Wolfgang Lehr

Ein Portrait aus Mosaiksteinen

© 2015 Herausgeber: Bernd-Peter Arnold und Irmgard Lehr

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH,

Norderstedt

ISBN: 978-3-7392-6742-5

Inhaltsverzeichnis

Wolfgang Lehr – Ein Porträt aus Mosaiksteinen

Ein Porträt aus Mosaiksteinen – nur so hat man eine Chance, einer Person wie Wolfgang Lehr gerecht zu werden. Vielfältig in jeder Beziehung – das war er: umfassend gebildet, hochprofessionell als Jurist und in seinem Metier, das seine Leidenschaft war, im Rundfunk. Witzig, barock, menschlich, liebenswert, manchmal auch schillernd.

Können dies alles Eigenschaften eines Mannes sein? Ja, und deshalb auch diese Form des Porträts: Mosaiksteine, gestaltet von Weggefährten ganz unterschiedlicher Art, aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. Die Mosaiksteine basieren auf sehr persönlichen Begegnungen, von denen jede eine Facette der Persönlichkeit Wolfgang Lehr markiert.

Die Bandbreite der Beiträge reicht von anekdotischen Begebenheiten über die fundamentale Lebensentscheidung „Naß- oder Trockenrasur?“ bis zu Begegnungen im Bereich der Medienpolitik, in denen durchaus Rundfunkgeschichte geschrieben wurde. Frühere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schildern ihre Begegnungen ebenso wie Kollegen, Politiker und Weggefährten aus einem eher privaten Umfeld. Erstaunlich viele Autorinnen und Autoren schildern ihre erste Begegnung mit Wolfgang Lehr als Beginn ihrer erfolgreichen beruflichen Karriere. Sein Gespür für Talente lässt sich an so manchem Werdegang im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ablesen.

Wie wichtig ihm Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren, die sich aktiv für das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem einsetzen, zeigte sich einmal mehr bei der Entgegennahme des Großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland aus der Hand des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner am 20. März 1986, als er sagte: „Was mich heute bewegt, ist vor allem Dankbarkeit für die Auszeichnung durch einen Staat, zu dem ich mich als Staatsbürger bekenne und der mir ermöglicht hat, meine Lebensarbeit einer Aufgabe zu widmen, die mich befriedigt und beglückt hat: dem Rundfunk in der öffentlich-rechtlichen Verfassung. In diesem Sinne habe ich die Ehrung heute zugleich für alle entgegengenommen, die sich zu dieser Idee bekennen und die mich bei dieser Aufgabe unterstützt haben.“

Am Tage seiner Verabschiedung als Intendant des Hessischen Rundfunks sagte sein damaliger Stellvertreter, Programmdirektor Dr. Henning Wicht:“ Eines der schönsten Komplimente, die man Ihnen machen kann, ist ja, dass man Ihnen fast immer sagen konnte, was man denkt. Und ich denke heute und hier in einem Satz: Schade, dass Sie gehen!“

An diesem Tag gingen 36 Jahre im Dienst des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu Ende, 36 Jahre Arbeit für den Hessischen Rundfunk, und Viele haben damals empfunden wie Henning Wicht. Wolfgang Lehr hat nicht nur das eigene Haus zu Blüte und Erfolg geführt. Er hat es auch als Intendant durch turbulente, medienpolitisch extrem schwierige Zeiten gesteuert. Immerhin fiel in seine Amtszeit das Entstehen des dualen Rundfunksystems in Deutschland. Er bereitete den Weg für einen erfolgreichen und zugleich fairen Umgang mit der neuen privatwirtschaftlich organisierten Konkurrenz.

Schon als Justitiar hat Wolfgang Lehr für ein starkes öffentlich-rechtliches Rundfunksystem gekämpft, für einen gesellschaftlichen Wert, der heute – nicht selten aus den eigenen Reihen – in Gefahr gebracht wird. Dass das berühmte erste Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1961 zustande kommen konnte und bis heute eines der Fundamente des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist, ist auch der Argumentationsstärke Wolfgang Lehrs zu verdanken. Gleiches gilt auch für spätere Entscheidungen dieses Gerichts. In der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, der ARD genoss Wolfgang Lehr schon als Justitiar des Hessischen Rundfunks hohes Ansehen. Er hatte mehrere Jahre den Vorsitz der Juristischen Kommission und in zahlreichen anderen Arbeitsgruppen. Stets ging es um das Rundfunksystem, seinen Erhalt und seine Fortentwicklung. Erfolge überwogen bei Weitem die gelegentlichen Misserfolge. Wer ihm – sei es aus grundsätzlichen Erwägungen oder wegen einer gegen ihn erlittenen Niederlage – nicht applaudierte, zollte ihm zumindest Respekt. Was ihm Lob bedeutete, formulierte er selbst in seiner Abschiedsrede am 20.März 1986: “Ich kann Ihnen allen, verehrte Gäste, bei dieser Gelegenheit ein Geheimnis verraten: Dass ich oft unter dem Applaus gelitten habe, den ich für Taten erhielt, für die ich bei selbstkritischer Betrachtung kein sonderliches Lob verdiente, während andererseits Anstrengungen, die mich Herzblut und Angstschweiß gekostet haben, mit einer alarmierenden Selbstverständlichkeit quittiert worden sind.“

Lob und Anerkennung erhielt Lehr nicht zuletzt für seine Fähigkeit, konstruktive Kompromisse zu schließen, Kompromisse, die stets von Stärke und nicht von Schwäche zeugten. Nie waren es Kompromisse um jeden Preis. Willibald Hilf, der langjährige Intendant des Südwestfunks und damalige ARD-Vorsitzende formulierte dies bei Lehrs Verabschiedung aus der Intendantenrunde der ARD so: „Wir danken Ihnen für Ihre zahlreichen Diskussionsbeiträge in der ARD-Runde, die – in einer zunehmend schwieriger und unüberschaubarer werdenden medienpolitischen Landschaft – von Kreativität und Weitblick, vom Willen zur Gemeinsamkeit und konstruktiver Kompromissbereitschaft getragen waren und die Lösung vieler Probleme erst ermöglicht haben. Dabei ist es Ihnen oft in einer unnachahmlichen Mischung aus Ernst und Humor, mit taktischem Geschick und manchmal auch ein wenig List gelungen, den widerstreitenden Interessenten einen Kompromiss schmackhaft zu machen und auch hin und wieder einmal sozusagen eine Kröte schlucken zu helfen, wenn es gar nicht anders ging.“

Wie Wolfgang Lehr selbst hochrangige Politiker verbal niederkämpfte oder zum Kompromiss brachte wird in manchem Beitrag zu diesem Mosaik deutlich. Auch wenn er es oft aus gutem Grund vermied, sich schriftlich festzulegen – ein Beitrag beschreibt dies sehr anschaulich – so lag ihm dennoch sehr daran, Grundsatzfragen auch zu dokumentieren. Die Schriftenreihe „Beiträge zum Rundfunkrecht“ betreute er jahrelang als Herausgeber. Für die renommierte medienwissenschaftliche Zeitschrift „Media Perspektiven“ legte er den Grundstein. Mit dieser Publikation hat er sich ein bis heute anerkanntes Denkmal gesetzt.

Als Wolfgang Lehr im Jahre 1981 zum Intendanten des Hessischen Rundfunks gewählt wurde, hatte er sich durch seine langjährige Tätigkeit als Justitiar bereits einen legendären Ruf in der Medienpolitik erworben. Er galt als ein Medienjurist, für den Medienrecht und Medienpolitik immer nur eine Funktion hatten: Sie mußten der Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Systems und damit der Unabhängigkeit und der Qualität der Programmgestaltung dienen. So war seine Wahl zum Intendanten folgerichtig. Sie war verbunden mit der Übernahme der Verantwortung für alle Programme des Hessischen Rundfunks und für eine sehr große Zahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Lehr machte dies in seiner Rede aus Anlass seiner Amtsübernahme am 2. April 1981 deutlich als er sagte: “Auch in Zukunft wird einem Intendanten die Aufgabe gestellt sein, im Rahmen des gesetzlichen Auftrags und nach Maßgabe der personellen und finanziellen Möglichkeiten dieses Hauses Programme für unsere Hörer und Zuschauer zu verantworten. Ich sage verantworten. Denn ein Intendant soll und kann kein Programm machen, er soll es ermöglichen. Er soll anregen, Ziele setzen, Anstöße geben. Er muß anderen den Freiraum für schöpferisches Handeln öffnen und offenhalten. Er muß für seine Mitarbeiter da sein, ihre Begeisterung, ihr Engagement, ihre Initiative wecken, fördern und schützen. Er muß die Gesamtverantwortung, die ihm das Gesetz zuweist, auf Menschenmaß bringen.“ Weiter heißt es dann in seiner Rede:“ Er muß sich von Abhängigkeiten freihalten. Der Intendant eines Rundfunks, der unabhängig sein soll, darf selbst nicht abhängig sein. An Versuchen, ihn zu verpflichten, ihn in Abhängigkeit zu zwingen, wird es von außen und innen nicht fehlen. Niemandem ist damit gedient. Kein Druck, keine Drohung, keine Gefälligkeit und keine persönliche Bindung sollten seine freie Entscheidung beeinträchtigen können. Wer die Unabhängigkeit für den Rundfunk fordert, muß immer wieder, auch am eigenen Beispiel, unter Beweis stellen, daß er sie verdient.“ Es gab Zeiten – auch noch nach der Amtszeit von Wolfgang Lehr – in denen galten diese Grundsätze, und sie wurden gelebt. Doch diese Zeiten haben sich geändert - zum Schaden des öffentlich-rechtlichen Systems.

Zwei wichtige Aspekte dürfen natürlich in diesem Mosaik nicht fehlen, zwei Mosaiksteine, die im Leben von Wolfgang Lehr eine herausragende Rolle gespielt haben.

Der wichtigste überhaupt – das werden alle bestätigen, die ihn gut gekannt haben – ist seine Ehefrau Irmgard Lehr. Man spürte bei jeder Begegnung, wie wichtig beide füreinander waren, wie sie einander ergänzten, welch großen Respekt sie voreinander hatten. Wolfgang Lehr hatte auch kein Problem damit, die Liebe zu seiner Frau öffentlich zu bekunden. Auch dies war immer glaubwürdig, keinerlei Effekthascherei. Authentisch war er immer. Er sagte einmal in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. “Die Ehe mit meiner Frau ist das geglückteste Unternehmen meines Lebens – was nicht an mir liegt.“

Und dann der andere Aspekt, der nicht fehlen darf: Lehrs Verhältnis zu Goethe. Es gibt wohl kaum jemanden, der Wolfgang Lehr begegnet ist und nicht von dessen Goethe-Kenntnissen zu berichten weiß. Diesen Ruf genoß er, im Privaten, im Hessischen Rundfunk und in der ARD. Seine legendäre Rede „War Goethe Rotarier?“ hat einen der Mitwirkenden an diesem Porträt zu einer bemerkenswerten Betrachtung animiert. Auch der frühere Intendant des Südwestfunks, Willibald Hilf, zu jener Zeit auch Vorsitzender der ARD hat Goethe und Lehr aus Anlaß von dessen Verabschiedung als Intendant auf treffende Weise zusammengebracht. Aus Hilfs Ansprache am26. April 1986 in Köln: „Als ich mir Gedanken machte, wie die Qualitäten und Eigenschaften des Mannes, den wir heute verabschieden, in angemessene Worte gekleidet werden könnten, stieß ich auf unerwartete Hilfe, und zwar in Form eines erst dieser Tage entdeckten Briefes aus dem Jahre 1779. Sein Absender ist kein Geringerer als der damals just ernannte Staatsrat am Conseil des Weimarer Hofes, Dr. jur. Johann Wolfgang Goethe; der Empfänger kein anderer als dessen Dienstherr, der Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ich darf daraus – auszugweise – zitieren: An den Durchlauchtigsten Fürsten und hohen Herrn Carl August …. Nicht hintanhalten möchte ich einen Bericht über eine gar bemerkenswerte Persönlichkeit, die mir bei meinem gestrigen Aufenthalt in meiner Heimatstadt Frankfurt am Main kund wurde. Es residieret vor den Toren der Stadt, gut drei Meilen vor dem nördlichen Tore, welches man das Eschenheimer nennt, nahe einem den Kühhornshof geheißenen stattlichen Anwesen, ein gar außerordentlich talentierter Mann. Obwohl er, gleich mir, die Künste beider Rechte studieret hat und sich darin so vortrefflich auskennt, daß er einer erklecklichen Zahl von Studiosi der Jurisprudenz durch ein so vortreffliches Repetitorium nicht nur zum Bestehen von Examina, sondern solcherart auch zu führenden Stellungen verholfen hat, hat er dennoch dem Richter- und Advokatenstand entsagt und sich der Profession eines Intendanten zugewandt. Es ist aber recht eigentlich kein Theater, dem dieser Mann präsidieret, sondern eine gar treffliche Einrichtung, die sich auf das Ausrufen von Nachrichten aller Art und der Veranstaltung mannigfaltiger Lustigkeiten und politischer Ärger