Dirk Kaesler
Max Weber
Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Max Weber (1864–1920) zählt zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Seine Hypothesen, Begriffe und Methoden sind bis heute wichtige Bezugspunkte im sozialwissenschaftlichen Studium. Der Band führt in die zentralen methodologischen Positionen Webers ein, rekurriert auf Biographie und Werkgeschichte und stellt Webers wichtigsten Arbeiten auf den Gebieten unter anderem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie der Herrschafts-, Rechts- und Religionssoziologie vor.
»Wer sich schnell und zuverlässig über Leben, Werk und Wirkung Webers informieren will, dem steht diese vorzügliche Einführung zur Verfügung.« Wilhelm Hennis, FAZ
Ein »Standardwerk«. Sybille Oßwald-Bargende, sehepunkte
Über den Autor
Dirk Kaesler ist Professor emeritus für Allgemeine Soziologie an der Universität Marburg und Autor zahlreicher Werke über Max Weber.
Inhalt
Einleitung zur Vierten Auflage (2014)
I. Das Leben
II. Das Werk
1. Studien zur Agrar-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Antike und des Mittelalters
2. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsverfassung des Wilhelminischen Deutschland
a) Untersuchungen zur Lage der deutschen Landarbeiter
b) Untersuchungen zur Börse
c) Untersuchungen zur Lage der deutschen Industriearbeiter
3. Schriften zur Religionssoziologie
a) Studien zur Kulturbedeutung des Protestantismus
b) »Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen«
4. »Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte (Wirtschaft und Gesellschaft)«
a) Rechtssoziologie
b) »Allgemeine Soziologie«
c) Wirtschaftssoziologie
d) Soziologie der Herrschaft
e) Musiksoziologie
III. Die Methode
1. Das Konzept des »Verstehens«
2. Das Konzept des »Idealtypus«
3. Das Postulat der »Werturteilsfreiheit«
IV. Die Wirkung
V. Verzeichnis der Publikationen Max Webers und exemplarische Sekundärliteratur
1. Werkverzeichnis
2. Literaturhinweise
VI. Register
Personenregister
Sachregister
Einleitung zur Vierten Auflage (2014)
Am 21. April 2014 wird des 150. Geburtstags des deutschen Gelehrten Max Weber weltweit gedacht, nicht nur in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch in der internationalen Medienlandschaft. Diese Tatsache ist erklärungsbedürftig. Denn als der Leichnam des 56-jährigen ordentlichen Professors für »Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie« der Ludwig-Maximilians-Universität München, Max Weber, auf dem Ostfriedhof in München am 17. Juni 1920 eingeäschert wurde, war nur eine kleine Zahl von Familienmitgliedern, Freunden, Kollegen und Studenten zugegen. Er war, nach Ansicht seiner Zeitgenossen, vorzeitig gestorben und hatte es weder vermocht, sein wissenschaftliches Werk abzuschließen noch eine wirksame politische Aufgabe zu übernehmen.
Außer seiner Witwe, Marianne Weber, glaubten damals wohl nur wenige daran, dass Max Weber derjenige deutsche Sozial- und Kulturwissenschaftler werden würde, der 150 Jahre nach seiner Geburt zum national und international unbestrittenen Klassiker einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Disziplinen gemacht worden ist. Ungeachtet der unzweifelhaften Tatsache, dass das Gesamtwerk dieses Gelehrten nicht in ein einzelnes Fach passt, also nicht wirklich »diszipliniert« werden kann, wird es dennoch heute in mehrfacher Weise dafür in Anspruch genommen. Kein aktuelles Lexikon, keine Fachgeschichte und kein Lehrbuch aus den Bereichen der Soziologie, Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft und Rechtswissenschaft wird Webers Namen nicht an zentraler Stelle erwähnen und seinen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der jeweiligen Wissenschaft hervorheben. So bahnt sich seit Jahrzehnten unverändert der Siegeszug des – wesentlich|7| durch seine Witwe und Nachlassverwalterin Marianne Weber, den US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons und den deutschen Privatgelehrten Johannes F. Winckelmann – der Vergessenheit nur knapp entrissenen frühen deutschen Kultur- und Sozialwissenschaftlers seinen Weg.
Kam die westliche Soziologie schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges anscheinend ohne die Begrifflichkeit und das Werk dieses Wilhelminischen Gelehrten nicht mehr aus, so ist das Interesse an Max Weber nach dem Ende des »realen Sozialismus« und der damit verbundenen Verabschiedung von dessen Klassikern, Marx, Engels und Lenin, noch zusätzlich im Wachsen begriffen. In dem Maß, wie Sozialismus und Kommunismus als alternative Gesellschafts- und Weltordnungen »besiegt« zu sein scheinen – mit Ausnahme weniger Enklaven, die so klein wie Kuba aber auch so riesig wie die Volksrepublik China sind – wurden Analysen und Diagnosen Webers, der so oft und lange als »bürgerlicher Marx« eingeordnet wurde, immer einflussreicher für das Selbstverständnis der Menschen in der globalisierten (Post-)Moderne. Die »Große Erzählung« des Max Weber von der »Schicksalshaftigkeit« der auf der Verwertung des Kapitals beruhenden kapitalistischen Wirtschaft und vom damit ursächlich verwobenen, unaufhaltsamen, ebenso schicksalhaften Siegeszug des »okzidentalen Rationalismus«, mit seiner zunehmenden »Rationalisierung« und »Bürokratisierung« aller Lebensbereiche, liefert in den gegenwärtigen Zeiten die erfolgreiche Vorlage für relevante – individuelle wie kollektive – Erklärungen dessen, was mit den Menschen und ihren Gesellschaften geschieht.
Zumindest aus wissenschaftssoziologischer Perspektive wäre es jedoch naiv anzunehmen, dass diese erstaunliche Karriere vom akademischen Außenseiter zum sozial- und kulturwissenschaftlichen Klassiker und Produzenten einer bedeutsamen »Theorie der Rationalisierung« allein das Ergebnis einer sich allmählich und universal durchsetzenden Einsicht in Qualität und analytische Erklärungskraft der Schriften und Reden Max Webers gewesen sei. Gerade aus einer von Max Weber selbst geprägten Perspektive muss danach gefragt werden, welche Personen, Institutionen und Zusammenhänge anzuführen sind, die für diese allmähliche Fabrikation des Klassikers Max Weber verantwortlich waren und sind. Webers eigenem Ansatz folgend|8|, muss die Frage gestellt werden, von welchen »Interessen« – »ideellen« wie »materiellen« – diese Klassikerfabrikation geleitet wurde und wird.
Beginnend mit der unermüdlichen Arbeit Marianne Webers unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes bis zum heutigen Tag lassen sich zahlreiche Wissenschaftler identifizieren, die ihre Forschung in den Dienst der Interpretation und Rezeption des Weberschen Werks gestellt haben. Besonders hervorgehoben seien – neben den genannten Hauptprotagonisten Marianne Weber (1870–1954), Johannes F. Winckelmann (1900–1985) und Talcott Parsons (1902–1979) – Friedrich H. Tenbruck (1919–1994), M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen (1930–2004), Guenther Roth und Wolfgang Schluchter.
Vom eigenartigen Charakter der Kulturwissenschaften im Allgemeinen und von der wissenschaftlichen Soziologie im Besonderen hat wenig verstanden, wer sie als sich kumulativ entwickelnde Wissenschaften bestimmen möchte. Wer seine Kritik daran ausrichtet, dass die Soziologie von solcher Zielvorstellung abweicht, verkennt, dass diese nicht nur eine empirisch basierte Wissenschaft ist, sondern dass sie zugleich immer auch auf einem zeitgebundenen, ideologischen und metaphorischen Rahmenwerk aufsitzt. Daraus ergibt sich eine prinzipielle, nicht aufzuhebende Spannung zwischen den vielfältigen »Theorien« der Soziologie und der sogenannten »Praxis« ihrer Umgebung. Das Werk Max Webers bildet hier keine Ausnahme, schon gar nicht, wenn man sich an dessen eigener Wahrnehmung der prinzipiellen Begrenztheit aller kulturwissenschaftlichen Erkenntnis orientiert: »Alle kulturwissenschaftliche Arbeit in einer Zeit der Spezialisierung wird, nachdem sie durch bestimmte Problemstellungen einmal auf einen bestimmten Stoff hin ausgerichtet ist und sich ihre methodischen Prinzipien geschaffen hat, die Bearbeitung dieses Stoffes als Selbstzweck betrachten, ohne den Erkenntniswert der einzelnen Tatsachen stets bewusst an den letzten Wertideen zu kontrollieren, ja ohne sich ihrer Verankerung an diesen Wertideen überhaupt bewusst zu bleiben. Und es ist gut so. Aber irgendwann wechselt die Farbe: Die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in die Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln|9| und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken.« (213b, S. 214)
Das Buch, das hier in einer vierten Auflage erscheint, hat selbst bereits seine eigene Geschichte. Die erste Fassung erschien im August 1979 im Verlag C.H. Beck, auf dieser Version basieren die Übersetzungen ins Japanische und Englische. Im Februar 1995 erschien im Campus Verlag eine vollkommen überarbeitete Fassung, welcher zwei weitere Auflagen folgten (1998, 2003), die die Grundlagen für Übersetzungen ins Französische, Chinesische, Italienische und Polnische wurden.
Dieses Buch lädt ein zu einer Exkursion durch Leben und Werk Max Webers. Max Weber gilt heute nicht nur als einer der bedeutendsten deutschen Sozialwissenschaftler, er zählt darüber hinaus zu den wirkungsvollsten Denkern unserer Zeit. Seit Jahrzehnten wird sein nachgelassenes Werk von zahlreichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen im internationalen Wissenschaftsdiskurs behandelt. Die Auseinandersetzung mit Max Webers Hypothesen, Begriffen, Methoden und Ergebnissen liefert bis heute einen der wichtigsten gemeinsamen Nenner bei der Definition der wissenschaftlichen Identität internationaler Soziologie.
Das hier vorgelegte Studienbuch setzt sich in textnaher Weise mit Max Webers Biographie auseinander, seinem Werk, seinen zentralen methodologischen Positionen und seiner Wirkung. Es verfolgt im Wesentlichen drei Zielsetzungen:
1.Noch immer wirken in der bisherigen Auseinandersetzung mit Max Weber Tendenzen einer Zersplitterung und Abtrennung. Besonders auffällig ist dabei die Trennung von Leben, Werk und Methode. Mit dieser Arbeit soll eine möglichst umfassende, systematische Darstellung der Verflechtung dieser drei Zusammenhänge angeboten werden.
2.Gerade weil es heute eher unbewusst wirkt, sei daran erinnert, dass es bis vor wenigen Jahren einen wirkmächtigen Argumentationszusammenhang gab, durch den Max Weber als der Repräsentant einer »bürgerlichen Soziologie« stilisiert, oder besser: denunziert wurde. Nun, da dieser Diskurs weitgehend verschwunden ist, erscheint es mir heute noch wichtiger als früher, Max Webers sozialökonomisches Erkenntnisinteresse als durchgängigen Grundton seiner|10| Arbeiten herauszuarbeiten. Verkürzt man Webers Werk auf eine handlungstheoretisch orientierte, ausschließlich »verstehende« Soziologie, auf eine primär »subjektiv« gerichtete Theoriekonzeption in der Soziologie, so verfehlt man, so meine ich, seine Gesamtleistung an entscheidender Stelle. Die Gefahr jenes interpretativen Missverständnisses, die Weber in rein idealistischer Weise halbiert, ihn in diesem Sinn »verbürgerlicht«, ist immer noch nicht gebannt. Diesem entgegenzuwirken ist eine der zentralen Absichten meiner Darstellung.
3.Dieses Buch will und kann kein Ersatz für eigene Lektüre sein. Es soll, im Gegenteil, als Wegweiser zur selbständigen Arbeit an Webers Texten dienen. Die teilweise referierende Vorgehensweise ergibt sich sowohl aus meinen didaktischen Erfahrungen als auch aus meiner Absicht, das Interesse auch auf Texte zu lenken, die bislang von der Soziologie weitgehend vergessen worden sind.1
Bei der Darstellung des immer wieder beeindruckend umfangreichen Werks Max Webers wird versucht, in einem gerade noch erträglich erscheinenden Grad der Komprimierung sowohl einen Überblick über das gesamte wissenschaftliche Werk Max Webers zu bieten als auch die darin enthaltenen soziologisch relevanten Themen und Thesen herauszuarbeiten. Diese Zielsetzung hat vier Konsequenzen:
1.)Sie erfordert das Abgehen von der chronologischen Reihenfolge des Entstehens der einzelnen Arbeiten. Dadurch soll versucht werden, bestimmte durchgehende Fragestellungen und deren Weiterentwicklung aufzuzeigen.
2.)Der Einführungscharakter dieses Buches erfordert eine künstliche, dem Ansatz Max Webers nicht adäquate Trennung von »Werk« und »Methode«. Sowohl durch die Querverweise auf das methodische Vorgehen in den Passagen über das Werk als auch durch Hinweise auf die dadurch gewonnenen Ergebnisse in den Abschnitten über die Methode soll deren enger Zusammenhang verdeutlicht werden. |11|
3.)Aus der ausschließlichen Beschränkung auf das wissenschaftlich-soziologische Kondensat des Weberschen Gesamtwerks ergibt sich der notwendige Verzicht auf die Behandlung eines Bereichs des Weberschen Werks, der für ein Gesamtverständnis unverzichtbar ist: den quantitativ erheblichen Bestand der (tages-)politisch orientierten Arbeiten Max Webers. Die Erkenntnisse jedoch, die sich aus den schon bisher erschienenen Bänden der Max Weber-Gesamtausgabe zu diesem Komplex ergeben, aber auch die bisher erschienenen Bände der Briefe Max Webers, lassen es derzeit geraten sein, den ganzen Bereich noch auszusparen. Stattdessen wird auf die bewährten Darstellungen von Wolfgang J. Mommsen, David Beetham und Gregor Fitzi verwiesen.2
4.)Aufgrund des hinführenden Lehrbuch-Charakters dieser Darstellung habe ich mich darum bemüht, den Einfluss rein persönlicher Interpretationen von Werk und Methode zu vermeiden. Die emsige Industrie der zahllosen nationalen und internationalen Weber-(Re-)Interpretationen bedarf keines weiteren Beitrags. Was »Studierende« Max Webers brauchen können, ist eine systematische Rekonstruktion der zentralen Gedanken und Argumentationsketten Max Webers selbst, eine Art Wegweiser zum Max-Weber-Lesen. Die Zahl der klugen Neu- und Umformulierungen Weberscher Gedanken, und sicherlich auch die Menge jener Arbeiten, die sich darauf berufen, dass Weber sie eigentlich hätte schreiben wollen oder zumindest sollen, muss nicht vergrößert werden.
Der Erfolg dieses Lehrbuchs, das nicht mehr als ein solches sein will, verdankt sich wohl auch jener Einschätzung, der zufolge das Zurücktreten hinter die Gedankenketten Max Webers der Sache eher zuträglich ist, als das Trittbrettfahren in einer wuchernden Max Weber-Interpretationsindustrie.
Natürlich fordert eine solche Vorgehensweise Preise. Einer der betrüblicheren ist, dass Max Weber in der nachfolgenden Darstellung zu einem relativ nüchternen, analytischen und sehr soziologisch-wissenschaftlichen Denker »präpariert« wird. Max Weber war auch so|12|, aber eben nur auch. Der »vulkanische«, »dämonische« Weber, der leidenschaftliche Politik-Denker, aber auch der nationalistische Eiferer, sie alle bleiben in der nachfolgenden Darstellung außen vor. Eine »Einführung« ist eine Hinführung und keine Endstation.3
Ausblickend möchte ich gerade darum auch hier jenen Gedanken in Erinnerung rufen, der mir unverändert hoch erklärungsbedürftig zu sein scheint. Schon früher betonte ich, dass die Lebendigkeit des »Klassikers« Weber eben darin liegt, dass er die Ergebnisse seiner spezifisch soziologischen Sichtweise nicht in einer abgeschlossenen »Theorie« vorlegte, sondern dass er seine »Versuche der Vermittlung« in immer neuen Wendungen unternahm. Mit diesem Hinweis will ich andeuten, dass sich Max Weber, dieser vermeintlich so nüchterne, trockene, analytische Paragraphen-Soziologe, auch in einen Zusammenhang einordnen ließe, in dem er bislang eher selten gesehen wurde: den der Essayisten. Max Weber, so behaupte ich, unternahm seine unablässigen Versuche der Vermittlung in der Darstellungsform des Essays, jenem Stilmittel also, mit dessen Hilfe ein Gegenstand, ein Thema, ein historischer Prozess in das Zentrum ganz unterschiedlicher Perspektiven und Aspekte gestellt wird. Dabei von besonderer Wichtigkeit ist der experimentelle, hypothetische Charakter des Essays, dessen erklärtes Ziel die Synthese ist, also genau das, was wir weiter unten mit »Vermittlung« bezeichnen.
Betrachtet man den Essay als die dem 20. Jahrhundert angemessene Kunstform, so stünde Weber unmittelbar in einer Reihe mit Autoren wie Georg Simmel, Robert Musil oder Georg Lukács. Ihnen allen wäre der Versuch gemeinsam, zu »vermitteln«, Brücken zu schlagen und gerade dadurch neue Wege zu bahnen. Versteht man von hier aus etwa die »Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie«, ja sogar die Teilbereiche des ehemaligen sogenannten Hauptwerks »Wirtschaft und Gesellschaft« als große wissenschaftliche Essays bzw. Sammlungen von Essays, und nicht als umfassende theoretisch-empirische Monographien, so erübrigte sich mancher sterile Interpretationsstreit über »Einheit« oder »Zersplitterung« des Werks. |13|
Gerade die Möglichkeit und Notwendigkeit immer wieder neuer Lesarten und Interpretationen seines Gesamtwerkes sind es auch, die zur Auseinandersetzung mit Werk und Methode Max Webers unablässig anregen und einladen. Jenseits seiner historischen Bedingtheit wird der »Klassiker« Max Weber in seinem uns hinterlassenen Werk ein hervorragender »Prüfstein« für die Bestimmung der professionellen Identität aller Menschen bleiben, die sich im Irrgarten der Sozialwissenschaften weder verlieren, noch sich mit falscher Sicherheit zufrieden geben wollen.
Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Werk Webers wird zugleich wegführen von jeder engen, nur disziplinbezogenen Perspektive und hinführen zur (Wieder-)Entdeckung der historischen Dimension gesellschaftlicher Wirklichkeit. Vor allem seine Großen Erzählungen von der »Universalen Rationalisierung« aller Lebensbereiche, vom »Universalen Siegeszug von Kapitalismus und Bürokratie« und vom sich schließenden »Gehäuse der Hörigkeit« der Menschen liefern gedankliche Vorlagen, an denen sich Menschen auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch lange orientieren und abarbeiten werden. Möge dieses kleine Lehrbuch seinen Beitrag dabei auch in Zukunft erbringen.
Gewidmet sei diese Neuauflage dem Andenken an Wilhelm Hennis, der mich erstmals im März 1982 im Münchner Institut für Soziologie aufsuchte, um von mir über den damaligen Stand der Max-Weber-Forschung informiert zu werden, bevor er sich selbst in dieses Feld begeben sollte. Aus diesem ersten Kontakt ergab sich eine bis 2012 anhaltende Folge von Treffen und Diskussionen in München, Freiburg und Hamburg und zahlreichen Briefen, mit denen wir unsere jeweiligen leidenschaftlichen Weber-Forschungen konstruktiv-kritisch begleiteten. Seine Rezension, die er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11. April 1995) publizierte und dann auch in seinen letzten Sammelband zu Weber aufnahm,4 hat der Aufnahme dieses Buches in der Fachwelt geholfen. Der Tod von Wilhelm Hennis am 10. November 2012 ist auch ein großer Verlust für die Max-Weber-Forschung. |14|
Bei Gelegenheit der Vierten Auflage ist ein Wort des Dankes angebracht: Es war Adalbert Hepp, der mir im November 1991 den Campus Verlag als neue Heimat für dieses Buch anbot, das dann zuerst im Februar 1995 erschien. Bedanken möchte ich mich weiterhin bei Judith Wilke-Primavesi, die nun diese weitere Auflage ermöglicht und umsichtig betreut.
Dirk Kaesler
Potsdam im Frühjahr 2014|15|
I. Das Leben5
Maximilian Carl Emil Weber wurde am 21. April 1864 in Erfurt in Thüringen geboren. Er war das erste von acht Kindern von Dr. jur. Max Weber sen. und dessen Frau Helene, geb. Fallenstein. Einer der Brüder Max Webers, Alfred (1868–1958), sollte später ebenfalls als Soziologe wirken.
Der Vater dieser beiden soziologischen Brüder, Max Weber sen. (1836–1897), war Jurist, stammte aus einer in Westfalen ansässigen Industriellen- und Kaufmannsfamilie von deutsch-englischen Textilfabrikanten. Der Großvater, Karl August Weber, war Mitglied des Bielefelder Handelspatriziats und blieb für seinen Enkel Max das Beispiel eines frühkapitalistischen Unternehmers. Der Onkel, Carl David Weber, übernahm später eine Leinenweberei im westfälischen Oerlinghausen und führte moderne Unternehmensführung ein; er gab das Vorbild des modernen kapitalistischen Unternehmers ab. Zur Zeit von Max Webers Geburt war der Vater Magistrat in Erfurt, nachdem er vorher bei der Berliner Stadtverwaltung hospitiert hatte.
Lässt sich die väterliche Familie Weber eher dem deutschen Besitzbürgertum zuordnen, so gehörte die mütterliche Familie Fallenstein eher zum deutschen Bildungsbürgertum. Helene, Max Webers Mutter (1844–1919), empfing die wesentlichsten geistigen Anregungen von ihrem Vater, Georg Friedrich Fallenstein, einem Regierungsrat und späterem Geheimen Finanzrat im Finanzministerium in Berlin. Ihre Mutter, Emilie Souchay, entstammte einem Hugenottengeschlecht, das in der Gegend um Frankfurt am Main ansässig geworden war. Helene selbst war eine Frau von hoher Bildung, die sich|16| stark mit religiösen und sozialen Problemen beschäftigte und ab 1904 in der Armenverwaltung der Charlottenburger Stadtverwaltung tätig wurde.6
1866 erkrankte Max Weber jun. an halbseitiger Meningitis. 1869 wurde sein Vater besoldeter Stadtrat in Berlin und ließ sich mit seiner Familie in Charlottenburg nieder. Max Weber sen. begann eine parlamentarische Laufbahn als Abgeordneter der Nationalliberalen Partei im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Deutschen Reichstag, wo es ihm allmählich gelang, eine einflussreiche Position einzunehmen. Von seiner politischen Haltung her gehörte er Anfang der 1860er Jahre zu den »Konstitutionalisten«, einer Fraktion der »Nationalliberalen«, die sowohl für eine starke Hohenzollern-Monarchie als auch für die Beachtung der Rechte des Volkes eintrat. Max Weber sen. entwickelte sich zu einem typischen bürgerlichen Politiker des damaligen Wilhelminischen Deutschlands, er war pragmatisch und tagespolitisch orientiert. Seinen Frieden mit Bismarck hatte er, wie fast alle damaligen Liberalen, längst geschlossen. Persönlich eher hedonistisch eingestellt, kollidierte er oft mit seiner Frau, deren religiöse und humanitäre Überzeugungen er, obwohl ebenfalls protestantisch, nicht teilte. Religion blieb für ihn immer ein Synonym für Heuchelei. Die Mutter versuchte dem jungen Max Weber bald ihre Religiosität und das Bewusstsein sozialer Verantwortung zu vermitteln, freilich ohne großen Erfolg. Als Hausfrau war sie mit ihrem Mann, sieben Kindern, einem großen Haus und einem umfangreichen Freundeskreis voll ausgelastet.
1870 trat Max Weber in eine Berliner Privatschule ein, zwei Jahre später wechselte er auf das Königliche Kaiserin-Augusta-Gymnasium in Charlottenburg. Während seiner Schulzeit las er viel: hauptsächlich historische Werke (Theodor Mommsen, Ernst Curtius), die antiken Klassiker (Homer, Herodot, Cicero, Sallust, Vergil, Livius) und Philosophen (Spinoza, Schopenhauer, Kant). Mit seinem älteren Cousin Fritz Baumgarten, der bereits in Berlin studierte, pflegte der 14-Jährige einen intensiven Briefwechsel über Homer, Herodot, Vergil und Cicero. Die Lehrer der Schule waren mit dem Schüler Max Weber nicht|17| zufrieden: Seine Leistungen könnten besser sein und sein Verhalten wurde als respektlos bezeichnet. Ihn hingegen langweilte die Schule, so soll er nach und nach die gesamte 40-bändige Cottasche Goethe-Ausgabe unter der Schulbank gelesen haben.
Der große Kreis bekannter Persönlichkeiten, die in seinem Elternhaus verkehrten – unter ihnen bedeutende Politiker und Wissenschaftler – und mit denen sein Vater politische und intellektuelle Diskussionen pflegte, schuf für den jungen Weber ein geistig anregendes Milieu. So waren als Haupteinflüsse während seiner Jugendzeit sein familiärer Hintergrund und die damals hervorragende deutsche Gymnasialbildung anzusehen, die die Grundlage für das weite Spektrum Weberscher Interessengebiete abgaben. Ungeachtet der autoritär-patriarchalischen Züge des Vaters identifizierte sich Max in dieser Zeit stärker mit diesem. Er vermittelte ihm wichtige Impulse für das spätere Studentenleben.
Die wachsende Entfremdung zwischen seinen Eltern trat beim Tod einer vierjährigen Tochter der Webers (1876) zutage: Max Weber sen. teilte zunächst den Kummer der Mutter, kehrte aber bald zu seiner inneren Ausgeglichenheit zurück und überging diese Störung seiner Lebensfreude. Die von Anfang an bestehenden Spannungen zwischen Webers Eltern, die grundlegende Unverträglichkeit zwischen dem das Vergnügen liebenden Berliner Politiker und der an sozial und religiös bestimmter Innerlichkeit orientierten Mutter, brachen offen auf. Wie Max Weber diesen Zwiespalt in seiner Kindheit verarbeitete, ist unklar – in seiner Zeit als Berliner Rechtsreferendar und Assessor, die er im Elternhaus verbrachte, wurde ihm dieser Konflikt jedenfalls voll bewusst.
Im Frühjahr 1882 absolvierte Max Weber das Abitur und begann im darauf folgenden Sommersemester sein Studium in Heidelberg, dem Jugendwohnsitz seiner Mutter, wo er im Hauptfach Jurisprudenz, daneben Nationalökonomie, Geschichte, Philosophie und etwas Theologie belegte. Seine Spezialthemen waren die Geschichte der Spätantike, modernes Handelsrecht und die zeitgenössische Staatsrechtslehre. Wie er in der Vita zu seiner Dissertation später selbst schrieb, hörte er Jurisprudenz bei Ernst Immanuel Bekker, Otto Karlowa, Carl Friedrich Rudolf Heinze und Hermann Friedrich Schulze, Philosophie bei Kuno Fischer, Nationalökonomie bei Karl Knies|18| und Geschichte bei Bernhard Erdmannsdörffer. Weber trat, wesentlich auf Anregung seines Vaters, bei der Burschenschaft »Allemannia« ein und beteiligte sich aktiv an Kommersen und Mensuren. Er war in dieser Zeit mit seinem Vetter Otto Baumgarten eng befreundet, der in Heidelberg sein Theologiestudium abschloss.
Weber verließ das Berliner Elternhaus als magerer, schüchterner Student, während der drei Semester in Heidelberg wandelte er sich, physisch und in seiner Persönlichkeit, grundlegend. Den Studienalltag, den er mit Otto Baumgarten verbrachte, erhellt uns eine Stelle aus seinen Briefen: »Das Logikkolleg früh um 7 Uhr zwingt zum Frühaufstehen, dann hasple ich mich jeden Morgen eine Stunde lang auf dem Paukboden ab, sitze dann gewissenhaft meine Kollegien ab. Ich esse um ½ 1 Uhr zu Mittag nebenan für eine Mark, trinke zeitweise ¼ Liter Wein oder Bier dazu, spiele dann bis zwei Uhr häufig mit Otto und Herrn Ickrath (dem Wirt) einen soliden Skat, ohne den Otto nicht existieren kann, worauf wir uns in unsre verschiedenen Behausungen zurückziehen, ich meine Kolleghefte durchsehe und dann Strauß ›Der alte und der neue Glaube‹ lese. Eventuell gehen wir nachmittags auf die Berge. Abends sind wir wieder zusammen bei Ickrath, wo wir für 80 Pfg. ein ganz gutes Abendessen haben und lesen danach regelmäßig Lotzes Mikrokosmus, über den wir in der hitzigsten Weise aneinandergeraten.«7
In seiner Heidelberger Studienzeit besuchte Max Weber seinen Onkel Hermann Baumgarten in Straßburg, zu dem er später eine engere Beziehung entwickeln sollte. Die weltliche Atmosphäre des modernen akademischen Lebens brachte Max Weber rasch weiter in Distanz zu seiner in sich gekehrten Mutter. 1883 siedelte er nach Straßburg über, um dort seinen einjährigen Wehrdienst abzuleisten. Der Dienst war hart und für ihn ungewohnt, so dass er erleichtert war, als er schließlich zum Korporalschaftsführer ernannt wurde. In seinem weiteren Leben war er immer stolz auf seinen späteren Rang als Hauptmann der Reserve der Kaiserlichen Armee. Dem stupiden Kasernendienst entging er zum Teil durch das nebenherlaufende Studium an der Straßburger Universität: Außer bei Rudolph Sohm und|19| Franz Peter Bremer hörte er insbesondere bei seinem Onkel, der einen Lehrstuhl für Geschichte innehatte.
Zwei Schwestern seiner Mutter Helene waren mit Straßburger Professoren verheiratet: seine Tante Emilie mit dem Geologen und Paläontologen Ernst Wilhelm Benecke; zu der Familie seiner Tante Ida, der Frau Hermann Baumgartens, verband ihn mit der Zeit eine tiefe Freundschaft. Die Baumgartens wurden Webers »zweite Eltern«, wie er später selbst sagen sollte. Der Onkel war für ihn politischer und intellektueller Mentor und Vertrauter. Im Gegensatz zu Max Weber sen. war er gegen Kompromisse und Zugeständnisse an Bismarck. Baumgarten gehörte zu jener kleinen Minderheit deutscher Liberaler, die sich den 48er Geist bewahrt hatten und sich über den restaurativen Charakter der Politik des Reichskanzlers keine Illusionen machten; zugleich jedoch erhielt er sich eine sehr kritische Position dem politisch-organisierten Liberalismus seiner Zeit gegenüber.8 Hermann Baumgarten bildete, neben dem Onkel Carl David Weber, dessen kreative unternehmerische Energien den Neffen stark beeindruckten, eine starke Gegenfigur zum Vater.
Ida Baumgarten war wie ihre Schwester tief von religiösen und sozialen Neigungen geprägt. Unter ihrem Einfluss schätzte Max Weber seinen Vater zunehmend als amoralischen Genussmenschen ein, und er begann zugleich die religiösen Werte seiner Mutter besser zu verstehen. Im Hause der Baumgartens begegnete er zudem seiner ersten großen Liebe: deren Tochter Emmy.
1884 nahm Weber für zwei Semester sein Studium in Berlin wieder auf, wohl auf Wunsch seiner Eltern, die ihn der Kontrolle und dem Einfluss der Baumgartens entziehen wollten. Das ungebundene, stürmische Studentenleben seiner Heidelberger Zeit, Webers einzige »Jugend«, setzte er in Berlin, vermutlich seiner Mutter zuliebe, nicht weiter fort. Mit wenigen Unterbrechungen – Studienabschluss in Göttingen und verschiedene Militärübungen – blieb er die nächsten acht Jahre zu Hause, damit auch finanziell vom zunehmend ungeliebten Vater abhängig. An der Berliner Universität hörte er bei Georg Beseler Privatrecht, bei Ludwig Aegidi Völkerrecht, bei Rudolf von Gneist|20| deutsches Staats- und preußisches Verwaltungsrecht, bei Heinrich Brunner und Otto von Gierke deutsche Rechtsgeschichte sowie historische Vorlesungen bei Theodor Mommsen und Heinrich von Treitschke, dessen übersteigerter Patriotismus ihm unsympathisch war. In dieser Haltung wurde er von Hermann Baumgarten bestärkt – gegen seinen Vater, der der Glorifizierung der Hohenzollern durchaus wohlwollend gegenüberstand. Der demagogische Heinrich von Treitschke wurde für Max Weber zum Exempel des professoralen Agitators, dem er als Alternative den »werturteilsfreien«, historisch differenzierenden Wissenschaftler entgegenzusetzen wusste.
Im April 1885 absolvierte er seine erste militärische Übung in Straßburg, belegte das Sommersemester – sein fünftes – wieder in Berlin, um sich im Wintersemester 1885/86 in Göttingen auf das juristische Referendarexamen vorzubereiten. Von dem geruhsamen Heidelberger Studentenleben war wenig geblieben: Weber entwickelte in dieser Zeit jenes intensive Arbeiten, das seine weitere akademische Laufbahn bestimmen sollte. Nach dem Ersten juristischen Staatsexamen, das er in Celle im Mai 1886 absolvierte, kehrte er zurück ins Elternhaus in Berlin-Charlottenburg, um es erst 1893 bei seiner Heirat endgültig zu verlassen. Er setzte seine Studien in Berlin fort, mit dem Ziel der damals in seinem Fach in Berlin sehr schweren Promotion. Er studierte hauptsächlich bei Levin Goldschmidt und August Meitzen. Im darauffolgenden Jahr weilte Weber zur Ableistung seiner zweiten Offiziersübung wiederum in Straßburg. Seine inzwischen enge Beziehung zu Emmy Baumgarten wurde unterbrochen, da diese psychisch erkrankte und längere Zeit in einer Nervenheilanstalt zubringen musste.
Nach seiner Rückkehr nach Berlin wurde Weber Doktorand bei dem Handelsrechtler Goldschmidt. Während seiner ihn sehr langweilenden Referendarzeit absolvierte er seine dritte militärische Übung 1888 in der Provinz Posen, wohin sein Regiment von Straßburg zu Beginn des Jahres 1887 verlegt worden war. Der dortige Landrat Otto Nollau, dessen Frau eine Jugendfreundin von Max Webers Mutter war, verschaffte ihm Einblick in die preußische Ansiedlungspolitik, wie sie seit der »Ostmarkvorlage« betrieben wurde. Dies war ein Ansiedlungsgesetz für die Provinzen Posen und Westpreußen, das 1886 vom Deutschen Reichstag verabschiedet worden war. Durch|21| umfangreiche Landkäufe und die Aufteilung dieser Ländereien vorwiegend in der Form von Rentengütern unter deutsche Ansiedler sollte ein starker deutscher Kleingrundbesitz geschaffen werden, um auf diese Weise eine Konsolidierung des vor allem durch die anhaltende Abwanderung der ländlichen Arbeitskräfte und die Zuwanderung von polnischen Saisonarbeitern gefährdeten »Deutschtums« in diesen beiden preußischen Provinzen zu erreichen. Die deutsch-slawische Grenze bildete in Webers Augen eine kulturell-nationale Grenze, an der die Gefahr einer »Überfremdung« des deutschen Ostens zu entstehen drohte. Weber trat dem »Verein für Socialpolitik« bei, sein wissenschaftliches Hauptinteresse in dieser Zeit galt dem Grenzgebiet zwischen Ökonomie und Rechtsgeschichte.
Mit endgültigem Abschluss im August 1889 promovierte er mit »magna cum laude« bei Goldschmidt und Gneist über die »Entwickelung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten«, wobei er sich auf Hunderte italienischer und spanischer Quellen stützte. Die formal bei der juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin eingereichte Dissertation bildete das dritte Kapitel der größeren Arbeit »Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach südeuropäischen Quellen«. Die Disputation über drei der von ihm aufgestellten Thesen bestand er glänzend, nach einem vielbeachteten Streitgespräch mit dem alten Theodor Mommsen, bei dem Weber zwar nur eine einzige Vorlesung über »Römisches Staatsrecht« besucht hatte und der insofern nie sein formeller »Lehrer« gewesen war.9 Als Emeritus war er mehr als Freund der Familie gekommen. Mommsen sagte zum Abschluss der Disputation mit Weber: »Aber wenn ich einmal in die Grube fahren muß, so würde ich keinem lieber sagen: ›Sohn, da hast du meinen Speer, meinem Arm wird er zu schwer‹, als dem von mir hochgeschätzten Max Weber.«10
Unmittelbar im Anschluss an die mündliche Doktorprüfung im Mai 1889 begann er mit der Vorbereitung für seine Habilitation. Nach|22| Beendigung seiner Referendarzeit beim Königlichen Amtsgericht Berlin-Charlottenburg schloss er seine juristische Ausbildung mit dem Assessor-Examen ab und wurde in Berlin als Rechtsanwalt zugelassen. Er besuchte den, maßgeblich von dem Hofprediger Adolf Stoecker gegründeten, ersten »Evangelisch-sozialen Kongreß«. Im Rahmen dieser Organisation knüpfte Max Weber freundschaftliche Kontakte, insbesondere zu Paul Göhre und Friedrich Naumann, und arbeitete an der von Martin Rade herausgegebenen »Christlichen Welt« mit.
Im gleichen Zeitraum erhielt er vom »Verein für Socialpolitik« den Auftrag, in der geplanten »Landarbeiter-Enquête« die ostelbischen Gebiete zu bearbeiten. Dieses Engagement setzte er durch die Mitarbeit bei der von seinem Vetter Otto Baumgarten herausgegebenen Schrift »Evangelisch-soziale Zeitfragen« fort. Bemühungen Webers um eine Syndikusstelle bei der Handelskammer Bremen, die davor Werner Sombart innehatte – wohl eine letzte Alternative zur akademischen Karriere – verliefen ergebnislos.11
Endgültig im Februar 1892 wurde Max Weber mit seiner bereits im Oktober 1891 publizierten Arbeit über »Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht« an der Universität Berlin habilitiert. Neben seiner Anwaltstätigkeit beim Berliner Kammergericht vertrat Weber seit dem Sommersemester 1892 als Privatdozent den erkrankten Goldschmidt durch Vorlesungen und Übungen über Handelsrecht und Römische Rechtsgeschichte an der Berliner Universität.
Im Frühjahr desselben Jahres kam die Großnichte von Max Weber sen., Marianne Schnitger, nach Berlin. Die 2l-jährige Tochter eines Arztes und Sanitätsrates in Oerlinghausen und Lage/Lippe wollte dort eine Ausbildung im Zeichnen abschließen. Wie bei vorhergehenden Aufenthalten stellte sie ihre Zuneigung zum jungen Max Weber fest, die dieser erwiderte. Nach einigen Konfusionen verlobten sich die beiden. Die Beziehung mit Emmy Baumgarten, die in der Zwischenzeit|23| genesen war, entwickelte sich in der Folgezeit zu einer kameradschaftlichen Freundschaft.
Max Weber schloss die Enquête über »Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland« ab. Die annähernd 900 Seiten starke Arbeit stellte die Auswertung einer breitangelegten empirischen Erhebung über die Lage der Landarbeiter in den Preußischen Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien, Brandenburg, den Großherzogtümern Mecklenburg und dem Herzogtum Lauenburg dar. Weber entwickelte aus dem eingegangenen Material Folgerungen von großer politischer Tragweite. So postulierte er, die Verbesserung der Lage des ostelbischen Landarbeiters und die Verteidigung der deutschen Nationalität gegenüber der besonders durch die polnischen Saisonarbeiter erzeugten »Überfremdung« aus den slawischen Nachbarländern seien nur durch die Ablösung der ostelbischen Großgüterwirtschaft zu erreichen.
Diese Untersuchungen trugen ihm allgemeine wissenschaftliche Anerkennung ein. So meinte Georg Friedrich Knapp, einer der führenden deutschen Agrarhistoriker jener Zeit, anlässlich seines Vortrages über die Landarbeiter-Enquête vor dem Verein für Socialpolitik, »daß es mit unserer Kennerschaft vorbei ist, daß wir von vorne zu lernen anfangen müssen«.12 Die Untersuchungen selbst und insbesondere die daraus abgeleiteten Forderungen Webers lösten heftige politische Kontroversen aus.
Im Anschluss an die Habilitation für Römisches Recht und Handelsrecht wurde Max Weber im Februar 1892 Privatdozent für diese Bereiche. Im folgenden Jahr wurde ihm durch Ministerialdirektor Friedrich Althoff vom preußischen Kultusministerium eine außerordentliche Professur für Handels- und Deutsches Recht an der Berliner Universität übertragen. Im Juli 1893 erhielt er einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie an die Universität Freiburg. Die Berufung des 29-jährigen Juristen Max Webers auf diesen Lehrstuhl erfolgte wesentlich aufgrund seiner wirtschaftshistorischen und wirtschaftspolitischen Arbeiten. Damit war ein erster größerer Orientierungswechsel|24| in Webers wissenschaftlicher Arbeit vollzogen, der von der Jurisprudenz zur Nationalökonomie.
Im Anschluss an seine Referate über die Landarbeiter-Enquête vor dem »Verein für Socialpolitik« erhielt er vom »Evangelisch-sozialen Kongreß« den Auftrag, zusammen mit Paul Göhre, eine weitere Enquête über die Lage der deutschen Landarbeiter zu erstellen, diesmal jedoch mittels Befragung von ca. 15.000 evangelischen Geistlichen im ganzen Reich. Dies entsprach Webers eigenen Intentionen, der mit der ersten Erhebung, die auf der Befragung von Grundbesitzern basierte, unzufrieden war und dies durch neue Erhebungen ausgleichen wollte.
Mit Friedrich Naumann, einem der führenden Köpfe der damaligen christlich-sozialen Bewegung in Deutschland, von dem starke sozialreformerische Impulse auf den deutschen Protestantismus ausgingen, verband ihn eine enge Freundschaft. Eine gewisse Versachlichung bei gleichzeitiger Radikalisierung in den Einstellungen Naumanns ist sicherlich auf den Einfluss Webers zurückzuführen. Max Weber trat dem »Alldeutschen Verband« bei, wesentlich wegen dessen nationaler Zielsetzung, von der er sich eine Lösung der Probleme mit den polnischen Saisonarbeitern erhoffte, und hielt zu diesem Thema im Verband Vorträge. Die starre Haltung der im Verband vertretenen 39 Großgrundbesitzer, die nicht auf die Anwerbung billiger polnischer Arbeiter verzichten wollten, bewegte ihn jedoch im Jahr 1899 zum Austritt.
Familiär brachte das Jahr 1893 erhebliche Einschnitte im Leben Max Webers, zum einen durch den Tod Hermann Baumgartens, zum anderen durch seine Heirat mit Marianne Schnitger. Die Verbindung mit dieser Enkelin seines Onkels war durch eine intellektuelle und moralische Kameradschaft getragen; sexuelle Erfüllung war Max Weber in der Ehe verwehrt, sie erfuhr er erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg in außerehelichen Beziehungen, die Ehe selbst blieb kinderlos.
Im Herbst 1894 erfolgte die Übersiedlung nach Freiburg, wo der 30-Jährige seine Professur für »Nationalökonomie und Finanzwissenschaft« an der dortigen Universität im April angenommen hatte, als Nachfolger des berühmten Eugen von Philippovich. Neben bekannten Gelehrten wie Hugo Münsterberg begegnete er in Heinrich Rickert|25| der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, deren Interesse an einer wissenschaftslogischen Abwehr des Totalitätsanspruches der »exakten« Naturwissenschaften zugunsten einer Dichotomie Geisteswissenschaft versus Naturwissenschaft er insoweit unterstützte, als ihm sowohl »Naturalismus« wie »Historismus« gleichermaßen als »Ressortpatriotismus« ärgerlich waren.
Auf der Frankfurter Tagung des Evangelisch-sozialen Kongresses hielt er ein Referat über die Landarbeiter-Enquête. Die gegen den Großgrundbesitz zielenden Schlüsse der Untersuchung führten zum Bruch zwischen den linksgerichteten Christlich-Sozialen (Schulze-Gaevernitz, Naumann, Göhre, Weber) und den Konservativen unter Stoecker.
Im Mai 1895, seinem zweiten Freiburger Semester, hielt Max Weber seine akademische Antrittsrede »Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik«. Die Rede erregte weit über die akademische Öffentlichkeit hinaus Aufsehen. Radikal und schockierend verkündete Weber darin sein wissenschaftliches und politisches Credo. Inhaltlich sich an der Analyse der ostelbischen Agrarverhältnisse orientierend, benutzte er die Gelegenheit, Attacken gegen die verschiedenen Schulen der damaligen Nationalökonomie zu richten. Er wandte sich gegen die naiv-eudämonistischen Kathedersozialisten wie gegen die ethisch-kulturell orientierte Nationalökonomie Schmollerscher Provenienz. Ihnen allen warf er die unreflektierte Vermengung von Werturteilen mit Tatsachenaussagen vor. Demgegenüber forderte er eine klare Orientierung an deutschen, nationalstaatlichen Wertmaßstäben: »Die Volkswirtschaftspolitik eines deutschen Staatswesens, ebenso wie der Wertmaßstab des deutschen volkswirtschaftlichen Theoretikers können deshalb nur deutsche sein.«13 In dieser Rede bediente Weber sich einer nationalistischen Sprache voller sozialdarwinistischer Begrifflichkeit. Weber bekannte sich nachdrücklich zur »Realpolitik« und zum deutschen Imperialismus, wobei er in Großbritannien das politische Vorbild für Deutschland sah. In dieser flammenden Rede wurden erstmals politische Entwicklungsprozesse in soziologischen Kategorien beschrieben, etwa wenn Weber sowohl der Arbeiterschaft als auch dem Bürgertum ihr spezifisches Versagen vor|26| den nationalen Aufgaben bescheinigte. Die Entwicklung Webers zu praktisch-politischem Engagement, wie sie in dieser Rede schon anklang, fand ihren Ausdruck auch in seiner Kritik der Vorschläge der Börsenenquête-Kommission, der er vorwarf, nach moralischen statt politischen Gesichtspunkten und unter dem Druck der agrarischen Interessenvertreter zu verfahren. Seinem umfangreichen akademischen Arbeitsprogramm – er hielt zwölf Stunden Kolleg und zwei Seminare pro Woche – folgte von August bis Oktober 1895 eine Reise durch England und Schottland.
1896 wurde Max Weber als Nachfolger von Karl Knies, einem der führenden Köpfe der historischen Schule der Nationalökonomie, auf dessen Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften an der Universität Heidelberg berufen. Sein Rückzug aus der Tagespolitik, mit dem er immer wieder spielte, gelang wegen seiner Tätigkeit als Berichterstatter des Bundesrates beim vorläufigen Börsenausschuss und durch seine Wahl in die Getreidehandelskommission nur teilweise. Das neue Börsengesetz kritisierte er scharf. Weber nahm an der Erfurter Versammlung der National-Sozialen teil und wurde Mitglied des dort gegründeten »Nationalsozialen Vereins«.
Neben mehreren Vorträgen über agrarische Probleme beteiligte er sich am »7. Evangelisch-sozialen Kongreß«. Weber frischte Kontakte zu seinen früheren Lehrern Bekker, Erdmannsdörffer und Kuno Fischer in Heidelberg auf; er knüpfte Beziehungen zum Verfassungsrechtler Jellinek, zum Theologen Troeltsch und zum Philosophen Windelband. Die Webersche Wohnung wurde zu einem zentralen und wirkungsvollen Treffpunkt der Heidelberger akademischen Intellektuellen.
Neben verschiedenen tagespolitischen Aktivitäten in der christlich-sozialen Bewegung brachte das Jahr 1897 zwei wichtige Stationen in Webers politischer Entwicklung: Er wurde nicht in den endgültigen Börsenausschuss aufgenommen und er lehnte das Angebot einer Reichstagskandidatur in Saarbrücken ab.
Auch für seine persönliche Entwicklung wurde das Jahr 1897 von zentraler Bedeutung. Im Juli hatte er eine schwere Auseinandersetzung mit seinem Vater, der mit Webers Mutter zu Besuch in Heidelberg weilte. Der Streit ging um das von Max Weber nunmehr scharf kritisierte autoritär-patriarchalische Verhalten des Vaters gegenüber|27| der Mutter, deren persönliche Freiheit er gefährdet sah. So verweigerte ihr dieser, über einen kleinen Teil ihres Erbes ihrer verstorbenen Mutter frei zu verfügen, wie er einen jungen Theologiestudenten hinauswarf, der dem Sohn Karl erzieherisch beistehen sollte und in dem sie einen anregenden Gesprächspartner gefunden hatte. Ohne sich wieder mit Frau und Sohn verständigt zu haben, starb Max Weber sen. am 10. August in Riga. Später fühlte sich Weber wegen seines feindlichen Ausbruchs schuldig, ohne eine Möglichkeit zu sehen, das Unrecht wieder gut zu machen.
Im Herbst diesen Jahres meldeten sich bei Max Weber erste Anzeichen einer Nervenkrise, einer psychischen und physischen Erschöpfung. Die Symptome der Krankheit waren körperliche Schwäche, Schlaflosigkeit, innere Spannungen, Gewissensbisse, Erschöpfung, Angstzustände, anhaltende Unruhe. »Alles und jedes ist zu viel: Er kann ohne Qualen weder lesen noch schreiben, noch reden, noch gehen und schlafen« berichtete Marianne Weber über diese Zeit.14 Das folgende Jahr wurde, nach leichter Besserung, mit tagespolitischen Aktivitäten eingeleitet. Die Lehrtätigkeit fiel Weber allerdings unverändert schwer, im Frühjahr, zu Semesterschluss, erlitt er einen schweren nervlichen Zusammenbruch. Eine Erholungsreise zum Genfer See brachte etwas Besserung bis zum Beginn des Sommersemesters, im Sommer verlebte Weber einen Sanatoriumsaufenthalt am Bodensee. Das Lehren im folgenden Wintersemester wurde ihm zur Qual, zu Weihnachten hatte er einen erneuten Zusammenbruch und beendete nur mühsam das Semester.
Als Gründe für das Nervenleiden Webers lassen sich mehrere aufzählen, ohne dass es als möglich und sinnvoll erscheint, zwischen ihnen eine sinnvolle Abwägung vorzunehmen.15 Die frühe Meningitis ließe sich als physiologischer Faktor ebenso anführen wie die völlige Überarbeitung Webers. Plausibel erscheinen darüber hinaus etliche Deutungen, die sich auf psychische Faktoren gründen: Webers schwere seelische Depression und die geleugneten und verdrängten Schuldgefühle, die ihn, auch als Resultat der Auseinandersetzung mit seinem|28| Vater, schwer belasteten. Weber litt unter dem Konflikt zwischen den Werten der Mutter und der Tante, denen des Vaters und denen des Onkels, um die zentralen Personen zu erwähnen. Dieser Konflikt trug ihm vermutlich erhebliche Identifikationsschwierigkeiten ein – ein idealer Nährboden für psychische Erkrankungen.
Die beiden zentralen Identifikationsmuster des jungen Max Weber bildeten sich spätestens in seiner Studienzeit heraus: Einerseits mutterorientiert, vermochte er zumindest ansatzweise deren Innerlichkeit, Religiosität und Moralität nachzuempfinden, sehr ausgeprägt in gemeinsamen Beratungen über die Erziehung des dritten Sohnes. Andererseits vaterorientiert, gab Weber als massiver, biertrinkender, Mensuren schlagender, zigarrenrauchender Student das Ideal seines Vaters ab. Dabei bot er ein Bild, das die Mutter, angesichts ihres schmisseverzierten, aufgeschwemmten Sohnes nach Semesterschluss 1882 zu einer schallenden Ohrfeige provozierte.
Die Umstände der Heirat mit seiner nahen Verwandten Marianne, bei gleichzeitiger Trennung von der Cousine, Emmy Baumgarten, verfolgten Weber längere Zeit. Auch das asexuelle Verhältnis zu Marianne Weber trug sicherlich nicht zu Max Webers mentaler Stabilität bei.
Auch seine rigide Arbeitsdisziplin, eingebettet in eine asketische Lebensführung, ist im hier angesprochenen Zusammenhang bemerkenswert. Neben dem Wunsch nach beruflichem Erfolg – Weber strebte in den hierfür interessanten späten 1880er Jahren gleichzeitig eine Universitätskarriere und eine Laufbahn als Rechtsanwalt an – gab er selbst als Grund für seine Arbeitswut eine unbestimmte Angst vor der »Bequemlichkeit« des Daseins an. Diese selbstzufriedene Lebensweise wurde ihm täglich – Weber lebte immerhin bis zu seinem 29. Lebensjahr im Elternhaus – von seinem Vater vorgeführt. Nichts erscheint plausibler, als dass, solange der Vater lebte, Max Weber durch den Konfrontationsdruck aus dessen Beispiel ins andere Extrem, eine enorme Arbeitswut und Askese, getrieben wurde. Mit dem Tod des Vaters fiel das Gegenüber weg – die gesamte Arbeitsmaschinerie brach zusammen, Weber wurde schließlich unfähig, irgendetwas zu tun.
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