NACHWORT zur Neuausgabe 2015
»Da wollten wir frei sein« ist erstmals 1983 in einem Jugendbuchverlag erschienen. Es war damals das erste Buch, das junge Menschen in Form von oral history, von erzählter Geschichte über das Schicksal und Leben deutscher Sinti informierte, über die Verfolgung in der NS-Zeit, über die Leidenszeit in den Konzentrationslagern und die versäumte Wiedergutmachung in der Bundesrepublik. Es erzählte auch von den Problemen der Nachkriegsgeneration bis hin zum Aufbegehren und den ersten Erfolgen der Bürgerrechtler, die es erreichten, dass der Völkermord an ihrer Minderheit endlich - mit 40jähriger Verspätung - von den Regierungen Schmidt und Kohl offiziell anerkannt wurde.
Der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre schrieb in der ZEIT:
»KAIN, WO IST DEIN BRUDER ABEL?
Hier berichten Vertreter von vier Sinti-Generationen vom Kaiserreich bis heute, wie sie in diesem ihren Deutschland gelebt haben, wie sie diffamiert und verfolgt, geschunden und befreit und abermals diffamiert worden sind…
Hier wird mit einer Vehemenz und Anteilnahme erzählt, die Kopf und Herz gleichermaßen beanspruchen, da Erinnerungsvermögen und Herzlichkeit der Erzählenden Ansprüche stellen, die unemotional gar nicht auslotbar sind. Man wird hier nicht nur betroffen, man muss betroffen werden bei der Lektüre dieses Buches. Ein Buch für Kain, um Abel kennenzulernen.«
Wenn wir dieses Buch heute wieder vorlegen, dann in dem Bewusstsein, dass das von Hildegard Lagrenne und ihrer Familie Erzählte 30 Jahre zurückliegt, von der Zeit geprägt war, und somit auch für die 70er und 80er Jahre ein aufschlussreiches Dokument ist. Erfreulich, dass sich vieles zum Besseren gewendet hat, - erschreckend und beschämend jedoch, dass heute immer noch Antiziganismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserem Land ihr menschenverachtendes Unwesen treiben. Grund genug, erneut mit Wolfdietrich Schnurre die Frage zu stellen:
Kain, wo ist dein Bruder Abel?
Vorwort zur Neuausgabe
Zuerst lernte ich sie auf dem »Musikfest der Zigeuner« 1979 in Darmstadt kennen, später trafen wir uns bei Dreharbeiten zu dem Spielfilm »Grandison« in Heidelberg und Ladenburg. Schließlich in ihrer kleinen Wohnung.
Hildegard Lagrenne, eine Sintizza aus Mannheim.
»Dass meine Mutter und ich in eurem Film mitspielen, ist ein Wunder. Wir Überlebenden sind die Ausnahme. Fast alle unsere Verwandtem wurden in Auschwitz und anderen KZ’s ermordet.«
Zigeuner - Noch hatte ich die Klischees und romantischen Vorurteile im Hinterkopf, und den Plan, das rätselhafte Volk, das man damals auch die »Indianer Europas« nannte, näher kennen zu lernen. Doch das Wenige und Falsche, was ich wusste, platzte angesichts der 85- und der 65-jährigen AuschwitzÜberlebenden wie eine Seifenblase, zerstob zum Nichts.
Geboren in der Kriegs-Zeit, aufgewachsen in der AdenauerÄra hatte ich bereits viel Müll und Murks im Kopf, vom freien lustigen Zigeunerleben am Waldrand nebst Lagerfeuer, das Foto meiner Cousine, die für ein paar Faschingstage weitrockig mit roter Blume im Schwarzhaar das exotisch-erotische Traumweib mimte, über den mitreissenden, damals noch als »Niggerjazz« verpönten Gitarrenswing eines Django Reinhardt bis hin zu jenem Kunstmaler, der auf der Galerie der hannoverschen Markthalle hoch über den Fisch-, Fleisch- und Obstbergen an seiner Staffelei saß und im Akkord ein Ölbild nach dem anderen malte, von einer braungebrannten, schwarzlockigen Zigeunerin mit feurigem Blick, halbgeöffneten Mieder und ein wenig Brustansatz. Das war in jenen prüden Zeiten schon ziemlich gewagt und wir Schüler schauten dem fleißigen Künstler gern über die Schulter. Die sinnlichen Schönheiten verkauften sich übrigens ebensogut wie Dreimaster in Seenot, hochragender Watzmann, oder röhrender Hirsch, - und hingen damals in manchem bundesdeutschen Schlafzimmer über dem Bett. Dazu dann der »Schwarze Zigeuner« oder Alexandras »Zigeunerjunge« im Radio - bei all dem Kitsch und Kokolores wollte ich nun doch gern mal etwas aus erster Hand erfahren, recherchieren und vielleicht sogar darüber schreiben.
Doch Hildegard Lagrenne hielt wenig davon.
»Über uns ist schon so viel geschrieben worden, meist Falsches, das wollen wir nicht mehr. Das Schlimmste kam von den Zigeunerexperten, den Rassenforschern, das hat uns den Tod gebracht. Das wollen wir nie wieder. Nein, keine Völkerkunde, schreiben Sie lieber mit uns zusammen. Nicht über uns.«
So entstand der Plan zu unserem gemeinsamen Buch.
Da wollten wir frei sein! Eine Sinti Familie erzählt - von der Kaiserzeit bis heute.
Vier Generationen einer Familie - von der 85jährigen Ältesten bis zu den Urenkeln - sollten zu Wort kommen und aus ihrem Leben erzählen: eine private Familiengeschichte, die aber zugleich auch ein Stück der allgemeinen deutschen Geschichte ist. Als Herausgeber habe ich mich bemüht, das, was in zahlreichen Gesprächen erfragt und gesagt wurde, möglichst unverfälscht, aber doch ausgewählt und konzentriert wiederzugeben.
Nach dem Abschreiben und der Bearbeitung der Tonbandprotokolle haben meine Gesprächspartner an der Schlussredaktion mitgewirkt, bis nach kritischer Durchsicht und mancher Änderung und Ergänzung die vorliegende Fassung zustande kam, mit der die »Erzähler-Autoren« und ich einverstanden waren.
Hildgard Lagrenne knüpfte die Kontakte, öffnete die Türen. Mit Klaus Fark, dem Mannheimer Fotografen und einem kleinen Diktiergerät besuchte ich die Angehörigen der Groß-Familie Kreutz/Lagrenne. Ausgemacht war, dass alle Gesprächspartner die Entscheidung und Endredaktion über das gesprochene Wort behielten und dass sie auch bei den Fotos Mitsprache und Entscheidung über die Bildporträts hatten: Bedingungen, die wir gern akzeptierten.
Auf keinen Fall aber dürfe das Schimpfwort, die Fremdbezeichnung »Zigeuner« auf den Titel des Buches, verlangte die damals 65-jährige. Denn »Da wollten wir frei sein!« sollte das erste Jugendbuch über diese verfolgte, verfemte und ermordete deutsche Minderheit werden.
Die Auflage könne zehnmal so hoch sein, murrte der Vertrieb des Verlages. »Zigeuner« verkaufe sich nun mal besser, mit »Sinti« könne weder der Buchhändler noch der Leser etwas anfangen.
Die Fremdbezeichnung sei nach wie vor beleidigend für sie, hielt Hildegard Lagrenne dagegen. Daran klebe das Blut ihrer ermordeten Verwandten. Jede Volksgruppe habe das Recht, mit dem richtigen Namen bezeichnet zu werden, ebenso wie jeder einzelne Mensch.
Wie meistens hatte Hildegard Lagrenne die besseren Argumente, behielt die Kontrolle über die Endfassung
Und hat es am Ende immer auch als »ihr Buch« und »ihre Geschichte« gesehen.
»Da wollten wir frei sein«, erschien zuerst im Weinheimer Beltz Verlag, später als Taschenbuch bei ARENA, fand ein großes Medieninteresse, erlebte mehrere Auflagen und stand auf den Bestenlisten des Deutschen Jugenliteraturpreises und des Gustav-Heinemann-Friedenspreises. Auch zwei Theaterstücke »Die Sinti-Revue« in Bruchsal und »Lustig ist das Zigeunerleben?« in Karlsruhe gingen auf die Erfahrungen ihrer Familie zurück. Und Hildegard Lagrenne wirkte beratend bei den Inszenierungen mit.
Schließlich hatte sie ja Bühnenerfahrung, sich selbst mehr als einmal als »altes Zirkuspferd« bezeichnet.
Als junger Tanzstar der Artisten- und Schaustellerfamilie Kreutz, die in den zwanziger und dreißiger Jahren mit ihren Musik-Shows durchs Rheinland zog, sei sie selbst oft auf den »Brettern, die die Welt bedeuten«, gestanden. Als andalusische Carmen oder als Czardas-Prinzessin im ungarischen Kostüm habe sie getanzt, »dass die Fetzen flogen«. So mancher »gadscho« wäre heimlich verliebt in sie gewesen, gestand sie, und dem berühmten »Molari« Otto Pankok habe sie in Düsseldorf Modell gestanden.
Wenn sie an ihre Glanzzeit erinnerte und alte vergilbte Fortos hervorkramte, durfte man fast schon befürchten, dass sie trotz Rheuma und Arthrose im Überschwang aus dem Sessel springen könnte, um eine Kostprobe zu geben.
Doch schnell erlischt der Glanz in ihren Augen. Von den 35 Angehörigen des Familenunternehmens haben die meisten den NS-Terror nicht überlebt. Ihr Leidensweg ging durch 35 Arbeits-und Vernichtungslager und endete in Auschwitz. Dort ermordeten die SS-Lagerärzte ihr Kind, das sie in der Gefangenschaft zur Welt brachte, sieben Stunden nach der Entbindung. Es sei ein Junge gewesen. Vergeblich habe sie nach dem Krieg um eine offizielle Anerkennung gekämpft, dass es diesen Sohn gegeben habe. Doch die SS hatte alle Unterlagen vernichtet. Sie wolle »Recht, nicht Rache« betonte sie in Anlehnung an Simon Wiesenthal. Einfach nur eine Bestätigung, dass ihr Kind sieben Stunden lang auf dieser Welt war. »Und dass so etwas niemals wieder geschieht!«
Nach der Befreiung führte ihr Weg - auf der Suche nach Überlebenden erst einmal quer durch Deutschland und endete in Mannheim auf dem Lagerplatz an der Hochuferstraße, später in Neckarau, im alten, aufgebockten Wohnwagen, unter kläglichen Ghetto-Bedingungen.
Dieter Preuss, der unvergessene, bedeutende Mannheimer Journalist, hat Hildegard Lagrenne schon früh die »Mutter Courage der Bürgerrechtsbewegung« genannt. Tatsächlich war sie mitsamt ihrer Familie von Anfang an dabei. Anton Franz, Dronja Peter, Reinhold und Ilona Lagrenne, um nur einige Namen zu nennen. Sie und ihre Familie hatten entscheidenden Anteil am Zusammenschluss der Sinti-Landesverbände unter Romani Rose bis hin zur Gründung des Zentralrats und des Dokumentations- und Kulturzentrums in Heidelberg.
Gemeinsam besuchten wir sie in ihrer kleinen Zweieinhalbzimmerwohnung auf dem Waldhof, in einer Obdachlosen-siedlung, die nach dem Abriss der Benzbaracken entstanden war. Hier haben viele Sintifamilien eine Heimat gefunden, nach dem Nachkriegselend, Notunterkünften in Wohnwagen und Baracken. Hier sind viele arme Leute beisammen, Flüchtlinge, Arbeitslose, Migranten, alleinerziehende Mütter, Arme, Kranke, Kinder und Jugendliche. Hier war Hildegard Lagrenne aufgrund ihrer Lebenserfahrung und Klugheit nicht nur für die Sinti Ansprechpartnerin und Respektperson, wurde liebevoll mit ihrem einstige Künstlernamen als Tänzerin »die Kola« genannt, worunter manche auch »die Königin« verstanden.
In dem sozialen Brennpunkt, in dem oft eine Minderheit gegen die andere ausgespielt wurde, mancher gern auf den anderen hinabschaute und immer noch die alten Vorurteile gegen »Zigeuner« grassierten, hatte sie den Kampf gegen das Auseinanderdividieren der Armen aufgenommen. Bei Groß und Klein war die »Tante Kola« eine unangefochtene Autorität. Unterstützt von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern wirkte sie in der Bewohnerinitiative mit, kämpfte für bessere Lebensbedingungen und schrieb in der Zeitung BeWoZet über die Geschichte und das Schicksal der deutschen Sinti in der NS-Zeit. Auf einer eigenen Seite vertrat sie die Forderungen der noch jungen Bürgerrechtsbewegung, des Verbands Deutscher Sinti, verstand aber auch zu feiern, war bei Festen dabei, unterstützte und beriet die jungen Menschen bei Schul- und Behördenproblemen, beim Aufbau eines Fußballplatzes und Jugendzentrums, des legendären Soulman-Clubs, mit Film-, Fotogruppe, Disco. Besonders stolz war sie auf die Sintijungen, die damals gerade den »1. FC Sinto« gegründet hatten, den ersten deutschen Sinti-Fußballverein.
Sie vermittelte den jungen Sinti trotz der Ghetto-Situation im sozialen Brennpunkt Selbstbewusstsein und Stolz auf die eigene Geschichte und Kultur, warb dafür, Bildungsdefizite aufzuholen und glaubte an ein gleichberechtigtes und vorurteilsfreies Zusammenleben. Auch und gerade hier. Immer wieder wurden die Tonbandprotokolle unterbrochen, weil »die Kola« bei Konflikten in der Siedlung gefordert war, als »Mediatorin« schlichten sollte.
Mit dem Erstarken der Bügerrechtsbewegung 1979 erweiterte sich ihr Aktionsradius weit über Mannheim und die Pfalz hinaus. An der Seite des jungen Bürgerrechtlers Romani Rose war sie sofort zur Stelle, wenn es gegen Diskriminierung, Benachteiligung ihrer Minderheit ging, prangerte unzumutbare Wohnverhältnisse, Campingplatzverbote, rassistische Übergriffe an. In ihrer großen Handtasche war »unser Buch« stets dabei, aber auch einige eingeschweißte Urkunden, zum Beweis, dass ihre, die Familie Kreutz, schon seit dem 18. Jahrhundert im Rheinland ansässig war, Bürger dieses Landes, länger als mancher andere Deutsche.
Schon früh engagierte sich Hildegard Lagrenne für die gleichen Rechte und nachzuholende Entschädigungen. Schnell übernahm sie nach der Gründung des Zentralrats politische Verantwortung, erst im Landesverband Baden-Württemberg, danach als Vorsitzende des Landesverbands Hessen. Eine Frau als Chefin - kein Problem - ihre natürliche Autorität war unbestritten. Auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter akzeptierten und bewunderten sie.
Sie war ständig auf Reisen. In Gedenkstätten und ehemaligen Konzentrationslagern, in Auschwitz, Buchenwald, in der Bundeshauptstadt Bonn, später im Berliner Bundestag, in Rom, im Vatikan beim Papst, auf Tagungen der Sinti in Kiel, Bad Boll, Mülheim, auf Kirchentagen in Köln, Düsseldorf, Hannover, Essen, auf Festen und Tagungen, war sie anzutreffen. Aber auch in Gerichtssälen, wie beim Prozess gegen den KZ-Aufseher König oder gegen den Darmstädter Oberbürgermeister Metzger, der die Unterkünfte der Roma in deren Abwesenheit einfach wegbaggern ließ.
Auf der Weltfrauenkonferenz der Uno in Genf wurde sie von der indischen Delegation mit einem Sari beschenkt. Nicht ohne Stolz zeigte sie uns ein Foto. Man habe gesagt, sie sähe darin aus wie ein Double von Indira Gandhi.
Dass der Weg zur Chancengleichheit und Gleichberechtigung auf Dauer nur durch bessere Bildung und Ausbildung erreicht werden kann, war ihr bewusst. Das sagte sie nicht nur, sondern half auch Enkeln und Urenkeln bei den Hausaufgaben, ging zu den Sprechtagen in die Schulen und unterstützte die jungen Menschen, wenn sie ausgegrenzt, verächtlich gemacht oder angegriffen wurden. Dann nahm sie resolut ihre große Handtasche und ging in die Schule zu den Lehrern oder zu den Eltern, verteidigte, diskutierte und versuchte zu schlichten.
Noch immer war der Antiziganismus in der Mehrheitsbevölkerung virulent, unterschwellig auch bei manchen Lehrern und Politikern.
Vorträge, Podiumsdiskussionen, Musikfeste, Konzerte, Lesungen, persönliche Begegnungen, meinte Hildegard Lagrenne, könnten helfen und der Weg zu einem neuen Miteinander sein. Mit der Gründung der Sinti-Werkstatt von Albersweiler in der Pfalz, in der Steinmetze, Geigenbauer und Korbflechter alte Handwerkstraditionen wieder aufnahmen, sollte der künstlerische und kulturelle Reichtum neu belebt und vorgestellt werden.
Dank unseres gemeinsamen Buches durfte ich oft an der Seite dieser außergewöhnliche Frau sein, sie in Schulen, Universitäten, Volkshochschulen, Bibliotheken in ganz Deutschland begleiten. Ich als Lesender, sie als Erzählerin und Zeitzeugin, die das zu Papier Gebrachte persönlich erlitten und erlebt hatte. Gut 300mal habe ich sie begleitet. Ich konnte miterleben, wie sie mit einfachen Worten schnell die Herzen und Köpfe der Zuhörer erreichte, Vorurteile und Ressentiments auflöste, Wege zur Verständigung und Versöhnung wies. In freier Rede fand sie schnell Bilder, Beispiele, einprägsame Formulierungen, überzeugte, egal, ob sie vor 30 oder 3000 Menschen sprach. Ihre Herzlichkeit und Menschlichkeit steckten an. Fast jeder fühlte sich persönlich von ihr angesprochen.
Sie kam nicht als Opfer, nicht als Anklägerin, sondern als Kämpferin für eine bessere Zukunft. Sie sprach immer auch für ihre eigenen Enkel und Urenkel. Nicht nur als Sintizza, sondern als Deutsche, als Angehörige einer Volksgruppe, die seit 600 Jahren in Deutschland zu Hause ist.
»Kinder, von den Alten erwarte ich nicht viel. Aber euch, den Jungen, gehört die Zukunft. Ihr könnt es besser machen, dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht, was wir erleben mussten, und das wollt ihr doch auch, dass alle Menschen friedlich und froh miteinander leben.«
Mit Menschen, die sie mochte, war sie sofort auf Du und Du, ließ sich von Rang und Namen nicht einschüchtern. Dem kleinen Steppke, der ihr eine Rose überreichte, schenkte sie ebensoviel Aufmerksamkeit wie dem Bischof, Bundespräsidenten oder Bürgermeister. Fotos und Zeitungsberichte zeigen sie mit Bundespräsident von Weizsäcker, mit der Bundestagspräsidentin Süssmuth, mit Heiner Geißler, Jochen Vogel, den Bundeskanzlern Schmidt und Kohl, aber auch mit Papst Johannes Paul.
»Wir können verzeihen, aber vergessen dürfen wir nicht!« In allen Medien war sie eine gefragte Interviewpartnerin. Ihr winziges Wohnzimmer wurde zum Fernsehstudio, wenn es um den Holocaust, das Schicksal der Sinti, um die Bürgerrechtsbewegung ging.
Als sie einmal von einer ausgewiesenen Feministin auf die Rolle der Frau angesprochen wurde, die doch traditionell eher untergeordnet wäre, und wo denn da die Emanzipation und Gleichberechtigung blieben, konterte sie: Emanzipation brauche sie nicht, die Rollen seien bei den Sinti seit Jahrhunderten nicht schlechter verteilt als bei anderen.
»Wissen Sie, bei uns heißt es immer, dass der Mann den Hut aufhat. Na schön. Aber das brauchen wir auch gar nicht, einen Hut auf dem Kopf, denn bei uns trägt jede Frau eine kleine Krone unter ihrem Haar, die sie zur Königin macht.«
Außerdem sei ja auch vieles im Wandel. Auch bei den anderen deutschen Frauen.
Als Vorstandmitglied im Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (seit 1981) war sie zwanzig Jahre lang bis zu ihrem Tode als Referentin mit der sozialen Betreuung von NS-Opfern und Verfolgten befasst.
Für ihre Aufklärungs- und Versöhnungsarbeit erhielt »die große alte Dame« der Bewegung 1997 im Ludwigsburger Schloß vom damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg.
»Ihre schrecklichen Erfahrungen verstanden Sie nie als einseitige Schuldzuweisung, sondern als Verpflichtung, für den Rechtsstaat einzutreten und jeder Form von Rassismus und Diskriminierung entgegen zutreten«, sagte Teufel in seiner Laudatio.
Auf die Ehrennadel und Verdienstmedaille war sie ebenso stolz wie auf das Eiserne Kreuz, das ihr Vater einst als Soldat für besondere Tapferkeit im Ersten Weltkrieg erhalten hatte. Als Schmuck und weitere Auszeichnung trug die gläubige Katholikin oft und gern einen Davidstern über dem Herzen, ein Geschenk von Heinz Galinski, dem früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden.
»In der Verfolgung waren Juden und Sinti Geschwister!« hatte er auf dem Roma-Weltkongress in Göttingen gesagt und sich ebenso wie Simon Wiesenthal für die offizielle Anerkennung des NS-Völkermords an den Sinti und Roma eingesetzt.
Der Rückfall in die Barbarei nach der »Wende” - Solingen, Hoyerswerda, Rostock - ließ Hildegard Lagrenne und die Holocaust-Überlebenden erneut in Angst und Schrecken erstarren. Die Untätigkeit deutscher Politiker angesichts der neuen Fremdenfeindlichkeit brachte sie an den Rand der Verzweiflung.
Sie durchschaute die wohlfeilen Sonntagsreden, Betroffenheitsrituale und Lippenbekenntnisse der Politiker.- Mit Mut und Wut trat sie auch weiterhin auf öffentlichen Veranstaltungen pöbelnden Neonazis und Rassisten entgegen und nahm ihnen nicht selten den Wind aus den Segeln. »Von euch lasse ich mich nicht einschüchtern. Wer Auschwitz überlebt hat, fürchtet sich vor nichts mehr!«
Als ich sie das letzte Mal sah, schwer krank, kurz vor ihrem Tode, zeigte sie meiner Frau ein Foto von ihrem gerade geborenen Ururenkel und sagte: »Ich bin jetzt Ururgroßmutter, und habe bald über 100 Nachkommen. Das macht mich so glücklich, dass ich das geschafft habe, und dem Hitler, der uns Sinti alle vernichten wollte, damit eins auswischen konnte.«
Neckargemünd, Juni 2015
Michail Krausnick
»Die besten Jahre sind mir flöten gegangen, aber der Staat hat uns Sinti nie richtig entschädigt. Wir kommen nur in der Operette vor, oder in den Gaststätten: als Zigeunerschnitzel und als Zigeunerblut… Oder es wird behauptet, dass wir dem Kaiser keinen Zins geben müssten. Dabei zahlen wir Steuern wie jeder andere auch. Und wir haben auch für Deutschland geblutet.«
Wer als Sinto das Nazireich überlebte, hat das zumeist besonderen Umständen zu verdanken. Er ist die Ausnahme, nicht die Regel. Der junge Friedrich Kreutz, der älteste Sohn der Elisabeth Kreutz, gehörte zu denen, die ein wenig mehr Glück hatten als die anderen.
Er konnte tricksen, organisieren, davonlaufen und untertauchen. Vor allem wusste er ein Versteck vor den Mördern seines Volkes: Er kämpfte als Freiwilliger in der deutschen Wehrmacht. Ein reichsdeutscher Ausweis machte es möglich. Doch nach zwei Jahren flog die Sache auf. Der verdiente und schwer verwundete Frontkämpfer Friedrich Kreutz wurde aufgrund der Rassengesetze aus der Armee entfernt. Bis zur Befreiung 1945 teilte er als Zwangsarbeiter nun wieder das Schicksal der Sinti.
In den Nachkriegsjahren versucht Friedrich Kreutz einen neuen Start. Das Schaugeschäft seiner Eltern, in dem er als Junge musiziert und getanzt hatte, existiert nicht mehr; seine Verwundung, ein Luftröhrensteckschuss, lässt eine Fortsetzung der Karriere als Saxophonist oder Klarinettist nicht mehr zu. Friedrich Kreutz beantragt einen Gewerbeschein und reist als ambulanter Händler, verkauft Anzüge, Textilien und Teppiche.
Vergeblich kämpft der heute 60jährige um eine angemessene Entschädigung: Kein Amt will zuständig sein; weder als Kriegsversehrten noch als NS-Verfolgten will man ihn anerkennen und den Sinto, der sich als Soldat versteckte, entschädigen.
Ich treffe Friedrich Kreutz im Hause seines Schwiegersohns Anton Franz in einem Mannheimer Vorort. Er besucht seine Tochter Halina und die Enkelkinder. Eigentlich möchte er sich nicht interviewen lassen. Das führe nur zu neuer Erfassung, fürchtet er. Die schlimmen Erfahrungen mit den Ausfragern des Rassenhygiene-Instituts sitzen tief. Die Neonazis seien doch schon wieder da, mit Fremdenhass und Bombenanschlägen.
Schließlich aber überzeugt Anton Franz seinen Schwiegervater doch, dass es wichtig ist zu erzählen, was nur er erzählen kann. Mit heiserer Stimme - eine Folge der Kriegsverletzung -‚ sehr leise und schweratmig beginnt Friedrich Kreutz die Geschichte seiner Jugend zu erzählen.
Die Polizei weiß über uns Sinti am besten Bescheid. Die arbeitet ja heute noch mit den Akten aus der Nazizeit, die damals vom Rassenhygiene-Institut gesammelt wurden. Die Eva Justin, die »Lolitschei«, hat uns ja damals im Rheinland persönlich auf dem Platz besucht und ausgeforscht. Und nach ihren Akten wurde doch die Einweisung in die Konzentrationslager betrieben. Oh, wie dumm waren wir doch, dazumal! Die Justin geht weg und lässt ihren Aktenkoffer stehen. Und wir rennen ihr nach und geben ihn ihr. Wie dumm - wir hätten den gleich wegschmeißen sollen, aber wer wusste denn damals, dass diese Rasegutachten, dass die unsere Todesurteile waren.
Meine Eltern waren Schausteller. Mein Vater ist 1870 geboren. Als junger Mann war er Artist beim Zirkus Althoff und Zirkus Krone. Er hat auf zwei freistehenden Leitern gearbeitet. Die Leitern standen auf Sektflaschen. Darauf hat er dann seinen Balanceakt gemacht mit einem Sektglas auf dem Kinn und einem auf der Stirn. Also die Leiter raufgelaufen, und oben hat er dann zwei Schüsse abgegeben. Das war eine tolle Leistung! 1928 haben wir dann unser Schaugeschäft eröffnet: Schaubude, ungarische Variete-Schau, mit Tänzen, Musik und