalls zugegen, alle in einer rein männlichen Gemeinschaft vereint, um zu diskutieren, debattieren und die philosophischen und moralischen Tugenden des männlichen Wesens und Charakters zu studieren. Das Gymnasium wurde buchstäblich zu einem Epizentrum erotischer Energie „Bronzestatuen von Athleten, Göttern, Helden und Kriegern (Hermes, Apoll, Herakles , Eros ) standen an unterschiedlichen Stellen im gesamten Komplex. Die tägliche Betrachtung dieser künstlerischen Wiedergaben des perfekten männlichen Körpers sollten in den Jugendlichen das Verlangen wecken, eine solche Perfektion zu erreichen.

Griechische Männerstatuen (zumeist in Form späterer römischer Marmorkopien der griechischen Bronzeoriginale überliefert) entsprachen vor allem zwei Typen – Kriegern und Athleten. Der Doryphorous (Speerträger) des griechischen Bildhauers Polykleitos ist ein herausragendes Beispiel der Verehrung, die die Griechen dem nackten Männerkörper entgegenbrachten. Der Doryphorous stellt einen Epheben dar, der sich, obwohl bartlos, an der Grenze vom eromenos zum erastes befindet. Im Gymnasium will er sich durch Übungen überlegene Kraft, Agilität, Tapferkeit und Fähigkeit aneignen (Saslow, 31). Mit dieser Statue wird die männliche Schönheit zu fast göttlichem Status überhöht. Da die Griechen den nackten Männerkörper als das äußere Zeichen der Vollkommenheit ansahen, übten und kämpften sie auch in der Schlacht häufig nackt. Die Nacktheit hatte eine metaphysische Bedeutung. Physische Vollkommenheit entsprach innerer spiritueller und moralischer Perfektion.

7: Ein Mann bietet einem Jugendlichen ein Geschenk an,
athenische rotfigurige Vase, ca. 530-430 v. Chr.,

Euaichme-Maler, Oxford, Ashmolean Museum

8. Orgie Satyrs mit Balanceakt,
ca. 500-470 v. Chr. Weinkühler (psykter).

9. Der Kusswettbewerb, um 50 vor Chr.,

Staatliches Museen Preussischer Kulturbesitz, Berlin.

10a.: Männer und Jugendliche beim Anal- und Oralverkehr,
6. Jahrhundert v. Chr., attische Rotfigurkeramik, Louvre, Paris.

10b.: Männer und Jugendliche beim Anal- und Oralverkehr,
6. Jahrhundert v. Chr., attische Rotfigurkeramik, Louvre, Paris.

11. Masturbierender Satyr, Antike griechische Vase,

Museum of Fine Arts, Boston.

 

 

Ein praktischer Vorteil des griechischen Systems der Päderastie war sein militärischer Nutzen: In vielen griechischen Stadtstaaten zogen Paare aus erastes und eromenos gemeinsam in die Schlacht. Die Tapferkeit solcher Paare, wie jene der als Heilige Schar von Theben bezeichneten 150 Liebespaare, wurde im gesamten antiken Griechenland gerühmt und war ein wichtiger Faktor für die Moral im Kampf der Griechen gegen ihre Feinde. Die Paare kämpften häufig nackt, da die Griechen glaubten, dass sie gerade die Fähigkeit, metaphysischen Wert in der Nacktheit zu erkennen, von den unzivilisierten Fremden oder Barbaren unterschied. Manche dieser Kriegerpaare wurden als Tyrannenmörder berühmt. Das bekannteste Beispiel sind Harmodios und Aristogeiton.

Für die Interpretation der Vasenbilder ist eine gewisse Kenntnis der griechischen Mythologie unerlässlich. Wie die griechische Gesellschaft insgesamt war die griechische Mythologie extrem anthropozentrisch, d.h. der Mensch stand eindeutig im Mittelpunkt. Die antiken Griechen verbanden sich durch die Mythologie mit den Zyklen und Rhythmen der Natur und rationalisierten mit ihrer Hilfe die Welt der Gefühle und der Sinne. Griechische Mythen konzentrieren sich für gewöhnlich auf die Macht, den Heldenmut und die Großartigkeit der Götter. Sie thematisieren jedoch auch ihren sexuellen Appetit und ihre Vereinigung mit Helden und Sterblichen. Die Götter der Griechen waren Personifizierungen der Natur und hatten häufig sexuelle Abenteuer unterschiedlichster Art – homosexuell, heterosexuell, zwischen den Generationen und mit Tieren. Es gibt als Fresken, Statuen oder Vasenbilder unzählige Mythen unglücklicher Liebe zwischen Göttern, Heroen und schönen Jugendlichen. Diejenigen Mythen, die am deutlichsten Päderastie und Homosexualität thematisieren, sind jene von Zeus und Ganymed, Apoll und Hyacinth, Apoll und Zephir sowie Achill und Patroklos.

Die Geschichte von Zeus und Ganymed ist wohl die auf Vasen, Bodenmosaiken und durch Statuen am häufigsten dargestellte homosexuelle Szene. Dieser Mythos ist ein Beispiel für zahlreiche göttliche Werbungen, mit denen die Griechen sich den Ursprung des Kosmos und die Gesetze der Natur erklärten. In diesem Mythos kommt die Ungleichheit in der hierarchischen und rigide strukturierten Beziehung zwischen erastes und eromenos in der athenischen Gesellschaft in der Kluft zwischen Alter und Status des Gottes und seines jungen Günstlings deutlich zum Ausdruck.

In der Ilias, dem Epos Homers aus dem 8. Jahrhundert v. Chr., finden wir mit dem Paar Achill und Patroklus im Trojanischen Krieg die berühmteste aller männlichen Verbindungen. Homer glorifiziert die Freundschaft der beiden, erwähnt aber nicht, dass sie Liebhaber waren. Die klassischen Griechen jedoch interpretierten dies vor ihrem eigenen Erfahrungshintergrund und sahen Achill und Patroklus als Liebespaar. Achill, ein junger Krieger und als der schönste und edelste der Griechen beschrieben, fiel in tiefe Trauer, als sein Gefährte Patroklus von Hektor erschlagen wurde. Achill und Patroklus erscheinen erstmals gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. auf athenischen schwarzfigurigen Vasenmalereien (Saslow, 16). Danach zeigen mehrere rotfigurige Vasen vom späten 6. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. die enge Verbindung zwischen den beiden Kriegern.

12. Behälter, Augustinische Periode,
1. Jahrhundert n. Chr. Silber, British Museum, London.

 

 

Die hellenistische Epoche: Das Zeitalter des Dionysos

 

Angesichts des griechischen Initiationsritus in die Bürgerschaft und die Welt der Krieger überrascht es nicht, dass viele griechische Befehlshaber für ihr sexuelles und erotisches Verlangen nach anderen Männern berüchtigt waren. Der berühmteste war Alexander der Große , der aus seiner großen Liebe für einen jungen Offizier namens Hephaestion kein Geheimnis machte. Alexander der Große steht am Beginn der so genannten hellenistischen Epoche. Schon vor und auch während Alexanders Herrschaft breitete sich der griechische Einfluss durch Handel und Eroberungen stark aus. Der Kontakt mit anderen Völkern setzte die griechische Zivilisation einem sich zunehmend bemerkbar machenden Einfluss anderer Kulturen aus. Sozialer Wandel und der Einfluss östlicher Philosophien und Kulte veränderten die Einstellung zur Sexualität.

In dieser Zeit wurde Päderastie zwar noch praktiziert, aber ihre Bedeutung als Erziehungsinstitution für zukünftige Bürger nahm stark ab. Stattdessen entwickelten sich ein wachsender Hedonismus sowie eine Tendenz zu Materialismus und Exzessen. Körperliche Freuden wurden um ihrer selbst willen genossen, und die Bisexualität nahm stark zu. Die hellenistische Einstellung zur Sexualität sollte später die Kultur Roms beeinflussen, das in dieser Zeit auch in griechisches Territorium expandierte.

Schon zu Beginn der hellenistischen Epoche hatte die Produktion von Vasen und Vasenmalereien signifikant abgenommen. Die hellenistischen Griechen legten das Schwergewicht auf Marmor- und Bronzestatuen, in denen die Physis und das Genusspotenzial des Körpers im Mittelpunkt standen. Während der klassischen Epoche waren die Griechen für die Glorifizierung der Schönheit des Mannes berühmt gewesen, eine Ästhetik, die für das erzieherische Denken dieser Periode von fundamentaler Bedeutung gewesen war.

13. Behälter, Augustinische Periode,
1. Jahrhundert n. Chr. Silber, British Museum, London.

14. Euphronios, Ephebes im Bad, ca. 500-505 v. Ch.

Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin.

 

 

Anders als die klassische griechische Bildhauerei mit ihrer ruhigen Darstellung der männlichen Schönheit sind die meisten hellenistischen Statuen turbulent und trivial und fordern den Betrachter gewissermaßen dazu auf, an den dargestellten Aktivitäten teilzunehmen. Ein Beispiel hierfür ist der Schlafende Hermaphrodit. Das Motiv des Hermaphroditen war in der hellenistischen Zeit sehr beliebt und Ausdruck der Toleranz und des Interesses dieser Epoche an sexuellen Varianten abseits der Norm. In der hellenistischen Epoche wurde der Hermaphrodit als Verkörperung der Bisexualität und als Gott der Ehe verehrt. (Saslow, 41)

Der Schlafende Hermaphrodit gehört nur in einem gewissen Sinn zur so genannten dionysischen Kunst (siehe RRR Smith). Dieser Begriff bezeichnet Kunst der hellenistischen Epoche, die sich mit mythischen Figuren wie Satyrn, Faunen, weiblichen Bacchanten, Zentauren, Nymphen und Pan befasst. Neben der Tatsache, dass es sich um Anhänger des Dionysos des Gottes der Landwirtschaft und des Weines, handelt, haben die meisten dieser Gestalten gemein, dass sie wild und lüstern sind und sich in den Wäldern herumtreiben.

Wie Dionysos wurden sie mit Trunkenheit, Zügellosigkeit und orgiastischer Enthemmung in Verbindung gebracht. Ihre Sexualität war oft exzessiv und doppeldeutig. Diese dionysischen Charaktere finden auch Eingang in die römische Welt. Man begegnet ihnen besonders in den in Pompeji entdeckten Kunstwerken (Saslow, 38).

15. Männer und Jungen , ca. 540 v. Chr.

Attische schwarzfigurige Vase, British Museum, London.

16. Szene einer Stellung mit Pferd, 6. Jahrhundert v. Chr.

Griechische Vase, British Museum, London.

17. Etruskische Amphore in griechischem Stil.

 

 

Griechischer Einfluss im Ausland

 

Die Griechen waren eifrige Händler, Entdecker und Eroberer. Über Jahrhunderte vor und nach der klassischen Epoche (5. Jahrhundert v. Chr.) exportierten sie ihr Denken und ihre Erfahrungen in andere Länder und Kulturen. Bei ihrer Ankunft im heutigen Italien trafen sie auf die eingeborenen Etrusker, die zwischen dem 9. und dem 3. vorchristlichen Jahrhundert Nordund Zentralitalien dominierten. Unsere Kenntnisse über die Kunst und den Ursprung dieses Volkes sind sehr lückenhaft. Wir wissen aber, dass sie völlig andere Gebräuche als die Griechen und insbesondere ganz eigene Ansichten zum Tod hatten. Vor dem Kontakt mit den Etruskern war das Konzept eines Lebens nach dem Tod den Griechen fremd. Das Grabmal des Tauchers in Paestum in Süditalien und das Grabmal der Bullen in Tarquinia nahe Rom sind nur zwei Beispiele geschmückter Grabstätten, die illustrieren, wie sehr die Etrusker sexuell aufgeladene Symbole und Figuren in ihrer Grabkunst einsetzten.

Der intensive Austausch zwischen griechischer und etruskischer Kultur sollte große Bedeutung für die Kunst und das Denken der Römer haben, die schließlich beide Kulturen besiegten und Elemente von ihnen aufnahmen. Aber trotz dieses Einflusses stellten viele griechische und später auch römische Schriftsteller, unter ihnen Plato, die Etrusker wegen ihrer angeblich zügellosen und ungewöhnlichen sexuellen Praktiken als unmoralisch dar. Römische Quellen warfen den Etruskern vor, sich ihre Frauen zu teilen, homosexuelle Praktiken ohne jede philosophische Begründung zu pflegen, Orgien zu feiern und hinsichtlich des Geschlechtsverkehrs und der Nacktheit keine Scham zu kennen.

Tatsächlich finden sich in vielen Fresken etruskischer Grabmale, in Skulpturen, der Töpferei, auf Graburnen und Sarkophagen sowie kleinen Schmuckobjekten homosexuell aufgeladene Szenen. Man nimmt aber an, dass die Darstellung homosexueller und heterosexueller Praktiken in der etruskischen Grabkunst nicht als Darstellung tatsächlicher Aktivitäten gedacht waren, sondern vielmehr als symbolische Metaphern zur Abwehr des Bösen dienten oder aber mit Ritualen und religiösen Festen zusammenhingen.

18. Satyrszene, ca. 5. Jahrhundert v. Chr.,

Kreis des Nikosthenes-Malers, Berlin, Staatliche Museen.