Umschlagbild Titelseite:
SMS „Heimdall“ und „Siegfried“, nach einer Chromo-Lithographie von Carl Saltzmann 1895 (vergl. Kap. 5, S. 61ff dieses Buches)
Umschlagbilder Einband-Rückseite:
(obere Bildreihe von links) SMS „Niobe“ (vergl. Kap. 2, S. 18ff), SMS „Preußen“ (vergl. Kap. 4, S. 28ff),
(untere Bildreihe von links) SMS „Kronprinz“ (vergl. Kap. 5, S. 63ff), SMS Tender „Hay“ (vergl. Kap. 6, S. 78ff)
Bild Buchblock S. 2 und 3: Genua beim Kolumbusfest, Radierung 1892 (vergl. Kap. 6, S. 69ff)
GENUA
KOLUMBUSFEST 1892
Herausgegeben und bearbeitet von Jürgen-Joachim Taegert
INFORMATION ZUM AUTOR UND ZUM HERAUSGEBER:
WILHELM LUDWIG GOTTLIEB TÄGERT wurde am 24.7.1871 als achtes Kind des Oberlehrers am Gymnasium in Köslin/Pommern und späteren Direktors des Realgymnasiums Siegen Dr. Joachim Christoph Wilhelm Tägert in Köslin geboren. Nach seinem Abitur trat der stattliche und gebildete Mann als Kadett und Offiziersanwärter in Kiel in die Kaiserliche Marine ein.
An Bord des Segelschulschiffs „Niobe“ und in der Marineschule erlernt er die Seemannschaft und die „Marine-Etikette“ von der Pieke auf. Über den Dienst auf den noch hölzernen, getakelten Panzerschiffen geht der Weg zum großen Kreuzer und zum Artillerieschiff. Zugleich öffnet sich ihm bei den internationalen Übungsfahrten der Blick auf das damalige Weltgeschehen. Er lernt die internationalen Eminenzen und Exzellenzen kennen, die seinerzeit die öffentliche Meinung prägen und die Medienwelt beschäftigen. Kommandos führen ihn an die westafrikanische Küste, auf die kaiserliche Yacht „Hohen-zollern“ und bis nach Jerusalem und auf weiteren Schiffen in den gesamten ostasiatischen Raum. Viele Jahre arbeitet er im kaiserlichen Admiralstab in Berlin und bekommt dann in der unmittelbaren Vorkriegszeit Kommandos bei der Hochseeflotte übertragen.
Nach einer zweiten Ostasienreise mit dem Schwerpunkt China und Japan erlebt er den Kriegseintritt auf einem Schlachtschiff. Von 1915-1917 ist er Marine-Attaché in der Türkei. Zeuge der deutschen Revolution wird er als Kommandant des Schlachtschiffs „Seydlitz“, auf dem er die deutsche Flotte unmittelbar nach Kriegsende an die Engländer ausliefern muss. Er wird zum Konteradmiral ernannt und verlässt mit dem Charakter eines Vizeadmirals im Alter von 50 Jahren die Marine nunmehr der Weimarer Republik.
Im Zweiten Weltkrieg muss er den Tod seines einzigen Sohnes Werner betrauern, der 1944 als Marineoffizier mit einem Torpedoboot auf See vermisst wird. Im Jahr 1946 schließt er seine inhaltsreichen, lebendig und mit einer großen Prise Humor geschriebenen Erinnerungen ab, die er seinen vaterlosen Enkeln widmet. 1950 stirbt er in seiner Wahlheimat in Rottach-Egern. Sein Nachlass mit wichtigen Dokumenten und Schriften zur Marinegeschichte ruht im Bundesarchiv in Freiburg.
Der Herausgeber JÜRGEN JOACHIM TAEGERT, der Großneffe des Autors, ist evangelischer Pfarrer im Ruhestand und Verfasser zahlreicher Publikationen, die sich in bewusst ökumenischer Perspektive mit der Verbindung von Geschichte, Kultur, Landschaft und menschlichem Geschick befassen.
Mit dieser neue Buchreihe setzt er seine Arbeiten zur Beschreibung des Geschicks einer bürgerlichen Familie fort, die im 30-jährigen Krieg als „Tropfhäusler“ am unteren Rand der Gesellschaft begann und über das Handwerk und das Küster- und Lehreramt in die Mitte der damaligen Gesellschaft führte; im Zentrum der Betrachtung steht nun in der Kaiserzeit des Zweiten Reiches Wilhelm Tägert, der das Ende des Ersten Weltkrieges und den Beginn der Weimarer Republik als Vizeadmiral der Marine erlebt.
Die Fortsetzungsbände dieser „Erinnerungen – Auf sieben Meeren“ sollen fortlaufend ab 2015 herausgegeben werden.
Nachdem der gesamte dokumentarische Nachlass von WILHELM LUDWIG GOTTLIEB TÄGERT (1871-1950) noch unveröffentlicht auf 1 ½ Regalmetern im Militärarchiv des Bundesarchivs in Freiburg ruht, beschränkt sich die öffentliche Kenntnis über diesen hoch interessanten Marineoffizier und Vize-Admiral der kaiserlichen Marine bislang auf Erwähnungen durch andere Schriftsteller.
So berichtet bereits der schwedische Asienforscher und Entdeckungsreisende SVEN HEDIN in seinen frühen Reisebeschreibungen „Von Pol zu Pol“ interessiert und positiv von seiner Begegnung mit Wilhelm Tägert in dessen damaliger Eigenschaft als Marine-Attaché in der Türkei. In seinem Buch „Ein Volk in Waffen“ 1915 erwähnt er ihn auch kurz neben seinem Bruder Carl, der zu dieser Zeit Kommandeur der Marinebrigade in Oostende ist.
Der Marinehistoriker und einstige Marine-Admiral EBERHARD VON MANTEY, der zwei Jahre älter ist als Wilhelm Tägert, erzählt in seinen 1921/22 erschienenen zweibändigen Schilderungen des Seekriegs „Auf See unbesiegt“ von der letzten Fahrt des Deutschen Marinegeschwaders, das sich die Engländer als Kriegsbeute sichern wollten, im November 1918 zur Bucht des schottischen Scapa Flow. Sehr einprägsam, fast theatralisch, erscheint hier das Bild der kaiserlichen Flotte, die angeführt wird vom Stolz der Kriegsmarine, dem erst 1913 gebauten Kreuzer „Seydlitz“, an dessen Top der Wimpel des Kommodore Tägert flattert. Diese Flotte wird durch ihre Selbstver senkung dann ein halbes Jahr später den Mythos von der Unbesiegbarkeit Deutschlands im Ersten Weltkrieg mit erschaffen.
Nach dem Ersten Weltkrieg berichtet HARRY GRAF KESSLER, der politisch engagierte „rote Graf“, in seinem Tagebuch, das erst seit 2004 bei Klett-Cotta herauskam, in Band 7 von einem Essen, das im April 1919 stattfand und an dem auch Wilhelm Tägert teilnahm. Die Gesprächsteilnehmer diskutierten kontrovers über die Rolle, die sie als ehemalige Offiziere aus Heer und Marine in den Einheiten spielten sollten, die der erste SPD-,,Verteidigungsminister“ der Geschichte, Gustav Noske, zur Niederschlagung der März-Revolution 1919 in Berlin aufgestellt hatte. Von diesen hochdramatischen, kaum bekannten Begebenheiten erzählt auch Wilhelm Tägert im letzten Kapitel seiner „Erinnerungen“.
Weitere Erwähnungen in jüngster Zeit finden sich in dem 2013 veröffentlichten, bewegenden Buch von NICOLAS WOLZ „Wir verrosten im Hafen“, das vom Fiasko der Deutschen Marine im Ersten Weltkrieg berichtet. Wolz vermerkt, dass die Marine, der Stolz des Kaiserreichs, infolge der Blockade-Strategie der britischen Royal Navy und der Zögerlichkeit der deutschen Führung, abgesehen vom „Doggerbankgefecht“ 1915 und der „Schlacht vor dem Skagerrak“ 1916, an größeren Einsätzen gehindert blieb. Als sie dann trotzdem im Herbst 1918 auf eigenmächtigen Befehl ihrer Kommandierenden zu einer Entscheidungsschlacht gegen England antreten sollte, meuterten die Matrosen, angestachelt von der russischen Revolution und zum Entsetzen ihrer Vorgesetzten, und lieferten so den Funken, der inmitten der laufenden Friedensverhandlungen zur Beendigung des Ersten Weltkrieges die deutsche Revolution entzündete.
Wolz verarbeitet als Erster in seinem Buch auch Dokumente aus Wilhelm Tägerts schriftlichem und dokumentarischem Nachlass in Freiburg.
Mit dem vorliegenden Bändchen „Auf sieben Weltmeeren – Von Köslin bis Alexandrien“ möchte ich beginnen, das 700 Seiten umfassende, 1946 vollendete Manuskript der „Erinnerungen 1871-1921“ von Wilhelm Tägert einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es befand sich bislang, außer in diesem Archiv, nur in den Händen der unmittelbaren Nachfahren und wirft ein erhellendes Licht auf die bei Historikern viel zu wenig beachtete Rolle der Marine im Kaiserreich.
Als WILHELM TÄGERT 1871, im ersten Jahr dieses Zweiten Deutschen Reiches, in Köslin in Pommern als Sohn des Gymnasiallehrers JOACHIM CHRISTOPH WILHELM TÄGERT geboren wurde, da hätten sicher Viele erwartet, dass er einmal in die Fußtapfen seiner Vorfahren treten würde, die sich vom unteren Rand der Gesellschafft als „Tropfhäusler“ und „Teeger“, Besitzer nur einer Ziege, über die Berufe von „Schafmeister“, „Kröger“ und das Handwerk der Schuhmacherei zum Stand der Volksschullehrer und schließlich, als promovierter Gymnasiallehrer und Rektor am Realgymnasium, in die Mitte der damaligen Gesellschaft emporgearbeitet hatten.
Doch die Berührung mit der See, die Jugendlichen auch heute oft noch mystisch erscheint, und mit der jungen Marine, die, nach ersten Anfängen in der Regie des Frankfurter Paulskirchenparlaments, des Norddeutschen Bundes und der Könige von Preußen, seit der Reichsgründung 1871 zum Prestigeobjekt der Deutschen Kaiser geworden war, infiziert den Jüngling derartig, dass er, wie auch sein älterer Bruder Carl, diesem Handwerk des Marineoffiziers völlig verfällt. Es fordert in seinen Augen ganze Männer, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, dabei aber zugleich loyal zum Kaiser, gebildet, von hohem Ethos und bereit zu Kritik und Selbstkritik sind.
Wilhelm Tägert lernt die Seemannschaft und die „Marine-Etikette“ von der Pieke auf kennen, also von der Ausbildung auf dem Segelschulschiff, über den Dienst auf den noch hölzernen getakelten Panzerschiffen bis zum großen Kreuzer und zum Artillerieschiff, und lässt sich durch die Lehrgänge der Marineakademie zum Seeoffizier ausbilden. Zugleich öffnet sich ihm der Blick auf die Weite der seinerzeitigen politischen, historischen und geographischen Welt. Mit Staunen nimmt man heute die weitreichenden internationalen Kontakte wahr, die in einer schon damals „globalisierten Welt“ über alle Grenzen hinweg möglich waren, und die uns erst heute, nach rd. 135 Jahren, wieder selbstverständlich werden. Zugleich wundert man sich, wieso es den Führenden in dieser sich bereits anbahnenden vielfältigen und selbstverständlichen Welt-Gemeinschaft nicht möglich war, die den Ersten Weltkrieg, zu vermeiden.
Schon bei seinen ersten Fahrten als junger Marineoffizier lernt Wilhelm Tägert viele der internationalen Eminenzen und Exzellenzen seiner Zeit kennen, die damals die öffentliche Meinung prägen und die Medienwelt beschäftigen: neben dem Deutschen Kaiser und den höheren Mitgliedern des Marineoffizierskorps, auch die Könige von Norwegen und Portugal, den Vizekönig von Ägypten, den Prinzen von Japan, die Herzöge von Genua und von Edinburgh und manche andere Größen ihrer Zeit.
Doch das ist nur ein Vorgeschmack auf seine spätere Tätigkeit, die ihn „über sieben Weltmeere“ zu den Antipoden und schließlich am Ende bis zur Bucht von Scapa Flow führen wird, und die ihm noch weit tiefere Einblicke in das unerbittlich zur „Urkatastrophe des 20 Jahrhunderts“ führende Weltgeschehen vermittelt.
Davon sollen dann die weiteren Bücher von Wilhelm Tägerts „Erinnerungen“ erzählen, die für diese Reihe in Vorbereitung sind und deren Vorlagen mir Wilhelm Tägerts Enkel MICHAEL TÄGERT dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. Als Großneffe des Verfassers habe ich gern die Chance ergriffen, zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges dieses besondere Geschichtswerk an die Öffentlichkeit zu bringen.
Jürgen Joachim Taegert
Erster Teil über die Jahre 1871 – 1912 wohl begonnen 1936,
„Zueignung" und zweiter Teil über die Jahre 1913 – 1921 geschrieben 1946.
Eingelesen, behutsam korrigiert und in Fußnoten und Bildern ergänzt von Jürgen Taegert 2014
Leise rieselt draußen der Schnee. Morgen früh wird seine neue Decke den gefrorenen Schneeschlamm wieder eingeebnet haben, wenn erst der Schneepflug die Wege wieder geglättet hat. Der Schneepflug! Wie hat sich mein kleiner Michael gefreut, wenn er ihn kommen hörte. Er erkannte am Ton, welcher es war und stürzte voll Eifer ans Fenster, um zu sehen, wie er einen neuen Damm auf den alten türmte. Und wie selig war er, wenn sein Freund Steigenberger, der Fahrer, ihm erlaubte mitzufahren. Ja, der Schneepflug gehörte nun einmal zum Leben hier, hier in Rottach, zwischen den Vorbergen der Alpen. Früher kam er mit acht Rössern bespannt, 12 Männer saßen auf dem Pflug, damit er schön schwer war. Das waren noch Zeiten!
Aber die Skier waren geblieben, die konnte kein Motor ersetzen. Von Jahr zu Jahr wurden sie wichtiger. Und Skier, Stiefel und Anzüge dazu gingen von Sven auf den fünf Jahre jüngeren Michael über, den Erben und Nachfolger in jugendlichen Freuden und Leiden.
Auch Leiden! Krankheiten kamen, fast hätte sich die Geißel der Jugend eingenistet, doch die Gefahr ist nun glücklich gebannt. Jetzt bist du, kleiner Michael, aus dem Sanatorium wieder zu uns zurückgekehrt. Wir hören wieder deine klare, laute Stimme draußen schon von weitem, wenn du aus der Dorfschule kommend in die Küche stürzest: Ich habe Hunger!
Und Sven, du Lieber, wann werden wir dich wieder hier begrüßen? Und wie lange werden wir dich behalten dürfen? Viel hast du mit der lieben Lieselotte durchgemacht, seit sie dich im Oktober 1944 mit nach Waren nahm, Mutterstelle bei dir zu vertreten, eine junge Mutter, aber eine prachtvolle Erzieherin und Gefährtin für dich. Gott gebe uns allen eines nicht zu fernen Tages euren Vater, Lieselotte den Gatten und mir den einzigen Sohn gesund zurück. Aber wir müssen uns in seinen Willen schicken, wie wir uns schon zweimal in den Verlust derer schicken mussten, die uns die Liebsten waren. Und auch in den Krieg und alles Unheil, das er über uns gebracht hat.
Anders hätte ich mir Vieles gedacht, was mir das Alter bringen würde. Nun aber bin ich dankbar für das, was mir blieb und das große neue Glück, das Margot in mein Leben gebracht hat.
Die Zeit des Sinnens und Erinnerns liegt nun wieder hinter mir. Draußen singen die Vögel und danken für die Gastfreundschaft, die wir ihnen in ihrem Futterhäuschen im Winter gewährten. Der Frühling ist eingezogen, eingezogen mit einer Pracht, wie wir sie hier nur selten erlebt haben. Der Garten lockt zu neuer, nur zu gern geleisteter Bestellung.
Es war der 13. Winter, seit wir dieses Haus in der Ringbergstraße bezogen. Nicht ein neues Haus, erst etwa hundert Jahre ist es alt, es gibt weit ältere hier. Viel, viel länger wirkt auch wohl schon der Hausgeist drin, denn er blieb in den alten Grundmauern, als der Oberbau damals vor etwa hundert Jahren abbrannte. Und mit ihm blieb das Behagen, die unmittelbare Verbundenheit mit der offenen Wiesennatur ringsum und der Ausblick auf die Berge, die nun bald ihre letzte Schneemütze abgelegt haben werden.
Wilhelm Tägert 1948 in Rottach
Es war unser alter Wunschtraum, eines Tages, wenn wir alt wären, das Zigeunerleben, das nie zu Ende kommen wollte, aufzugeben und ein Häuschen am Fuß der Berge zu besitzen. Dahin wollten wir dann nach kurzer Ankündigung jedes Mal zurückkehren von allen weiteren Aufgaben, die uns das Leben draußen etwa noch stellen würde Gute Hausleute sollten Haus und Garten pflegen, uns empfangen und mir den Maßkrug als Willkommen reichen. Manches kam so, wie wir es uns wünschten. Aber aus dem Häusel wurde schon nach zwei kurzen Jahren das Grab für die treue Gefährtin, die Ruhestätte unter den weißen Fliederbäumen auf dem schönen Friedhof, die sie sich schon immer gewünscht hatte, Töchterlich betreute dann eure liebe junge Mutter das Haus und uns alle Drei. Viel heiße Wünsche blieben ihr unerfüllt. Sie war nicht geboren, in der Einsamkeit hier glücklich zu werden. Und so nahm sie ein gewaltsamer grausiger Tod uns fort, als ihr beiden, Sven und Michael, der Mutter noch so bedurftet. Aber Mutterliebe ward euch doch zuteil, als Margot und Lieselotte euch in ihre Arme nahmen.
Darüber war der entsetzliche mörderische Krieg gekommen und weitergegangen. Wenigstens ließ er uns fünf am Leben, verschonte auch unser Haus mit seinem ganzen durch tausend Erinnerungen doppelt wertvollen Hausrat. Aber er trennte uns auch.
Ihr Beide, Lieselotte und Sven, habt seinen eisigen Mord-Atem nahe genug gespürt, auch wir hier hörten den Tod laut in den Lüften über uns heulen und krachen. Heimatlosen erschlossen wir unser Haus. Heute wissen wir noch nicht, ob wir wenigstens unseren jetzigen Teil werden halten können. So sehen wir den Sorgen, die wir erst nur ahnten, entgegen, gelassen und gefasst.
Nun habe ich den Versuch gemacht, das Erlebte und Geschaute niederzuschreiben. Er reicht weit zurück in das große Geschehen, das zwei Generationen über sich ergehen lassen mussten und dessen Anfänge ich zum Teil schon verstehend miterlebt habe. Immer wieder wollt ihr Jungen ja hören aus der Zeit, die noch nach ganz anderen Lebensidealen streben zu dürfen glaubte, und von der Tradition, die diesem Streben das ethische und moralische Maß und Ziel vorschrieb. Ich habe mit meiner Niederschrift Jüngere weder belehren noch erziehen wollen. Ich kenne die Grenzen meiner Befugnis zu Kritik und Urteil. Sie sind eng genug gezogen.
Das meiste Erlebte ist wie im Fluge an mir vorüber gesogen, auch fehlen mir jetzt die Unterlagen für eine zuverlässige Schilderung der Tatsachen, deren Erinnerung sich doch vielfach verwischt hat.
So nehmt denn das, was ich schreibe so auf, wie es gemeint ist: Bunte Bilder aus einer Zeit, die mehr Raum für Lebensgenuss und mehr Gelegenheit und Ruhe zum Schauen und zum Verarbeiten des Geschauten vergönnte. Haltet eure Augen und Ohren offen, und macht eure Herzen stark, so werdet auch ihr dereinst euch einer reichen Ernte erfreuen können.
Wer frisch umherspäht mit gesunden Sinnen Auf Gott vertraut und die gelenke Kraft, Der ringt sich frei aus aller Fahr und Not1.
1 Friedr. v. Schiller, Wilhelm Tell III,1
Am 10. April 1871 wurde der Friede von Frankfurt zwischen Deutschland und Frankreich geschlossen. Er brachte den Beginn des „Zweiten Reiches“ und eines neuen Abschnittes der deutschen Schicksalsgeschichte.
Ich wurde am 24. Juli 1871 in Köslin geboren. Köslin war die Regierungsbezirkshauptstadt eines Bezirks der Provinz Pommern. Die Stadt bietet nicht viele Sehenswürdigkeiten. Auf dem kleinen viereckigen Marktplatz steht das Bronzedenkmal FRIEDRICH WILHELMS IV. Die kleinen sauberen Straßen sind von meist zweistöckigen Häusern ohne jeden Stil eingefasst. Über das Kopfpflaster rasselten damals im Wesentlichen nur die Fuhrwerke der umliegenden Güter und Dörfer. Einiges Leben in das erdrückende Gleichmaß der Tage brachten ein oder zwei Schwadronen „Rote Zietenhusaren“, die von frühster Jugend an unser Interesse in höchstem Maße auf sich zogen. Viele Erinnerungen habe ich aus dieser Zeit und späteren Besuchen in Köslin nicht mehr.
Mein Vater2, der 1830 in Greifswald geboren war, war ein großer stattlicher Mann von sehr würdiger, gerader Haltung. Sein schneeweißes Haar war in „Sardellen“ über seinen sonst kahlen Schädel gelegt. Er war Oberlehrer am Kösliner Gymnasium, nachdem er sich, elternlos und ganz auf sich selber angewiesen, durch eine schwere Jugendzeit durchgehungert und durchgearbeitet hatte. Jetzt konnte er sich rühmen, die „facultas docendi“ für alle Gymnasialfächer zu besitzen. Sein Hauptfach war die Mathematik.
Marktplatz von Köslin um 1870
In seinen Mußestunden arbeitete er an großen mathematischen Problemen, hauptsächlich an den täglichen Schwankungen der Erdachse und ihren Wechselbeziehungen zu Ebbe und Flut. Aber er gestand uns resigniert ein, dass außer einem befreundeten Astronomen wohl niemand sein Werk gelesen hat, das er später zum Teil in einem Programm des Siegener Realgymnasiums veröffentlichte. Sein Vater345678