„Die Wahrheit ist,
dass wir auf allen Feldern
die Komplexität der Energiewende unterschätzt haben“
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel
Vortrag bei Solarfirma SMA am 17. April 2014 in Kassel
Ein Experiment wurde gestartet in Deutschland: das Experiment der Energiewende bei gleichzeitigem Atomausstieg. Noch in dieser Hälfte unseres Jahrhunderts soll die Stromversorgung der größten Volkswirtschaft Europas weitgehend auf erneuerbare Energien, vorzugsweise aus Wind und Sonne, umgestellt werden. Die Bundeskanzlerin, Frau Angela Merkel, nahm den Reaktorstörfall von Fukushima zum Anlass den schnellen Ausstieg aus der Kernenergie anzuordnen, worauf sie sich im Wesentlichen auf das Votum einer hastig zusammengerufenen Ethikkommission stützte, die mit prominenten Geistlichen besetzt war, aber ohne Fachleute aus dem Energiesektor auskommen musste.
Mittlerweile ist das Experiment der Energiewende in vollem Gange – jedoch nur in Deutschland, denn kein einziges Land innerhalb oder außerhalb Europas folgt dem deutschen Beispiel. Selbst Japan hat sich entschlossen, seine Kernkraftwerke (nach eingehender technischer Überprüfung) wieder anzufahren. In Deutschland fällt ein Regen von Subventionen auf die privaten Geldgeber hernieder, welcher die Investitionen in die Solar- und Windtechnik ankurbeln soll. In den norddeutschen Ländern, insbesondere an der Küste, ist die Landschaft bereits „verspargelt“ mit Windrädern; in Süddeutschland überwiegen die ausgedehnten Freiflächen mit Solarkollektoren. All diese Privat- und Kleinproduzenten dürfen – vorrangig! – in das elektrische Leitungsnetz einspeisen und zwar ungeachtet, ob der Bedarf für ihren fluktuierenden Strom vorhanden ist oder auch nicht. Das Stromnetz ist instabil geworden, es „vibriert“ jetzt schon, denn es ist auf diese vielen dezentralen „Flatterstrom“-Produzenten nicht ausgelegt. In diesem Buch werden vor allem die Auswirkungen der Energiewende auf die Stromwirtschaft beschrieben; die Folgen für die Wärmewirtschaft (Dämmung etc.) sind noch gar nicht überschaubar.
Die großen Energieversorgungsunternehmen und Stadtwerke, welche bisher ihren Strom auf Nachfrage lieferten, sind auf dieses angebotsorientierte Produktionssystem nur unzureichend eingestellt. Entsprechend hat sich ihr Börsenwert seit Fukushima praktisch halbiert. Trotzdem wird von ihnen verlangt, auch in der kalten Jahreszeit, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, die deutsche Stromversorgung sicherzustellen. Das ist nur möglich durch den vermehrten Einsatz von preiswerter Braun- und Steinkohle, was den ökologisch bedenklichen Ausstoß an Kohlendioxid in die Höhe schnellen lässt. Zudem lassen die überzogenen Fördersätze den Strompreis stark ansteigen. Die privaten Verbraucher klagen über die sogenannte EEG-Umlage, die Industrie möchte von diesen Mehrkosten befreit werden und droht mit der Abwanderung ins Ausland.
Die Energiewende und der Atomausstieg – made in Germany – ist ein energie-wirtschaftliches Lehrstück mit hohem Risiko, gewissermaßen eine Operation am offenen Herzen unserer Volkswirtschaft. In diesem Buch wird in einem weiten Bogen der historische Aufstieg der deutschen Energiewirtschaft seit der Gründung der großen Stromkonzerne geschildert, bis zu ihrem heutigen, politisch erzwungenen Niedergang. Die Folgen werden uns alle in den kommenden Jahren noch heftig bewegen.
Denn: Strom ist nicht alles, aber ohne Strom ist alles nichts.
Dr. Willy Marth
Karlsruhe, Mai 2015
willy.marth@t-online.de
Der Ausbau der deutschen Elektrizitätswirtschaft, von der physikalischen Entdeckung der Elektrizität bis zu ihrer großflächigen Bereitstellung durch die Stromkonzerne, dauerte gut hundert Jahre. Nur drei Jahre dauerte es hingegen, bis diese Konzerne durch die politischen Entscheidungen zur Energiewende bis an die Grenze der wirtschaftlichen Insolvenz getrieben wurden. Es ist deshalb angemessen, den Aufstieg dieser verdienstvollen Unternehmen im Anfangskapitel dieses Buches zu dokumentieren und ihre jetzige wirtschaftlich desolate Lage zum Schlusskapitel. Ob unsere politischen Zauberlehrlinge in Deutschland mit der Energiewende und dem Atomausstieg dies tatsächlich bewirken wollten, ist zu bezweifeln, aber letztlich unerheblich. Fakt ist, dass durch eine Reihe ihrer Vorgaben – zum Beispiel der vorrangigen Einspeisung von Wind- und Solarstrom in das öffentliche Netz – das technisch fein austarierte Gefüge der Elektrizitätswirtschaft weitgehend zerstört wurde, welches ein Jahrhundert lang wesentlich zum Aufbau des international geachteten deutschen Industriestandorts beigetragen hat.
Die Väter der Stromwirtschaft: Die physikalische Entdeckung der Elektrizität und ihre technische Entwicklung geschah in kleinen Schritten etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die breite Öffentlichkeit wurde erstmals mit dem Phänomen Strom im Jahr 1881 bei der Weltausstellung in Paris konfrontiert. Es war das Eintrittsdatum der Glühlampe in den europäischen Markt. Der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison hatte seine Ausstellungsräume in Paris mit Glühlampen beleuchtet, in denen er einen Kohlefaden mit Strom zum Leuchten brachte. Auf einem kleinen Tisch stand eine Lampe, die man mit einem Schalter „anzünden“ und abschalten konnte. Aber Meister Edison hatte nicht nur die Glühlampe mit dem Schalter erfunden, sondern auch alles weitere, welches man im Umgang mit Starkstrom benötigte, nämlich: Steckdosen, Fassungen, Klemmen, Sicherungen und den Stromzähler. Eine Dampfmaschine von stattlichen 120 PS trieb einen 50 Kilowatt Siemens-Dynamo an und sorgte damit für die nötige Stromzufuhr.
Abb.1: Thomas Alva Edison (1847-1931), mit Glühbirne
Der deutsche Maschinenbauingenieur und Unternehmer Emil Moritz Rathenau zeigte Interesse an Edisons Erfindung und es gelang ihm, sich die Rechte an dieser Technologie zu sichern. So entstand 1983 die Deutsche Edison Gesellschaft, aus der 1887 die Allgemeine Elektricitäts Gesellschaft hervorging, welche später unter dem Kürzel AEG bekannt wurde. Rathenau schloss mit der Reichshauptstadt Berlin einen sogenannten Konzessionsvertrag ab, wonach die Stadt zehn Prozent der Bruttoeinnahmen erhielt. Dieser Vertragstyp hatte Vorbildcharakter für weitere Abschlüsse dieser Art in ganz Deutschland. Binnen kurzem löste das neue Licht das herkömmliche Gaslicht ab, mit dem unter anderem die Berliner Brauereien unzufrieden waren, weil es die Luft in ihren Gärkellern zu stark erhitzte und damit angeblich die Qualität des Bieres beeinträchtigte. Nach dem Tod von Emil Rathenau im Jahr 1915 übernahm sein Sohn Walther Rathenau das Präsidium bei der AEG. Als deutscher Außenminister wurde er 1922 bei einem Attentat in Berlin ermordet.
Auch Werner Siemens (der Adelstitel wurde ihm erst 1888 vom „Hundert-Tage-Kaiser“ Friedrich III. verliehen) war auf der Pariser Weltausstellung gewesen. Als bereits 66-jähriger war er zwar noch Anhänger der alten Bogenlampe, aber zu dieser Zeit schon weltberühmt. Denn er hatte im Jahr 1866 das elektrodynamische Prinzip entdeckt, womit die Produktion von Dynamomaschinen zur Erzeugung starker elektrischer Ströme überhaupt erst möglich wurde. Aus einer kleinen Werkstatt für den Telegrafenbau von zehn Arbeitern heraus – der Partner Halske war längst ausgeschieden – entwickelte er in 35 Jahren einen Weltkonzern mit Niederlassungen in vielen Ländern und wurde damit zum Multimillionär. Seine Spezialität war allerdings der Schwachstrom. So baute er das von dem Amerikaner Alexander G. Bell entwickelte Telefon ungeniert einfach nach, da es in Deutschland nicht patentiert war. Der Verkauf dieses Geräts erbrachte ihm eine Gewinnmarge von über 50 Prozent! Mit Emil Rathenau teilte Werner von Siemens den Elektrizitätsmarkt in Deutschland in zwei Monopole auf, noch bevor es ihn überhaupt gab: Rathenau sollte den Bau von Kraftwerken und den Stromverkauf übernehmen, gleichzeitig verpflichtete er sich, bei Siemens alle Komponenten, wie Dynamos, Motoren und Kabel, zu kaufen.
Gleichstrom versus Wechselstrom: Kehren wir nochmals zurück zu Meister Edison. Ihm war inzwischen Konkurrenz im eigenen Land erwachsen. Ein gewisser George Westinghouse, der mit der Erfindung der Druckluftpumpe bei den Eisenbahnen ein Millionenvermögen angehäuft hatte, wandte sich plötzlich der Elektrizität zu und propagierte den Wechselstrom, den er zwar nicht selbst entdeckt hatte, von dessen Potential er jedoch überzeugt war. Im Gegensatz zum bis dahin verwendeten Gleichstrom konnte man Wechselstrom über lange Strecken übertragen und mit den gerade erfundenen Transformatoren fast beliebig hinauf- und herabtransformieren. Leider fiel bei Gleichstrom die niedrige Spannung von ca. 110 Volt – welche mit den damaligen Gleichstromgeneratoren und Kommutatoren erzeugt werden konnte - schon nach etwa zwei Kilometern so weit ab, dass ein neues Kraftwerk („Block“) innerhalb der Stadt errichtet werden musste. Westinghouse nützte diesen Mangel und kaufte alle Patente auf dem Gebiet des Wechselstroms sowie der Transformatoren auf und begann mit dem Bau von Kraftwerken außerhalb der Städte. Edison konterte mit dem Hinweis auf die gesundheitlichen Gefahren dieser Stromart, indem er öffentlich Hunde und sogar Pferde durch Wechselstromschläge „hinrichten“ ließ und diese Exekutionsart polemisch als „westinghousen“ bezeichnete. Ohne Erfolg. Es brachte ihm nur den zweifelhaften Ruf ein, Erfinder des elektrischen Stuhls zu sein, auf den er als Gegner der Todesstrafe gerne verzichtet hätte. Das bessere System setzte sich in der Folge durch und das war nun mal der Wechselstrom. Mit dazu beigetragen hat der serbischstämmige Nikola Tesla, der den Mehrphasen-Wechselstrom erfand, welcher später zu den Drehstrommaschinen führte.
Auch in Deutschland begann man sich für den Wechselstrom zu interessieren. Der Bauingenieur Oskar von Miller erarbeitete sich im Selbststudium die Grundlagen der Elektrizität und schon bei der elektrotechnischen Ausstellung im Jahr 1882 in München konnte er die Übertragung des elektrischen Stroms über eine Entfernung von 60 Kilometern - nämlich zwischen Miesbach und München - präsentieren. Später gelang ihm sogar die Fernübertragung von 20.000 Volt Drehstrom über die 176 Kilometer lange Distanz von Lauffen am Neckar bis nach Frankfurt am Main.
Der „Wechselstromkrieg“ brachte den Unternehmer Thomas A. Edison in beträchtliche Schwierigkeiten. Seine vormaligen Freunde an der Wallstreet in New York wollten ihm keine Kredite mehr geben, sondern (ohne Risiko) an den weltweit anfallenden Lizenzgebühren partizipieren. Edison trat deshalb die Flucht nach vorne an und steckte all sein Geld in die Vorarbeiten zum Bau des ersten Kraftwerks für die Stadt New York. Einige Minderheitsaktionäre scharten sich jedoch schlauerweise um den Wallstreet-Financier J. B. Morgan. Als die Einnahmen sprudelten, schlugen die Morgan-Leute eine Verdreifachung des Stammkapitals vor, wobei Edison - der keine Ahnung von Finanzgeschäften hatte - nicht mitziehen konnte. So wurde er plötzlich zum Minderheitsaktionär in seiner eigenen Firma. Die Gewinne des Unternehmens wanderten überwiegend in die Taschen von J. B. Morgan. Unter dem Druck der Bank brachte Edison seine übrigen Werke in die gegründete Muttergesellschaft Edison General Electric ein, wo er nun nur noch ein Viertel des Aktienkapitals hielt. Als dann aber wiederum das Stammkapital erhöht wurde, blieben dem Erfinder lediglich noch 10 Prozent an seinem Unternehmen. J. B. Morgan hatte in wenigen Jahren einen Gewinn von 350 Prozent erzielt.
Die Begründer des RWE: In Deutschland wurde das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk AG (RWE) 1898, also vor 117 Jahren gegründet. Richtig aufwärts ging es mit dem RWE allerdings erst, als 1902 Hugo Stinnes und August Thyssen dort die Führung übernahmen. Sie waren kongeniale Unternehmerpersönlichkeiten und bezogen von Anbeginn die regionalen Kommunen wie Mülheim, Gelsenkirchen etc. in ihre Geschäfte als Aktionäre mit ein. Im Jahr 1910 hatten diese Gemeinden erstmals die Mehrheit der RWE-Aufsichtsratssitze, aber Stinnes und Thyssen ließen sich die Unternehmensführung nicht aus der Hand nehmen. Dabei waren sie vom Charakter her total verschieden. Hugo Stinnes, ein prüder Protestant, sorgte patriarchalisch für seine Frau, eine gebürtige Wagenknecht, die 101 Jahre alt wurde und ihm sieben Kinder geboren hatte. August Thyssen hingegen, nur 1,54 groß und geschiedener Katholik, hatte eine Vorliebe für dralle Damen und derbe Witze.
Kostenbewusst waren beide. Thyssen schrieb beispielsweise an seine Direktoren: „Ich bitte die Herren (Damen waren damals noch nicht präsent) zur nächsten Sitzung einige Butterbrote mitzubringen, damit wir durch das Mittagessen keine Zeit verlieren“. Stinnes pflegte als Aufsichtsratsvorsitzender die alljährliche Generalversammlung mit den Tagesordnungspunkten Geschäftsbericht, Dividende und Entlastung innerhalb einer einzigen Minute – ohne Erörterung – abzuhandeln. Immerhin verkündete er zum Schluss: „Ich schließe die Versammlung und lade die Herren Aktionäre zu einem bereitstehenden Frühstück ein“.
Das Deutsche Reich verlor zwar 1918 den Ersten Weltkrieg, aber das RWE konnte, dank der Belieferung der Rüstungsindustrie, seinen jährlichen Stromabsatz von 290 auf 800 Millionen Kilowattstunden steigern und dabei prächtige Gewinne machen. Nach Kriegsende ahnte Stinnes, dass eine Inflation kommen würde und stellte sich entsprechend darauf ein. Er kaufte Sachwerte (Firmen, Aktien, Rohstoffe) auf Kredit und zu niedrigen Zinsen, hielt aber andererseits alle Guthaben seines verschachtelten Unternehmens in Devisen.
Der Wertverlust der Mark eliminierte die Kreditverbindlichkeiten, der Devisenwert steigerte sich umgekehrt proportional. Kein Wunder, dass Stinnes zum größten Inflationsgewinnler der Weimarer Republik wurde und entsprechend verhasst war.
Abb.2: Hugo Stinnes (1870-1924), Mitbegründer des RWE
Aber im Jahr 1924 ereilte Hugo Stinnes eine schwere Krankheit und er starb im Alter von 54 Jahren. Noch auf dem Sterbebett schärfte er seinen Söhnen ein: „Denkt daran, was für mich Kredit ist, sind für euch Schulden. Eure Aufgabe wird sein: Schulden bezahlen, Schulden bezahlen, Schulden bezahlen.“ Aber seine noch nicht 30 Jahre alten Söhne hielten sich nicht an den Rat des Vaters, sondern machten weitere Schulden. Ein Jahr nach dem Tod von Hugo Stinnes zerfiel das auf Kredit zusammengezimmerte Imperium.
Nur das RWE überlebte!
RWE wurde zur Keimzelle der deutschen Stromwirtschaft und des Verbundbetriebs. Auf den früh verstorbenen Hugo Stinnes folgte der kongeniale Arthur Koepchen, der 1906 als junger Kabelingenieur zum Unternehmen kam und von 1917 bis 1945 sehr erfolgreich als Vorstand wirkte. Er baute das kommunale Prinzip seines Vorgängers weiter aus: die Stadt- und Landkreiskommunen hatten als Aktionäre des RWE-Stromnetzes zwar nicht die Kapitalmehrheit, aber die Mehrheit der Stimmen. Sie bekamen hohe Dividenden und erhielten sogenannte Konzessionsabgaben sowie zinsbillige Kommunaldarlehen zur Finanzierung ihrer Bedürfnisse. Zusätzlich gönnte Koepchen den Bürgermeistern, Oberbürgermeistern und Landräten im Aufsichtsrat stattliche persönliche Tantiemen in der Höhe ihrer Beamtensaläre. (Auch Konrad Adenauer, der Kölner Oberbürgermeister und spätere Bundeskanzler, war zeitweise Mitglied des RWE-Aufsichtsrats.)
Der Aufstieg des RWE: Die Gebietsmonopolisierung wurde von RWE mit aller Macht verfolgt. Das Unternehmen akquirierte alle kommunale Lichtstrom- und Straßenbahnkraftwerke in seiner Nähe und integrierte sie in den Konzern. Nur die starrköpfigen Dortmunder Elektrizitätswerke östlich von Essen und Gelsenkirchen wollten sich dem Expansionsdruck der RWE-Strategen nicht beugen. Sie schlossen sich später mit anderen Regionalgesellschaften des Ruhrgebiets zu den Vereinigten Elektrizitätswerken Westfalen (VEW) zusammen.
Für Koepchen war das der Anlass, den Blick nach Süden ins Rheinland zu richten. Ein Coup gelang ihm mit dem Erwerb der Frankfurter Firma Lahmeyer, welche die Chemieunternehmen Hoechst und BASF mit Strom versorgte. Aber das war nur eine Zwischenstation. Das nächste Ziel des umtriebigen Managers war der „weiße“ Strom aus den Wasserkraftwerken des Rheins und der nahen Schweiz. Dafür musste allerdings die Spannung in den Überlandleitungen auf 220.000 Volt gesteigert werden, eine Aufgabe, welche die Firmen Siemens, AEG und Felten & Guilleaume für RWE lösten. Bald gab es eine Trasse von 800 Kilometern Länge, welche von Süd- nach Westdeutschland führte. Bis zum Jahre 1930 verlegte RWE insgesamt 4.100 Kilometer an Höchstspannungsleitungen. Neben dem Schluchseekraftwerk im Schwarzwald wurden zwei Flusskraftwerke am Hochrhein und an der Aare in Betrieb genommen. Damals kam es erstmals zum Austausch des weißen Stroms in der Spitzenzeit und zum nächtlichen Rückfluss des schwarzen Pumpstroms. Als Stromproduzent und Stromverkäufer stand das RWE zu jener Zeit an der Spitze Europas.
Konkurrierende Energieversorger entstehen: Die Expansion des RWE wurde von den übrigen Konkurrenten in Deutschlands mit Misstrauen beäugt. Bald kam es auch in anderen deutschen Ländern zu Konzentrationen, wobei sich die jeweils größten Kraftwerksbetreiber zusammenschlossen. So entstand schon 1921 die Badenwerk AG. Auch hier griff man nach der Wasserkraft. In einem der schönsten Täler des Nordschwarzwaldes, bei Forbach, wurde das erste Kraftwerk des neugegründeten Unternehmens gebaut, wo 14 Millionen Kubikmeter an Stauwasser zur Stromgewinnung zur Verfügung standen. Im gleichen Jahr entstand auch die Bayernwerk AG und Oskar von Miller erfüllte sich seinen Traum durch den Bau des Speicherkraftwerks am Walchensee, das schon 1924 in Betrieb genommen werden konnte. Übrigens: Das Walchenseekraftwerk ist, entgegen landläufiger Meinung, kein Pumpspeicherkraftwerk. Denn dort wird nicht gepumpt, sondern das im Walchensee natürlich zulaufende Wasser wird gespeichert und bei Bedarf über das Kraftwerk im Kochelsee abgelassen. Weil der natürliche Zulauf jedoch nicht groß genug ist, wurden der Rissbach und ein Teil der Isar in den Walchensee umgeleitet. Das badische und das bayerische Unternehmen arbeiteten mit dem RWE relativ friedlich zusammen, indem sie sich mit dem sogenannten Verbundbetrieb einverstanden erklärten. Darunter verstand man den Zusammenschluss der Kraftwerke mit verschiedenen Kostenstrukturen über ein Hochspannungsnetz. Das Ziel war die kostenoptimale Ausnutzung aller Kraftwerke und die Gewährleistung der Versorgungssicherheit.
Probleme gab es allerdings in dieser Frühzeit mit den „östlichen“ Ländern. Die VEW AG wollte ihre Eigenständigkeit bewahren; in ähnlicher Weise wollte sich auch der damals noch existierende große Staat Preußen dem mächtigen RWE nicht beugen. Er bündelte seine verschiedenen Beteiligungen an Energieversorgungsunternehmen 1927 zur Preußischen Elektricitäts AG, die später unter PreußenElektra AG (Preag) firmierte und zwei Jahre danach unter dem Dach der Staatsholding Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerks- AG (VEBA) zu einem der größten industriellen Konglomerate der Weimarer Zeit wurde. In Württemberg hielt man noch bis zum Jahr 1938 an der dezentralen Stromversorgung fest, bis man sich zur Gründung des zentralen EVU Energieversorgung Schwaben (EVS) durchringen konnte.
Die Aufteilung der deutschen Stromwirtschaft auf ein gutes halbes Dutzend Regionalmonopole währte erstaunlicherweise praktisch 80 Jahre lang bis zum Anbruch des neuen Jahrtausends. Und das, obwohl es in dieser Zeitspanne drei hochgradige politische Umschwünge gab. Der erste war die Machtübernahme durch die Nazis im Jahr 1933. Sie waren fest entschlossen mit ihrem 1935 verabschiedeten Energiewirtschaftsgesetz die monopolistischen Strukturen der Stromwirtschaft zu zerschlagen. Aber das gelang ihnen unter anderem deshalb nicht, weil die regionalen Stromunternehmen in Reichsminister Hjalmar Schacht einen einflussreichen Fürsprecher besaßen, der die Ausführung des Gesetzes bis zum Kriegsanbruch hinhalten konnte. Ab diesem Zeitpunkt waren die Stromerzeuger in die Kriegswirtschaft eingebunden und für Umorganisationen war nicht mehr die rechte Gelegenheit.
Der Wiederaufbau nach Weltkrieg II: Nach 1945 lag die Energiewirtschaft arg darnieder. Viele Kraftwerke und Hochspannungsleitungen waren zerstört, das Verbundsystem funktionierte nur noch mangelhaft. Aus diesen Gründen und zur Wiederherstellung der Infrastruktur verzichteten die Alliierten auf die Demontage der Elektrizitätswerke und die Entflechtung der Energiewirtschaft – im Gegensatz beispielsweise zu den Chemiewerken IG-Farben. Bereits 1948 schlossen sich die wichtigsten EVU wieder zum schnellen Ausbau der Verbundwirtschaft zusammen. Mit bei der Partie waren die bekannten Namen RWE, Preag, VEW, Badenwerk, Bayernwerk, EVS sowie die Hamburgischen Elektrizitätswerke (HEW) und die Berliner Elektrizitätswerke AG (Bewag). 1980 kam es sogar zum sogenannten „Jahrhundertvertrag“ zwischen dem Verband der Deutschen Steinkohle und den Stromerzeugern. Zur Sicherung des deutschen Steinkohleabsatzes gegenüber der wesentlich billigeren Importkohle sollte bis 1995 der sogenannte „Kohlepfennig“ dienen.
Das dritte hochpolitische Datum war der Fall der Berliner Mauer 1989 und die Wiedervereinigung im Jahr 1990. Die westdeutschen Energiegiganten RWE, VEBA und das zum VIAG-Konzern gehörige Bayernwerk kamen mit einem ausgetüfteltem Konzept in den Osten und wollten sich in einer Blitzaktion die Stromversorgung der DDR einverleiben. Sie schlossen sich in den Vereinigten Energiewerken AG (VEAG) mit Sitz in Berlin zusammen und wollten Rechtsnachfolgerin der ehemaligen DDR-Kombinate „Braunkohlenkraftwerke“ und „Verbundnetze Energie“ werden. Das funktionierte nur partiell, weil die ostdeutschen Kommunen an der lukrativen Energieversorgung ebenfalls teilhaben wollten und deshalb das Bundesverfassungsgericht anriefen. (Dabei wurden sie von den kleineren westdeutschen EVU unterstützt). Ende 1994 einigte man sich auf einen Kompromiss: die BRD-Konzerne RWE und Preag übernahmen je 26,5 Prozent der VEAG-Anteile, das Bayernwerk erhielt 22,5 Prozent. Die restlichen 25 Prozent teilten sich die Bewag, EVS, HEW und VEW. In der Folge zählte die Deutsche Verbundgesellschaft neun große Stromkonzerne, die das vereinigte Deutschland nahezu flächendeckend beherrschten: RWE, Preag, VEW, Bayernwerk (VIAG), Badenwerk, HEW, EVS, Bewag und VEAG. Der Kuchen war gegessen, die Monopolisten waren wieder unter sich!
Großfusionen: Um das Jahr 2000 wurde – aus Gründen, die im nächsten Abschnitt näher beschrieben werden – unter den deutschen EVU ein gewaltiges Fusionskarussell in Gang gesetzt. Aus noch relativ überschaubaren neun stromerzeugenden Regionalmonopolisten wurden nun vier gigantische Energiekartelle bzw. Mischkonzerne. Den Anfang machten die EVU in Baden-Württemberg. Im Januar 1997 entschloss sich dieses Land, die ihm mehrheitlich gehörenden EVU Badenwerk und EVS zur Energie Baden-Württemberg (EnBW) zusammenzuschließen. In der Folge übernahm die EnBW noch die Neckarwerke Stuttgart sowie Teile der Stadtwerke Düsseldorf und Oldenburg. Dazwischen verkaufte das Land Baden-Württemberg seinen Aktienanteil von 25,5 Prozent an den französischen Stromkonzern Electricité de France (EdF) für 2,4 Milliarden Euro.
Im Fahrwasser von EnBW konnten nun auch die beiden nordrhein-westfälischen Rivalen RWE und VEW ihre jahrzehntelang gehegten Antipathien überwinden, indem sie im Juli 2000 zur Firma RWE AG fusionierten. Zuvor hatte RWE (alt) seine Stimmrechtsverhältnisse neu geordnet. Die Namensaktien mit 20-fachem Stimmrecht wurden in einem geschickten Schachzug in Stammaktien mit einfachem Stimmrecht gewandelt, womit sich die Stimmrechte der kommunalen Aktionäre von 57 auf 30 Prozent reduzierten. Die neue RWE diversifizierte in die Branchen Energie, Bergbau, Rohstoffe, Mineralöl, Chemie und Entsorgung – hielt aber noch an der Beteiligung von Unternehmen wie Heidelberger Druckmaschinen und der Baufirma Hochtief fest.
Im Juni 2000 entstand aus der Fusion der beiden Mischkonzerne VEBA und VIAG die neue Firma E.ON. Die Tochter E.ON-Energie wurde aus den Töchtern Preag und Bayernwerk gebildet. E.ON betätigte sich neben dem Stromgeschäft in den Sparten Erdgas, Mineralöl, Chemie, Telekommunikation, Wasser, Entsorgung und Stahlhandel und besaß mehr als hundert Beteiligungsgesellschaften. (Alternative Schreibweisen für E.ON: E.on bzw. e-on)
Das Quartett vervollständigte der schwedische Staatskonzern Vattenfall (übersetzt: Wasserfall), der im Juli 2002 mehrheitlich Anteile an den Energieversorgungsfirmen HEW, VEAG und der Lausitzer Braunkohle erwarb. Zusammen mit der schon früher gekauften Bewag und nach einer Aktienbereinigung wurde daraus die Vattenfall GmbH als viertgrößter Energiekonzern.
Aus ursprünglich neun regionalen Strommonopolen war nun ein Oligopol von vier Energie-, Strom- und Industrieunternehmen entstanden, die sich Deutschland aufgeteilt hatten. Mit einem Hauch an Ironie nannte man sie die „Quadriga“.
Das Energiewirtschaftsgesetz: Was war die Ursache für diese ungeheure Fusionswelle, die durch das Land ging und die Struktur der Stromkonzerne total veränderte? Nun, die Unternehmen hatten über ihre Lobby-Verbände mitbekommen, dass die Europäische Union (EU) in Brüssel an einer Richtlinie arbeitete, welche für mehr Wettbewerb in der Stromwirtschaft sorgen sollte. Mit dieser Liberalisierung des Energiemarktes (auch die Sparte Gas war dabei) wollte die EU erstmals die Millionen Privathaushalte in die Lage versetzen, sich ihren Stromlieferanten selbst und frei zu wählen. Hatten die Verbraucher bislang die Geschäftsbedingungen und Preiskalkulationen ihrer örtlichen Monopolisten ohne nennenswerten Widerspruch zu akzeptieren – weil sonst der Strom oder das Gas abgeschaltet worden wäre – so sollten sie sich jetzt auch für andere Stromanbieter entscheiden können, falls diese ihren Strom billiger verkauften. Was Brüssel vorhatte konnte man mit Fug und Recht als die durchgreifendste energiepolitische Neuerung der letzten Jahrzehnte bezeichnen. Durch ihre Großfusionen in einem bereits engen Oligopol glaubten die Stromkonzerne sich gerade noch richtig positioniert zu haben für den bevorstehenden Preiskampf.
Als der Bundespräsident Roman Herzog am 26. April 1998 das Energiewirtschaftsgesetz unterzeichnete, gaben die Strompreise tatsächlich sogleich deutlich nach. Eine Vielzahl von neuen Anbietern, sowie Strommaklern, Agenten etc. bearbeiteten den Markt und überschütteten die Bürger mit preiswerten Angeboten. Sogar „Billig-Töchter“ der früher monopolistischen Mütter mischten dabei kräftig mit. Zu nennen sind Avanca, eine Tochter des RWE-Konzerns, sowie Eprimo, ein Abkömmling der E.ON. Besonders viel Rummel machte die Vertriebsgesellschaft Yello, für die EnBW jahrelang den Kabarettisten Harald Schmidt werben ließ. „Unser Strom ist gelb“ verkündete er im Fernsehen und nicht wenige Zuschauer glaubten ihm. Auch Öko-Anbieter, wie Naturstrom, Lichtblick, EWS Schönau und Greenpeace Energy tummelten sich auf dem deutschen Strommarkt. Ihre Preise lagen aber meist über Marktniveau und der Kundenstamm war entsprechend überschaubar.
Das schnelle Ende des Wettbewerbs: Aber die Euphorie an der Preisfront dauerte nur knapp zwei Jahre. Im Jahr 2000 hatten die Energieriesen die Sache wieder im Griff. Zu Hilfe kam ihnen ein Geburtsfehler des Energiewirtschaftsgesetzes: darin waren nämlich die Netzentgelte für die Durchleitung von „Fremdstrom“ nicht geregelt. An dieser Preisschraube ließ sich trefflich drehen, sodass für wechselbereite Interessenten letztlich kein Vorteil mehr heraussprang. Als Folge mussten viele engagierte private Strommakler das Feld räumen und die Großen waren wieder unter sich. Mit Ausnahme von Yello, die nach eigenen Angaben eine Million Kunden hat, wurden die anderen Billig-Töchter rasch wieder „eingedampft“. Im Jahr 2001 besaßen die zehn größten Stromanbieter in Deutschland einen Marktanteil von 80 Prozent.
Eine Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes im Jahr 2005 sollte diese Lücke schließen. Seine wesentlichen Eckpunkte waren die Entflechtung der Stromnetze (hierüber Näheres im nächsten Abschnitt) sowie die Überprüfung der Netzentgelte und der Durchleitungstarife durch die Regulierungsbehörde Bundesnetzagentur. Das brachte mehr Transparenz in das Stromgeschäft, sodass die Haushalte derzeit die Wahl zwischen ca. 100 Stromanbietern und 30 Gasversorgern haben. Aber die Euphorie der früheren Jahre ließ sich nicht mehr herstellen. Mit dazu beigetragen hat der Umstand, dass immer wieder unseriöse Privatanbieter insolvent wurden, worunter hunderttausende von Kleinkunden zu leiden hatten, weil sie in finanzielle Vorleistung gegangen waren. Die bankrotten Firmen TelDaFax und Flexstrom sind dafür abschreckende Beispiele. Viele Kunden befürchteten in solchen Fällen „ohne Strom“ dazustehen, obwohl per Gesetz der regionale Versorger in diesen Notfällen zur Ersatzlieferung verpflichtet ist. Im Fazit kann man heute feststellen, dass Statistiken zufolge, seit Beginn der Strommarkt-Liberalisierung lediglich ein Viertel aller Bundesbürger ihren Stromanbieter gewechselt hat.
Bei den Bestrebungen der EU-Kommission nach Entmonopolisierung der Stromkonzerne gerieten bald auch deren Leitungsnetze ins Visier. Dies waren insbesondere die Höchstspannungsnetze, welche den Strom in den Spannungsstufen 220.000 und 380.000 Volt zu den regionalen Hoch-, Mittel- und Niederspannungsverteilnetzen transportieren. Aus Sicht der Brüsseler Behörde stellten diese Hochvoltnetze „natürliche Monopole“ der vier Oligopolisten dar, die es zu „zerschlagen“ galt. Diese Leitungen verbinden darüber hinaus das deutsche Stromnetz mit den Nachbarländern, und die Betreiber haben stets das physikalische Gleichgewicht zwischen Ein- und Ausspeisung zu gewährleisten. Dies ist keine leichte Aufgabe, denn wegen der vielen Kraftwerke und der vielen Nutzer kann es durchaus zu Spannungsstörungen bis hin zum gefürchteten „Black-out“ kommen. Das Gerangel zwischen Brüssel, dem deutschen Wirtschaftsministerium und den vier Energieversorgungsunternehmen E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall dauerte volle zehn Jahre (von 1997 bis 2007) und kann hier nur ansatzweise dargestellt werden. Zum Schluss einigte man sich darauf, die HochvoltÜbertragungsnetze in eigene Gesellschaften (GmbH’s) zu überführen, die von der Bundesnetzagentur zu überwachen waren.
Neue Eigentümer für die Übertragungsnetze: Am schnellsten konnte sich die EnBW in der neuen Situation zurechtfinden. Sie gründete schon 1997 für ihre Übertragungsnetze die 100 Prozent-Tochter TransnetBW GmbH mit Sitz in Stuttgart. Die Netzleitstelle des neuen Unternehmens befindet sich in Wendlingen am Neckar. TransnetBW betreibt das Übertragungsnetz in Baden-Württemberg. Die Höchstspannungsleitungen von 380.000 bis 220.000 Volt (entsprechend 380 bis 220 kV) des Unternehmens sind gut 3.200 km lang. Das Netz ist über 80 Transformatoren mit dem regionalen Verteilnetz (110 kV) verbunden. TransnetBW beschäftigt ca. 300 Mitarbeiter und erzielt einen Jahresumsatz um 5 Milliarden Euro.
Im Osten Deutschlands, also in der Region von Vattenfall, kam es im Jahr 2003 zur Gründung der 50Hertz Transmission GmbH mit Sitz in Berlin. Dieses Unternehmen betreibt ein Höchstspannungsnetz mit einer Gesamtlänge von 9.700 km und deckt damit rd. 30 Prozent der Fläche Deutschlands ab. Die Gesellschaft beschäftigt ca. 600 Mitarbeiter und erzielt einen Jahresumsatz von etwa 6 Milliarden Euro. Nach eigenen Angaben versorgt das Unternehmen damit mehr als 18 Millionen Menschen mit elektrischem Strom. Im Jahr 2006 wurde 50Hertz Transmission für 465 Millionen Euro an den belgischen Netzbetreiber Elia und den australischen Infrastrukturfonds IFM verkauft. Elia besitzt 60 Prozent der Anteile und ist für das operative Geschäft zuständig.
RWE übertrug die Verantwortung für seine Höchstspannungsnetze im Jahr 2003 an die Amprion GmbH