Dass diese Geschichte vorrangig in Frankfurt (Oder) und Słubice spielt, ist Absicht. Personen, Institutionen und Handlung des Romans „Mord in der Halben Stadt“ sind frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten rein zufälliger Natur.
S.B., Frankfurt (Oder) – Słubice, Oktober 2013
Marzena Pawlikowska, eine zierliche, junge Wissenschaftlerin mit blonden, kurz geschnittenen Haaren, verließ an einem Sonntagabend im September den Schreibtisch ihrer Zweizimmerwohnung eines Gründerzeithauses in Frankfurt (Oder), an dem ihr zwei neue Seiten der Doktorarbeit gelungen waren. Sie ging in die Küche und blieb im Türrahmen stehen. Von dort beobachtete sie mit einem Glas Kir in der Hand einen Mann, der ihr den Rücken zuwandte. Bekleidet mit einer weinroten Küchenschürze rührte er mit der linken Hand in einem kleinen Saucentopf, mit der rechten wendete er zwei Rinderfilets, deren Duft sich zusammen mit dem provenzalischer Kräuter ausbreitete. Ihr Blick glitt über seine breiten Schultern und die kräftige Rückenmuskulatur, die sich unter dem weißen Hemd abzeichnete und ruhte schließlich eine Weile auf den schlanken Hüften und dem straffen Hintern, der wie angegossen in verwaschenen Bluejeans saß. Der Blick zu seinem Kopf, zu den grauen Strähnen im schütter werdenden, schwarzen Haar, komplettierte das Bild eines Mannes im besten Alter.
Marzena lehnte am Türrahmen und winkelte das linke Bein so an, dass ihr Rock das Knie freigab. Hätte der Mann seine Aufmerksamkeit vom Herd abgewandt, wäre sein Blick gewiss auf die helle Haut ihres Schenkels gefallen. Das Licht der Halogenlampen fiel ganz so, als solle gerade diese Stelle ihres schönen Körpers besonders ausgeleuchtet werden. Auch ohne Scheinwerferlicht war ihm schon bekannt, dass die junge Frau unter der beigefarbenen Bluse keinen Büstenhalter trug.
„Weißt du, was mich immer wieder verblüfft, wenn ich dich in der Küche beobachte?“, fragte sie.
„Dass trotz meiner Nascherei vom Essen noch etwas übrig bleibt“, sagte er, ohne vom Herd aufzuschauen und wendete erneut die beiden Rinderfilets in der Pfanne.
„Das ist kein Kunststück bei den Mengen, die du einkaufst.
Ich frage mich, wie du es schaffst, fast das ganze Kochgeschirr während des Kochens abzuwaschen, ohne dass dabei etwas anbrennt oder kalt wird.“
Sie setzte das linke Bein auf dem Boden ab und strich den Rock gerade.
„Wenn das Essen fertig ist, sieht die ganze Küche so aus, als hättest du gezaubert.“
Er lachte und warf einen Blick über die Schulter:
„Zum Geschirr abwaschen bleibt nur vor dem Essen Zeit. Nach dem Essen, Liebste, wird wohl niemand von uns beiden noch an Töpfe und Kochlöffel denken.“
Sie löste sich mit einem Lächeln aus dem Türrahmen, stellte den Aperitif auf dem Esstisch ab und legte ihre Arme um seine Hüften. Er löschte indes die Gasflamme unter dem Kartoffel- und dann unter dem Gemüsetopf und drückte sanft mit dem Pfannenwender auf das Fleisch. Der austretende Saft hatte nur noch eine kaum wahrnehmbare rote Färbung, ein Zeichen, dass das Fleisch medium gebraten war.
„Das Essen ist fertig, Marzena. Gieß uns ein Glas Roten ein.“
Er goss die Salzkartoffeln ab und garnierte sie auf den Tellern mit frischer Kapuzinerkresse. Broccoliröschen und kleine Möhrchen wurden im Sieb abgetropft und auf dem Teller drapiert. Dazu goss er eine sämige Pilzsauce mit grünem Pfeffer (die Pfifferlinge hatte er am Vortag auf dem Kleinen Markt im polnischen Słubice gekauft) halb über die Kartoffeln, halb über das Gemüse. Bevor er sich an den Tisch setzte, ließ er noch etwas Wasser in die Pfannen und Töpfe laufen, um den späteren Abwasch zu erleichtern.
Sie saßen sich an dem kleinen Küchentisch gegenüber und stießen mit dem Rotwein an. Marzena probierte zunächst ein bisschen von allem. Bei jedem neuen Bissen, den sie zum Mund führte, schloss sie die Augen. Was sie dann dem Essen angedeihen ließ, wäre mit ‚Kauen‘ höchst unzutreffend beschrieben gewesen. Sie liebkoste die Speise wie in Zeitlupe mit ihrer Zunge, bewegte sie zwischen Zähnen und Gaumen hin und her, trank ab und an einen Schluck Wein dazu und zögerte das Hinunterschlucken so weit wie möglich hinaus. Zwischendurch lächelte sie den Mann zärtlich an und lobte das göttliche Mahl. Er lachte vergnügt und prostete ihr mit dem Weinglas zu. Er aß schneller als sie, sein Blick glitt manchmal unruhig durch die Küche, so als wolle er sich vergewissern, ob nicht doch noch etwas zu tun wäre.
Zum Dessert holte er eine Zitronencreme aus dem Kühlfach und servierte einen doppelten Espresso. Der Duft frisch gemahlenen, italienischen Kaffees durchströmte den Raum. Die Espresso-Maschine hatte der Mann der jungen Frau zu Weihnachten geschenkt.
Während sie sich die Zitronencreme auf der Zunge zergehen ließ, streifte sie eine Sandalette ab und streichelte unter dem Tisch mit dem nackten Fuß seine Beine. Leider waren ihre Beine nicht lang genug, oder der Tisch war zu breit, als dass sie mit ihrem Fuß besonders weit reichte. Es war dem Dessert nicht vergönnt, beendet zu werden. Die beiden Genießer fanden sich neben dem Herd wieder. Marzena saß auf der Anrichte, die Beine gespreizt, der Rock bis zur Taille hoch gerutscht. Ihr Slip war ein stoffarmes, weißes, beinahe durchsichtiges Etwas. Er hielt sie mit einer Hand fest, mit der anderen knüpfte er ihre Bluse auf und bedeckte ihre weiche Haut mit Küssen, vom Hals über die kleinen, runden Brüste bis zum Bauchnabel. Sie schloss die Augen, klammerte ihre Beine um seine Hüfte und lehnte sich nach hinten in seine Hand. So trug er sie in ihr Schlafzimmer.
Als er aufwachte, war es kurz nach eins. Bernd Matuszek, Kriminalkommissar der Frankfurter Polizei, hatte nach der Liebe höchstens drei Stunden Schlaf gefunden. Er stand auf, versuchte kein Geräusch zu machen und bedeckte Marzenas nackten Körper sorgsam mit einem Laken.
Er kleidete sich an, fuhr sich vor dem Badezimmerspiegel ein paar Mal mit dem Kamm durch die Haare und verließ die Wohnung seiner Freundin in der Halben Stadt.
Auf der Straße war es noch immer sommerlich warm. Er wandte seine Schritte in Richtung Oderturm, dessen Leuchtschrift man oberhalb der fünfundzwanzigsten Etage, über die Baumwipfel des gegenüberliegenden Lenné-Parks hinweg, lesen konnte.
Knapp hundert Meter vor dem hässlichen Betonklotz des Supermarktes, der tagsüber allen, die im Stadtzentrum lebten oder arbeiteten, für kleine Einkäufe nützlich war, schlug er linker Hand einen kleinen Umweg durch den Lenné-Park ein. Von den Bäumen wehte ihm sanfte Kühle entgegen. Es roch nach feuchtem Laub und Gras, als ob es in der Nacht leicht geregnet hätte. Im Schein der Laternen war auf den Parkwegen jedoch kein Wasser zu sehen.
Noch im Park hörte er vom Vorplatz des Supermarktes her die Stimmen betrunkener Jugendlicher, die die halbe Nacht dort verbrachten. Als er fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war, hatte er bei Wind und Wetter am selben Ort herumgelungert. Damals hieß der Supermarkt noch Konsum, aber die Funktion, die er für ihn und seine Kumpels gehabt hatte, war dieselbe gewesen. Ein Treffpunkt, um sich zu beweisen, ein Schaufenster, um sich den Mädchen zu zeigen und ein Ort, an dem man darauf wartete, dass etwas passierte. Aber es passierte nichts. Mit siebzehn entschloss er sich, zur Polizei zu gehen.
Als er an den Lenné-Passagen aus dem Park trat, fuhr eine hell erleuchtete Straßenbahn über die Kreuzung zur Endhaltestelle Universität. Abgesehen vom Fahrer waren keine Fahrgäste zu sehen. Im Oderturm brannte in der zehnten oder elften Etage noch Licht. Matuszek blieb stehen und versuchte, in den Büroräumen eine Bewegung zu erkennen. Nach einer Weile trat eine Gestalt an die Gardinen und das Licht ging aus.
Es war halb zwei. Um nach Hause zu gelangen, hätte Matuszek an der Post vorbei nur knapp fünf Minuten den Straßenbahnschienen in Richtung Stadion folgen müssen. Stattdessen wandte er seine Schritte nach links zum Brunnenplatz. Das Café Mitte war ebenso geschlossen wie der Ratskeller und die Bar am Marktplatz.
Ein paar Minuten lang stand er rauchend auf dem Kopfsteinpflaster zwischen Rathaus und Marienkirche. Abwechselnd schaute er die beiden Türme empor, die in ein weiches, orangefarbenes Licht getaucht waren, über ihnen lag eine sternenklare Nacht.
Matuszek setzte sich auf die Stufen der Rathaustreppe. Der große, spitze Giebel des Rathauses verriet seine Verwandtschaft mit den Bauten der nordeuropäischen Hansestädte. Mit dem goldenen Hering über dem Eingang demonstrierte die Stadt seinerzeit, dass auch sie zu dem Bund der Reichen und Schönen dazugehörte. Wenn der Wind im Frühjahr und Sommer aus Norden wehte, brachte er manchmal einen Hauch von Seeluft in die Stadt. Zumindest schien es Matuszek so zu sein.
Auf dem gewaltigen Satteldach der Marienkirche saßen hunderte von Krähen und antworteten im lauten Chor auf die Rufe ihrer Anführerin. Die Oberkrähe saß wohl auf einem Sims des Kirchturms.
Von den ehemals zwei Türmen der Marienkirche hatte nur einer sowohl den Krieg als auch die Deutsche Demokratische Republik überdauert. Matuszek wusste aus dem Heimatkundeunterricht, dass die Kirchtürme nach dem Vorbild der Severinkirche in Nürnberg gebaut worden waren. Auch wenn er in den meisten Schulfächern nicht ganz bei der Sache gewesen war, die Geschichte seiner Stadt hatte ihn schon immer fasziniert. Er erinnerte sich an eine Unterrichtsstunde, in der eine eher unkonventionelle Lehrerin die Geschichte jener Ratsherren erzählt hatte, die eines Tages im späten Mittelalter aus dem Rathaus wie gewöhnlich über den Marktplatz zur Marienkirche gingen. Sie stritten darüber, ob es rechtens sei, den Teufel auf den berühmten Glasfenstern der Kirche abzubilden oder nicht. Als sie sich dem zu Ehren Karls IV. errichteten mittelalterlichen Eingangsportal näherten, schaute einer der Ratsherren empor und rief:
„Zu Kaisers Zeiten hätte es niemand gewagt, dem Teufel in einer Kirche ein Bild zu schenken!“
Genau in diesem Augenblick flog ein Vogel, vielleicht eine Krähe, über den Kopf des Ratsherren hinweg. Als seine Aussonderungen direkt auf der Hutkrempe des Ratsherren landeten, ging der Streit über das teuflische Abbild im allgemeinen Gelächter unter und war im Nu vergessen.
Matuszek stellte sich vor, wie hinter den dunklen Scheiben der Bar am Marktplatz mit einem Mal das Licht anginge. Die Tür öffnete sich und statt eines Ratsherren kam ein weibliches Wesen heraus, das sich anmutig mit einem Tablett in seine Richtung bewegte. Darauf stand ein Krug Bier. Er fühlte das gut gekühlte, frisch gezapfte Pils bereits in seiner Kehle, bevor er in seiner Phantasie das holde Wesen mit den langen, schwarzen Haaren wahrnahm, das ihm gleich lächelnd das Bier reichen würde. Tatsächlich war überhaupt weit und breit keine Menschenseele zu sehen.
Zehn Minuten später hatte er die Stadtbrücke überquert, deren Laternen sich in der Oder spiegelten. Das Wasser brach sich an den Brückenpfeilern und rauschte unter der Brücke hindurch dem Meer entgegen. Eine Zeitlang war das Wasser das einzige Geräusch, das Matuszek hörte. Dann gaben die Krähen ihren Platz auf der Marienkirche auf und flogen unter lautem Krächzen etwa fünfzig, sechzig Meter über seinem Kopf in Richtung des östlichen Ufers davon.
In der Słubicer Fußgängerzone kamen ihm zwei betrunkene Nachtgestalten entgegen, sie sangen die englische Nationalhymne mit polnischem Akzent. Man verstand immer und immer wieder nur den Refrain ‚God save the Queen‘, lediglich unterbrochen, um einen weiteren Schluck Bier zu trinken. Der Brunnen am Plac Przyjaźni war erleuchtet, die Fontänen schossen in die Höhe und das Wasser prasselte aus einigen Metern herab. Erleichtert stellte Matuszek fest, dass der Scotsman auf der anderen Seite des Platzes noch nicht geschlossen hatte.
„Cześć Bernd“, begrüßte ihn der Barmann. „Ein großes Dunkles wie üblich?“
„Sicher doch, tak jak zwykłe.“
„Ich wollte die Milchgesichter dahinten gerade rausschmeißen und den Laden für heute schließen.“ Er deutete mit dem Kinn auf drei Jugendliche, die wie sechzehn aussahen. „Aber wenn du kommst, geht die Nacht in die Nachspielzeit.“
„Weißt du, dass du auf beiden Seiten der Oder der einzige bist, der jetzt noch geöffnet hat?“
„Kein Wunder, wir Polen haben von euch Deutschen eine schlechte Angewohnheit übernommen. Anstatt unter Leute zu gehen, bleiben wir zu Hause und sitzen vor der Glotze. Zum Wohle, mein Guter!“
Bernd Matuszek prostete dem Barmann mit dem frisch gezapften Bier zu. Das köstliche Getränk hatte genau die richtige, leicht gekühlte Temperatur und rann durch die Kehle wie herbsüßer, flüssiger Samt. Er trank das Glas in einem Zug halb leer. Das kühle Nass wärmte seine Seele.
Die Tür ging auf, frische Luft wirbelte die Tabakschwaden umher und zwei kahlköpfige Männer in schwarzen Jacken und schweren Stiefeln betraten den Raum. Der Eine, an die zwei Meter groß und durchtrainiert wie ein Diskuswerfer. Der Andere anderthalb Köpfe kleiner mit der schiefen Nase eines Boxers. Der große Kerl erspähte Matuszek als Erster und kam grinsend auf ihn zu. In zwei Meter Entfernung vom Tresen, entschied er sich stehen zu bleiben und nur die Hand zum Gruß zu heben.
„N’Abend Kommissar“. Die hohe Stimme stand im Widerspruch zu seinem mächtigen Äußeren. „Heute auf Verbrecherjagd in Polen?“
Matuszek sah den Mann an und stellte das Bierglas auf den Tresen.
„Hast du einen Bösewicht im Schlepptau, den ich gleich mitnehmen kann? Dann nur her damit.“
Er warf einen Blick auf den Boxer.
„Aber wenn ich noch groß was dafür tun müsste, um ihn zu jagen, dann sag ich: Lass mal stecken. Schau auf die Uhr, auch Bullen müssen mal ausspannen.“
„Dann können wir ja getrost ein paar Bierchen trinken“, sagte der Boxer. „Heute wird uns der Herr Kommissar nichts anhängen wollen.“
Die drei Grünschnäbel hatten aufgehört, sich zu unterhalten und lauschten. Obwohl ihr Schuldeutsch kaum ausreichte, um alles zu verstehen, schien diese Begegnung erheblich mehr Spannung zu versprechen, als sich über Autos und Mädchen zu unterhalten. Bernd Matuszek nahm einen weiteren tiefen Schluck aus seinem Glas.
„Du kannst mir schon mal ein zweites Dunkles einschenken, Piotrek“, sagte er auf Polnisch.
Der Diskuswerfer und der Boxer stellten sich neben den Kommissar an den Tresen, schwiegen und warteten auf ihr Bier.
„Was macht deine journalistische Karriere, Mike?“, fragte Matuszek den Diskuswerfer.
„Ab und zu schreibe ich mal was“, kam die beiläufige Antwort.
Mike Lehmann warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Er stand neben einem Polizisten, der noch bis vor wenigen Wochen die Ermittlungen der Soko in der Frankfurter Neonaziszene geleitet hatte. Jetzt war er anscheinend zur Kripo gewechselt, so war zu hören. Matuszek war es gelungen, den Kopf der Ostbrandenburger Neonazis wegen Volksverhetzung für zweieinhalb Jahre hinter Gitter zu bringen. Seither war die so genannte ‚Bewegung‘ nur noch ein kleiner, orientierungsloser Haufen. Allerdings war der ‚Chef‘ auch ein Arschloch gewesen. Er hatte ihm sein Mädchen ausgespannt, ihr einen Job versprochen und sie nach zwei Monaten fallen gelassen, nachdem er eine neue Gespielin gefunden hatte. Bernd Matuszek hatte Mike geschützt, obwohl der ihm keine Informationen verraten hatte. Er hatte ihn einen Mitläufer genannt und ihn so aus der Anklage herausgehalten. Mike konnte seinen Job im Fitness-Center behalten, eine Mitgliedschaft in der NPD allein war kein Grund, jemandem zu kündigen.
„Du schreibst für die Volkszeitung, stimmt’s? Berichte aus der Region.“
„Ja, aus Angermünde und Cottbus und so.“
„Da kommst du ja ganz schön herum.“
Mike brummte zustimmend.
„Erstatten sie dir wenigstens die Reisekosten?“
Mike nickte und trank von seinem Bier.
„Ganz nebenbei lernst du journalistisches Handwerkszeug. Wie man Reportagen schreibt, Interviews, was einen Bericht ausmacht und was ihn von einem Kommentar unterscheidet.“
„Meinen Sie, das kann beruflich zu etwas nütze sein?“
„Unbedingt. Es ist eine zusätzliche Qualifikation, die nicht jeder hat. Ich habe als junger Kerl für die Zeitung der Polizeigewerkschaft geschrieben. Die haben mich auf eine Weiterbildung geschickt, zehn Wochenenden lang. Danach hatte ich soviel gelernt, dass ich jahrelang nach Feierabend die Presseinformationen schreiben durfte, wenn der Pressesprecher krank oder im Urlaub war.“
Mike grinste. „Also vor allem mehr Arbeit, was?“
„Und nicht zu knapp. Dafür war ich es, der entscheiden konnte, was in unseren Pressemitteilungen stand. Manchmal war es bloß ein Halbsatz, den andere so nicht geschrieben hätten und der dennoch die öffentliche Meinung beeinflusste.“
„Richtig“, sagte Mike, „das ist das Coole an der ganzen Schreiberei. Man kann etwas bewirken. Leute reden darüber, machen sich einen Kopf.“
Bernd Matuszek nahm einen weiteren, langen Zug aus dem Bierkrug. Die unvergleichliche Verbindung von süß und bitter versetzte ihn für einen Augenblick zurück in seinen letzten Irlandurlaub. Er war zwei Wochen lang allein durch endlose grüne, hügelige Landschaften gewandert. Das war, nachdem ihn Christine verlassen hatte und Marzena noch nicht von seinen Kochkünsten angezogen worden war. Unterwegs war er in Pubs eingekehrt und hatte sich an Bier, Haggis oder Lammeintopf gelabt. Zwei Wochen lang hatte er kein einziges Mal an seine Arbeit gedacht, an keinen arroganten Vorgesetzten, keinen idiotischen Mitarbeiter, nicht an verrohte Jugendliche und nicht an die kleinen und großen Fische der lokalen Neonaziszene.
„Einmal habe ich es mit einer kleinen Notiz geschafft, eine wochenlange Diskussion über Einbruchsverhütung vom Zaun zu brechen“, sagte Matuszek. „Es gab zig Leserbriefe, die Leute haben sich gegenseitig Tipps gegeben.“
„Ich habe vor ein paar Wochen einen Bericht geschrieben“, sagte Mike. „Ich denke mal, es war ein Bericht, vielleicht mit ein paar Reportage-Elementen darin. Es ging darum, wie wir in der Uckermark neue Mitglieder gewinnen. Wir schaffen Anlaufpunkte, wo die Kids mal jemanden haben, der ihnen zuhört, der mit ihnen was unternimmt oder wo sie einfach nur abhängen können. Da oben gibt es solche Möglichkeiten ja kaum noch. Wir machen dort Jugendarbeit. Ich finde das cool, aber ich habe ganz bewusst versucht, meine eigene Meinung außen vor zu lassen. Ich wollte, dass sich die Leser selbst ihre Meinung bilden oder so.“
„Quatsch nicht so viel, Mike!“, ließ sich der Boxer vernehmen. „Der Bulle will dich doch nur aushorchen.“
Die drei Jugendlichen lauschten gespannt. Einer fragte die anderen beiden flüsternd: „Was heißt ‚Bulle‘?“ Seine Kumpels zuckten mit den Schultern.
„Du bist ja mal wieder völlig betrunken, Kleiner“, sagte Mike zum Boxer. „Kein Wunder, nach sechs Bieren und einigen Kurzen. Ich bringe dich nach Hause.“
Der Diskuswerfer zahlte und hängte sich den Boxer, der nicht mehr alleine stehen konnte, über die rechte Schulter.
„N’Abend Kommissar.“
„N’Abend Mike.“
–
Auf dem Heimweg schlenderte Matuszek in einem kleinen Park am Denkmal des berühmtesten Sohnes der Stadt, des Dichters Heinrich von Kleist, vorbei. Vor hundert Jahren hatten ihn die Stadtväter in Bronze gegossen und auf einen Sockel gesetzt. Er sah aus wie ein griechischer Jüngling, leicht bekleidet, mit einer Lyra in einer Hand, mit der anderen Halt suchend. Von mattem Licht erhellt, ging sein Blick halb entrückt, halb zielbewusst in die Ferne.
Es schien ihm, als zeichnete das Denkmal ein völlig anderes Bild von Kleist, als Matuszek es aus seinen Erzählungen, Dramen und Briefen gewonnen hatte. Dort hatte er gelitten, gekämpft, verzweifelt geliebt und seinen Platz auf Erden gesucht, nicht gefunden und die Suche mit gerade einmal 34 Jahren aufgegeben.
Als Matuszek an dem Denkmal vorbeikam, fragte er sich, wann dieser Mensch, der einem heute auf Schritt und Tritt als Werbefigur begegnete, überhaupt einmal so mit sich im Reinen gewesen war. Vielleicht dann, wenn er gespürt hatte, dass ihm eine Szene, ein Kapitel für die Ewigkeit gelungen war.
Und wann war er, Matuszek, eins mit sich und der Welt? Wenn er eine Frau begehrte? Wenn er etwas Außergewöhnliches kochte? Mit seinem Job verband er keine erfüllten Augenblicke.
Auf der Höhe der Gertraudenkirche führte Matuszeks Heimweg durch den Anger, eine vierreihige Lindenallee entlang, tagsüber nicht ganz so belebt wie jene in Berlin. Auf der anderen Seite der Straße reihten sich drei- bis vierstöckige Häuser aus der Gründerzeit oder in der Weimarer Republik erbaut. Unter einem dieser Dächer wohnte er in einer Maisonette-Wohnung. Von oben konnte er bei Tageslicht seinen Blick über die Baumwipfel hinweg schweifen lassen ins Urstromtal der Oder, zu den Oderwiesen auf der polnischen Seite, bis hin zum bewaldeten Moränenzug dahinter und einigen vereinzelten Häusern dazwischen.
Da es jetzt im Sommer unter dem Dach zu heiß zum Schlafen war, hatte er sich im Wohnzimmer eine bequeme Schlafcouch eingerichtet. Darauf setzte er sich, ohne das Licht einzuschalten, legte die Beine auf den Glastisch und schaute durch das geöffnete Balkonfenster hinaus in die Nacht. Die Baumkronen leuchteten im Licht der Straßenlaternen, durch ihre Wipfel zog ein leichter Wind. Bernd Matuszek rauchte acht Zigaretten, trank zwei Irish Whisky mit Eiswürfeln und schlief im Morgengrauen ein.
Bei Familie Miłosz klingelte um 6 Uhr 15 der Wecker. Wojtek Miłosz tastete erst nach dem Wecker und dann nach seiner Brille. Kopf und Arme waren schwer, die Augenlider ließen sich nur mit Mühe öffnen. Von seiner Frau Gosia vernahm er ein kaum hörbares ‚Mach-mir-bitte-einen-Kaffee-Liebling‘, dann drehte sie sich auf die andere Seite. Der kleine Łukasz, dessen erste Zähne sich in der Nacht unter Schmerzen ihren Weg gebahnt und seine Eltern die halbe Nacht nicht hatten schlafen lassen, atmete friedlich am anderen Ende des Schlafzimmers.
Der Vater setzte das Kaffeewasser auf, weckte die beiden großen Kinder, begann sich anzukleiden, während er zwischendurch den Kaffee, nach türkischer Art, aufgoss, ihn seiner Frau mit einem Guten-Morgen-Kuss ans Bett brachte, sich rasierte, den Frühstückstisch deckte und die Weckbemühungen bei den Kindern intensivierte, indem er Wiktoria leicht an den Schultern schüttelte und bei Tobiasz das Licht anknipste. Eine Dreiviertelstunde später gingen er und die beiden Schulkinder pünktlich aus dem Haus.
Punkt 7 Uhr 30 betrat Wojtek Miłosz das Hauptgebäude der Słubicer Polizei in der ul. Kazimierza Wielkiego. Er zeigte am Eingang seinen Dienstausweis und trat durch die Glastür, deren automatische Sperre sich sofort wieder hinter ihm schloss. Sein Büro lag in der ersten Etage am Ende des Ganges. Als er eintrat, sah er seinen Mitarbeiter, den Kopf in die Hände gestützt, aus dem Fenster schauen.
„Guten Morgen, Tomek“, grüßte Miłosz.
„Morgen, Chef“, erwiderte dieser, indem er langsam den Kopf in seine Richtung wandte. Dieser Junggeselle, der keinen Säugling hatte, der ihn um den Schlaf hätte bringen können, sah aus, als hätte er die ganze Nacht mit nervenaufreibenden Verhören zugebracht. Seine Haare waren zerzaust, die Augen müde.
„Ich hoffe, Sie hatten ein angenehmes, erholsames Wochenende, Chef“, sagte Kriminalinspektor Tomek Włodarski mit schwerer Stimme, „und konnten viel Energie tanken. Sie werden sie brauchen, vor Ihnen liegt eine harte Woche.“
Wojtek Miłosz musste lachen und erst dadurch spürte er tatsächlich zum ersten Mal an diesem Morgen so etwas wie Energie in seinem Kopf und seinem Körper.
„Du machst ein Gesicht, als wäre die russische Mafia in die Stadt eingefallen und hätte schon mindestens zehn Ladenbesitzer auf dem Gewissen.“
„Schlimmer, Chef, viel schlimmer.“
Kriminalkommissar Miłosz legte die Aktentasche auf seinem Schreibtisch ab und setzte sich dem Kollegen gegenüber.
„Heute Morgen hat ein Angler in den Oderwiesen einen Toten gefunden. Die Kollegen von der Spurensicherung sind bereits vor Ort. Gerade eben hat Romek angerufen und meinte, es sehe nicht nach einem natürlichen Tod aus, wir sollten sofort runterkommen.“
Wojteks Blick fiel auf eine Gruppe von Jugendlichen, die unten auf der Straße von der Neubausiedlung kommend gemächlich in Richtung Gymnasium schlenderten. Der Unterricht hatte bereits vor fünf Minuten begonnen. Seine zehn Jahre alte Tochter Wiktoria rang bereits mit einer Klassenarbeit über „Herrn Cogito“ von Zbigniew Herbert, zu jenem Gedicht, das sie ihm am Wochenende vorgetragen hatte:
Gedanken gehn durch den Kopf
meint eine Redensart
die Redensart überschätzt
den Gedankenverkehr
die meisten
stehn reglos
mitten in der öden Landschaft…
„Spann mich nicht länger auf die Folter, Tomek. Was ist das Grauenvolle an dieser Leiche?“
Kriminalinspektor Włodarski antwortete nicht sofort. Miłosz dachte an seinen ersten grausamen Mordfall, der ihn bis zum heutigen Tag nicht losgelassen hatte. Wirkliche Angst hatte er davor, einmal den Mord an einem Kind aufklären zu müssen.
„Der Tote“, sagte Włodarski, „ist ein Deutscher, ein Bürger der Stadt Frankfurt (Oder).“
Als Miłosz und Włodarski am Fundort der Leiche ankamen, war es kurz vor acht. Aus den Wiesen, die dem Fluss bei Hochwasser erlaubten, sich bis zum Deich auszubreiten, der die Stadt Słubice in einer kilometerlangen, geschwungenen Linie vom Hafen, entlang der Ausfallstraße Richtung Autobahn, bis zum Wald umgab, stieg ein schwacher Dunst hervor. Die Feuchtigkeit der Nacht verdampfte unter den ersten Strahlen der Sonne. Am anderen Ufer ragten der Oderturm, die Friedenskirche und die hohen Wohnblöcke der westlichen Oderstadt auf. Die Leiche lag hinter einem Busch etwa fünfhundert Meter vom Beginn eines Feldwegs entfernt, der in die Oderwiesen hineinführte.
„Habt ihr schon die Reifenspuren aufgenommen, die über den Weg führen?“, fragte Miłosz einen Kollegen der Spurensicherung, der nach dem Alter sein Vater hätte sein können.
„Es sind sehr viele.“
Miłosz blieb vor ihm stehen, sah ihn an und wartete.
„Sie meinen, man sollte sie trotzdem alle aufnehmen, nicht wahr?“
Miłosz nickte.
„Außerdem alle Schuhspuren, Schleifspuren und alle anderen möglichen Beweismittel, nicht wahr?“
„Ich bin mir sicher, Matkowski, dass Sie keinen noch so kleinen Hinweis übersehen werden. Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt.“
Ein feines Lächeln zeichnete sich auf dem betagten Gesicht ab. Der alte Matkowski hatte dem jungen Kriminalkommissar drei Jahre lang das Leben schwer gemacht, bis Miłosz eines Tages herausgefunden hatte, dass Matkowski ein leidenschaftlicher Schachspieler war. Sie hatten monatelang jeden Freitagabend im Kulturzentrum SMOK eine Partie gespielt. Als Miłosz im Mai zum ersten Mal gewonnen hatte, war das Eis gebrochen. Seither war Matkowski sogar bereit, Überstunden zu machen und zählte nicht mehr demonstrativ die verbliebenen Monate, Wochen und Tage bis zur Pensionierung.
„Sagen Sie, Matkowski, was schätzen Sie, wie lange der Tote hier gelegen hat?“
„Auf jeden Fall hat er einen Großteil der Nacht hier verbracht. Die Kleidung und die Haare sind feucht. Wie lange, wird die Untersuchung erweisen.“
„Herr Kommissar“, rief ein anderer Polizist und deutete mit einer Plastikhülle, in die man den Personalausweis mit dem Bundesadler gesteckt hatte, auf die Leiche. „Wir wollen den Herrn jetzt einpacken. Vielleicht möchten Sie vorher noch einen Blick auf ihn werfen?“
Der Tote war ein grauhaariger Mann um die sechzig. Selbst in seinem dreckigen, zerknitterten, cremefarbenen Anzug war er noch eine elegante Erscheinung. Auf den ersten Blick waren keine Spuren von Gewalt zu erkennen, es gab kein Blut, die Haut war unversehrt. Augen und Mund in dem makellosen Gesicht waren geschlossen. Kommissar Miłosz beugte sich zu dem Toten hinab. Ihm fiel auf, dass die Finger der rechten Hand auf eine Weise verkrampft waren, als ob sie etwas gehalten hätten. Am Hals waren zwar keine Druckspuren zu erkennen, aber auch hier sah das leicht verfettete Gewebe aus, als hätte es sich kurz vor dem Tod verkrampft.
„Er könnte erstickt sein“, sagte Miłosz zu Włodarski, der neben ihm stand.
„Aber wohl nicht hier.“
„Nein“, sagte Miłosz, „hier ist die Leiche danach hingebracht worden. Der Mörder wollte offensichtlich nicht, dass man den Toten am Tatort findet. Andererseits hat er die Leiche an einen Ort gebracht, an dem die Chancen, sie nicht zu entdecken, nicht besonders hoch sind.“
„Vielleicht war es ja doch ein natürlicher Tod“, gab Włodarski zu bedenken. „Schlaganfall oder Herzinfarkt.“
„Wir werden es wissen, sobald die Obduktion abgeschlossen ist“, sagte Miłosz. „Aber es wäre schon eigenartig, ausgerechnet hinter einem Busch in den Oderwiesen tot umzufallen und noch dazu so akkurat auf dem Rücken zu liegen zu kommen, als hätte man sich nur einmal kurz schlafen gelegt.“
Gegen 10 Uhr brachte die Sekretärin ein unterschriftsreifes Dokument mit nachfolgendem Inhalt in Miłosz’ Büro:
Sehr geehrter Herr Polizeipräsident,
hiermit beantrage ich die Hilfe von Amts wegen für die Aufklärung des mutmaßlichen Gewaltverbrechens, in Folge dessen Herr Hans-Werner Oderberg, geb. 08.10.1950 in Berlin, polizeilich gemeldet in Frankfurt (Oder), Wildenbruchstraße 3b, zu Tode kam. Die Leiche wurde am 10.09.2012 gegen 6.30 Uhr in den Oderwiesen auf dem Gebiet der Gemeinde Słubice gefunden.
Hochachtungsvoll
Krzysztof Konieczny, Polizeikommandant
Mitgezeichnet: Wojciech Miłosz, Kriminalkommissar
„Weiß der Kommandant schon Bescheid?“, fragte er die Sekretärin, nachdem er seine Unterschrift unter den Brief gesetzt hatte.
„Ja, er unterschreibt unmittelbar nach Ihnen. Dann faxe ich den Brief sofort ins Frankfurter Polizeipräsidium.“
„Sehr gut, könnten Sie bitte gleichzeitig auch im Sekretariat des Polizeipräsidenten anrufen, damit die Angelegenheit möglichst schnell bearbeitet wird?“
„Selbstverständlich, Herr Kommissar.“
„Gut, dass wir Sie haben“, sagte Miłosz. „Ihr Deutsch ist wirklich hervorragend geworden …“
„… seit ich einen Frankfurter Polizisten geheiratet habe, wollten Sie sagen. Außerdem bin ich gut informiert, was auf der anderen Seite der Oder geschieht.“
Wojtek Miłosz lächelte und schaute nochmals auf den Brief, bevor er ihn zurückgab.
„Jetzt wäre ein geeigneter Augenblick, Herr Kommissar, um mich danach zu fragen, wer nach der Pensionierung von Reinhard Unglaube Ihr neuer Frankfurter Kollege sein wird.“
„Wenn ich Ihre Worte richtig deute, Pani Magdo, wissen Sie es bereits.“
Die Sekretärin war enttäuscht, dass ihr Chef keine besondere Neugier an den Tag legte.
„Er ist ein paar Jahre älter als Sie, gebürtiger Frankfurter und ist schon seit über 30 Jahren bei der Polizei. Er war vorher jahrelang Leiter der Soko Rechtsradikalismus. Sein Name ist Bernd Matuszek.“
Zu Mittag hatte Miłosz‘ Frau ein Pilzomelett zubereitet. Dazu gab es Schwiegermutters Krautsalat. Die Pilze hatte Miłosz am Wochenende im Wald gesammelt. Nach dem Essen wickelte er den Kleinen, zog ihm einen Strampelanzug und ein Jäckchen an, setzte ein dünnes Mützchen auf und trug ihn auf dem Arm vier Treppen hinunter zum Kinderwagen, der neben der Kellertür stand. Der kleine Łukasz war bereits nach wenigen Augenblicken eingeschlafen, kaum dass er auf dem Hochwasserschutzdeich ein paar Meter gefahren war. Miłosz‘ Frau hatte sich derweil schlafen gelegt, bis ihr Mann mit dem Kleinen zurückkommen würde.
Wojtek Miłosz ging Richtung Stadtbrücke. An den Bäumen auf der Deichpromenade vorbei hatte man über den kleinen Hafen hinweg, in dem wie meistens kein Schiff lag, einen weiten Blick über die Oderwiesen. Miłosz streifte nur kurz mit den Augen die ungefähre Stelle, an der am Morgen der Tote gefunden worden war.
Als Miłosz mit dem Kinderwagen den schützenden Schatten der Bäume verlassen hatte, spürte er die ganze Kraft der Sonne. Er zog das Verdeck so weit, wie es ging, hoch, damit die Sonne den Klein-Łukasz nicht mehr blendete. Er krempelte die Hemdsärmel hoch und ärgerte sich, dass er sich zu Hause nicht seines Unterhemdes entledigt hatte. Nach wenigen Augenblicken klebte die verschwitzte Kleidung an seiner Haut.
Am Kreisverkehr ließ er das moderne Universitätsgebäude des Collegium Polonicum rechts liegen. In den Semesterferien war vom studentischen Leben nicht viel zu spüren. Das Collegium Polonicum glich einem riesigen Raumschiff, das in einer fremden Welt gelandet war. In dieser Welt gingen Menschen mit Euro-Geld in Wechselstuben und kamen mit polnischen Złoty wieder heraus. Auf der kurzen Einkaufsmeile, in kleinen Geschäften und Supermärkten, wurden tägliche Einkäufe erledigt, darunter manches Schnäppchen gemacht, es wurde gegessen, getrunken und Haare geschnitten. Sprachbrocken wurden ausgetauscht und dabei waren Missverständnisse nicht zu vermeiden.
Wojtek Miłosz trat auf die Stadtbrücke, auf der ihm vor allem Autos mit deutschen Kennzeichen entgegenkamen, Wagen aus den umliegenden Landkreisen sowie einige Berliner. Die meisten waren auf dem Weg zum Großen Basar, auf dem man wegen der niedrigen Steuern fast alles billiger kaufen konnte, alle anderen begaben sich zur Tankstelle oder zum Zigarettenshop.
Auf dem gegenüberliegenden Gehweg der Stadtbrücke stand Zbyszek, der Saxophonist, der fast jeden Tag, wenn es nicht gerade regnete, hier musizierte. Zbyszek nickte ihm zu und spielte ein paar Extra-Takte für ihn.
Wojtek Miłosz überquerte mit dem Kinderwagen die 250 Meter lange Brücke. Sah man ins Wasser hinunter, konnte man die Geschwindigkeit der Strömung erkennen. Selbst jetzt im Sommer, bei einer geringen Wassertiefe von maximal zwei Metern, hätte sich selbst ein Erwachsener nicht in der Fahrrinne halten können und wäre mitgerissen worden. Plötzlich schien Kommissar Miłosz in dem Umstand, dass der Mörder sich die Mühe gemacht hatte, die Leiche an einen Platz abzulegen, an dem sie mit Sicherheit früher oder später gefunden werden würde, anstatt sie in die Oder zu werfen oder auf dem Grund eines der hiesigen Seen zu versenken, der Schlüssel für das Auffinden des Mörders zu liegen.
Den Möwen machte die Strömung überhaupt nichts aus, sie ließen sich treiben, badeten ihre Köpfchen im Wasser und schwangen sich in die Luft, begleitet vom Konzert der anderen Möwen. Miłosz schloss für einen Moment die Augen und stellte sich vor, am Meer zu sein, er vermochte sogar, die Seeluft einzuatmen.
Auf der anderen Seite der Oder folgte Miłosz der Słubicer Straße. Die Bäume boten immer mal wieder für ein paar Sekunden Schutz vor der Mittagsonne. Links und rechts der Straße waren vor einigen Jahren die Wohnblöcke abgerissen worden, an ihrer Stelle wucherte grüne Wiese. Nächste Woche sollte mit dem Abriss der riesigen Glasüberdachung begonnen werden, die mit dem Wegfall der Grenzkontrollen zwischen beiden Ländern ihre Funktion verloren hatte. Auch die hellblauen Gebäude der ehemaligen Grenzabfertigung sollten bis zum Frühjahr verschwinden.
Miłosz überquerte die Ampel an der Magistrale genannten Karl-Marx-Straße, der Frankfurter Shoppingmeile. Auf der anderen Seite der Kreuzung führte die Rosa-Luxemburg-Straße den Berg hinauf. Als es noch Grenzkontrollen gegeben hatte, stauten sich ab hier die Autos in einer kilometerlangen Schlange. Früher, auf seinem Schulweg zum Städtischen Gymnasium Nr. 1, hatte er oft die deutschen und polnischen Autos gezählt und verglichen. Oder er hatte die Kfz-Kennzeichen studiert. Wenn er eines entdeckt hatte, das er noch nicht kannte, konnte er gar nicht schnell genug nach Hause kommen, um seine Herkunft nachzuschlagen. Manchmal dachte er heute, dass er sich vielleicht mal im deutschen Fernsehen bei einem Wissensquiz bewerben sollte. Er war überzeugt, schneller als jeder Deutsche alle deutschen Kfz-Kennzeichen dem richtigen Ort zuordnen zu können.
Bevor auf der linken Straßenseite das hundert Jahre alte, schlossartige Gebäude des Städtischen Gymnasiums auftauchte, bog er in den Lenné-Park ein und setzte sich auf eine schattige Bank. Klein-Łukasz schlief immer noch. In diesem Park hatte er als Oberstufenschüler seine Freistunden verbracht, sich auf Klausuren vorbereitet oder war wie zufällig der schönen, dunkelhäutigen Banknachbarin gefolgt. Sie hieß Angelique, war das erste dunkelhäutige Mädchen, das er je gesehen hatte und sie hatte ihn in seinen Tag- und Nachtträumen verfolgt, solange bis er in der Tanzschule seine jetzige Frau Małgorzata, kurz Gosia genannt, getroffen hatte.
Sein Handy klingelte, Klein-Łukasz reagierte sofort, rümpfte sein kleines Näschen und verzog für einen kurzen Augenblick die Mundwinkel, als wolle er anfangen zu weinen.
„Panie Komisarzu“, vernahm er die Stimme der jungen Assistenzärztin aus der Gerichtsmedizin, „die Obduktion hat interessante Ergebnisse erbracht.“
„Ich höre“, sagte Miłosz.
„Der Körper des Toten weist Vergiftungssymptome auf. Das Gift, das wir nachgewiesen haben, heißt Arsentrioxid, es hat weder Geschmack noch Geruch und wirkt ab einer Menge von einem Zehntelgramm ziemlich schnell.“
„Ist der Mann also vergiftet worden?“, fragte Miłosz.
„Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Wir vermuten, dass die eingenommene Menge etwas unterhalb des Schwellenwerts lag und möglicherweise nicht ausgereicht hätte, um den Tod herbeizuführen.“
„Heißt das, die Todesursache war eine andere?“
„Richtig, Herr Kommissar, der Mann ist erstickt. Da der Körper keine Strangulierungsspuren aufweist, könnte er mit einem Kissen oder einem Kleidungsstück erstickt worden sein. Durch die Wirkung des Gifts war der Körper zweifelsohne geschwächt, was die Sache für den Mörder leichter machte.“
„Das heißt, es ist auszuschließen, dass sich der Mann mit dem Gift selbst töten wollte?“
„Nicht wirklich, aber was wir fast sicher ausschließen können, ist, dass er sich selbst erstickt hat.“
„Haben Sie sonst noch etwas festgestellt?“
„Außerdem eine schwere Knieverletzung, die von einem Schlag mit einem metallenen Gegenstand herrühren könnte. Sie ist um dieselbe Zeit entstanden, zu der wir den Eintritt des Todes vermuten. Gestern Abend gegen 22 Uhr.“
„Das sind in der Tat interessante Ergebnisse. Haben Sie vielen Dank, Pani Krystyno.“
„Bardzo proszę, Panie Komisarzu.“
Während des Gesprächs hatte Miłosz den Kinderwagen sanft geschaukelt, so dass sein Sohn wieder eingeschlafen war. Jetzt ging er mit raschen Schritten den Weg zurück und vergaß unterwegs sogar die Hitze und die Tatsache, dass er schwitzte. Noch von der Stadtbrücke aus weckte er über das Mobiltelefon seine Frau und bat sie, ihm den Kleinen am Hauseingang abzunehmen.
„Ich habe gerade so schön geträumt“, sagte sie.
„Wovon denn?“, fragte er.
„Von uns beiden, allein, am Strand einer Insel in der Südsee.“
Als Kriminalkommissar Miłosz, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die erste Etage der angenehm klimatisierten Słubicer Polizeiwache erreicht hatte und in den Flur bog, wäre er beinahe über ein Kabel gestolpert, das von einer Steckdose zu einem Mikrofon führte.
„Da sind Sie ja, Panie Komisarzu,“ flötete eine süße, weibliche Stimme, die zu einem hübschen, brünetten Kopf gehörte. Dem dazu passenden, schlanken, wohlproportionierten Körper schenkte Wojtek Miłosz, glücklich verheirateter Vater von drei Kindern, weniger Beachtung, als es sein Kollege Tomek Włodarski noch vor einigen Minuten getan hatte.
„Ihre Mitarbeiter hatten sich schon Sorgen um Sie gemacht.“
‚Wer hat die denn hier hereingelassen?‘, dachte Miłosz, sprach die Frage jedoch nicht aus, weil er die Antwort schon kannte. Ela Szmyt, die Nachrichtentante vom lokalen Fernsehsender, war eine Nichte der Wojewodin und verschaffte sich daher beinahe überall Zutritt.
„Wir wollen Ihnen nicht Ihre kostbare Zeit stehlen“, lächelte die Dame und winkte den Kameramann heran. „Sie haben seit heute ja einen höchst brisanten Fall zu lösen, der unsere Zuschauer brennend interessiert. Wären Sie bereit, den Bürgern ein paar Fragen zu dem geheimnisvollen Toten in den Oderwiesen zu beantworten?“
Kommissar Miłosz antwortete nicht, sondern sah das Fernsehgesicht in Erwartung der ersten Frage freundlich an.
„Herr Kommissar, heute Morgen hat ein Angler in den Oderwiesen, unweit des Hafens, einen Toten gefunden. Gehen Sie von einem Gewaltverbrechen aus?“
„Davon gehe ich im Augenblick aus“, antwortete Miłosz.
„Der Tote ist ein Deutscher, polizeilich gemeldet in Frankfurt (Oder). Damit Sie im Umfeld des Toten Ermittlungen anstellen können, brauchen Sie eine Genehmigung der Frankfurter Polizei. Wie sieht es damit aus?“
Miłosz ließ sich seine Überraschung darüber, dass sie bereits die Nationalität des Toten wusste, nicht anmerken, sondern entgegnete teilnahmslos:
„Wir haben heute Morgen eine entsprechende Anfrage gestellt.“
„Herr Kommissar“, setzte die Journalistin erneut an und dabei ein charmantes Lächeln auf. „Dies ist Ihr erster grenzüberschreitender Fall. Jeder in Słubice erinnert sich noch an den Winter 2008, als zum letzten Mal ein Deutscher auf unserer Seite ermordet wurde. Der Fall war wochenlang das Thema Nr. 1. Man hatte das Gefühl, das halbe Frankfurt würde den Mörder jagen und die halbe Stadt Słubice stand damals unter Verdacht, mit dem Mörder unter einer Decke zu stecken. Die Wellen schlugen hoch bis nach Warschau und Berlin. Was glauben Sie, Panie Komisarzu, steht uns diesmal ein ähnlicher Krieg bevor?“
An dieser Stelle brach Wojtek Miłosz in schallendes Gelächter aus, nicht jedoch als die Kamera auf ihn gerichtet war, sondern ein paar Stunden später, als er sich den Bericht im Internetfernsehen anschaute. Seine ernste, diplomatische Antwort, die er Pani Szmyt gegeben hatte, war im Grunde belanglos. Miłosz saß alleine im Büro und wartete darauf, zum ersten Gespräch mit seinem Frankfurter Kollegen Bernd Matuszek ins Polizeipräsidium zu fahren. Dabei blätterte er in den Akten des Mordfalls „H. Sommer“ aus dem Winter 2008.
Nach dem Fernsehinterview hatte er seinen an die Bevölkerung gerichteten Aufruf, der Polizei sachdienliche Hinweise mitzuteilen, an die Medien rausgeschickt und einen ersten Bericht geschrieben. Er war zum Polizeikommandanten gerufen worden, der ihm eröffnet hatte, dass Warschau bereits über den Fall informiert war.
„Falls es wieder eine deutsch-polnische Affäre wird“, sagte der Kommandant, „brauchen wir Unterstützung vom Innenministerium. Und da ist es gut, dass die möglichst früh Bescheid wissen.“
„Wurde damals ein Fehler begangen, den ich diesmal vermeiden kann?“, fragte Miłosz.
Der Kommandant überlegte kurz, bevor er antwortete.
„Behandeln Sie die Angelegenheit wie einen ganz normalen Mordfall, schalten Sie die deutsch-polnische Komponente aus Ihrem Denken und Handeln aus. Vertrauen Sie Ihrer Intuition und Ihren Fähigkeiten und lassen Sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie sind ein guter Kriminalpolizist und ich vertraue Ihnen.“
Er machte eine kurze Pause.
„Kommen Sie jeden Nachmittag zwischen 15 und 16 Uhr für eine Viertelstunde zu mir und erstatten Sie mir Bericht. Dann kann ich Ihnen die Presse und Warschau abnehmen.“
Wojtek Miłosz nickte.
„Wie gut ist eigentlich Ihr Deutsch, Miłosz?“
„Sehr gut, Panie Komandancie, ich brauche keinen Dolmetscher.“
„Das ist gut, damit haben Sie einen weiteren Vorteil gegenüber Ihrem Vorgänger. Aber Sie wissen, dass Sie zu offiziellen Gesprächen einen Dolmetscher mitnehmen müssen?“
„Das weiß ich“, antwortete Miłosz.