Fotos aus dem Stadtarchiv Goslar, aus Privatbesitz und mit freundlicher Genehmigung der Goslarschen Zeitung und des Lion-Clubs Goslar-Kaiserpfalz
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© 2014 Hannelore Giesecke
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH
ISBN: 978-3-7386-8831-3
Lazarettstadt Goslar 10. 04. 1945
Foto: Janos Bondy
Wie war es denn wirklich, als der Krieg zu Ende war, als die Amerikaner Goslar besetzten und nachher die Engländer kamen?
Eine fachkundige, kompetente Aufarbeitung des damaligen Geschehens in Goslar ist noch nicht erfolgt und gegenwärtig auch kaum durchzuführen, da etliche der umfangreichen städtischen Archivalien, die den Zeitraum ab 1945 betreffen, leider zu den wegen Schimmelbefalls ausgelagerten und nicht zugänglichen Beständen des Stadtarchivs gehören, wie zum Beispiel die Akten Ernährungs- und Wirtschaftsamt, Wohlfahrtsamt, Jugendamt, Sozialamt, Polizeiverwaltung, Kulturamt, Kämmerei, Liegenschaftsamt, Bauamt, Amt für Statistik.
Erst nach einer intensiven reinigenden und trocknenden Behandlung dieser Bestände wird eine archivische Bearbeitung möglich sein.
Auch die Goslarsche Zeitung erschien in diesen Jahren nicht, erst wieder Ende 1949. Daher kann vorerst die oben gestellte Frage fast nur mit Hilfe der überlieferten Erinnerungen von Zeitzeugen beantwortet werden, und die sind ungemein vielschichtig, zum Teil sehr ähnlich, aber auch oft widersprüchlich. In der Wertung kommt es dabei auf den Betrachter an.
Im Stadtarchiv Goslar findet man dazu in den zugänglichen „Kleinen Erwerbungen“ und den Akten „Verfügungen und Bekanntmachungen der Militär-Regierung 1945-47“ etliche kleinere und größere Berichte, Vermerke, Notizen, Aufrufe, Schreiben und Briefe, deren Inhalt sehr Verschiedenartiges der fraglichen Zeit darlegen.
Den ‚Zulieferern‘ dieser Zusammenstellung aus vielen kleinen bunten Teilchen, sei an dieser Stelle herzlichst gedankt.
Die Anregung, mit diesen – partiell sehr persönlichen – Erlebnissen etwas Erhellendes in das Grau der Besatzungszeit zu bringen, stammt von meinem Sohn Donald, der auch die geschichtlichen Erklärungen zusammenstellte.
Goslar, im Oktober 2014
Hannelore Giesecke
Zum Ende des Krieges war ich noch keine 18 Jahre alt, und mein Tagebuch aus jenen Tagen ist dementsprechend natürlich kein umfassendes Zeitdokument, wenn ich auch vom Bahnhofsdienst und vom Katastropheneinsatz in Hildesheim eindrucksvoll berichtete.
So steht unter dem 1. Februar 1945: … Wir haben gestern Abend Menschen geholfen, die seit 11 Tagen aus Thorn unterwegs sind. Sie haben mehrmals die überfüllten Züge an sich durchfahren lassen müssen. Sie erzählten uns Entsetzliches. Viele Frauen verloren die Nerven, wurden wahnsinnig und durchschnitten sich und ihren Säuglingen und Kleinkindern die Kehlen …
Und am 2. April 1945: … Hildesheim sieht schlimm aus. Man erkennt die Altstadt nicht wieder. Alles Trümmer und Schutt. … Wir haben in Hildesheim toll geschuftet. Es war nicht einfach für uns. Man mutete uns tatsächlich manches zu, was wir uns niemals hätten träumen lassen …
7. April 1945: … Goslar soll nun ja endlich und endgültig zur Lazarettstadt ernannt worden sein. Wir haben augenblicklich über 5.000 Verwundete hier liegen. Am Achtermann, Niedersachsen <Hotel Niedersächsischer Hof> usw. <alles Lazarette> sind schon die weißen Rote-Kreuz-Fahnen aufgezogen. Alle Lazarette sind überfüllt, dauernd kommen noch neue Transportzüge …
Am Donnerstagabend beim Bahnhofsdienst <während des Fliegeralarms> habe ich ein junges Ehepaar mit einem 12 Wochen alten Jungen aufgelesen. Sie sind vierzehn Tage lang immer vor den Amis her geflohen; sie kamen aus dem Westerwald. Die Keller in der „Bergkanne“ <Gasthof> und in der „Hans-Schemm-Schule“ <Volksschule Bäckerstraße – genannt nach dem Gründer des NS. Lehrerbundes-> waren schon überfüllt. Mir tat das Lüttche so leid, da habe ich sie mit nach Haus genommen. Nun sind die Schm.s noch hier. Er hat heute seine Einberufung nach Stendal bekommen. Frau Schm. wird bleiben, ob bei uns, ist noch fraglich.
8. April 1945: Der Feind steht unmittelbar vor Goslars Toren. … Jeden Augenblick kann es „Feindalarm“ geben. Wir bleiben natürlich hier. Wo sollten wir auch noch hin?
Der Oberharz wird sehr wahrscheinlich verteidigt …
Heute Nachmittag wurde nun wirklich der Flugplatz gesprengt. Gestern Morgen ging’s schon wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Sämtliche Fenster und Türen wurden aufgesperrt, um den entstehenden Luftdruck auszugleichen. Nun war es ja gar nicht so schlimm. Es hat nur so ein bißchen gerumst.
11. April 1945: Sie sind da! Gestern um ½ 2 Uhr <13.30> kündete die Sirene den Feind an … Eine Unmenge von amerikanischen Panzern, Lastwagen, Autos usw. hat unsere Stadt besetzt. … weiße Fahnen … der Oberbürgermeister soll es so angeordnet haben. …
Wir sind in der Nacht noch einmal kurze Zeit im Keller gewesen, denn irgendein Geschütz schoß derart, daß Fenster und Türen klapperten und das ganze Haus dröhnte. …
Heute früh klebten überall Bekanntmachungen an den Häusern. Nur in der Zeit von 9-12 Uhr darf ein Familienmitglied das Haus zum Einkaufen verlassen. Das ist wenig Zeit, weil man überall so lange anstehen muß …
Die unwahrscheinlichsten Berichte über den Einzug der Amerikaner und die Geschehnisse an den Tagen davor kursierten in der Stadt. Widersprüchlichst die Anordnungen über Verteidigung oder kampflose Übergabe, weiße Fahnen oder nicht: Der Aufruf im „Harzer Tageblatt“ vom 7. April Nur der Kampf kann den Sieg bringen! gezeichnet vom Oberbürgermeister (der davon nichts gewußt haben wollte) und vom Kreisleiter (der schon bald seiner bereits davongegangenen Familie gefolgt war) gegen die Durchsage vom Lautsprecherwagen am gleichen Tag abends Goslar keine Festung!
Der Chef der Firma „Fotokopist“ – später „Reprografia“. Janos Bondy, schrieb: Der Dienstag 10. 4. begann mit strahlendem Sonnenschein. Vormittags war ich – wie immer – im Büro, um noch einige wichtige Vorbereitungen bezw. Eingrabungen unter die Erde zu veranlassen. Gegen 11 Uhr rief mich Ruth an, daß auf jede Raucherkarte zusätzlich die fast unheimlich scheinende Menge von 240 Stück Zigaretten pro Person abgegeben werde. Das war eigentlich das erste Anzeichen höchster Alarmbereitschaft. Durch einen glücklichen Umstand gelangte ich mittags schon nach wenigen Minuten Wartezeit in den Besitz der uns zustehenden 480 Zigaretten. Nach dem Mittagessen zu Hause ging ich nochmals kurz ins Büro, um von dort einen Leiterwagen zu holen, den Berthe zum Kartoffelkaufen benötigte. Um 13 Uhr 40 Min. heulte die Sirene. Sie schien nicht enden zu wollen. Jetzt war es also so weit. Ich raste mit dem Leiterwagen durch die Breite Strasse nach Hause. Ganz Goslar raste. Die Menschenschlangen vor den Geschäften lösten sich in rasende Einzelkörper auf. Es wird ein unvergessliches Bild bleiben, wie die ganze Strasse in wilder Bewegung war. Ich landete zu Haus. …
Danach: Draussen geschah nichts. Die unheimliche Stille wurde nur sehr selten durch teils nahes teils entferntes Schiessen unterbrochen. …
Etwa gegen 15 Uhr 30 Min., als immer noch Ruhe herrschte und nirgends ein Schuss fiel, wagten wir uns in die Stadt hinein. … Einige wenige amerikanische Militärwagen standen mitten auf dem Marktplatz, vor ihnen patrouillierend amerikanische Soldaten, umringt und bestürmt von Goslars Kindern. So sahen also die Barbaren aus, jeder einzelne mit einer Zigarette im Mund. Auf unserem weiteren Spaziergang durch die Strassen begegneten wir vielen Amerikanern, zu Fuss, auf Wagen und Motorrädern, teils in friedlichstem Gespräch mit der Bevölkerung. … Vom Bahnhof in Richtung Ernährungsamt und weiter stauten sich in grosser Zahl die amerikanischen Wagen, Panzer usw. Vor ihnen standen und lagen die Soldaten, essend, rauchend, Cognac und Sekt trinkend. Ihre Gesichter braun gebrannt, alle gut aussehend, wohl genährt und sympathisch im Ausdruck. Wir besahen uns das Schauspiel etwa 1 Stunde lang und bewunderten die fabelhafte Ausrüstung. Dazwischen sausten die kleinen wendigen Militärautos fast geräuschlos umher, es roch viel nach Benzin, ein schon lange vermisster Geruch hier in Deutschland.
Wir waren alle ganz benommen und verwirrt bei dem Gedanken, dass jetzt, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, amerikanische Soldaten und Kraftwagen durch Goslars Strassen zogen.
Vom Güterbahnhof, wohin die Menschen strömten, kamen sie zurück, schwer bepackt mit riesigen Kartons, Säcken, auf Leiterwagen, Kinderwagen und sonstigem Gefährt. Auf dem Gelände wimmelte es von Menschen, die in den aufgebrochenen Güterwaggons wühlten und im wahrsten Sinne des Wortes plünderten. Nicht die Amerikaner, nein die Deutschen und sonstigen Ausländer, die sich hier aufhielten. Sie schleppten Tausende von Zigaretten heraus, Säcke mit Erbsen, die sich über die Erde ergossen, wo das Volk wühlte und kratzte. Auf den Güterwagen standen die Leute und warfen herunter: Treibriemen, Gurte, Gummischläuche, Sohlenleder, Konserven und vieles mehr.
Plötzlich schritt deutsches Bahnpersonal ein und vertrieb das Volk vom Gelände. Um einen Sack Erbsen zankten sich einige deutsche Frauen mit Ausländern, als ein Bahnbeamter dem Streit ein Ende bereiten wollte und den Sack wegnahm. Die Ausländer stürzten sich auf ihn, es entstand eine wilde Schlägerei, die Kämpfer lagen am Boden, mit dem Erfolg, dass sich das übrige Volk über den Sack hermachte. Endlich erschienen amerikanische Soldaten und vertrieben mit 3 Schuss aus ihren Gewehren die gesamte Menschenmenge.
Dann vor der Post. Ein amerikanisches Militärauto fuhr vor. Die Amerikaner verlangten Einlass in die noch von deutschen Beamten verschlossene Tür. Nach einigem starken Klopfen öffnete ein deutscher Postbeamter, mechanisch grüssend mit erhobener Hand „Heil Hitler!“ – „Nix mehr Heil Hitler machen!“ erwiderte der Amerikaner und verschwand mit dem Beamten in der Post. …
Dann zog ich heimwärts, wo unsere Nachbarn – bisher überzeugte Nationalsozialisten- gerade damit beschäftigt waren, die bereits im Keller versteckten Hitler-Bilder zu zerschneiden und die Bronze-Büsten ins Wasser zu werfen.
Mein Eindruck vom ersten Tag der Besetzung: Ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Bevölkerung.
Während ich hier schon seit fast 3 Stunden schreibe, erbebt unsere kleine Wohnung von dem schweren Artilleriefeuer, das die Nähe der tobenden Schlacht verkündet.
Im Schimmerwald waren die Munitionslager gesprengt worden. Dazu Tagebuchnotizen von Horst-Günther Lange: Lochtum. Am 10. April abends rückten die Panzer ohne Widerstand in Vienenburg ein. – In den frühen Abendstunden dieses Tages erhielt <Lochtums> Bürgermeister Bosse die amtliche Mitteilung: Heute abend wird die Muna im Schimmerwald gesprengt. Die Einwohner sollten das Dorf verlassen und möglichst im Norden oder Westen des Ortes Schutz suchen.
Gegen 20 Uhr brach die Dunkelheit ein. Überall aus den Häusern kamen Menschen mit angstverzerrten Gesichtern, Männer und Frauen, Mütter mit weinenden Kindern.
Viele strebten dem „Kalten Brunnen“ zu, um an der Böschung gegenüber dem „Feuerteich“ vor dem Detonationsdruck sicherer zu sein. Andere zogen weiter ins ‚Gebiet‘ oder in die Lehmkuhle. Gegen 21 Uhr brach die Hölle los. Die Menschen hatten Anweisung erhalten, sich so eng wie möglich an den Boden zu pressen und den Mund zu öffnen. Plötzlich zuckte die Erde, während gleichzeitig im Südosten ein greller Feuerschein den Himmel erhellte. Sekunden später erschütterte eine furchtbare Detonation die Luft. Eine Sprengung folgte der anderen, über zwei Stunden lang.
Den Rückkehrern ins Dorf bot sich ein furchtbares Bild. Überall auf den Straßen lagen zerbrochene Dachziegeln und Glasscherben. In den Wohnungen waren Türen und Fenster aus den Angeln gerissen, auf den Fußböden befand sich zentimeterhoch Mörtel und Staub. Die meisten Dächer wiesen riesige Löcher auf.
Den Tagebuchaufzeichnungen des Direktors des Gymnasiums, Werner Brökelschen, kann man entnehmen, daß aus dem Rathaus telefonisch Weisung erfolgt war, weiße Fahnen zu hissen, obwohl der Gauleiter Lauterbacher noch am Sonntag, 8. April, in seinem Aufruf an alle Volksgenossen darlegte: Nur an wenigen Stellen wurde die weiße Fahne gehißt. In allen diesen Fällen hat das Standgericht sofort gesprochen; dort wo das Standgericht infolge der Feindbesetzung nicht einschreiten konnte, hat der Werwolf gesprochen.
Zu allem Wirrwarr kam noch hinzu, daß im Siemensviertel ein Abgesandter der Kreisleitung alle Häuser mit weißer Flagge in ein Verzeichnis eintrug, was die dortigen Bewohner so erregte, daß sie dem Mann fast mit Gewalt die Notizen entrissen.
Fest steht, daß die amerikanische Truppe angesichts der Lazarettstadt-Schilder und der großen weißen Rote-Kreuz-Fahnen vor der Stadt verharrte, einen Boten mit einem US-Kampfwagen zum Rathaus schickte, der das Stadtoberhaupt zu Verhandlungen über Kampf oder Übergabe Goslars zur Stadtgrenze herbeordern sollte.
Bei dem „Boten“ handelte es sich um einen Heißumer Polizeibeamten, der mit dem Fahrrad seine minderjährige Tochter, die in einem Goslarer Haushalt beschäftigt war, aus der gefährdeten Stadt Goslar holen wollte, auf seiner Fahrt von den amerikanischen Panzern überholt wurde und an der Hildesheimer Straße den entscheidenden Auftrag erhielt.
Tatsächlich feuerten noch versprengte Soldaten und fanatisierte Hitlerjungen vom Fuße des Nordbergs oberhalb der Füllekuhle auf die anrückenden amerikanischen Panzer.
Der Oberbürgermeister im Rathaus beauftragte dann telefonisch den Stadtkämmerer, Heinrich Wulfert, der sich befehlsgemäß bei Auslösung des Feindalarms sofort von zuhause aus zum Befehlsstand am Oberen Triftweg begeben hatte, für ihn die Verhandlungen mit dem Führer der amerikanischen Panzertruppe an der Stadtgrenze aufzunehmen. Begleitet wurde Wulfert vom Stadtsyndikus Dr. Rudolf Böttcher.
Die Verhandlungen über kampflose Übergabe der Stadt, sofortiges Einstellen der Feindseligkeiten und weiße Fahnen an allen Gebäuden gestalteten sich ziemlich schwierig. Goslars Schicksal hing wirklich am seidenen Faden.
Wulfert berichtete darüber: Alsdann begaben wir uns in den Wagen des Autovermieters Julius Niethammer und fuhren durch Nonnenweg, von-Garßen-Straße, Am Heiligen Grabe zur Astfelder Straße. Bereits am Eingang zur Straße Am Heiligen Grabe wurde der Wagen von Ecke „Astfelder – Hindenburg- <jetzt Klubgarten-> Straße“ durch im Anschlag befindliche MG- und Maschinenpistolen-Schützen gezwungen zu halten. Böttcher, Niethammer und ich gingen dann zusammen zum Führer der Panzertruppen, der an der Straßenkreuzung die Männer erwartete. Panzer waren aufgefahren in der von-Hindenburg- und Astfelder Straße und laufend rollten weitere an. …
Der Kommandant verlangte außerdem, sofort den Schützen am Nord- und Steinberg den Befehl zu geben, daß diese das Feuer einstellten.
Ich ging dann mit Böttcher zum Schieferweg, wir wollten zunächst versuchen, zum Kampfkommandanten, Oberer Triftweg, zu gelangen, um festzustellen, was für Truppen noch in Goslar waren, um danach die entsprechenden Entschlüsse zu fassen.
<Dabei waren, wie u.a. im Bericht des Kommandanten der Nachrichten Ersatz-und Ausbildungsabteilung 3 der Waffen-SS in Goslar, Helmut Bäume, ersichtlich ist, alle einsatzfähigen Soldaten bereits aus Goslar abgezogen worden.>
Wir wurden jedoch von den amerikanischen Schützen gezwungen, die Richtung wieder zu wechseln und zum Schieferweg abzubiegen.
Das Ziel: „Feuer einstellen“ erreichten sie vorerst nicht, wohl aber weiteres Hinhalten mit dem Führer der amerikanischen Panzertruppen, mehrmaliges Hin- und Herfahren zwischen Stadtgrenze, Rathaus, Befehlsstand und Lazarett Achtermann.
Der Oberbürgermeister hatte inzwischen mitgeteilt, daß er die Stadt verlasse. Böttcher und ich hielten uns dann für den Empfang eines amerikanischen Befehlshabers weiter auf dem Rathaus bereit. Nach einiger Zeit erschien dann Major Rogers mit einem deutschsprechenden amerikanischen Offizier. Mit diesen wurde dann im Senatorenzimmer verhandelt. …
Ich wurde darauf von dem Major Rogers zum Bürgermeister bestellt und mir eine entsprechende in englischer und deutscher Sprache ausgefertigte Urkunde ausgehändigt.
Schon am nächsten Tag wurden viele Häuser – besonders am Stadtrand – durch die Amerikaner beschlagnahmt, und die Bewohner mußten umgehend und oft ganz und gar ohne irgendwelche Habseligkeiten ihre Wohnungen verlassen. Zum Teil dauerte die Belegung durch die Besatzungsmacht mehrere Jahre. Auch etliche Hotels wurden requiriert und die Gäste vertrieben, wie zum Beispiel im Hotel „Kaiserworth“, in dem nun 20 amerikanische Offiziere Quartier nahmen.
Heinrich Wulfert 1957
Karl-Heinz Knoke berichtete über das „Kriegsende 1945 in Oker“: … am Dienstag, dem 10. April 1945. Wir waren zur Schule gegangen, aber ein Unterricht fand nicht mehr statt.
… Ehe alle Jugendlichen den Schulhof verließen, wandte sich Lehrer Binder, er war Hauptmann der Reserve, insbesondere an die Schüler der älteren Jahrgänge und appellierte an sie, entgegen der Propaganda des damaligen Regimes, sich nicht an irgendwelchen feindseligen Aktionen gegen die anrückenden Amerikaner verwenden zu lassen.
Um die amerikanischen Truppen am Heinrich Wulfen 1957 Vormarsch zu hindern, sollte im Bereich der Straße Im Schleeke, zwischen der <später> dort befindlichen Shell-Tankstelle und den Fabrikgebäuden der jetzigen Firma H.C. Starck, durch Volkssturmleute eine Panzersperre errichtet werden. Aufgefordert dazu wurden die Volkssturmmänner durch die für sie zuständigen NS-Zellenwarte am 10. April 1945 gegen 11 Uhr. Es erübrigt sich eigentlich zu bemerken, daß die Sperre nicht mehr gebaut wurde! Ohnehin hatte ein älterer realistisch denkender Betriebsingenieur der Firma Borchers den ‚Planern‘ der Panzersperre vorgehalten, die Zermalmungskraft eines Panzers wohl stark zu unterschätzen, und daß es für einen solchen eine Kleinigkeit sei, die Gebäude zu zerstören, um die Sperre zu überwinden. Schließlich wolle man auch nach Kriegsende ein intaktes Werk weiter betreiben.
Die einrückenden Amerikaner ließen dann den Okerschen Arzt Dr.Kurt Brinkmann und einige seiner Nachbarn als „Schutzschild“ den Panzern bis über die Harzburger Brücke vorauslaufen.
In der Nacht vom 10. zum 11. April wurden die unterirdisch im Schimmerwald bei Stapelburg angelegten Munitionsbunker (Muna) gesprengt. Die Detonationen wirkten sich selbst in Oker noch so stark aus, daß vielfach der Putz von den Zimmerdecken fiel.
Kartenausschnitt Schimmerwald bei Bad Harzburg – Britische Besatzungszone 1945
Erika Wellner geb. Bothe hatte an diesem markanten Tag richtig Glück; sie erinnerte sich: Wegen einer Erkrankung wurde ich aus der Munitionsfabrik Diekholzen bei Hildesheim, in der wir Arbeismaiden (RAD) kriegsdienstverpflichtet arbeiten mußten, vorerst beurlaubt. Vom März bis April ’45 weilte ich in der Naturklinik „Jungborn“ in Eckertal zur Kur.
Vom letzten Aufenthalt zu Haus in Goslar nahm ich am 8. April mein Fahrrad mit zum „Jungborn“, um beweglicher zu sein, was sich dann als gute Entscheidung erwies. Als am 10. April die Amerikaner sich immer weiter näherten, wurde uns Patienten frei gestellt, nach Haus zu fahren. Ich nahm meinen Koffer und fuhr mit dem Fahrrad los.
Durch den Schimmerwald und Oker in Richtung Goslar. An der Okerstraße wurde ich von „Volksstürmern“ und Hitlerjungen am Weiterfahren gehindert. Sie standen mit Panzerfäusten bewaffnet an der Straße, um die Panzer aufzuhalten. Ich konnte deshalb nur auf Um- und Nebenwegen am Petersberg vorbei zur Wohnung in der Kornstraße fahren, die ich ziemlich erschöpft erreichte.
Es dauerte dann auch keine Stunde mehr, bis die amerikanischen Panzer vom Marktplatz kommend, die Kornstraße hinunterfuhren. Wir sahen damals die ersten dunkelhäutigen Soldaten auf den Panzern.
Damit begann die Besatzungszeit, und für uns war der Krieg vorbei! Leider noch nicht für alle Deutschen.
Daß sie nur um wenige Stunden dem ziemlich gefährlichen Inferno im Schimmerwald entkommen war, wurde der damals 19-Jährigen erst später klar.
<1886 hatten die Brüder Adolf und Rudolf Just zwischen Stapelburg und Eckertal in der freien Natur ein Sanatorium nach den Grundsätzen der wieder entdeckten Naturheilkunde eingerichtet, in dem nach den Heilmethoden: Licht, Luft, Lehm und Wasser die Patienten Heilung erfuhren, darunter berühmte, wie zum Beispiel Franz Kafka und Hans Albers, bei Freikörperkultur aber noch mit getrennten Damen- und Herrenparks.
Unter russischer Besatzung wurde es als Lungenheilanstalt genutzt, aber im Zuge des Ausbaus der innerdeutschen Grenze zur Grenzsicherung 1961 abgerissen, denn das Gelände des so lange Zeit sehr erfolgreichen Unternehmens lag zwischen den beiden Todeszäunen.)
Von einem anderen Patienten, der nach schwerer Krankheit Anfang April ’45 nach Ilsenburg zur Kur geschickt worden war, hörte seine Frau in Goslar nach der Besetzung durch die Amerikaner nichts mehr. Die Post war eingestellt, eine Verbindung nach Ilsenburg bestand nicht. Erst als die Straßen nach den Kampfhandlungen wieder frei waren, gelangte die Frau nach Ilsenburg und mußte dort im Sanatorium erfahren, daß ihr Mann bereits vor Wochen verstorben und längst beerdigt war. Die Umbettung zum Goslarer Friedhof konnte dann nach über einem Vierteljahr erfolgen.
Aus Othfresen wurde erzählt, daß die Zuckerfabrik und der Schafstall mitten im Ort brannten, daß eine Granate die Kirchturmuhr traf und daß 5 blutjunge Landser vom Flakgeschütz, 16-17 jährig, aus Erdlöchern dreimal auf die anrückenden amerikanischen Panzer schossen, von Granaten ‚niedergemäht‘ und später auf dem Othfresener Friedhof betattet wurden. Sechs ältere Flaksoldaten hatten sich in Sicherheit gebracht und wurden mit Zivilkleidung versorgt.
Der ‚Tag der Befreiung‘ oder die ‚Stunde Null‘ werden offiziell mit der Kapitulation Deutschlands und damit der Niederlage der nationalsozialistischen Diktatur auf den 8. Mai 1945 festgeschrieben. Für viele Regionen war dieser Tag allerdings entsprechend früher, je nachdem, wann die Besatzung durch alliierte Truppen begann. Für Goslar galt also der 10. April 1945 als Ausgangspunkt für eine in jeder Hinsicht ungewisse Zukunft.
Mit der Konferenz der Alliierten in Jalta auf der Halbinsel Krim vom 4. bis 11. Februar 1945 der ‚Großen Drei‘ – US-Präsident Theodore Roosevelt, der britische Premierminister Winston Churchill und der sowjetische Diktator Josef Stalin – konkretisierte sich die Behandlung Deutschlands nach seiner Niederlage. Bereits hier wurden die unterschiedlichen Interessen deutlich, am Ende des unruhigen Verlaufs der Konferenz war für Deutschland der Beschluß der ‚Großen Drei‘ von Bedeutung, daßeine vollständige Entwaffnung und Entmilitarisierung Deutschlands sicherzustellen und hohe Reparationszahlungen zu leisten sind. Darüber hinaus wurde Frankreich zur vierten Macht der alliierten Kontrolle Deutschlands. Die gemeinsame Verwaltung der Hauptstadt Berlin wurde von ursprünglich drei Sektoren auf vier Sektoren erweitert.
Im November 1943 bereits hatte sich die ‚Anti-Hitler-Koalition‘ in Teheran für eine Zergliederung Deutschlands ausgesprochen, auch der ‚Morgenthau-Plan‘ stand noch im Raum. Dieser – benannt nach dem US-amerikanischen Finanzminister Henry Morgenthau – sollte Deutschland zum Agrarland ohne Industrie umstrukturieren. Doch eine kontrollierte deutsche Industrie erschien nicht nur sicherer, sondern auch den eigenen wirtschaftlichen Interessen der Alliierten sowie der erhofften Neuordnung Europas mehr zu entsprechen.
Auf der ‚Potsdamer Konferenz‘ vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 wurden die Weichen für die Neuordnung Deutschlands und damit für das künftige Europa gestellt. Ergebnis war das ‚Potsdamer Abkommen‘. Obwohl es sich nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag handelte, wurden Gültigkeit und Wirkung der Verabredungen eingehalten.
Am 5. Juni 1945 wurde in der ‚Berliner Deklaration‘ öffentlich bekannt gegeben, daß die oberste Regierungsgewalt in Deutschland von den Vertretern der vier alliierten Mächte wahrgenommen wird: Dwight D. Eisenhower für die USA, Marschall Georgij Schukow für die UdSSR, General Jean de Lattre de Tassigny für Frankreich und Feldmarschall Bernard Law Montgomery für Großbritannien. Im Grunde handelte es sich um das erste Zusammentreffen des Alliierten Kontrollrates.
Der Alliierte Kontrollrat tagte monatlich drei Mal bis zum März 1948, als der Vertreter der Sowjetunion die Sitzung verließ. In zwölf Fachressorts, sgn. ‚Direktoraten‘, die Ministerien vergleichbar und jeweils mit vier Leitern besetzt waren, wurden in Kommissionen und Unterausschüssen die Verordnungen, Proklamationen und Befehle entworfen und im viersprachigen Amtsblatt veröffentlicht.
Bedingt durch die Einteilung der Besatzungszonen zogen sich die US-Amerikaner aus Thüringen, Sachsen und Mecklenburg zurück und übergaben Anfang Juli 1945 diese Gebiete an die Sowjetunion. Berlin hingegen wurde gemäß der Sektoreneinteilung unter den Alliierten aufgeteilt. Offizieller Sitz der Besatzungsmächte war zwar Berlin, doch die Hauptquartiere und Arbeitsstäbe der westlichen Alliierten lagen in ihren Zonen. Die Briten hatten ihr Hauptquartier verteilt: Das militärische Oberkommando befand sich in Bad Oeynhausen, die britische Militärregierung in Lübbecke, Minden und Herford.
Vor Ort war dieser komplizierte Verwaltungsaufbau wenig bekannt, weil die lokale Militärregierung die oberste Instanz war, die das Alltagsleben bestimmte. An Litfaßsäulen und in sonstigen öffentlich zugänglichen Bereichen wurden die Anordnungen angeschlagen und so die Bevölkerung informiert.
In der britischen Besatzungszone wurde – entgegen dem Potsdamer Abkommen – der historische Landkreis Blankenburg durch die Zonengrenze geteilt. Von den 24 Gemeinden fielen 18 Gemeinden mit der Kreisstadt Blankenburg zur sowjetischen Zone und wurden den Nachbarkreisen Quedlinburg und Wernigerode zugeschlagen. In der britischen Zone verblieben die 6 Gemeinden Braunlage, Hohegeiß, Zorge, Wieda, Bad Sachsa und Walkenried und wurden ab dem 1. Juli 1946 bis 1972 zum ‚Landkreis Blankenburg‘ mit der Kreisstadt Braunlage vereinigt.
Werner Brökelschen am 12. April: Wir leben scheinbar in tiefstem Frieden. … Trotz der äußeren Ruhe ist aber jeder unruhig. Die Leute erzählen, eine neue Währung werde festgesetzt. Die Geschäfte bleiben deshalb am Freitag geschlossen.
Das Wirtschaftsamt ist wieder in Tätigkeit <ab 25. April erfolgte die Ausgabe neuer Lebensmittelkarten>, geschlossen sind die Banken, Post, Bahn, Schulen. Das Gymnasium ist mit einer Abteilung belegt, die sich „Black Fish“ nennt.
Eine Gefahr bilden die vielen ausländischen Arbeiter, die nun keine Arbeit mehr haben u. wegen der ausfallenden Werksverpflegung hungern. Über 1000 sollen heute morgen am Feuergraben gelegen haben. Es sollen Plünderungen u. viele Diebstähle vorgekommen sein. Sie sollen aber auch die Aschentonnen nach Kohlstrunken usw. durchsucht haben. Der Kommandant hat einen Anschlag angeklebt, in dem sie aufgefordert werden, Ruhe zu halten u. in ihren Quartieren zu bleiben. Man werde für ihre Verpflegung sorgen. Sobald wie möglich würden sie in ihre Heimat befördert.
Dem Bericht von Janos Bondy kann man vom 19. April entnehmen: Zur Durchführung der öffentlichen Ordnung wurden von der amerikanischen Militärregierung deutsche und ausländische Zivilpersonen eingesetzt, die eine weisse Armbinde mit der Aufschrift „M.G. (Military Government) Police“ tragen und einzig und allein einen Spazierstock als Bewaffnung mit sich führen. Es wäre zweckmäßiger gewesen, diese Aufsichtsorgane mit einer Schusswaffe zu versehen, denn die jetzt frei herumlaufenden und plündernden russischen Gefangenen sind zu einer derartigen Landplage geworden, dass vor allem der tägliche Lebensmitteleinkauf mit nicht unerheblichen Gefahren verbunden ist. Die Russen verschafften sich mit Gewalt Zutritt zu den von Menschen belagerten Geschäften und holten sich unter Ausübung des Faustrechts das Gewünschte. Das amerikanische Militär konnte nur in den seltensten Fällen einschreiten und auch nicht verhindern, dass sich ein Teil dieser finsteren Kerle widerrechtlich bewaffnete. Bei dem Versuch, dieser Bewaffnung entgegenzutreten, wurde unter anderem unser Haus-Nachbar – Besitzer eines Sägewerks-, der als Hilfspolizist eingesetzt war, von den Russen erschlagen. Heute ist er beerdigt worden.
Es war der Stellmachermeister Otto Pöhlig, ebenfalls wurde der Schuhmachermeister Fritz Bartels bei dieser Auseinandersetzung getötet.
Auf dem notdürftigen Ausweis, einem kleinen Papierblatt ohne offiziellem Aufdruck oder Stempel für den auxiliary policeman <Hilfspolizist> stand außer Name, Adresse und Kennkarten-Nummer: To circulate from 07.00 – 19.00 in Goslar – Local-Police. Issued 4/23/45 (unleserlich unterschrieben). <Zum Umlaufen von 07.oo-19.oo Uhr in Goslar. Orts-Polizei. Ausgestellt 23. 4. ’45.>
Ausgeherlaubnis 11. 04. 1945 bis 23. 04. 1945; Quelle: Klaus Helmbrecht
Die damals 65jährige Witwe Elly Bentz erzählt: Heute ist der 15. <April> und ein Sonntag. Noch immer dürfen wir nur von 9-12 Uhr auf die Strasse, für Kinder bitter schwer, und wir Erwachsenen könnten den herrlichen Sonnenschein ebenfalls gut gebrauchen nach den Tagen der Sorge und Angst. Ich ging, als ich die Glocken hörte, um 10 Uhr aus dem Haus <Glockengießerstraße>, um mir ein wenig Trost aus der Kirche zu holen. Kaum war ich um die Ecke gebogen, hörte ich von weitem dauerndes Rufen der Strassenpolizei (deutsche Männer mit weisser Armbinde): „Strasse frei, Strasse frei“, und sah Männer, Frauen und Kinder zurücklaufen. Auch ich drehte um und hörte, dass die freigelassenen Russen sich bewaffnet und nachdem die Amerikaner zum Teil abgerückt waren, der Strasse bemächtigt hatten. In unserem Stadtviertel hatten sie geplündert, waren dann vor der Polizei in den Wald geflohen, aus dem man sie gerade wieder herausgeholt hatte, mit dem Erfolg, dass sie wieder in die Stadt hineinliefen. Zwei Polizeibeamte und zwei Zivilpersonen waren schwer misshandelt worden. …
Bei meinem Kaufmann B. im Hause, auch sonntags waren die Geschäfte geöffnet, sassen zwei männliche Personen, um die Brotausgabe zu überwachen … während in der Innenstadt der Pöbel schon zwei Bäckereien gestürmt hatte.
Am 16. und 17. April hatte sich alles wieder so weit beruhigt, dass wir uns ohne Gefahr wieder auf die Strasse wagten, nur hörten wir, dass die Ausländer, Russen und Polen, arg auf dem Fliegerhorst gehaust hatten, leider auch Einheimische. Der Begriff zwischen Mein und Dein hatte sehr gelitten. Selbst Bürger glaubten, ein Recht an dem gesprengten Fliegerhorst zu haben. Ganze Schränke, Möbel, Betten, Nähmaschinen waren abtransportiert worden.
Dazu Werner Brökelschen vom 16. 4. ’45: Seit heute morgen wird von den lieben Goslarern die von den Russen geräumte Kaserne geplündert. Alles Mögliche u. Unmögliche wird mitgenommen, vom Mobiliar, Betten, Schreibmaschinen, Geschirr bis zum Brennholz. Ich ging hin, um es anzuschauen. Es sah trostlos aus. Noch am späten Abend sah man vor allem die Kinder der Nachbarschaft Sachen von dort heranschleppen. Wir wundern uns, daß z.B. Frau H. oder Herr D. ihren Kindern das nicht verbieten. Dasselbe wird heute wieder vom Flugplatz berichtet. Noch heute, 8 Tage nach der Sprengung holen die Leute Sachen dort weg. Auf einem Wagen allein standen 3 Schreibtische und 2 Schränke.
Vom 17. 4. :Heute am Spätnachmittag erschien ein Flugblatt der Militärregierung, in dem alle diejenigen, die sich auf dem Flugplatz, den Kasernen und SS-Baracken Gegenstände angeeignet hatten, zu sofortiger Rückgabe aufgefordert wurden. Eine unangenehme Sache für die Plünderer, jetzt offen vor allen Leuten diese Sachen zum Sägewerk Hering bringen zu müssen. Haussuchungen sind angedroht.
Rückgabe von geplünderten Sachen 17. 04. 1945; Quelle: Klaus Helmbrecht
Und doch blieb vieles für lange oder sogar für immer verschwunden. Das kann man nachlesen in den Erinnerungen von Louis Ferdinand Wentz, der seit 1939 auf dem Fliegerhorst Goslar stationiert war und dessen Familie das ‚Adjutanten-Haus‘ im Flugplatzgelände seit 1943 bewohnte, ein ‚Haus von besonderer Schönheit‘, aus dem seine Frau aber mit den Kindern und geflüchteten Verwandten von den Amerikanern in ein Gasthaus in Immenrode evakuiert wurde.
Rückgabe von geplünderten Sachen 17. 04. 1945; Quelle: Klaus Helmbrecht
Der ehemalige Offizier Wentz hatte sich nach schwerer Verwundung bei Küstrin in den letzten Apriltagen aus einem Lazarett in Berlin-Tempelhof auf abenteuerliche Weise nach Lübeck in seine Heimatstadt absetzen können. Von dort wollte er, erst halb genesen, nach Goslar zu seiner Familie, von der er seit Ende März nichts mehr gehört hatte.
Als ich das 1. Mal bei der Militärregierung vorstellig wurde, einen „permit-Erlaubnisschein“ zu erhalten, um über die Elbe zu kommen – Schleswig-Holstein war völlig abgeschlossen vom übrigen Deutschland- wurde mir bedeutet:
„You must be farmer“. Woher sollte ich Bauer werden?
Da bemerkte ich, daß mein Versehrtenausweis als Berufsbezeichnung „Cand.Theol.“ trug, wobei das „Cand.“ in deutscher Schrift so geschrieben war, daß man daraus ‚Land‘ lesen konnte.
Und so ging ich wieder zur Militärregierung und auf die Frage „ What’s your profession?“ – Landwirt. Und da die Dolmetscherin nur „Land“ las, sagte sie: „That’s allright. You are a farmer.“ So bekam ich den Ausweis.
Military Government
Mr. Ferdinand Wentz has permission to travel back to Vienenburg in order to take his work on his farm. He is allowed to cross the bridge of Elbe. Lübeck, 30th May, 1945 Major <unleserlich>
Mil.Gov. 820 Det.
Supply Officer
Mit dem Fahrrad und als Anhalter auf einem LKW -in Breecheshose und Uniformjacke ohne Spiegel und Schulterstücke und zerschossenem Fliegermantel-, im Gepäck den von Verwandten zurück erbetenen Konfirmationsanzug, fuhr er nach Goslar und fand dann in Immenrode seine Angehörigen wieder.
Als Bleibe erhielt die sechsköpfige Familie nach vielem Drängen eine Notunterkunft in der Lehrerwohnung in der Schule: Ein größeres notdürftig eingerichtetes Zimmer und zwei kleinere, die Toilette auf dem Schulhof.
Erst nach der Geburt des 5.Kindes wies man sie in einen alten Bauernhof ein, in die untere linke Seite.
Ich muß noch berichten, wie ich manche Gegenstände unserer Wohnung auf dem Fliegerhorst wieder fand. Lisa <seine Frau> hatte mir erzählt, daß sie gehört hätte von Bewohnern der Sudmerbergsiedlung, die in unser Haus eingebrochen waren und Möbel, Bilder, Bücher, meine Geigen mitgenommen hätten. Ich besorgte mir Zwirn, Gummiband, Stopfgarn und fuhr mit meinem Fahrrad, Tasche am Rad hängend, um mit diesen Gegenständen Eintritt in die Wohnungen zu erhalten.
So erhielt ich Zutritt in die Häuser und Wohnräume. Plötzlich entdeckte ich unseren Nähkasten, in einem anderen Haus unsere beiden Sessel und so ein Stück nach dem anderen.
Ich schrieb mir Hausnummer und Bewohner auf, ging damit zur Polizei, besorgte mir ein Fahrzeug und fuhr von Haus zu Haus, alle Gegenstände aufladend, die ich wieder gefunden hatte. Was ich nun an Büchern, Geschirr und Wäsche nicht entdeckt hatte, blieb bei den Dieben. …
Auch Immenroder Bürger hatten sich an der Plünderung beteiligt. Plötzlich lief ein Mädchen mit Lisas Schal und Pelzjacke herum. Ich fand viele Bücher von mir, in die die Diebin bereits ihren Namen gesetzt hatte.
Ende April ’45 waren fast alle amerikanischen Soldaten aus Goslar Richtung Osten abgezogen, nur ein Kommando von etwa 80 Mann war verblieben. Das wurde von umherziehenden Plünderern natürlich ausgenutzt. Die Einwohnerschaft fühlt sich ihnen mehr oder weniger schutzlos preisgegeben u. sehnt die erwartete reguläre Besatzung herbei, schrieb Werner Brökelschen auf und daß sich im Siemensviertel ein ‚Selbstverteidigungsschutz‘ bildete, dem aber keine Genehmigung zur Tätigkeit während der Sperrzeit gegeben wurde. Der ‚Selbstschutz‘ hier und in den anderen Stadtteilen spielte sich demzufolge nur hinter den Häusern zwischen den Gärten ab.
Curfew = Sperrstunde wurde streng eingehalten, denn die absurdesten Gerüchte über Festnahmen und Inhaftierungen schwirrten durch die Stadt.
Wir erlebten eine ziemliche Aufregung mit einem überraschenden Ende mit, als unser 82jähriger Großvater und der gleichaltrige Nachbar von gegenüber vom täglichen Spaziergang nicht rechtzeitig zurückkamen.
Aus meinen damaligen Aufzeichnungen: Mit Spazierstock und Prinz-Heinrich-Mütze zogen die beiden alten Männer los, auch, als die Besatzungsmacht nur die Zeit von 9 -12 Uhr zum Ausgang freigegeben hatte. Einmal waren die beiden wackeren Spaziergänger um 12 Uhr mittags noch nicht zurück. Unsere Mutter stand händeringend in der Ladentür und guckte sich die Augen aus. Die Nachbarin von gegenüber ebenso. Endlich erblickten sie die Beiden, gemütlich aus Richtung Astfelder Straße herantraben.
Und genau in dem Moment fuhr ein Jeep mit amerikanischer Militärpolizei die völlig menschen- und autofreie Straße hinunter. Man fürchtete das Schlimmste, denn allenthalben erzählte man sich die unwahrscheinlichsten Geschichten von festgesetzten Bürgern, die die Sperrstunden mißachtet hatten. Einfach weggeschleppt, ohne Möglichkeit, die Angehörigen zu benachrichtigen.
Und nun würden sie die beiden alten Opas kassieren, fortbringen und irgendwo schmoren lassen.
Der Jeep verlangsamte die Fahrt, die drei Insassen beäugten die beiden Veteranen mit ihren fein gezwirbelten Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Bärten, schüttelten den Kopf, tippten sich an die Stirn und … fuhren lachend davon.
Und die beiden alten Herren konnten gar nicht verstehen, weshalb Ehefrau und Tochter sich so aufgeregt hatten!
<Über das merkwürdige Wort ‚Curfew‘ machten wir uns seinerzeit keine Gedanken. Im alten dictionary fand man unter curfew nur ‚Abendglocke‘. Jetzt weiß man, daß es vom französischen couvrir =abdecken und feu =Feuer kommt und das Signal zum Tagesabschluß bedeutet.>
Ganz aufgehoben wurde die Ausgangssperre in der britischen Besatzungszone – nach etlichen Lockerungen – erst am 6. Oktober 1946 ab 4.30 Uhr.
Den Aufzeichnungen Mein Kriegsende von Gertrud Martens geb. Lüdecke, damals Am Beek 5, entnehmen wir:
Meine Wohnung lag im Erdgeschoß. <Am 10. 4. ’45> 23 Uhr wurde heftig geklopft und geklingelt. Das Haus würde besetzt, sagte man mir. Alle Bewohner hätten es unverzüglich zu verlassen. Nachdem ich die Haustür geöffnet hatte, strömten unglaublich viele Männer ins Haus. Etwas naiv bemerkte ich, daß nicht so viele Schlafstellen vorhanden seien. Aber da sah ich schon, daß Ziehharmonika-Betten ins Haus getragen wurden.
Durch den Lärm waren nun alle Bewohner wach geworden. Sie fanden sich verschreckt im Hausflur ein. Einer unserer ausgebombten Mieter aus Hannover, Willi Deichmann, sprach den Leiter der Truppe an. Er hatte vor dem Krieg 9 Jahre in den USA verbracht. Die Mentalität der Amis war ihm recht vertraut. Durch geschicktes Verhandeln erreichte er, daß wir das Haus nicht verlassen mußten. Allerdings wurden wir jetzt alle im Obergeschoß zusammengepfercht. Und das war immerhin besser, als auf der Straße zu sitzen. …
Unsere Hausbesetzer gehörten zur kämpfenden Truppe. Während ihrer Kampfpausen hatten sie Bereitschaftsdienst. Dann stand ein riesiger Cherman<Sherman>-Panzer laufend in unserer Garagen-Einfahrt <Kohlenhandlung>. Der Lärm war unerträglich, und das ganze Haus wurde davon erschüttert.
Wir verhielten uns möglichst still. Am 14. April war es ruhig im Haus. Ich nutzte die Gelegenheit, den Müll nach unten zu tragen. Plötzlich kamen zwei deutsche Soldaten in voller Uniform auf den Hof gelaufen. „Wir haben uns abgesetzt“, sagten sie, „bitte verstecken Sie uns“. Ich erklärte ihnen die Situation und sagte ihnen, daß das völlig unmöglich sei. Die Hausbesetzer könnten jederzeit von ihrem Einsatz zurückkommen (im Oberharz tobten noch schwere heftige Kämpfe). Außerdem sei eine ständige Wache im Haus.
Die Männer, beide Familienväter, wie sie mir sagten, waren verzweifelt. Ins Haus konnte ich sie nicht bringen. Da fiel mir der Spitzboden über den Garagen ein. Er war nur über eine Leiter zu erreichen. Dorthin führte ich sie in großer Eile.
„Ziehen Sie die Leiter nach oben und schließen Sie die Luke“, sagte ich ihnen.
Meine Eltern durften von dieser Aktion nichts erfahren. Wenn die Männer entdeckt worden wären, hätten wir mit Sicherheit alle das Haus räumen müssen.
Ich zog Herrn Deichmann ins Vertrauen und bat ihn, die Wache abzulenken. Er war dazu sofort bereit. Die Amis unterhielten sich gern mit ihm.
Jetzt hatte ich Zeit, den beiden Soldaten die nötigsten Dinge auf den Boden zu schaffen. Ich gab ihnen alte Anzüge von meinem Mann. Ihre Uniformen verbrannte ich in der Wohnung.
Bald darauf kamen die G.I.s von ihrem Einsatz zurück. <G.I. Abkürzung für Government Issue, in den USA staatlich gelieferte Ausrüstung für die Soldaten, auch Bezeichnung für den Soldaten selbst.>
Heute war die Flucht nicht mehr möglich. Nachts fuhren ständig Jeeps durch die Straßen. Außerdem gingen die Amis Streife. Es herrschte Ausgangssperre.
Der Panzer stand nun wieder in der Einfahrt. Er war ständig besetzt. Daran hätten wir nicht vorbeikommen können.
Erst am nächsten Tag verließen die Amerikaner das Haus. Ich hatte zwei Säcke mit Kohlen auf einen Handwagen stellen lassen. Mit einem Lieferschein für eine Kundin am oberen Karsten-Balder-Stieg machten wir uns zu dritt auf den Weg. Wir kamen unbehelligt durch. Von hier aus hatten die Männer nur ein kurzes Stück über die Rammelsbergwiese bis zum Waldrand zurückzulegen.
Der Ilsenburger erreichte seinen Wohnort gegen Morgen. Nachdem sein Kamerad sich erholt hatte, ging er weiter nach Aschersleben. Viel später, als die Post wieder Briefe beförderte, bekam ich diese Nachricht. …
Von Christa Strickstrack geb. Langener hörte man:
Auch auf dem Schuhhof hatten die Amerikaner ihre Panzer abgestellt und nahmen Quartier im großen Haus der Kürschnerei Langener, Am Schuhhof 7/8. Die Familie wurde, wie bei solchen Beschlagnahmungen üblich, kurzerhand ‚an die Luft gesetzt‘ und fand getrennt Unterkunft bei Freunden und Bekannten.
Christa, die siebzehnjährige Tochter, drang nach ein paar Tagen mutig in einem günstigen Augenblick in das besetzte Haus ein, um aus dem Keller das Hühnerfutter zu holen, das man für das sehr umsorgte, eierspendende Federvieh unbedingt benötigte.
Die Tuck-tuck-Hühnerchen lebten beim Onkel Hans Pabst, Dentist, -Hoher Weg 16- im großen Garten, in dem auch die Riesenbehälter standen für die Karpfen, die jedes Jahr aus dem Kahnteich abgefischt wurden und bis zum Verzehr dort mit dem anderen Viehzeug ausharrten.
Beim wiederholten ‚Beutezug‘ zum Keller des Langenerschen Hauses wurde Christa entdeckt, hatte zum Glück aber nur die unbegehrten Körner bei sich und mußte nun für die nächste Zeit ‚Putzfrau‘ im besetzten Elternhaus spielen, meistens bewacht von einem Ami mit Maschinengewehr.
Daß trotzdem von den überall herumliegenden Süßigkeiten und Zigaretten heimlich, still und leise etliches ‚besorgt‘ wurde, läßt sich denken.
Die Amis hatten es sich ‚bequem‘ gemacht, benutzten ohne Hemmung alles, was sich im Haus befand, auch das sorgsam gehütete kostbare Porzellan, das zu Christas Entsetzen völlig verschmutzt in einer Zinkbadewanne sudelte. Am Panzer draußen flatterten Teile der feinsten Aussteuerwäsche ihrer Mutter.
Aber die fremden Soldaten waren friedlich, nett und freundlich und bis zum Ende ihres nicht sehr langen Aufenthalts in Goslar -die kämpfende Truppe rückte ja weiter nach Osten- entwickelten sich interessante Gespräche mit dem ‚Chef‘, dessen Namen Christa sogar behielt: Bill Fournier.
Die Geschäftsräume der Kürschnerei wurden zeitweise als Zwischenstation für Inhaftierte der Amerikaner benutzt.
Der ‚Birkenhof‘, dieses schöne Anwesen vor den Toren der Stadt, wurde, nachdem man die Familie Thiele ausgewiesen hatte, auch besetzt, und zwar von einer ziemlich großen Truppe ‚schwarzer‘ Soldaten, die man damals unüberlegt ‚Neger‘ nannte. Rosemarie von Oehsen, geb. Thiele berichtete, daß ihre Familie bei Verwandten in der Breiten Straße für einige Wochen Aufnahme fand und daß sie auf dem riesigen Gelände des Birkenhofs nur die Beete im großen Gemüsegarten bearbeiten durften.
Nach Abzug der Amis fanden sie ihr Haus relativ unbeschädigt, wenn auch verschmutzt, vor. Über den Zustand der beschlagnahmten Häuser und Wohnungen gab es die widersprüchlichsten Berichte. Bei uns im Geschäft erzählten Kunden aus dem Steinbergviertel, die entweder ganz aus ihren Häusern und Wohnungen ausquartiert worden waren oder in den Boden- oder Kellerräumen hausen mußten, von sehr unterschiedlichem Benehmen der Besatzungssoldaten. Ein älterer ehemaliger Wehrmachts-Offizier stellte einmal bei solchem Disput seiner sehr empörten Nachbarin die Frage: Und wie lebte Ihr Mann damals beim Frankreich-Feldzug?
Marianne Busik geb Heister, damals Tappenstraße 7, erzählte mir folgende Begebenheit aus den ersten Tagen der Besatzungszeit: Vom Fenster ihrer Wohnung aus wurden ihre Eltern und sie Zeugen einer bedrohlich wirkenden Auseinandersetzung zwischen zwei Militär-Polizisten und zwei jungen Mädchen.
Daniel Heister empörte sich verständnislos über das Verhalten der beiden Mädchen: Die wissen doch, daß jetzt Sperrstunde ist!
Zur Überraschung der Familie Heister steuerte das Kleeblatt dann nach langem Palaver auf ihr Haus zu und begehrte lautstark Einlaß.
Es stellte sich nach einigem Hin und Her heraus, daß die MP die beiden notdürftig mit Zivilsachen ausgerüsteten Arbeitsmaiden <vom RAD = Reichsarbeitsdienst>, die aus ihrem Lager fluchtartig auf dem Weg in ihre Heimat waren, aufgegriffen hatten, als sie ohne Kenntnis der Sperrzeit die einzige Adresse, die sie von Goslar hatten, aufsuchen wollten.
Zum Glück war es Marianne gelungen, noch kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner ihren Einsatzort zu verlassen und Goslar und das Elternhaus zu erreichen, was auch den beiden fast schon festgenommenen Mädchen zur Rettung wurde.
Marianne wußte, um wen es sich handelte. Die beiden völlig erschöpften jungen Frauen konnten vorerst im Haus der Familie Heister verbleiben, man versorgte sie aufs Beste und ließ sie nach Wochen, als die ersten Bahnverbindungen wieder möglich waren, weiter nach Westen und Süden zu ihren Familien ziehen.
Ob sie jemals dort ankamen? Marianne Busik und ihre Familie haben es nie erfahren.
Von Haussuchungen verschiedenster Art durch Besatzungsmitglieder und auch Zivilisten berichteten viele Goslarer; man suchte versteckte Soldaten und Waffen und ließ leider auch oft etwas ‚mitgehen‘.