Schriftenreihe

Murray Rothbard Institut für Ideologiekritik in der edition g.

Stefan Blankertz

101 Minimalinvasiv: Acht kritische Nachträge
104 Das libertäre Manifest:
Zur Neubestimmung der Klassentheorie
105 Pädagogik mit beschränkter Haftung:
Kritische Schultheorie
106 Thomas von Aquin: Die Nahrung der Seele
107 Die Katastrophe der Befreiung:
Faschismus und Demokratie
110 Anarchokapitalismus: Gegen Gewalt
111 Mit Marx gegen Marx
123 Die neue APO: Gefahren der Selbstintegration

Murray Rothbard

102 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt, Band 1: Staat und Krieg
103 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt, Band 2: Soziale Funktionen

Murray N. Rothbard | 1926–1995 | Ökonom | Anti-KriegsAktivist | Begründer und herausragender Theoretiker von dem libertarian movement | Autor wesentlicher Werke zur Ökonomie, Moralphilosophie und Geschichte der USA.

Inhalt

Einleitung

1973 erschien die erste Ausgabe von »For A New Liberty«, verfasst durch den Ökonomen und politischen Aktivisten Murray N. Rothbard (1926–1995). Mit diesem Werk ist die anarchistische Theorie gleichsam erwachsen geworden. Polemisch und leichtfüßig im Ton, auf sehr us-amerikanische Weise verwurzelt in radikaler liberaler – »konservativer« – Tradition und zugleich erkennbar Kind des neulinken antiautoritären Aufbruchs in kulturelle Freiheit und in Engagement gegen den Krieg, liegt Rothbards Werk doch eine bedeutende theoretische Anstrengung zugrunde: Es schweißt die moralische Ablehnung von Zwang, Gewalt und Krieg mit der ökonomischen Kritik an Eingriffen in die Freiwilligkeit zusammen zu der Konzeption des »neuen Libertarismus«. Der Begriff »Liberalismus« war fad geworden unter all den Kompromissen, die die Liberalen mit der Staatsgewalt inklusive deren Kriegsführung eingegangen waren, und speziell in den USA der Assoziation mit Vorstellungen, die im europäischen Kontext »sozialdemokratisch« genannt werden. Der Begriff »Anarchismus« hielt nicht, was er versprach, da seine Protagonisten meist einem sozialromantischen Antikapitalismus frönten, der nie erklären konnte, wie ein freies Leben ohne wirtschaftliche Freiheit denn auch bloß zu denken sei.1 Und schließlich der Begriff »Konservativismus«, der im us-amerikanischen Kontext lange auf die anti-etatistischen Ideale der frühen Republik und Thomas Jeffersons sich bezog, unterlag einer rapiden Wandlung und verkam zu waffenklirrendem Nationalismus. Rothbards Text klingt frisch und aktuell, leider zu aktuell, denn alles das, was er anprangerte, ist seitdem nur noch schlimmer geworden: Krieg als Mittel der Weltregierung durch die USA, antikapitalistischer Terror gegen die Freiheit durch politische und religiöse Fanatiker als Antwort darauf, Übergriffe des Staates auf das Eigentum und auf die persönlichen Entscheidungen der Bürger, Steuerlasten und Staatsverschuldung in einem damals noch nicht abzusehenden Ausmaße. Dort, wo der Text zeitbezogen ist oder für den deutschen Leser vielleicht zu sehr in us-amerikanischen Traditionen bzw. Politikgegebenheiten sich tummelt, habe ich durch Anmerkungen kurz – aber hoffentlich das Verständnis unterstützend – nachgeholfen. In den historisch argumentierenden Passagen habe ich an einigen Stellen zur Orientierung Jahreszahlen in [eckigen] Klammern ergänzt. Vor allem aber präsentiere ich Rothbards Buch in 2 Bänden, die auch eine etwas andere Anordnung der Kapitel mit sich bringen. Zu dieser Form habe ich mich entschlossen, um eine Struktur in Rothbards Argumentation hervorzuheben, die mir als wichtig erscheint: Der vorliegende erste Band – die Kapitel 1 bis 3 sowie 14 und 15 des Originals – enthält die ethische Kritik der politischen Gewalt, die unabhängig von Erwägungen der Nützlichkeit und Durchführbarkeit Gültigkeit beansprucht. Er reflektiert auf seine spezifische Weise die Tradition liberaler (»konservativer«), anarchistischer und antimilitaristischer Kritik. Der zweite Band – die Kapitel 4 bis 13 des Originals – untersucht die Möglichkeit, das gesellschaftliche Leben ohne Staatsgewalt sinnvoll und besser zu organisieren.

Das erste Kapitel des Originals – »Das libertäre Erbe: Die amerikanische Revolution und der klassische Liberalismus« – steht hier am Schluss des ersten Bandes, weil für den deutschen Leser die Tradition der amerikanischen Revolution nicht Beweiskraft hat, sondern illustrativen Charakter, der erst auf dem Hintergrund der Rothbardschen Theorie verstanden werden kann.

Die Übersetzung stammt von Sascha Tamm, 1999. Die Ausgabe damals gelangte vermutlich nur zu einem kleinen Teil in den Buchhandel. Für die vorliegende Neuauflage wurde die Übersetzung leicht überarbeitet. Sehr herzlich danke ich Sascha Tamm, dass er der Verwendung seiner Übersetzung zugestimmt hat.

Ich danke Dietmar-Dominik Hennig für die Anregung, dieses wichtige Buch erneut herauszubringen, und dafür, mir sein rares deutsches Exemplar fürs Einscannen zur Verfügung zu stellen. – Und dem Ludwig von Mises Institute danke ich dafür, mir großzügig die Rechte zum Abdruck überlassen zu haben.

Stefan Blankertz

1 Vgl. meine Untersuchung zum »anarchistischen« Kommunismus Peter Kropotkins in: Stefan Blankertz, Minimalinvasiv (edition g. 101, 2012), S. 125ff. [Hg.] – Die Anmerkungen des Autors sind mit [R.], die des Herausgebers mit [Hg.] gekennzeichnet.

¡VENCEREMOS, ROTHBARDEROS!

1. Friedlicher Austausch: Das libertäre Credo

Das Nichtaggressions-Axiom

Die libertäre Überzeugung beruht auf dem einen zentralen Axiom, dass kein Mensch und keine Gruppe von Menschen andere Menschen oder deren Eigentum angreifen dürfe. Dieses Axiom können wir das »Nichtaggressions-Axiom« nennen. »Aggression« ist dabei als die Verwendung von physischer Gewalt oder die Drohung mit ihr gegen eine andere Person oder deren Eigentum definiert. Aggression ist daher gleichbedeutend mit »Invasion«.

Wenn niemand einen anderen angreifen darf, wenn jede Person das absolute Recht hat, »frei« von Aggression zu sein, dann folgt daraus einerseits, dass der Libertäre grundsätzlich für die allgemein als »Bürgerrechte« bekannten Rechte eintritt: für die Freiheit der Rede, der Veröffentlichung und der Versammlung sowie für die Freiheit, »Verbrechen ohne Opfer« wie etwa Pornographie, Prostitution oder vom Normalen abweichende sexuelle Handlungen zu begehen (die der Libertäre nicht als »Verbrechen« ansieht, denn er definiert als »Verbrechen« bloß eine gewaltsame »Invasion« in den Körper oder in das Eigentum eines Menschen). Weiterhin hält er die Wehrpflicht für Sklaverei auf breiter Front. Und weil Kriege, besonders moderne Kriege, massenhaftes Abschlachten von Zivilisten nach sich ziehen, hält der Libertäre Kriege für Massenmord und damit für vollkommen illegitim.

All diese Positionen werden auf der heutigen ideologischen Skala als »links« eingestuft. Weil der Libertäre aber auf der anderen Seite gegen Attacken auf persönliche Eigentumsrechte Stellung bezieht, bedeutet das, dass er genauso nachdrücklich gegen alle staatliche Invasionen in das Eigentum oder in die Marktwirtschaft durch irgendwelche Kontrollen, Regulierungen, Subventionen oder Verbote eintritt. Wenn jedes Individuum ein Recht darauf besitzt, über sein Eigentum zu verfügen, ohne dessen aggressive Beeinträchtigung fürchten zu müssen, dann hat es auch das Recht, dieses Eigentum ohne Hindernisse wegzugeben (durch Testament oder Geschenk) oder es gegen das Eigentum von anderen einzutauschen (durch eine freie Übereinkunft in einer freien Marktwirtschaft). Der Libertäre vertritt das unbeschränkte Recht auf freies Eigentum und auf freien Austausch, also ein System des »laissez-faire-Kapitalismus «.

In der modernen Terminologie würde die libertäre Position zu Eigentum und Wirtschaft »extrem rechts« genannt werden.2 Aber der Libertäre sieht keinen Widerspruch darin, zu einigen Themen »linke« und zu anderen Themen »rechte« Positionen zu vertreten. Er sieht ganz im Gegensatz dazu seine eigene Position als die einzige unwidersprüchliche Position an, unwidersprüchlich im Namen der Freiheit jedes einzelnen Individuums. Denn wie kann ein Linker einerseits gegen die Gewalt von Krieg und Wehrpflicht sein, andererseits aber die Gewalt von Besteuerung und staatlicher Kontrolle unterstützen? Und wie kann ein Rechter behaupten, Anhänger von Privateigentum und freiem Unternehmertum zu sein, wenn er gleichzeitig Krieg und Wehrpflicht sowie das Verbot von Handlungen gutheißt, die zwar niemandem schaden, die er aber für »unmoralisch« hält? Und wie kann ein Rechter nach freiem Markt rufen und zugleich nichts Falsches an Subventionen, Eingriffen sowie unproduktiver Ineffizienz finden, die verbunden sind mit dem Militärisch-Industriellen Komplex?

Gegen jeden individuellen oder kollektiven Angriff auf die Rechte einer Person und ihr Eigentum in Opposition, erkennt der Libertäre, dass es durch die ganze Geschichte hindurch bis zum heutigen Tag einen zentralen, mächtigen und überlegenen Aggressor gegen alle diese Rechte gab: den Staat. Im Gegensatz zu allen anderen Denkern, gehören sie zur Rechten, zur Linken oder zur Mitte, erteilt der Libertäre dem Staat nicht das moralische Recht, Handlungen auszuführen, die fast jeder für unmoralisch, illegal und kriminell halten wird, sobald eine einzelne Person oder eine private Gruppe sie begeht. Der Libertäre besteht nun, kurz gesagt, darauf, das moralische Gesetz auf jeden anzuwenden, und macht da keine Ausnahmen für irgendwen. Wenn wir aber den Staat einfach so betrachten, wie er ist, dann sehen wir, dass ihm Dinge erlaubt sind, die selbst Nichtlibertäre für Verbrechen halten. Der Staat begeht gewohnheitsmäßig Massenmord, den er »Krieg« oder manchmal »Abwehr von Subversion« nennt, der Staat nimmt eine Versklavung in seinen Streitkräften vor, die er »Wehrpflicht« nennt, und er lebt vom gewaltsamen Raub, den er »Besteuerung« nennt. Der Libertäre bleibt dabei, dass auch Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung diese Handlungen ihrer Natur nach nicht »wandelt«: Krieg ist Massenmord, Wehrpflicht ist Sklaverei, Besteuerung ist Raub. Hier gleicht der Libertäre fast dem Kind im Märchen, das darauf beharrt, dass der Kaiser keine Kleider anhabe.

Die Jahrhunderte hindurch hatte der Kaiser eine Reihe von Pseudokleidern an, die ihm durch die jeweilige intellektuelle Kaste der Nation zur Verfügung gestellt wurden. In vergangenen Jahrhunderten sagten die Intellektuellen der Öffentlichkeit, dass der Staat oder seine Herrscher göttlich wären oder zumindest mit göttlicher Autorität versehen. Deshalb zeige sich in dem, was einem naiven und ungeübten Auge wie Despotismus, Massenmord und Diebstahl großen Ausmaßes erscheint, das »Wesen« Gottes, das gütig und geheimnisvoll in Gestalt der Politik wirkt. In letzter Zeit galt die göttliche Rechtfertigung als etwas abgedroschen, die Hofintellektuellen des Kaisers ersannen aufwändigere Rechtfertigungen: Der Öffentlichkeit wurde erzählt, dass alles, was die Regierung tue, dem »Gemeinwohl« und der »öffentlichen Wohlfahrt« diene, dass der Prozess von Besteuerung und öffentlichen Ausgaben auf mysteriöse Weise als »Multiplikator« wirke und die Wirtschaft in einem gleichmäßigen Fahrwasser halte. Außerdem könnten viele staatliche »Dienstleistungen« gar nicht von freiwillig auf dem freien Markt oder in Gesellschaft handelnden Bürgern erbracht werden. All das bestreitet der Libertäre: Die verschiedenen Argumente sind bloß betrügerische Versuche, öffentliche Unterstützung für die Herrschaft des Staates zu erlangen. Er insistiert darauf, dass alle Dienstleistungen, die der Staat erbringt, effizienter und moralisch gerechtfertigter durch privates und gemeinschaftliches Handeln erbracht werden könnten.

Deshalb sieht der Libertäre als sein wichtigstes Erziehungsziel es an, die Entmystifizierung und die Entheiligung des Staates bei seinen arglosen Bürgern zu befördern. Er zielt darauf ab, immer wieder und eindringlich zu zeigen, dass nicht bloß der Kaiser, sondern dass auch der »demokratische« Staat ohne Kleider sei, dass jede Regierung bloß durch die Ausbeutung der Bevölkerung überlebe und dass eine solche Herrschaft objektiv nicht notwendig wäre, im Gegenteil. Er bemüht sich zu zeigen, dass schon die Existenz von Staat und Besteuerung unausweichlich zur Klassenteilung zwischen den ausbeutenden Herrschenden und den besteuerten Beherrschten führt. Er versucht nachzuweisen, dass es immer zur Aufgabe der Intellektuellen, die den Staat unterstützten, gehörte, ein Netz aus Mystifikationen zu weben, um die Öffentlichkeit dazu zu bringen, die staatliche Herrschaft zu akzeptieren, und dass diese Intellektuellen im Gegenzug einen Teil der Macht erhalten, die die Herrschenden den getäuschten Menschen genommen haben.

Betrachten wir zum Beispiel die Institution der Besteuerung, von der die Etatisten behauptet haben, dass sie in einem bestimmten Sinne »freiwillig« sei. Jeder, der wirklich an die »freiwillige« Natur der Besteuerung glaubt, sollte die Zahlung der Steuern verweigern und sehen, was mit ihm geschieht. Wenn wir die Besteuerung analysieren, sehen wir, dass unter allen Institutionen und Personen einer Gesellschaft nur die Regierung ihre Einnahmen mit Zwangsgewalt eintreibt. Jedes andere Mitglied der Gesellschaft erhält sein Einkommen entweder als Geschenk oder durch den Verkauf von Waren oder Dienstleistungen, die freiwillig von Konsumenten gekauft werden. Wenn irgend jemand neben der Regierung Steuern erheben würde, würde das als klarer Fall von Zwang und wenig verstecktem Banditentum angesehen werden. Heute haben die mystischen Verzierungen der »Souveränität« den Prozess so weit verschleiert, dass bloß noch die Libertären die Besteuerung als das bezeichnen können, was sie ist: als einen groß angelegten legalisierten und organisierten Raub.

Eigentumsrechte

Das zentrale Axiom der libertären Überzeugung ist das Verbot der Aggression gegen andere Personen und deren Eigentum. Wie gelangt man zu diesem Axiom, was ist seine Grundlage, wodurch wird es gestützt? In dieser Frage unterscheiden sich die Libertären untereinander sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart deutlich. Es gibt grob gesprochen drei Typen der Grundlegung des libertären Axioms, die mit drei Typen der Moralphilosophie in Zusammenhang stehen: den emotivistischen, den utilitaristischen und den Naturrechtsstandpunkt. Die Vertreter des Emotivismus behaupten,3 dass sie Freiheit oder Nichtaggression aus rein subjektiven, gefühlsmäßigen Gründen als Prämisse benutzen. Das eigene starke Gefühl kann vielleicht als zwar gültige Basis für ihre politische Philosophie erscheinen, schwerlich aber dazu dienen, andere zu überzeugen. Dadurch, dass sie sich selber aus dem Gegenstandsbereich des rationalen Diskurses ausschließen, sorgen sie dafür, dass ihre Ideen keinen allgemeinen Erfolg haben können.

Die Vertreter des Utilitarismus4 folgern aus ihrer Analyse der Konsequenzen der Freiheit im Vergleich zu alternativen Systemen, dass die Freiheit sicherer zu weithin anerkannten Zielen führe: zu Harmonie, Frieden, Wohlstand usw. Niemand wird bezweifeln, dass die relativen Folgen analysiert werden müssen, um die Vorzüge und Nachteile verschiedener Konzeptionen bewerten zu können. Doch es spricht einiges dagegen, uns auf eine utilitaristische »Ethik« zu beschränken. Einerseits setzen die Utilitaristen voraus, dass wir auf der Basis von guten oder schlechten Konsequenzen zwischen Alternativen abwägen und zwischen politischen Handlungen entscheiden können. Wenn es aber legitim ist, Werturteile auf Konsequenzen von X anzuwenden, warum ist es nicht gleichfalls legitim, diese auch auf X selber anzuwenden? Könnte es nicht an einer Handlung selber etwas geben, das als »gut« oder »böse« zu bezeichnen wäre?

Ein weiteres Problem mit dem Utilitaristen liegt darin, dass er selten ein Prinzip als absoluten und konsistenten Maßstab für die unterschiedlichen konkreten Situationen der realen Welt verwendet. Er wird ein Prinzip im besten Fall bloß als vage Richtlinie verwenden, als eine Tendenz, über die er sich jederzeit hinwegsetzen kann. Das war der wesentliche Mangel der englischen Radikalen des 19. Jahrhunderts, die den Standpunkt des laissez-faire der Liberalen des 18. Jahrhunderts übernahmen, das angeblich »mystische« Konzept des Naturrechts aber durch den angeblich »wissenschaftlichen« Utilitarismus als Grundlage ihrer Philosophie ersetzten. So kamen die laissez-faire-Liberalen des 19. Jahrhunderts dazu, das laissez-faire nur noch als vage Tendenz anstatt als lupenreinen Maßstab zu benutzen und damit die libertäre Überzeugung zunehmend fatalen Kompromissen zu opfern. Wenn man den Utilitaristen nicht »vertraut«, dass sie die libertären Prinzipien in jedem speziellen Fall befolgen, mag das hart klingen, es trifft aber den Punkt. Ein bemerkenswertes aktuelles Beispiel dafür ist der marktwirtschaftliche Ökonom Milton Friedman,5 der, wie seine Vorgänger in der klassischen Ökonomie, die Freiheit von staatlichen Interventionen als allgemein richtige Tendenz ansieht, in der Praxis allerdings eine Vielzahl verheerender Ausnahmen zulässt. Das sind Ausnahmen, die das Prinzip fast völlig entwerten, besonders in den Feldern von Polizei und Militär, von Bildung, Besteuerung, Wohlfahrt, »Externalitäten«, Kartellgesetzen sowie Geld und Bankwesen.

Lassen Sie uns ein krasses Beispiel betrachten: Nehmen wir eine Gesellschaft an, die inbrünstig glaubt, alle Rothaarigen seien Agenten des Teufels und müssten deshalb getötet werden, wo immer man sie antreffe. Weiter nehmen wir an, dass es in jeder Generation nur eine kleine Gruppe Rothaariger gibt, so wenige, dass ihre Anzahl statistisch unbedeutend ist. Der utilitaristische Libertäre könnte folgern: »Obwohl der Mord an den einzelnen Rothaarigen bedauerlich ist, ist doch die Anzahl der Exekutionen gering; die übergroße Mehrheit der Menschen, die keine Rothaarigen sind, erfährt durch die öffentliche Exekution von Rothaarigen enorme psychische Befriedigung. Die sozialen Kosten sind zu vernachlässigen, der soziale und psychische Nutzen für den Rest der Gesellschaft ist groß, demnach ist es für die Gesellschaft als gut und richtig anzusehen, die Rothaarigen zu exekutieren.« – Der naturrechtlich argumentierende Libertäre, der darauf besteht, die Handlung selber müsse gerecht sein, wird mit Grauen reagieren und standhaft und unmissverständlich gegen die Exekutionen als vollkommen ungerechtfertigten Mord und als Aggression gegen nichtaggressive Personen auftreten. Die Konsequenz davon, jenes Morden zu unterbinden, dass auf diese Weise der Mehrheit der Gesellschaft ein großes »Vergnügen« abgeht, wird einen derartigen Libertären, einen gleichsam »absoluten« Libertären, nicht im geringsten beeinflussen. In seiner Idee von Gerechtigkeit und logischer Konsistenz gibt der naturrechtlich fundierte Libertäre freudig zu, »doktrinär« zu sein, also jemand, der seinen eigenen Doktrinen folgt.

Gehen wir jetzt zur naturrechtlichen Grundlage libertärer Überzeugung über, wie sie in der einen oder anderen Form von fast allen Libertären in Vergangenheit und Gegenwart geteilt wird. Die »Menschenrechte« sind das Fundament einer politischen Philosophie, die in die größere Struktur des »Naturrechts« eingebettet ist.6 Die Naturrechtstheorie basiert auf der Einsicht, dass wir in einer Welt mit mehr als einer – genau genommen mit einer sehr großen Zahl von – Entitäten leben, und dass jede Entität eigene und spezifische Eigenschaften besitzt, eine eigene »Natur«, die der Mensch mit seiner Vernunft, also durch seine Sinne und seinen Verstand erkennen kann. Kupfer hat eine bestimmte Natur und verhält sich in einer bestimmten Weise, genauso wie Eisen, Salz usw. Die Gattung Mensch hat genauso eine spezifische Natur wie die Welt, die sie umgibt, und die verschiedenen Arten der Wechselwirkung zwischen ihnen. Um es in übermäßiger Kürze zu sagen: Die Aktivität jeder organischen oder anorganischen Entität ist durch ihre eigene Natur und durch die Natur der anderen Entitäten, mit denen sie in Kontakt kommt, bestimmt. Während nun das Verhalten von Pflanzen und mindestens von niedrigen Tieren durch ihre biologische Natur oder vielleicht durch ihre »Instinkte« festgelegt wird, ist die Natur des Menschen derart, dass jede einzelne Person, um überhaupt handeln zu können, ihre eigenen Ziele wählen muss und ihre eigenen Mittel, um diese Ziele zu erreichen. Da er keine automatischen Instinkte besitzt, muss jeder Mensch sich selber und seine Umwelt begreifen, seinen Verstand gebrauchen, um sich Werte zu setzen, Ursachen und Folgen zu verstehen und zielgerichtet zu handeln, damit er sich selber erhalten und seine Lebensumstände verbessern kann. Weil die Menschen bloß als Individuen denken, fühlen, bewerten und handeln können, ist es notwendig für das Überleben und Wohlergehen jedes Einzelnen, dass er frei ist zu lernen, sich zu entscheiden, seine Fähigkeiten zu entwickeln und nach seinem Wissen und seinen Werten zu handeln. Das ist der notwendige Weg der menschlichen Natur; in ihn einzugreifen und diesen Prozess mit Gewalt zu behindern, ist gegen das Überleben und den Wohlstand der Menschen gerichtet. Damit ist ein gewaltsamer Eingriff ins Lernen und in die Entscheidungen eines Menschen »antihuman« – er verletzt das natürliche Gesetz der menschlichen Bedürfnisse.

Individualisten ist von ihren Feinden oft ein »Atomismus« unterstellt worden, also die Behauptung, jedes Individuum lebe in einer Art »Vakuum« und denke und entscheide sich ohne Beziehung zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Das ist ein argumentativer Popanz; wenige Libertäre waren je Atomisten, wenn es überhaupt welche gab. Im Gegenteil, es ist einsichtig, dass Individuen immer voneinander lernen, miteinander kooperieren und interagieren und dass das notwendig für das Überleben eines Menschen ist. Wesentlicher Punkt lautet, dass jedes Individuum die letzte Entscheidung trifft, welche Einflüsse es aufnimmt und welche es verwirft, oder welche es primär aufnimmt und welche sekundär.7 Den Prozess des freien Austauschs und der freien Kooperation zwischen frei handelnden Individuen begrüßt der Libertäre. Dagegen verabscheut er den Gebrauch von Gewalt, die eine derartige freie Kooperation behindert und die andere dazu bringt, sich anders zu entscheiden und anders zu handeln, als es ihnen ihr eigener Verstand sagt.

Die beste Methode, die naturrechtliche Position der Libertären zu erklären, besteht darin, sie in ihre Teile zu zerlegen und mit dem Basisaxiom des »Eigentums an sich selber« zu beginnen. Das Recht auf Eigentum an sich selber behauptet das absolute Recht jeder Person als menschlichem Wesen, ihren eigenen Körper zu »besitzen«, diesen Körper also frei von Zwangseinflüssen zu kontrollieren. Weil alle Individuen denken, lernen, bewerten und sich für Zwecke und Mittel entscheiden müssen, um zu überleben und zu gedeihen, gibt das Recht auf »Eigentum an sich selber« jedem Einzelnen das Recht, diesen Aktivitäten nachzugehen, ohne dass sie dabei durch Zwang eingeschränkt und behindert werden.

Betrachten wir, welche Konsequenzen es nach sich zieht, wenn jedem Menschen das Recht auf Eigentum an seiner eigenen Person verweigert wird. Dann gibt es nur zwei Alternativen: entweder hat (1) eine bestimmte Klasse A von Menschen ein Recht auf Eigentum an einer anderen Klasse B; oder (2) jeder Mensch hat das Recht auf Eigentum an einem bestimmten Anteil von jedem anderen Menschen. Die erste Alternative impliziert, dass der Klasse A das Recht zusteht, Mensch zu sein, während die Mitglieder der Klasse B in der Realität Untermenschen sind und kein solches Recht haben. Weil sie aber tatsächlich menschliche Wesen sind, widerspricht die erste Alternative sich selber, indem sie einer Gruppe von Menschen die natürlichen Menschenrechte8 vorenthält. Vor allem aber wird der Klasse A, wie wir sehen werden, mit dem Zugeständnis des Eigentums an Klasse B auch erlaubt, diese auszubeuten und damit parasitär auf deren Kosten zu leben. Dieses Parasitentum verletzt die wesentliche wirtschaftliche Voraussetzung für das Leben: Produktion und Austausch.

Die zweite Alternative, die wir »partizipatorische Gemeinschaft« oder »Kommunismus« nennen können, beruht auf der Idee, jedem Mensch solle das Recht eingeräumt werden, über einen gleichen Anteil an jedem anderen Menschen zu verfügen. Wenn es vier Milliarden Menschen auf der Welt gibt, besitzt folglich jeder Mensch ein Viermilliardstel jeder anderen Person. Festzustellen ist zuerst, dass dieses Ideal auf einer Absurdität beruht: Jeder Mensch sei zwar ermächtigt, einen Teil jedes anderen Menschen zu besitzen, dagegen nicht sich selber. Zweitens können wir die Lebensfähigkeit einer derartigen Welt untersuchen, einer Welt, in der niemand frei ist, irgendeine Handlung auszuführen, ohne vorher die Zustimmung oder gar die Anweisung aller anderen Menschen einzuholen. Es sollte klar sein, dass niemand in einer solchen »kommunistischen« Welt in der Lage wäre, irgend etwas zu tun, und die menschliche Rasse schnell aussterben wird. Wenn aber eine Welt mit null Eigentum an sich selber und hundertprozentigem Fremdeigentum den Tod der menschlichen Rasse bedeutet, dann verstoßen schon alle Schritte in diese Richtung gegen das natürliche Gesetz darüber, was das Beste ist für die Menschen und ihr Leben auf der Erde.

Schließlich lässt sich diese partizipatorisch kommunistische Welt unmöglich in die Tat umsetzen. Niemand kann es physisch schaffen, alle anderen Menschen zu überwachen und somit sein gleiches Besitzrecht an jedem anderen auszuüben. Das macht das Konzept des universellen und gleichen Besitzanteils aller an allen anderen Menschen utopisch und nicht durchführbar. Die Überwachung – und damit die Kontrolle und die Verfügung über andere Menschen – wird notwendig durch eine spezialisierte Gruppe von Menschen vorgenommen, die sich damit zur herrschenden Klasse entwickelt. Somit wird jeder Versuch, eine kommunistische Herrschaft zu errichten, in der Praxis zur Klassenherrschaft, und wir sind wieder bei unserer ersten Alternative angelangt. Aus diesen Gründen verwirft der Libertäre jene Alternativen und übernimmt infolgedessen als sein erstes Axiom das universelle Recht auf Eigentum an sich selber, ein Recht, das jedem schon deswegen zustehe, weil er Mensch ist.

Schwieriger ist es, eine Theorie über das Eigentum an nichtmenschlichen Objekten, an den Gegenständen dieser Erde zu entwickeln. Vergleichsweise einfach lässt sich feststellen, wann ein Mensch die Rechte eines anderen an sich selber missachtet: Wenn die Person A die Person B angreift, verletzt sie damit das Eigentumsrecht von B an deren eigenem Körper. Bei nichtmenschlichen Objekten wird das Problem komplexer. Wenn wir zum Beispiel sehen, wie eine Person X eine Uhr an sich reißt, die im Besitz der Person Y ist, können wir nicht automatisch sagen, X verletze das Eigentumsrecht von Y. Könnte nicht X der ursprüngliche, »wahre« Eigentümer der Uhr sein, die er bloß in sein legitimes Eigentum zurückführt? Um das zu entscheiden, benötigen wir eine Theorie der Gerechtigkeit in Bezug auf das Eigentum, eine Theorie, die uns die Frage beantwortet, ob X oder Y oder irgend jemand anderes der legitime Eigentümer sei.

Einige Libertäre versuchen das Problem zu lösen, indem sie behaupten, dass derjenige der rechtmäßige Besitzer einer Sache wäre, dem der existierende Staat den Eigentumstitel an dieser Sache verleihe. An dieser Stelle sind wir noch nicht tief in die Natur der Staatstätigkeit9 eingedrungen, die Absonderlichkeit sollte an dieser Stelle jedoch schreiend genug sein: Es ist seltsam, dass gerade eine Gruppe, die praktisch jeder Funktion der Staatstätigkeit misstraut, dieser überlassen will, das wertvolle Konzept des Eigentums festzulegen und anzuwenden, also der Basis und des Fundaments jeder sozialen Ordnung. Namentlich die utilitaristischen Anhänger des laissez-faire halten es für schlau, die neue libertäre Welt mit der Bestätigung aller bestehenden Eigentumstitel zu beginnen, genau derjenigen Eigentumstitel und Rechte, die von der der ständigen Aggression beschuldigten Staatsmacht verliehen wurden.

Als Illustration soll ein hypothetisches Beispiel dienen. Angenommen, libertäre Agitation und libertärer Druck hätten dahin geführt, dass die Regierung und ihre verschiedenen Institutionen zum Abdanken bereit sind. Sie ersinnen jedoch eine List. Kurz bevor die Regierung des Staates New York zurücktritt, verabschiedet sie ein Gesetz, das das gesamte Gebiet von New York in das private Eigentum der Familie Rockefeller überführt. Das Gleiche machte die Regierung von Massachusetts für die Kennedy-Familie. So geht es weiter in jedem Bundesstaat. Die Regierung kann dann abtreten und die Abschaffung aller Besteuerung und Zwangsgesetzgebung verkünden, die siegreichen Libertären stehen allerdings vor einem Dilemma. Sollen sie die neuen Eigentumstitel als legitimes Privateigentum anerkennen? Die Utilitaristen, die keine Theorie der Gerechtigkeit bei Eigentumsrechten kennen, müssen, wenn sie ihre Akzeptanz der von den durch Staatstätigkeit verliehenen Eigentumstiteln widerspruchsfrei vertreten, die neue soziale Ordnung hinnehmen, in der fünfzig neue Despoten Steuern in der Form von einseitig erhobenen »Grundrenten« einführen werden. Nur naturrechtlich argumentierende Libertäre, nur Libertäre, die über eine nicht von amtlichen Beschlüssen abhängige Theorie der Gerechtigkeit verfügen, sind in der Lage, eine Position zu vertreten, von der aus sie die Behauptungen der neuen Herrschenden, dass sie »Eigentum« am ganzen Territorium des Landes besitzen würden, verspotten und als ungültig entlarven können.10 Lord Acton, ein bedeutender Liberaler des 19. Jahrhunderts, hat klar gesehen, dass bloß das Naturrecht eine sichere Grundlage für eine fortgesetzte Kritik an den Gesetzen und Entscheidungen des Staates bildet.11 Nun wenden wir uns der Frage zu, worin die besondere naturrechtliche Position zu Eigentumsrechten bestehen könnte.

Wir haben das Recht jedes Individuums auf das Eigentum an sich selber, an seinem Körper und seiner Person, eingeführt. Menschen sind aber keine schwebenden Geister, sie sind keine selbstgenügsamen Entitäten, sie können nur überleben und gedeihen, indem sie sich mit ihrer Umwelt herumschlagen. Sie müssen zum Beispiel auf einem Stück Land stehen, auch müssen sie, um zu überleben, die natürlichen Ressourcen in Gebrauchsgüter umwandeln, in Objekte also, die passend sind für den menschlichen Gebrauch. Nahrung muss kultiviert und gegessen werden, Mineralien muss man fördern, in Investitionsgüter und in nützliche Gebrauchsgüter umwandeln usw. Mit anderen Worten: Der Mensch muss nicht bloß das Eigentum an seiner Person haben, sondern auch an materiellen Objekten zu seiner Verfügung und zu seinem Gebrauch. Wie sollen die Eigentumstitel an diesen Gegenständen zugeordnet werden?

Betrachten wir als erstes Beispiel einen Skulpteur, der ein Kunstwerk aus Lehm und anderen Materialien herstellt und ignorieren wir für einen Moment die Frage nach den ursprünglichen Eigentumsrechten am Lehm und an den Werkzeugen des Skulpteurs. Die Frage ist dann: Wem gehört das Kunstwerk, wenn der Skulpteur es fertig gestellt hat? Es ist die »Schöpfung« des Skulpteurs, nicht in dem Sinn, dass der Stoff, aus dem es besteht, von ihm geschaffen worden wäre, aber in dem Sinn, dass er den naturgegebenen Stoff nach den eigenen Ideen und mit seinen eigenen Händen in eine neue Form gebracht hat. Sicherlich gibt es nur wenige Leute, die sagen würden, dass dem Skulpteur nicht das Eigentumsrecht an seinem eigenen Produkt zustehe. Wenn jeder Mensch das Eigentumsrecht an seinem eigenen Körper hat und wenn wir uns mit materiellen Objekten auseinandersetzen müssen, um zu überleben, dann ist der Skulpteur zum Eigentum an dem Objekt berechtigt, das er mit seiner Energie und seiner Anstrengung hergestellt hat, an dieser wahren Erweiterung seiner eigentümlichen Persönlichkeit. Er hat den Abdruck seiner Person im Rohmaterial hinterlassen, indem er seine Arbeit mit dem Lehm »vermischt« hat, wie es der herausragende Theoretiker des Eigentums John Locke beschrieben hat. Durch seine eigene Energie ist das Produkt zu einer materiellen »Verkörperung« der Ideen und Visionen des Skulpteurs geworden. John Locke beschrieb dies so:

»So hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen Person. Über seine Person hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände, so können wir sagen, sind im eigentlichen Sinne sein. Was immer er also jenem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und hat ihm etwas hinzugefügt, was sein eigen ist, es folglich zu seinem Eigentum gemacht. Da er es jenem Zustand des gemeinsamen Besitzes enthoben, in den es die Natur gesetzt hat, hat er ihm durch seine Arbeit etwas hinzugefügt, was das gemeinsame Recht der anderen Menschen ausschließt. Denn diese Arbeit ist das unbestreitbare Eigentum des Arbeitenden, und niemand außer ihm selbst kann ein Recht haben auf irgend etwas, was einmal mit seiner Arbeit verbunden ist.«12

Wie im Falle des Eigentums an den Körpern von Menschen haben wir wieder drei logische Alternativen: (1) Entweder der »Umwandler« oder »Schöpfer« hat ein Recht an seinem Werk, oder (2) eine andere Person oder eine Gruppe hat das Recht an ihm, darf es sich also mit Gewalt ohne die Zustimmung des Skulpteurs aneignen, oder (3) jeder Mensch auf der Erde hat einen gleichen Anteil am Eigentumsrecht auf diesen Gegenstand. Es wird nur sehr wenige Menschen geben, die in der Aneignung des Eigentums des Skulpteurs entweder durch einen oder durch mehrere Menschen oder sogar zugunsten der Welt als Ganzes nicht eine gewaltige Ungerechtigkeit sehen würden. Mit welchem Recht tun diese Menschen das? Mit welchem Recht eignen sie sich das Produkt des Geistes und der Energie des Skulpteurs an? In diesem klaren Fall wird das Recht des Skulpteurs auf das Eigentum an dem, mit dem er seine Person und seine Arbeit gemischt hat, allgemein zugestanden. (Nochmals: Im Fall des gemeinschaftlichen Eigentums an Personen würde die weltgemeinschaftliche Lösung in der Praxis darauf hinauslaufen, dass eine Oligarchie weniger anderer sich die Arbeit des Schöpfers im Namen des »weltweiten öffentlichen Eigentums« aneignete.)

Der wichtigste Punkt ist allerdings, dass sich der Fall des Skulpteurs nicht von allen anderen Fällen der »Produktion« qualitativ unterscheidet. Der Mensch oder die Menschen, die den Lehm aus dem Boden geholt und ihn an den Skulpteur verkauft haben, sind vielleicht nicht so kreativ wie der Skulpteur, sie sind aber auch »Produzenten«, auch sie haben ihre Ideen und ihr technologisches Wissen mit dem naturgegebenen Boden gemischt und ein nützliches Produkt hervorgebracht. Sie auch sind Produzenten und sie haben ihre Arbeit auch mit natürlichen Materialien gemischt, um nützlichere Gegenstände und Dienstleistungen zu schaffen. Auch diese Personen haben ein Recht auf das Eigentum an ihren Produkten. Wo beginnt dieser Prozess? Halten wir uns wieder an John Locke:

»Wer sich von den Eicheln ernährt, die er unter einer Eiche aufliest, oder von den Äpfeln, die er von den Bäumen des Waldes sammelt, hat sich diese offensichtlich zu eigen gemacht. Niemand kann in Abrede stellen, dass diese Nahrung sein ist. Meine Frage nun lautet: Wann fingen sie an, sein Eigentum zu sein? Als er sie verdaute? Oder als er sie aß? Als er sie kochte? Als er sie nach Hause brachte? Oder als er sie auflas? Und es ist eindeutig, dass nichts sie ihm zu eigen machen konnte, wenn nicht das erste Aufsammeln. Jene Arbeit ließ einen Unterschied zwischen ihnen und dem gemeinsamen Besitz entstehen. Sie fügte ihnen etwas über das hinaus hinzu, was die Natur, die gemeinsame Mutter von allem, ihnen gegeben hatte, und so erlangte er ein persönliches Recht auf sie. Und will jemand sagen, er hätte kein Recht auf jene Eicheln oder Äpfel, die er auf diese Weise in seinen Besitz gebracht hat, weil er nicht die Zustimmung der gesamten Menschheit hatte, sie sich anzueignen? War es Raub, so für sich zu beanspruchen, was allen gemeinsam gehörte? Wäre eine solche Zustimmung notwendig, so wären die Menschen Hungers gestorben, ungeachtet der Fülle, die ihnen von Gott gegeben war. […] Das Gras, das mein Pferd gefressen, der Torf, den mein Knecht gestochen, das Erz, das ich an irgendeinem Ort gegraben, an dem ich mit anderen zusammen ein Recht dazu habe, werden demnach mein Eigentum, ohne irgend jemandes Zuweisung oder Zustimmung. Meine Arbeit, die sie dem gemeinen Zustand, in dem sie sich befanden, enthoben hat, hat mein Eigentum an ihnen bestimmt.

Würde man die ausdrückliche Zustimmung aller Mitbesitzenden notwendig machen, damit sich jemand irgendeinen Teil dessen zu eigen machen kann, was als Gemeingut gegeben wurde, so könnten weder Kinder noch Knechte das Fleisch schneiden, das ihr Vater oder Herr für sie gemeinsam besorgt hat, ohne dass er einem jeden sein besonderes Stück zugeteilt hätte. Ist auch das Wasser, das aus der Quelle rinnt, allen eigen, wer wollte in Zweifel stellen, dass das Wasser im Krug nur dem gehört, der es geschöpft hat? Seine Arbeit hat es aus den Händen der Natur genommen, wo es Gemeingut war, und er hat es sich dadurch zu eigen gemacht.

So gibt dieses Gesetz der Vernunft das Wild dem Indianer zu Eigentum, der es getötet hat. Obwohl vorher alle ein gemeinsames Recht darauf hatten, wird es als das Eigentum dessen anerkannt, der seine Arbeit darauf verwandt hat. Auch unter denen, die man zum zivilisierten Teil der Menschheit rechnet, […] hat dieses ursprüngliche Naturgesetz für die Entstehung des Eigentums an dem, was vorher Gemeinbesitz war, noch immer Gültigkeit; und kraft dieses Gesetzes wird der Fisch, den jemand im Ozean fängt – jenem großen fortdauernden Gemeingut der Menschheit –, oder der Bernstein, den jemand dort aufliest, durch seine Arbeit zum Eigentum dessen, der sich dieser Mühe unterzieht: Diese Arbeit nämlich enthebt ihn jenem Zustand des gemeinsamen Besitzes, in dem ihn die Natur belassen hat« (Locke, ebd., S. 23f).

Wenn jedem Menschen seine eigene Person und damit seine eigene Arbeit gehört und wenn ihm darüber hinaus alle Dinge gehören, die er geschaffen oder aus dem ungenutzten »Naturzustand« gewonnen hat, dann bleibt als letzte große Frage die nach dem Recht, über das Land selbst zu verfügen, es zu besitzen. Wenn, kurz gesagt, der Sammler das Recht hat, die Eicheln oder Beeren zu besitzen, die er aufliest, oder dem Farmer seine Ernte von Weizen oder Pfirsichen gehört, wer kann das Eigentumsrecht an dem Land für sich reklamieren, auf dem diese Güter gewachsen sind? An diesem Punkt verließen Henry George und seine Anhänger,13 die ein weites Stück zusammen mit den Libertären gegangen waren, den Weg und leugneten, dass einem Individuum das Recht zustehen könne, ein Stück Land zu besitzen, also den Grund und Boden, auf dem diese Tätigkeiten stattfinden. Die Georgisten argumentieren, dass, obwohl jedem Individuum die Güter gehören sollen, die es produziert oder geschaffen hat, kein Mensch das Recht auf Eigentum an Land behaupten könne, da die Natur oder Gott dieses geschaffen hätten. Wenn aber das Land als Ressource auf eine irgendwie effektive Weise genutzt werden soll, muss es von irgend jemandem besessen oder kontrolliert werden. Wir stehen wieder vor unseren drei Alternativen: Entweder gehört das Land [1.] dem ersten Nutzer, dem Menschen, der es zuerst zur Produktion nutzt; oder es gehört [2.] einer Gruppe anderer Menschen; oder es gehört [3.] der Welt als ganzes, wobei jedem Individuum ein bestimmter Anteil jedes Quadratmeters Land zusteht. Die Entscheidung von George für die letzte Alternative löst schwerlich sein moralisches Problem: Wenn das Land selber Gott oder der Natur gehören soll, warum ist es dann moralischer, wenn es allen Menschen gemeinsam gehört, als wenn es Eigentum von Individuen ist? Offensichtlich ist es in der Praxis unmöglich für jede Person, effektiv ihre »Eigentumsrechte« an einem Viermilliardstel (wenn die Erdbevölkerung vier Milliarden Menschen beträgt) von jedem Stück Land auf der Erde auszuüben. In der Praxis wird eine kleine Oligarchie die Eigentumsrechte und die Kontrolle ausüben, nicht die Menschheit als ganzes.