La Ba’s
Ein Traum aus achtzigundeiner Nacht
Begegnungen auf einer Radreise von den Alpen bis zum
Atlas und retour
Books on Demand
Alles hat zwei Seiten
sagen die Leute
die nicht bis drei zählen können
zu viel, zu kurz Der Spalt unter den verschlafenen Augenlidern gibt den Blick auf die Füße einiger Mitreisenden auf dem Deck frei und weckt Erinnerungen an die letzten Wochen, zerfetzte Gedanken nur - zu viel, zu viel…
Die Füße tätowiert und eine Sohle daran gebunden: Schuhe einer Marokkanerin. Sandalen mit Sohlen aus Autoreifen: Berberlatschen; er läuft und läuft und läuft… Duschorgien mit drei Litern Wasser…
Den Felsen von Gibraltar verpennt - auch den muss ich mir für das nächste Mal aufheben.
Immer wieder stecke ich mir ein unerreichbares Ziel und lasse es weiter wegrücken. Scheinkämpfe im Inneren: Die theoretische Möglichkeit, das Ziel zu erreichen, täglich mehrmals neu errechnet. Starrsinniger Größenwahn. Danach doch kampflose, erleichterte Aufgabe. Die Faszination des Möglichen, des fast beliebig verschiebbaren Horizonts. Die Macht, das unmöglich Geglaubte zu verschenken. Eine Wanderung auf der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit.
War der Aufenthalt in Marokko zu kurz? Er war viel zu kurz. Nur ein Bruchteil der Straßen auf der Landkarte lag schließlich auf der Strecke, nur ein winziger Teil des Landes, vielleicht der am allerwenigsten spektakuläre, ist erforscht worden, zum Teil Dörfer, die so uninteressant sind, dass sich seit Jahren kein Tourist mehr dort hin verirrt hat. Wäre ein stures Festhalten an der vorher vage ausgearbeiteten und viel längeren Route besser gewesen? Wäre es besser gewesen, den Aufenthalt in Marokko zu verlängern und dafür mit dem Bus oder dem Zug nach Deutschland zurückzukehren? Ist die Eile bei der Rückfahrt berechtigt? Zwei Leute haben mich unabhängig voneinander darauf hingewiesen, dass am Mittelmeer demnächst eine Regenzeit beginnt, und Regen kostet Zeit und ist unangenehm beim Radeln. Nach Deutschland sind noch weit über zweitausend Kilometer zu strampeln. Also gilt es jetzt, Tempo zu machen, solange es noch trocken ist. Am Mittelmeer steht der Regen bevor und in den Alpen der Winter.
War die letzte Zeit echt gewesen? War das Marokko? Das Land, in dem es so heiß ist, dass man nicht Rad fahren kann? Nordafrika, wo in Radio und Fernsehen von einer Heuschreckenplage die Rede gewesen war? Ein Land voller Wilder, wo es für einen allein reisenden Ausländer viel zu gefährlich ist?
Wenn die Vorurteile stimmen, muss das bisher ein Traum gewesen sein, die Fahrt in Richtung Marrakesch. Fast nichts ist so eingetroffen, wie es vorgesehen war. Aber gerade das ist es ja, was Reisen interessant macht. Oder Träume?
oder Studieren macht blöd Genau genommen war nichts so richtig geplant gewesen. Die Vorbereitung auf die Reise hatte eigentlich nur in einem Arabischkurs, einem Spanischkurs, stundenlangem Kartenstudium, der flüchtigen Lektüre eines Reiseführers und einem intensiven Konditionstraining bestanden. Das Training hatte es in sich gehabt und das erst zwei Jahre alte Fahrrad so weit verschlissen, dass einige wesentliche Bestandteile ersetzt werden mussten. Da die Ersatzteile aber durchweg höherwertig sind als die Originale, hat das dem Rad insgesamt mehr genutzt als geschadet. Durch die vielen Reparaturen konnten auch wertvolle praktische Einblicke in die Fahrradtechnik gewonnen werden.
Neben den ausgiebigen Tagestouren an den Wochenenden und einer viertägigen Trainingstour über die Großglockner - Hochalpenstraße und ein paar Dolomitenpässe hatte im Sommersemester der Weg zur Uni mit fünfmal hundertdreißig Kilometer pro Woche dazu beigetragen, dass die sportliche Leistung auf der Fahrt eine Nebensache war.
Diese Tour sollte eine Art Entdeckungsreise sein. Entdeckt werden sollte, was über den Weg kam. Und der Weg wurde eigentlich willkürlich auf der Landkarte ausgewählt, mit dem Arbeitsziel Marrakesch und den Vorgaben, große Hauptstraßen und große Städte zu meiden, so weit das nicht zu kompliziert würde. Für Autobahnen und Metropolen sind andere Verkehrsmittel als das Fahrrad besser geeignet.
Die Zeit zwischen dem zweiten und dem dritten Semester passt ganz gut. Spätere Semesterferien werden für Praktika, Prüfungen und Große Exkursionen im Rahmen des Studiums praktisch ausgebucht sein. Aber heuer sind die drei Monate eigentlich frei. Das dürfte gerade für das Vorhaben reichen, und wer weiß, wann sich eine solche Gelegenheit wieder bieten wird. Die Gelegenheit für diese Art von Tour ist auch deshalb „noch günstig", weil das Studium nach zwei Semestern vermutlich noch nicht für eine zu starke Verbildung gesorgt hat, einen Geisteszustand, der es wesentlich erschwert, die eigene Umwelt an sich zu sehen, ohne sie sofort mit Hilfe des im Studium erworbenen Wissens stolz in eine Schublade einzuordnen oder als untypisch zu ignorieren. Noch ist hoffentlich die Fähigkeit vorhanden, sich durch die Außenwelt von seinem Wissen ablenken zu lassen, also zu fragen, zu staunen, nicht nur von Autoritäten zu lernen, zu erleben. Ein Mitstudent hatte das Phänomen der Vergeistigung, des Abhebens von der Außenwelt mit einem Satz auf den Punkt gebracht: Studieren macht blöd. Die Sozialgeographie, die ja verschiedenste Lebensbereiche irgendwie betreffen kann, eigentlich alles, was man sieht und erlebt, ist in dieser Hinsicht womöglich besonders gefährlich. Wenn das, was man da lernen kann, nicht so interessant wäre… Hoffentlich schlagen die negativen Wirkungen noch nicht so stark durch. Ein Neunzehnjähriger mit panischer Angst vor Vorurteilen geht auf Tour.
Es ist nicht meine erste mehrwöchige Radtour, und auch das Rad ist mit etwa dreizehntausend Kilometern bereits gut eingefahren. Hoffentlich bietet es nicht wieder solche technischen Überraschungen wie am Anfang der Jugoslawientour im letzten Juni. Damals waren schon auf den ersten Etappen für Reparaturen und Ersatzteile mehr als ein Tag und das für eine ganze Woche vorgesehene Geld draufgegangen.
Es ist nicht die erste Tour, aber es wird meine erste Reise in ein Land außerhalb Europas sein, falls die Fahrt tatsächlich so weit geht. Es gibt keine Verpflichtung. Bei widrigen Umständen oder wenn es besondere Anreize zu freiwilligen Unterbrechungen gibt, erlaube ich mir auch einen Urlaub in Frankreich oder Spanien. Es besteht also kein Druck.
Am ersten August 1988 um sieben Uhr in der Früh sind Spanien und Marokko noch weit weg. Mit ausreichend Müsli im Bauch und einem frisch überholten Rad geht die Fahrt erst einmal Richtung Österreich. Bis Telfs kenne ich die Strecke schon ganz gut. Ab Imst wird die Strecke neu für mich.
Am blauen morgendlichen Himmel sind nur ein paar Schleierwolken zu sehen. Das ist ungewöhnlich. Praktisch alle meine bisherigen längeren Radtouren waren am ersten Tag verregnet gewesen.
Wie immer setzt der vertraute Kesselberg mit seinen 250 Höhenmetern auf fünf Kilometern die Schweißdrüsen in Gang. Solche Steigungen lockern die Muskeln und regen an. Die Schürfwunde am Knie von vorgestern ist vergessen. Der tiefblaue, von Bergen umsäumte Walchensee kommt mir heute besonders malerisch vor. Inzwischen erkennt man, wenn der Blick auf das Wettersteingebirge frei ist, am Hauptkamm einzelne Quellwolken, die sich um die Gipfel tummeln. Ansonsten ist strahlend sonniges Wetter.
In Mittenwald beginnt ein Anstieg nach Leutasch. Als Training versuche ich, auf den Serpentinen vor der österreichischen Grenze Tempo zu machen, wegen des vielen Gepäcks in einem kleinen Gang, aber dafür möglichst mit höherer und gleichmäßigerer Trittfrequenz. Die Fahrt durch Leutasch ist sowieso erholsam; inzwischen ist die Luft wunderbar warm, und sobald man durch ein Waldstück fährt, sind die Sinne erfüllt von dem süßlichwürzigen Duft und der Ruhe, einer Stimmung, die an Fahrten oder Wanderungen über einsame Wege irgendwo in den Bergen erinnert. Die mir wohlbekannte lange und rasante Abfahrt ins bereits recht aufgeheizte Inntal führt nach Telfs. In dem Städtchen gibt es nicht viele Möglichkeiten, sich zu verfahren: Im Norden sind die Berge und im Süden fließt der Inn. Hält man sich nach Osten, landet man in Innsbruck, orientiert man sich nach Westen, kommt man laut Karte auf jeden Fall auf eine Straße, die nach Imst führt. Und Marrakesch liegt von Telfs aus irgendwo hinter Imst.
In beschleunigtem Tempo geht’s hinter Telfs weiter. Obsteig, war das auch auf der Karte? Müsste jetzt nicht bald Silz kommen? Ohne Kilometerzähler kann man sich leicht verschätzen. Und man sieht weder Inn noch Autobahn. Wahrscheinlich bin ich auf einer Nebenstrecke. Vorerst geht die Straße fast wie bei einem Pass bergauf - zum Holzleitensattel. Steigungen, die man nicht erwartet hat, wirken wesentlich anstrengender als vergleichbare, auf die man geistig vorbereitet war. Dafür ist die Strecke hier so richtig heimelig. Es gibt einfach kaum etwas schöneres, als die Luft von Bergwäldern einzuatmen.
Oben hat man freie Sicht nach Westen. Von dort ziehen Wolken heran. Die Sonne ist schon verdeckt. Da sich Wolken in den Bergen besonders gerne erleichtern, schiebe ich die fällige Brotzeit auf und gehe die Abfahrt sofort an. Vielleicht hält sich das Wetter unten noch länger. Bis Imst bleibt es tatsächlich trocken, aber der Himmel wird zusehends dunkler. Richtung Landeck beginnt es schließlich zu tröpfeln. Da kommt so ein Bushäuschen gerade recht. Sehr bald gesellt sich eine Radfahrerin aus einem Nachbarort dazu, und als der Regen beginnt, stärker zu werden, halten zwei Motorradfahrer an, die über den Reschenpass nach Italien wollen.
Nach einer halben Stunde ist der Guss vorbei, und die Fahrt geht weiter über Landeck in Richtung Nauders. Gut eine Stunde nach Landeck gibt es wieder einen minutenlangen kräftigen Sommerregen, den ich unter einer Autobahn trocken überstehe. Inzwischen hat der Himmel eine derart schmutziggraue Farbe, dass es nur eine Zeitfrage ist, wann der nächste Schauer niedergeht. Das spricht dafür, sich langsam nach einer Übernachtungsmöglichkeit umzuschauen, auch wenn es noch nicht einmal sechs Uhr Nachmittag ist.
Ein paar Pedalumdrehungen weiter liegt ein Haus mit „Zimmer frei” am Weg. 150 Schilling für eine Nacht mit Frühstück sind akzeptabel, so dass die erste Etappe zwar früh, aber trocken und ohne Stress endet.
Der erste Morgen des ersten ganzen Tages der neuen Tour beginnt noch vor dem Frühstück mit einem Studium der Schweizkarte. Ich werde durch das Engadin fahren. Von dort aus gelangt man ohne schwierige Steigungen über den Malojapass zum Comer See nach Italien. Danach käme aber sehr bald die einschläfernde Poebene, und die schönen Pässe, die nach Westen führen, würden alle ungenützt bleiben. Schließlich möchte ich für die heißen Länder Spanien und Marokko noch etwas zusätzliche Kondition aufbauen. Was eignet sich da besser als Passstraßen?
Vom Engadin aus kommen der Flüela, der Albula und der Julierpass in Frage. Der Blick auf die Karte macht die Entscheidung leicht: Die Albulastraße ist gelb eingezeichnet, also als weniger wichtig eingestuft als die beiden anderen, die rot ausgemalt sind. Außerdem verläuft parallel dazu eine Bahnverladung. Beides spricht für relativ wenige Autos. Bis zum Abend müsste Thusis zu erreichen sein, wo zwei Jugendherbergen eingezeichnet sind. Das wären zwar nicht einmal hundertvierzig Kilometer, aber so ein Pass kostet Zeit, und es ist nicht mehr ganz früh.
Wie in Privatunterkünften üblich, ist das Frühstück weitaus reichlicher als in vielen Jugendherbergen, Hotels und Pensionen. Es hält also länger vor als bis zum nächsten Lebensmittelladen. So kann ich bis zur zweiten Mahlzeit schon eine gewisse Strecke zurücklegen. Vorsichtshalber verzehre ich dennoch vor der Abzweigung in das Engadin die obligatorische Packung Müsli mit dem Päckchen Quark und dem Liter Milch. So soll gewährleistet sein, dass das Essen bis zum Anstieg zum Pass, bis zu dem noch etwa fünfundsiebzig Kilometer zu fahren sind, schon in Energie umgewandelt ist und die Verdauung den Körper nicht mehr belastet. Oben wird dann gerade der richtige Zeitpunkt für eine Brotzeit sein. Zwischendurch gibt es Obst nach Belieben und vielleicht ein paar Kekse.
Flach ist die Straße ins Engadin natürlich auch nicht. Und da ich dummerweise erst bei Nauders abgebogen bin, habe ich sehr bald ein tüchtig anstrengendes Stück mit Serpentinen. Links ist meist eine fast senkrecht aufsteigende Wand, und rechts ein Abgrund, der nur durch eine Leitplanke von der Straße getrennt ist. Trennen wollen sich die Gedärme recht bald von ihrem Inhalt. Das zweite Frühstück drängt voll Macht nach, obwohl ich die Steigung wegen des reichlichen Essens sehr vorsichtig angegangen bin. Sie haben sicher einen Rat parat, was man in dieser Situation machen sollte. Aber ob Sie es glauben oder nicht: Hier gibt es ein Platzproblem! Auf der kurvigen und unübersichtlichen Straße kann jederzeit ein Auto daherkommen, dessen Fahrer nicht darauf gefasst ist, dass jemand auf der Fahrbahn eine geschäftliche Sitzung abhält. Der Anstieg links ist zu steil, der Abgrund auch. Ich fahre immer langsamer, um den Darm nicht unnötig zu reizen, so dass noch nicht absehbar ist, wann eine annehmbare Gelegenheit kommen wird. Mit der Zeit, im Laufe ewiger Minuten, erscheint die Fahrbahn allerdings immer breiter, in der Wand tauchen bequeme Tritte und Griffe zum Klettern und Festhalten auf, die Büsche am Abhang werden zu Notsitzen oder Fangmatten, und die Leitplanke bietet sich abwechselnd als Donnerbalken und als Haltestange an. Wie ein wenig innerer Druck die Welt verändern kann!
Nachdem die Leitplanke im Geiste auch noch zum Sichtschutz geworden ist, löst sich das Problem alsbald im Sturzflug. Ob die viele Milch so gedrückt hat? Vielleicht wäre es doch besser, den riesigen Energiebedarf auf mehrere Male zu decken, auch wenn das Zeit kostet und den Fahrtrhythmus unterbricht. Zwar ist jetzt bald ein flacheres Stück erreicht, aber das ist kaum bewaldet und hätte praktisch keinen Sichtschutz geboten. Außerdem wäre es hier womöglich zu spät gewesen. Das Thema ist erledigt, die Luft ist angenehm lau und der Verkehr hält sich in Grenzen. Ein schöner Tag zum Radeln.
Die trainierten Beine strampeln zwar gegen eine sanfte Steigung und ständigen Gegenwind, aber auch so reicht das Fahrtempo aus, im kalkulierten Tageszeitplan zu bleiben. Interessant ist hier, dass die steilen Wände, die direkt über einer Straße liegen, so aussehen, als ob sie extra eingegipst worden wären, um Steine daran zu hindern, auf die Fahrbahn zu fallen.
In Susch, wo es wieder Abzweigungen gibt, wird wieder ein Blick auf die Karte fällig sein. Bis dahin kann man entspannt in dem von Bergen und Matten umsäumten Tal spazierenfahren und -denken. Ab Susch gilt es dann, sich die Strecke bis zur Passstraße zu merken: Bei Zernez in Richtung St. Moritz orientieren und nach Zuoz und vor allem nach Madulain verschärft aufpassen.
So flach die Strecke erschienen ist, sind doch von Tösens, das etwa auf 900 Meter Höhe über dem Meeresspiegel gelegen ist, bis zur Abzweigung zum Pass laut Karte schon fast 800 Höhenmeter geschafft, auf 1687, mehr als drei Kesselberge. Bis zum Albula mit 2312m sind es also nur zweieinhalb Kesselberge. Neun Kilometer sind es von Madulain bis zum Pass, also durchschnittlich sieben Prozent Steigung und laut Karte maximal zwölf Prozent, das geht bei meinem Vortraining auch mit Gepäck recht flüssig. Das Frühstück ist schon ausreichend verdaut und bildet zusammen mit dem Obst und ein paar Keksen eine sehr gut passende Unterlage für so einen schweißtreibenden Anstieg.
Zwischendurch hat eines der Pedale ein Knacken hören lassen. Dabei ist es erst zehn Tage alt, und der Verkäufer hat versichert, dass er persönlich die Lager besonders gut gefettet und extra gewissenhaft gekontert hat. Vielleicht war das Knacken ja harmlos. Und wenn nicht: Die vorigen Pedale haben am Anfang auch geknackt, aber lauter. Dann waren sie bald ruhig. Wie sich nach dreizehntausend Kilometern herausstellte, waren die Kugeln einfach zermahlen worden, was aber die Funktion nicht erheblich beeinträchtigt hatte. Eine Überprüfung an der Passhöhe, ob das Pedal womöglich zu viel Spiel hat, ergibt keine Auffälligkeiten. Also geht’s nach der Brotzeit und nachdem das T-Shirt getrocknet und das Radtrikot und noch ein Hemd übergezogen worden sind, ab zu den letzten 45 Kilometern über Tiefencastel nach Thusis.
Natürlich messen sich auch andere mit dem Albulapass. Was sagt man einem Radler, der einem nach gut fünf Minuten rasanter Abfahrt keuchend entgegenkommt und fragt, wie lang der Anstieg noch dauert? Schätzen! Hauptsache er weiß, dass es keine Stunde mehr ist.
Als die Strecke flacher wird, treffe ich einen jungen Lehrer, der sich für die nächsten Kilometer als Begleiter und Windschatten anbietet. Er macht auch gerne Radtouren und übernachtet bevorzugt in Heuschobern. An seinem Rad fällt mir auf, dass der Dynamo hinter dem Tretlager am Hinterrad montiert ist. Bei den Tunnels macht er ihn mit dem Fuß an und aus. In Tiefencastel trennen sich unsere Wege. Als die Abenddämmerung hereinbricht, sehe ich schon Thusis. Kurz vor dem Ort weist ein Schild nach links zu einer Jugendherberge.
Das klappt ja wieder flott.
Nach dem fast obligatorischen steilen Anstieg ist die Jugendherberge bald erreicht. Wenn nicht die üblichen JHV-Schilder neben der Tür angebracht wären, hätte ich sie für eine größere Almhütte gehalten und wäre vorbeigefahren. Als ich anklopfe, dauert es einige Zeit, bis jemand öffnet, ein Gast. Der erzählt, dass das Haus gerade an eine Gruppe vermietet und voll belegt ist. Kein Problem, laut Karte gibt es noch eine Jugendherberge in der Nähe.
Inzwischen ist es stockfinster. Im Dunklen suche ich die Hauptstraße, und nach etwa einer Stunde und etlichen Befragungen in Straßencafés stehe ich endlich vor der Herberge. Schilder weisen in einen Hinterhof, wo eine hölzerne Freitreppe in den ersten Stock zu den Schlafräumen führt. Eine Rezeption ist allerdings nicht zu entdecken. Die anderen Gäste meinen, dass da wohl niemand mehr da wäre. Aber bezahlen muss man ja sowieso erst am Morgen, im benachbarten Gasthaus. Um nicht noch einmal auf Herbergssuche gehen zu müssen, vertage ich weitere Fragen bezüglich der Aufnahmeformalitäten. Rasch hole ich das Gepäck, stelle das Rad zu den anderen Velos, breite meinen Herbergsschlafsack in einen der Schlafräume für Jungen und mache im Aufenthaltsraum noch Brotzeit, bevor womöglich das Licht zur Nachtruhe gelöscht wird. Schlafende Herbergseltern soll man nicht wecken. Zwischen Brotzeit und Nachtruhe bietet eine sehr nette junge Bahnbeamtin ein Buch über außergewöhnliche unerklärliche Phänomene zur Lektüre und als Gesprächsstoff an.
Jetzt kann nichts mehr passieren: Niemand kontrolliert mehr die Gäste und einer ungestörten Nacht steht nichts mehr im Wege.
Am Morgen packe ich zeitig das Rad auf und schließe mich den anderen an, sobald sie zum Zahlen in das benachbarte Restaurant pilgern. Wegen der zahlungswilligen Menge hat die Frau an der Kasse keine Zeit, sich über den Gast zu wundern, der die sieben Franken auf den Tisch zählt, aber keine Papiere hinterlegt hat. Bis sie mit den anderen zehn fertig ist, ist dieser schon längst unterwegs Richtung Süden, über die Via Mala und den San-Bernadino-Pass.
Mit Via Mala ist wahrscheinlich eine Straße entlang der Wand einer tief eingeschnittenen Schlucht gemeint. Links von der Leitplanke ist eine senkrechte Felswand fast zum Berühren nah. Stellenweise könnte man sie vielleicht tatsächlich erreichen, wenn man sich hinüberbeugen würde. Von einer solchen Turnübung rät ein fernes Rauschen aus der Tiefe ab. Zwischen der Straße und der zum Greifen nahen Wand ist nämlich eine über hundert Meter tiefe Schlucht, die im Laufe von Millionen von Jahren von dem Bach in den Fels gefräst worden ist, der jetzt in der Tiefe dahinrauscht und sein Werk unermüdlich fortsetzt.
Bis zu einer größeren Steinbrücke über den Hinterrhein nach dem gleichnamigen Ort steigt die Straße zwar mäßig, aber fast stetig, zermürbend stetig an. Dabei wäre dem Körper nach dem Frühstück eigentlich ein Flachstück zum Verdauen lieber. So sind die Beine bis zur Rheinbrücke doch recht schwer. Dort bereiten sich einige Radfahrer mental auf den Anstieg zum San Bernadino-Pass vor. Da unter dem Pass ein Autobahntunnel verläuft, ist die Strecke voraussichtlich recht ruhig und deshalb gut geeignet zum Rad fahren.
Einer der versammelten Radler, mit denen ich ins Gespräch komme, ist ein leicht ergrauter drahtiger Mann mit Rennrad, der sich zur Stärkung ein paar Schlucke aus seiner Trinkflasche genehmigt. Ein anderer ist ein kleiner sehr junger Rothaariger mit auffallend muskulösen Beinen. Der hat kein Rennrad, sondern wie ich ein Tourenrad mit Rennlenker. Seine vier Packtaschen sind mit eleganten blauen Nylonhüllen überzogen.
Der Tourenfahrer sammelt bei jeder Gelegenheit Pässe. Inzwischen hat er schon fast neunzig bezwungen. Wie der wohl Pass definiert? Auf dieser Tour hat er jedenfalls seit einer Woche nicht mehr in Höhen unter 1500 Metern übernachtet. Und heute ist er schon über den Splügenpass gefahren. Den Bernadino braucht er nur zum Sammeln. Oben will er wieder umdrehen.
Bis zum Pass, der mit 2065 Meter auf der Karte eingezeichnet ist, sind nur noch knapp 450 Höhenmeter zurückzulegen. Daher besteht keine Eile. Nachdem der ältere Gesprächspartner losgefahren ist, unterhalten wir uns noch etwa zehn Minuten über das woher und wohin. Aber irgendwann muss die Steigung doch angegangen werden. Wir sehen uns oben. Bis gleich! Auf dem längeren Flachstück vor der eigentlichen Steigung zieht der junge Sammler gleich so flott an, dass er im Nu etliche hundert Meter Vorsprung gewinnt. Die Strecke ist kaum bewaldet, so dass er öfters auf einer höheren Serpentine zu sehen ist, routiniert und gleichmäßig fahrend wie ein Uhrwerk und den Vorsprung ziemlich genau haltend. Mit einem Zwischenspurt könnte man ihm schon näher kommen, aber was sollte das bringen außer einem roten Kopf, wie ihn der drahtige Rennradfahrer von vorhin hatte, den wir beide erstaunlich bald überholt haben? Der Junge hat garantiert noch Reserven, und wenn er herausgefordert wird, packt er die womöglich aus. Das Ergebnis wäre ein kraftraubendes Rennen und eine wegen Erschöpfung und nachlassender Konzentration erhöhte Verletzungsgefahr.
Sich darauf einzulassen, nur um ein paar Minuten schneller zu sein und den anderen vielleicht zwischendurch einmal zu überholen, wäre einfach dumm. Also wird der nicht gerade mörderisch steile Anstieg einfach zügig und gleichmäßig angegangen, mit dem Ehrgeiz, bei jeder Möglichkeit das Tempo zu beschleunigen, aber ohne aus dem Sattel zu gehen und ohne außer Atem zu kommen. Da der andere den Vorsprung hält, muss er wirklich ein recht guter Fahrer sein. Jedenfalls ist er oben ebenfalls nicht außer Atem. Da wir beide noch einiges vorhaben, unterhalten wir uns nur ein wenig im Stehen, bis der Schweiß angetrocknet ist. Zum Abschied tauschen wir noch kurz Komplimente aus: Du bist verrückt, gerade so zum Spaß mitsamt Gepäck auf einen Pass zu brettern und gleich wieder abzufahren. Der Verrückte bist du, wenn du auf dem Weg nach Marokko noch einen Umweg über den Albula und den San Bernadino machst. Als schließlich nach gut zehn Minuten der Rennradfahrer ankommt, ist der Sammler schon wieder auf dem Rückweg. Nach einer Brotzeit an einer windgeschützten Stelle unterhalb des Passes gehe ich die Abfahrt zum Lago Maggiore an.
Da es in Locarno noch nicht einmal dämmert, bleibt genügend Zeit, eine günstige Unterkunft außerhalb der Stadt und abseits vom See zu finden. Orte an großen Seen sind in Deutschland für ihr hohes Preisniveau bekannt. In der Schweiz wird das nicht anders sein. Wahrscheinlich wirkt die Seeluft in solch einem reichen Land sogar stärker auf die Preise.
Richtung Westen geht ein Tal weg, Centovalli, das hört sich nett an. Da ist es garantiert ruhiger als in dem dicht besiedelten Gebiet um die Seen herum. Campingplätze scheinen allerdings rar zu sein. Statt dessen sind an allen schönen Plätzen Schilder aufgestellt, dass dort Feuer machen und Campen verboten ist. Am besten nehme ich den ersten Campingplatz, der auf dem Weg liegt. Neuneinhalb Franken ohne Zelt und Auto ist nicht billig, aber die Übernachtung ist somit legal, und man darf auf eigenen Wunsch im Voraus zahlen. Sonst könnte ich am nächsten Tag nicht vor neun aufbrechen, weil erst ab dann die Pforte besetzt ist.
Mitten in der Nacht beginnt es zu regnen. An und für sich ist das nichts Ungewöhnliches, aber wenn man ohne Zelt im Freien schläft, trotzdem durchaus erwähnenswert. Da ich nicht zum ersten Mal mitten in der Nacht von einem Regenguss überrascht werde, ist eigentlich alles für diesen Fall vorbereitet: In trockenen Nächten dient der Regenponcho als Verlängerung der Schlafsackunterlage, die zusammengerollte Jacke als Kissen. Der Rest ist in den Packtaschen verstaut. Bei Regen wird der Schlafsack zusammengerollt und in einen Müllsack gesteckt, die Jacke angezogen und der Poncho übergeworfen. Mit dem gut verpackten Schlafsack als Sitzkissen, und den Poncho mit etwas gutem Willen als Zelt betrachtend, kann man einen normalen Regenguss sitzend ganz gut warm und leidlich trocken überstehen. Das hier ist aber mehr ein Wolkenbruch, und zwar ein dauerhafter. Deswegen suche ich eine trockene Ecke im Waschraum, der um diese Zeit sowieso praktisch verwaist ist.
Bis zum nächsten Morgen hat es sich eingeregnet und der Himmel lässt weit und breit kaum Tageslicht durch. Weil vermutlich die Regenwolken in dem Tal festhängen, verlege ich die Richtung für die Weiterfahrt kurzerhand direkt nach Süden, weg von den Bergen in die Poebene.
Etwa ab Ascona lässt der Regen tatsächlich langsam nach, und hört nach einer Stunde endlich auf. Jetzt kann ich einen ruhigen und trockenen Platz für das Frühstück suchen. Bis zur italienischen Grenze ist der Regen dann schon fast vergessen. Jetzt geht es den restlichen Tag lang schnurgerade durch eine unendlich weite Ebene, oft mit gefluteten Reisfeldern.
Als sich die Sonne langsam dem Horizont nähert, werden in den Pausen, in denen ich die Karte studiere, die Mücken zur Plage. Ihre Körper färben die erhitzten schweißnassen Beine schwarz. Wenn man die hungrigen Tierchen wegstreift, bleibt eine Blutspur an den Händen und Beinen. Die lange Hose, die ich der Blutsauger wegen anziehe, geht nur bis zu den Knöcheln. Da die Schuhe noch nass sind vom Regen am Morgen, habe ich keine Socken an, und die nackten Knöchel sind den Moskitos ausgeliefert, die sich an den Halts umso gieriger auf dieses letzte Stück Haut stürzen. Gut, dass ich im Gepäck ein Fläschchen mit einem Öl habe, das so übel riecht, dass es sogar Moskitos auf Distanz hält.
Bei Tricelli, einem Dorf am Po, beginnt es zu dämmern. Vor einem Café auf dem Platz vor der Kirche sitzen etliche Männer. Hier frage ich nach einer Übernachtungsmöglichkeit. In Italien kann man sich auch recht flüssig unterhalten, wenn man die Sprache nicht beherrscht. Ein paar Brocken Italienisch verraten den guten Willen, und bei dem Temperament der Leute ist es sowieso üblich, zum Reden neben dem Mund noch die Hände und Füße zu gebrauchen. Mein Gesprächspartner ist ein anständig aussehender Mann um die fünfzig, der sofort erfasst, worauf es ankommt. Wie kommst du mit den Moskitos zurecht? Ich habe ein Öl dagegen. Gut, wenn du ein Öl hast, weiß ich einen Platz: In der Nähe ist eine Kapelle, da kannst du dich daneben hinlegen. Da stört dich niemand. Du erreichst sie noch, bevor es dunkel ist.
Die Kapelle, die mitten zwischen Reisfeldern und Moskitos liegt, ist gleich gefunden. Nach einer kleinen Brotzeit werden Gesicht und Hals nochmals mit der stinkenden Brühe eingerieben, dann der Schlafsack am Hals gut zugezogen. Tatsächlich bleibt die summende blutgierige Wolke auf Distanz, am Abend ungefähr einen halben Meter und bis zur Morgendämmerung immerhin noch ein paar Zentimeter. Bevor die ersten stechen, bin ich schon wieder unterwegs.
Heute steuere ich über Cuneo die Seealpen an. Der Anblick der bunten kleinen Felder zwischen den Hügeln südlich der Poebene ist so erfrischend, dass die Steigungen, die ab jetzt wieder den Kurs beherrschen, kaum stören. Nur das Knacken in den Pedalen beunruhigt mich. Darum kümmere ich mich besser, bevor die großen Pässe kommen. Vor einem Jahr ist mir mitten in den Bergen ein Bremsseil gerissen, und das nächste Geschäft mit Ersatzteilen war vier steile Abfahrten mit insgesamt mindestens zweitausend Höhenmetern und nur einer Bremse weiter. Haben Sie gewusst, dass Bremsklötze sich verformen, wenn sie zu heiß werden? Etwas Vergleichbares soll hier vermieden werden. Meine Pedale müssen noch einige tausend Kilometer halten.
Die erste Untersuchung zeigt, dass das knackende Pedal im Lager ein klein wenig Spiel hat. So etwas kann auf Dauer ungleichmäßige Rillen in den Konen und Lagerschalen zur Folge haben, ist aber leicht zu beheben, wenn man den Fehler sofort korrigiert. Als ich das Lager öffne, kommen mir Eisenspäne entgegen. Der Mechaniker hat den äußeren Konus wohl so stark mit der benachbarten Mutter gekontert, dass bei der ersten starken Belastung, dem Albulapass, das Gewinde beschädigt worden ist. Und inzwischen hat sich das Lager mehr Platz geschaffen. Die weitere Untersuchung zeigt, dass die Späne vom Gewinde der Pedalachse stammen. Aber glücklicherweise lässt sich die Mutter mit etwas Vorsicht noch einmal kontern. Jetzt, da die Schwachstelle bekannt ist, kann man sie ja besonders im Auge behalten. Ob die Konen, Lagerschalen und Kugeln noch intakt sind? Weit kann es nicht fehlen. Aber als unverhofft in einem kleinen Dorf ein Fahrradgeschäft direkt am Weg liegt, kaufe ich doch zur Vorsicht einige Kugeln und wechsle sie gleich neben dem Geschäft aus. Die Frau des Händlers stellt im Vorbeigehen erfreut fest, dass sie ein Rad der gleichen Marke hat. Um sie nicht zu entmutigen, verschweige ich ihr, mit welch minderwertigen Teilen meines am Anfang ausgestattet war. Ein Ahaaa mit einem Lächeln muss genügen.
Diesmal ergeben sich beim Zusammenbauen des Lagers schon leichte Schwierigkeiten mit dem kaputten Gewinde. Wenn man aber die Beilagscheibe zwischen dem Konus und der Kontermutter weglässt, kann letztere zu einem Teil auf dem unbeschädigten Gewinde greifen. Hoffentlich reicht das. Es muss reichen. Die Beilagscheibe kommt vorerst in eine Schachtel voller Schrauben, Muttern, Beilagscheiben, Sprengringen und dergleichen. Die gehört zum Bordwerkzeug, seit einmal mitten auf einer Tour Samstag Mittag die Befestigungsschraube des Gepäckträgers gebrochen ist.
Nach der kleinen Operation geht die Fahrt bei schönstem Wetter weiter in Richtung Cuneo. Jetzt können die Seealpen kommen. Als kurz nach Cuneo der Abend dämmert, liegt gerade ein Campingplatz am Weg. Dort kann ich mir endlich das stinkende Insektenabwehröl abwaschen. Zwei Campingplatznachbarn sind mit dem Rad von den Seealpen gekommen, wo sie mit leichtem Gepäck Tagestouren über höhere Pässe unternommen haben.
Zeitig am nächsten Morgen breche ich zum 1997 Meter hohen Col de Maddalena beziehungsweise Col de Larche auf. Diese ersten 1400 Höhenmeter sollen zum Aufwärmen für den Col de la Bonette dienen, den höchsten Straßenpass in den Alpen mit 2802 Metern. Wenn es geht, möchte ich ihn heute noch erreichen. Die Fahrt geht ganz zügig, so dass ich zur Mittagspause den Maddalena und damit die Grenze zu Frankreich passiere. Hier ist gerade keine Wechselstube geöffnet, aber entlang der Abfahrt kommt sicher noch ein Ort, wo man wechseln kann. Morgen ist nämlich Sonntag, ich muss also für zwei Tage einkaufen.
Gegen zwei Uhr ist Jausiers erreicht, wo eine Straße zum Col de la Bonette abzweigt, das letzte Dorf auf dem vorgesehenen Weg, das heute noch vor dem späteren Abend zu erreichen ist. Der dortige Lebensmittelhändler will aber keine Lire annehmen. Er weist darauf hin, dass man in Barcelonnette wechseln kann. Das liegt auf 1132 Meter, sicher hundert Meter tiefer als Jausiers, von da wären 1670 Höhenmeter zum Bonette zurückzulegen, und es ist schon Nachmittag. Ich könnte einfach die Route zu ändern und nach Westen durch das Tal des Flusses Ubaye abfahren. Dagegen spricht, dass von dort her dunkle Wolken aufziehen. Die Chancen, trocken davonzukommen, stehen sicher besser, wenn ich den Wolkenstau nach oben verlasse, über den Bonette. Außerdem ist die Aussicht, über den höchsten Straßenpass der Alpen fahren zu können, ist einfach zu verlockend. Barcelonnette ist gleich erreicht, und nachdem etliche Francs eingewechselt und zum Teil in Brot und Käse umgetauscht sind, geht’s etwa um halb vier zügig zurück zum Anstieg zum Bonette, der sonnenbeschienen aus der bewölkten Umgebung herausragt.
Wie lange ich für die 1670 Höhenmeter brauchen werde? Nach Erfahrungswerten müsste es in dreieinhalb Stunden zu schaffen sein. Auf dieser Tour ist allerdings das Gepäck schwerer als sonst. Dazu kommen die Vorräte für den Sonntag und die eisernen Reserven für mögliche Zwischenfälle, die einen längeren Aufenthalt in den Bergen nötig machen könnten. Der Respekt vor der unbekannten Strecke hält auch davon ab, sich vorschnell zu verausgaben. Zudem ist die Landschaft mit ihren majestätischen Hügeln, die rotgrün in der Sonne prangen, zu schön, um mit verbissenem Tempo durchrast zu werden. Obwohl die Berge mit ihren sanft gerundeten Formen viel harmonischer aussehen als die schroffen Kalkalpen, führt die Straße weit weniger gleichmäßig bergauf als zum Beispiel die Großglockner-Hochalpenstraße, bei der ein ähnlicher Höhenunterschied zu bewältigen ist. Zwischendurch, zum Beispiel nach dem Col de Restefond, geht es sogar leicht bergab. Ein paar Höhenmeter muss man also doppelt bewältigen. Auch das trägt dazu bei, dass die Fahrt insgesamt langsamer vorangeht. Die Zeit behält dagegen ihr Tempo bei. Noch während des Anstiegs wird die Landschaft in ein wunderschönes Abendrot getaucht, das bald einem klaren Sternenhimmel weicht. Mühsam tastet die Fahrradlampe jetzt in der Dunkelheit den Weg ab.
Was hat man von einem Pass im Dunkeln? Wenn man fährt, eigentlich nichts. Aber über sich sieht man ein Sternenmeer, wie man es im Flachland nie erblickt, weil sich dort in dem Schleier aus überall verdunstetem Wasser auch noch unzählige künstliche Lichter streuen. Der Pass ist kaum befahren, so dass man sich im wahrsten Sinne des Wortes unbehelligt nahe der Straße in den Schlafsack rollen kann. Es ist zwar recht windig auf über 2700 Metern, aber ein Jugendherbergsschlafsack als zusätzliches Innenfutter hilft, den Wind und die Kälte abzuhalten. So verpackt kann ich den herrlichen Blick in den Sternenhimmel vor dem Einschlafen ungetrübt genießen. Eine Sternschnuppe? Noch eine! Sind die alle für mich? Nein, im August gibt es einfach besonders viele. Aber die Wünsche gelten! Doch was soll ich mir mehr wünschen als das, was ich habe: Eine klare Augustnacht in den Bergen.
In der Morgendämmerung nehme ich die restlichen paar Kurven zum Pass. Oben steht schon ein Auto. Zweiter. Na gut, aber erster Radfahrer. Auf dieser Höhe wundert man sich, dass an geschützten Stellen richtige kleine Wäldchen wachsen können, wo doch zu Hause schon ab 1800 Metern nur noch Büsche und vereinzelte Bäumchen mit deutlichen Frostschäden zu finden sind. Nach einem Frühstück in der einsamen Landschaft aus gigantischen fast kahlen runden Hügeln gehe ich die Abfahrt an, 2300 Höhenmeter bis St. Sauveur. Wegen der vielen Längs- und Querrillen in der Asphaltdecke wird das Tempo nicht allzu rasant. Hier ist fast alles geboten, was einen Zweiradfahrer aus der Spur bringen kann. In einem kleinen Dorf fülle ich aus einem öffentlichen Brunnen die Wasserbehälter nach. Außerdem gibt es in einem kleinen Geschäft Obst. Ja, in Frankreich bekommt man auch sonntags Lebensmittel. Ein paar rasante Minuten später fällt mir auf, dass die Handschuhe fehlen, die ich am Brunnen ausgezogen habe. Ich sollte mir angewöhnen, nachzuprüfen, ob alles gut verstaut ist, bevor ich losfahre. Der steile Weg zurück ist umsonst: Sie liegen weder auf der Straße noch am Brunnen.
Beim Umfüllen der Lebensmittel, sprich bei zwei Brotzeitpausen lasse ich die Landschaft noch einmal auf mich wirken, bevor ich wieder in flachere, üppiger bewachsene und dichter besiedelte Regionen komme. Nebenbei winke ich genussvoll kauend den Radfahrern zu, die sich zum Col de la Bonette hinaufquälen. Tatsächlich scheint die Anzahl der Radfahrer mit der Höhe der Pässe zuzunehmen. Wir sind lauter Verrückte. Und die kommen auch noch von der Südseite! Die müssen einen Höhenunterschied von mindestens 2000 Metern überwinden. Dabei wird es immer wärmer.
Um der wegen des allgemeinen Nepps verrufenen Côte d’Azur aus dem Weg zu gehen und noch etwas von den Bergen zu haben, biege ich bei St. Sauveur kurzerhand nach Westen ab. Dort führt eine recht steile Straße an Roubión vorbei. Das ist ein kleines Dorf, das hoch über der Straße mitten in der rötlichen Felswand zu hängen scheint. Wahrscheinlich wäre es ein kleines Abenteuer, den Ort mit einem Fahrzeug zu besuchen. Aber ich habe das Gefühl, dass es heute besser ist, den Frieden in der hängenden Siedlung nicht zu stören und mich mit dem Anblick zufrieden zu geben. Eine Schleife würde ich dem Dorf wünschen, ein rosa Band mit einer riesigen Schleife, das die Häuser zusammenhält und verhindert, dass einzelne davon beim nächsten Wind oder Regen auf die Straße hinunterpurzeln.
Der ausschlaggebende Grund, der mich von einem Besuch in dem Dorf abhält, ist wohl der, dass mir bis auf Weiteres die Lust vergangen ist, mehr Höhenmeter als nötig zurückzulegen. Die unerwarteten Steigungen sind wie gesagt die schwersten. Auf der Karte waren für die Strecke nur Schlangenlinien eingezeichnet, aber kein Pass. Daher habe ich hier ein harmloses Bergauf und Bergab erwartet. Statt dessen führt die Straße stundenlang fast ständig bergauf, durch eine malerisch karge Berglandschaft mit immer neuen wilden Felsformen.
Das ist der Nachteil, den Karten der Maßstab 1:800 000 bei einem dichteren Streckennetz oder einer feiner gegliederten Landschaft hat. Aber ich wollte einfach nicht noch mehr Karten mitschleppen, die ich letztendlich doch nur ein paar Tage lang brauche, wenn überhaupt. Normalerweise kann man das Relief einer Strecke auch an Hand von Karten mit kleinerem Maßstab erraten. Aber dazu gehört ein wenig Erfahrung mit vergleichbaren Strecken. Jetzt weiß ich zum Beispiel, dass ich auch auf Straßen, die parallel zum Gebirgshauptkamm führen, mittelhohe Pässe erwarten muss, sofern die Straße nicht an einem Fluss entlangführt.
Aber ich will mich nicht beschweren. Wer weiß, ob ich über diese nette ruhige Passstraße mit dem Ausblick auf das malerische Dorf gefahren wäre, wenn ich gewusst hätte, was für eine Anstrengung hier auf meine nach Entspannung lechzenden Beine zukommt? Es wäre natürlich auch denkbar, dass ich mit einer genaueren Karte eine noch schönere Strecke gefunden hätte. Vielleicht käme ich aber dann vor lauter Kartenstudium gar nicht zum Fahren.
Genauso unerwartet wie die Länge der Steigung ist die Passhöhe selbst, die ich endlich auf einer Höhe von 1678 Metern über dem Meeresspiegel erreiche: der Col de la Couiolle. Im gut zweihundert Meter tiefer gelegenen Beuil kann ich mich dann entscheiden, ob ich noch einmal einen Pass der gleichen Größenordnung mitnehme, oder einfach dem Lauf der Var folge.
Gewitterwolken im Westen machen die Entscheidung leicht, nach Süden ins Gorges du Cians abzubiegen, ein rotes enges Tal. An manchen Stellen stehen die Felswände hier zu nahe beisammen, um neben dem Flüsschen eine mehrspurige Straße zu bauen. Dafür sind in gebührendem Abstand von den Engstellen Schilder mit einer Hupe aufgestellt. Die Autofahrer sollen also hupen, bevor sie auf das Straßenstück ohne Möglichkeit zum Wenden zufahren. In der hohen, engen Schlucht ist die Akustik sicher ausreichend, und Hupen ist schön, aber wer hat Vorfahrt? Momentan ist praktisch kein Verkehr, aber was passiert, wenn tatsächlich zwei Autos aus entgegengesetzten Richtungen bei einem Engpass zusammentreffen? Vielleicht ist es so: Beide hupen und fahren, treffen sich in der Mitte, fluchen je nach Temperament laut oder leise und müssen sich darauf einigen, wer zurücksetzt.
Als ich nach dem Tal nach Westen abbiege, macht sich eine gewisse Ermüdung bemerkbar. Ob Gegenwind herrscht, ob es unmerklich bergauf geht, oder ob die Bergetappen der letzten Tage in die Beine gehen? Jedenfalls schaue ich heute schon früh am Nachmittag nach einer Unterkunft aus. Da eine Dusche hochwillkommen wäre, gilt das Augenmerk vor allem einem Campingplatz. In einer Privatunterkunft eine Dusche zu erwarten, wäre vermessen. Dort wird erfahrungsgemäß oft schon stolz darauf hingewiesen, wenn fließendes Wasser vorhanden ist. Wenn man duschen möchte und sonst nur einen Platz zum Schlafen braucht, sind Campingplätze oder Jugendherbergen sicher vorzuziehen.
Entrevaux fällt zunächst durch seine imposante Mauer auf, aber mit etwas Suchen lässt sich auch ein einfacher und billiger Campingplatz finden, auf dem es wirklich nicht mehr gibt, als man unbedingt braucht: Platz zum Hinlegen, Duschen, große Waschbecken für die Wäsche. Da es noch nicht spät ist, nutze ich die Gelegenheit zu einem Waschtag.
Der nächste Tag bringt zwar keine großen Pässe, wird aber trotzdem anstrengend. Erstens liegen doch immer wieder unspektakuläre aber sehr wohl merkbare kleine Pässe auf dem Weg, wie der Col de Felines mit 930 oder der Col de Laval mit 1100 Metern. Außerdem fängt es bisweilen zu regnen an. Dann muss ich die Wäsche in Sicherheit bringen, die auf dem Gepäckträger zum Trocknen über den Schlafsack gespannt ist. Sobald ein Schauer länger anzudauern droht, ziehe ich den Regenponcho über. Sobald der nass ist, kommt die Sonne heraus und ruft mit Macht Schweißausbrüche hervor. Ist der Poncho wieder sicher verstaut und möchte man eigentlich auch die Wäsche wieder an die Luft spannen, wird der Himmel wieder schwarz und die Wolken erleichtern sich in einem kurzen Regen, der gerade lange genug dauert, um mich zum Anziehen des Ponchos zu bewegen und diesen wieder nass zu machen, bevor dann abermals die Sonne…
Alles in allem finde ich das Wetter jedoch gnädig. Für die bescheidenen Mühen, die ich ja freiwillig auf mich nehme, entschädigt mich der überall gegenwärtige grandiose Anblick der steilen kreuz und quer aufgeworfenen, also in alle Richtungen gestreiften Felswände. An einer großen Staumauer sehe sich ein Beispiel, wie sich ansonsten abgrundtief hässliche monströse Bauwerke praktisch nahtlos in die Natur einpassen können: Die hohe schmale Betonmauer hat mit ihren grauen Querstreifen genau die gleiche Farbe und Struktur wie die natürlichen Felswände, die sie verbindet. Sogar die Flecken stimmen überein. Fast könnte man die Mauer für eine natürliche Fortsetzung der Felswand halten, wenn nicht die kleinen Vorsprünge und Einbuchtungen, die beim natürlichen Vorbild mit Büschen und tapferen Bäumen besetzt sind, an der Staumauer von schlichten Eisengeländern eingefasst wären.
Nach einem mäßigen Anstieg erreicht man den Stausee, der zur Mauer gehört, und auch als der See schon lange außer Sichtweite ist, grinsen noch diese ewig hohen, jetzt grau - gelb gestreiften Wände wie schmutzige Zahnreihen. Das Zahnfleisch bilden die dicht bewachsenen Schuttrampen, zwischen denen der Verdon sich ein immer schmaleres und tieferes Bett durch sein Tal gräbt. Obwohl jedes nicht allzu steile Stück von einem Busch okkupiert wird, wirken die Wände fast blendend hell, da die Sonne jetzt um halb sieben wieder ungehindert die ganze Szenerie beleuchtet.
„Schau, der Berg hat seine Wände nicht geputzt, da kleben ja noch ganze Büsche auf den Vorsprüngen!”
„Oh, ja, wirklich: alles grün - und diese gelben Flecken!”
„Na ja, halb so schlimm - gleich morgen werden wir den Schwefeldioxidausstoß erhöhen. Da wird der Regen den Dreck schon wegätzen!”
Bei La Palud Sur Verdon ist von Wolken oder gar Regen keine Spur mehr zu sehen. Da ich morgen nach der sehr kurzen Etappe früher aufbrechen will, stelle ich mein Rad auf den Campingplatz, der zur Jugendherberge gehört. Der ist vor allem von deutschen Motorradfahrern bevölkert. Zwischen deren Maschinen fällt das Fahrrad nicht weiter auf.