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Stewart O'Nan

schreibt als

James Coltrane

Ein guter Tag zum Sterben

Roman

Aus dem Englischen von Peter Torberg

 

 

 

Nur der Gefangene kann den Wärter befreien.

José Marti

 

Erstick an den Knochen deines Vaters.

Kubanische Beschimpfung

1

Er kniete sich hinter das zerschlagene Fensterbrett, den alten Mann an seiner Seite. Hoch oben schnurrte langsam eine viermotorige Tupolev über den Hafen. Das Hotel war alt, noch vor der ersten Revolution für Touristen erbaut. Eine Rakete hatte ein gut Teil des Dachs fortgerissen; der Gang hinter ihnen führte ins Leere, auf einen kuriosen, steilen Längsschnitt durch Zimmer; die Möbel standen noch an ihrem Platz, die Bilderrahmen hingen schief. Jenseits des Boulevards lagen dunkel die Dächer ausgebrannter Wohnhäuser; unten flitzten uralte Chevys und ein paar russische Zweitürer zwischen toten Ampeln daher. Ganz am Ende des Boulevards sah er das weiße Hochhaus mit dem Wald von Antennen, grau im schwindenden Sommerlicht.

«Das da ist die Radiostation?», fragte Jorge Ortega.

«Das hohe», sagte der alte Felipe.

«Daran erinnere ich mich gar nicht.»

«Ist auch neu. Die alte ist weiter hinten, unterhalb vom Baseballstadion.»

Jorge breitete den Azetatstadtplan auf dem Teppich aus. Er war vor zehn Jahren nach einem Aufklärungsflug gezeichnet worden und ziemlich ungenau. Santa Rosa war eine Kleinstadt, unbedeutend, am anderen Ende der Insel gelegen; deswegen hatte die Firma sie – und ihn – wohl ausgesucht, nahm Jorge an.

Der alte Mann sah ihm über die Schulter und murmelte vor sich hin. Er war groß, aber stämmig. Er trug eine marineblaue Detroit-Tigers-Windjacke, ausgebeulte Jeans und abgewetzte Arbeitsschuhe. Man sah ihm an, dass er einmal Säufer gewesen war, es aber überwunden hatte. Er atmete pfeifend, von der Kletterei die Feuerleiter hinauf und von seinen Zigarillos. Jorge erinnerte er an den Professor in El Salvador – die gleiche leicht gebeugte Haltung, die gleiche beiläufige Pflichterfüllung. Armer Kerl, der Professor. Jorge wollte nicht an El Salvador denken, vor allem nicht jetzt. Es war erst ein Jahr her, aber ihm kam es so vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Damals, als er noch an etwas glaubte. An was? Und warum? Es gab keinen Grund.

Er kappte den Gedanken und konzentrierte sich auf die Station, überließ seiner kostspieligen Ausbildung in Langley die Regie. Ziel, Strategie, Taktik. Zerlege es, setze es zusammen. Zuerst mussten sie einen Zugang finden.

«Von hier aus sieht man den Eingang nicht.»

«Hinter den Bäumen dort», sagte der Alte. «Über den Türen hängt eine Markise, gegenüber liegt ein Park.» Er sprach gewunden, einen entlegenen Bauerndialekt, und Jorge musste innehalten, um die Sätze zu verstehen.

«Ich erinnere mich.»

«Auf der anderen Seite gibt es einen zweiten Eingang und auf der Rückseite einen Lastenaufzug, den wir für den Rückzug nehmen können.»

An den Rückzug zu denken war voreilig, aber selbst Jorge fing schon an, sich den Aufzug vorzustellen. Ein Fehler. Ein Schritt nach dem anderen.

«Können wir heute Abend noch mal herkommen und uns das genauer anschauen?»

«So gut wie geschehen.»

«Die Wachen schlafen nicht in dem Gebäude?»

«Sie sind im Arsenal stationiert, unter Leutnant Clemente.» Der Alte zeigte hin, sorgsam darauf bedacht, nicht zu nahe ans Fenster zu kommen. Gerüchten zufolge hatte die Regierung überall in der Stadt Heckenschützen postiert.

Jorge nahm sein Nachtsichtgerät aus dem mattierten Stahlgehäuse und schaltete es ein. Es summte wie ein Blitzlicht, und die Umrisse der Gebäude schimmerten strahlend grün. Castro war seit fast einem Jahr tot, und an allen Fassaden hingen zerschlissene schwarze Fahnen, selbst an den halbierten und zerstörten. Die Meeresbrise versetzte die Stoffbahnen in trügerische Bewegungen, die zu ignorieren Jorge sich nicht leisten konnte. Er stellte das Gerät am geriffelten Knopf scharf, bis er durch die Bäume Bruchstücke von Buchstaben auf der Markise erkennen konnte. Er meinte, eine Stiefelspitze, das gestreifte Bein einer Uniformhose zu sehen. Dann richtete er das Fernglas auf die Straßenseite gegenüber; die Welt verschwamm und wurde wieder scharf. Vor dem Arsenal standen Straßenteiler aus Beton, wie vor dem Weißen Haus.

«Im Wachhäuschen ist niemand.»

«Sie sind da», versicherte ihm Felipe. «Clemente hält sie bedeckt.»

«Du hörst dich an, als hättest du Angst vor ihm, hombre

«Mach dich nicht lustig über mich. Ich habe die anderen gesehen, und ich habe Clemente gesehen.»

Jorge verfolgte einen grauen Saracen-Panzerwagen, dessen Geschützturm sich drehte, den Boulevard entlang. Auf dem Gehsteig hielt sich eine Frau ihre Handtasche vors Gesicht und rannte in einen Hauseingang. «Wie viele schlafen im Arsenal?»

«Sechzehn, ohne den Unteroffizier. Der geht nachts nach Hause zu seiner Frau.»

«Und in der Flughafenkaserne?»

«Hundertfünfundzwanzig Mann, die Hälfte davon Berufssoldaten.»

«Wie viele sind wir?»

«Über hundert, aber in kleinen Gruppen, und unsere Waffen sind Schrott. Wie viele Männer brauchst du?»

«Das sage ich dir, wenn ich mir die Station genauer angesehen habe. Um das Reinkommen mache ich mir keine Sorgen, eher ums Rauskommen.»

«Glaubst du wirklich, dass es dazu kommt?»

Jorge Ortega suchte die Straße ab, dann wieder das Arsenal. Am Rand der Stadt erhoben sich die Flutlichter des Baseballstadions wie riesige Fliegenpatschen. In der Ferne startete eine uralte MiG donnernd vom Rollfeld. «Nein», sagte er, «aber schön wäre es.»

 

Stetig stiegen sie den Berg hinauf, der alte Felipe mit seinem Gehstock vorneweg. Palmzweige und die wächsernen Wedel der Bananenpflanzen nickten, doch sie beide erreichte kein Lüftchen. Der Dschungel fühlte sich genauso an wie in El Salvador – die Luftfeuchtigkeit, der faulige Gestank –, und Jorge gefiel das nicht. Aber er hielt es aus, solange er nicht Catalina vor Augen hatte. Solange er sich nicht erinnerte.

Er konnte keinen Pfad erkennen. Die Träger seines Rucksacks schnitten ihm in die Schultern; es galt die Regel, dass diejenigen, die aus der Stadt kamen, so viel mitbrachten, wie sie nur konnten. Felipe schleppte in seinem Rucksack neben Jorges Ausrüstung noch Weizen- und Maismehl und ein paar Dutzend Schachteln Munition mit. Jorge hatte das PRC-60-Funkgerät in seinem Rucksack; der Plastiksprengstoff steckte in einem ausgehöhlten Satz Batterien.

Sie stießen auf ein Rinnsal von Bach, und der Alte setzte seine Stiefel platschend zwischen die bemoosten Steine und führte ihn das Bachbett hinauf. Die Bergwand wurde immer steiler, bis der Bach schließlich am Fuße einer senkrechten Felswand aufhörte, wo das Wasser auf schwarzes Gestein stürzte und ihnen ins Gesicht spritzte. Felipe atmete japsend, aber sein Gesicht war noch das alte, überhaupt nicht rot, und er schwitzte auch nicht wie Jorge. Er setzte seinen Rucksack auf einem Felsen ab, legte die gewölbten Hände zusammen und trank.

«Warte hier», sagte er. «Ich gebe ihnen das Zeichen.»

«Wie weit ist es noch?», fragte Jorge. Die Vorstellung, schutzlos mitten im Dschungel zu hocken, gefiel ihm nicht. Das hatte er schon allzu oft getan, in Guatemala, Kolumbien, Nicaragua. Nach den Marines hatte er sich bei der Firma beworben, in der Hoffnung, genau hier zu landen, hatte Castros schwindende Gesundheit im Auge behalten wie ein Dieb, der ein Haus beobachtet. Doch Castro hielt durch, und mit jedem neuen Einsatz nahm der Job eine Gleichförmigkeit an, die Jorge hasste, und sei es nur, weil sie seine eigentlichen Ambitionen abstumpfen ließ. Selbst die Gefahr motivierte ihn nicht länger, sondern bewies nur, dass seine Vorgesetzten das Risiko für ihn unterschätzt hatten und es ihm überließen, ihre Papierfehler mit Blut zu korrigieren. Erst vor ein paar Minuten waren sie an den dampfenden Haufen einer Kavallerieeinheit vorbeigekommen. Die Fidelistas zogen Bauern ein, die die Berge von Kindheit an kannten; das erfüllte Jorge nicht gerade mit Zuversicht.

«Nicht mehr weit», sagte Felipe. «Ruh dich aus. Ich werd dich nicht verraten.»

«Ich weiß, tío.» Onkel.

Er sah den alten Mann im Unterholz und im Lianengewirr verschwinden. Wenn er ganz ehrlich war, traute er Felipe nicht, denn noch bevor er Miami verließ, um in den Krieg zu ziehen – sogar schon vor Catalina und dem Professor –, hatte Jorge Ortega gelernt, niemandem zu trauen. Sein Vater, ein guter Bulle, hatte ihm das beigebracht. Seine Mutter war früh verschwunden, und als sein Vater sicher war, dass aus Jorge ein Mann geworden war, der diese Lektion niemals vergessen würde, schloss er die Kellertür hinter sich ab, ging die Treppe hinunter, setzte sich vor The Game of the Week in seinen Fernsehsessel, schob sich den Lauf seines Dienstrevolvers in den Mund und pustete sich den Hinterkopf auf die gestreifte Tapete. Allein zu sein machte Jorge nichts aus; was ihm Sorgen bereitete, war die Vorstellung, dass Versprechen womöglich sogar gehalten würden.

Das Versprechen, die Station zu besetzen, hatte nicht er selbst gegeben. Forbes hatte ihm die Aufgabe übertragen, weil er wusste, dass Jorges Familie aus Santa Rosa stammte, dass er hier einen sentimentalen Winter unter dem Deckmantel eines Baseballscouts der Minor League verbracht hatte und über die notwendigen Funkerfahrungen verfügte. Er war auf dem College DJ gewesen, und das hatte für Forbes den Ausschlag gegeben. Sie hatten sich allein in einem Hotelzimmer über West Palm Beach getroffen, und in der Ferne hatten sich die Wellen weiß gebrochen. Forbes war in Straßenklamotten aufgetaucht und hatte nach Eau de Cologne gerochen. Im Corps war er nur Major gewesen, doch seit Peñas Hubschrauber abgeschossen worden war, war er der beste General der Rebellen.

«Die Station einzunehmen heißt gar nichts», hatte Forbes gesagt, mit einer ausladenden Handbewegung über das ganze Tal. Er hatte nur noch drei Finger, und sein Daumen war nur ein Knubbel, flach wie ein Radiergummi. Seit Korea war er an allem beteiligt gewesen. «Die Station zu besetzen und nach der ersten Angriffswelle die neuesten, genauesten Informationen zu senden, ist gerade mal plus minus null. Das ist das Mindeste, was wir erwarten.»

«Jawohl, Sir», hatte Jorge gesagt, weil er nicht recht wusste, was er sonst hätte tun können.

«Alles Neue, lückenlos, davon reden wir. Schnell und akkurat. Ich brauche fünfzehn Minuten sauberer Übertragung.» Er sah Jorge in die Augen. «Wie viele Minuten brauche ich?»

«Fünfzehn.»

«Falsch. Verschaffen Sie mir fünfundvierzig, dann kriege ich vielleicht fünfzehn Minuten. Okay», sagte er und klopfte auf die Landkarte. «Sie müssen ein paar guardia überwinden, aber das sind alles andere als Frontkämpfer. Ihr Kontaktmann steht mit den einheimischen Kräften in Verbindung – in den Bergen wimmelt es geradezu von ihnen. Der Geheimdienst hat keinerlei Informationen über sie, also setzen Sie so wenige wie möglich davon ein. Ich will, dass die Sache klein bleibt. Dass sie sauber bleibt. Meine richtigen Leute müssen in den ersten fünfzehn Minuten wissen, was los ist, sonst halte ich mich da raus, so einfach ist das. Kriegen wir den Hafen, dann sind wir dabei – und ziehen alles zusammen. Wenn wir nicht landen können, dann gibt es ziemlich wahrscheinlich ein Gemetzel, und jedermann wird ‹Schweinebucht› sagen, und das wär’s dann, verstehen Sie mich?»

«Jawohl, Sir.»

«Sie sorgen dafür, dass es nicht dazu kommt – Sie, nicht Ihre Leute. Sie haben keine Leute, Sie haben gar nichts. Man sagt, Sie mögen das so, stimmt das?»

«Jawohl, Sir.»

«Ich auch. Semper fidelis hilft auch nicht immer weiter.» Dann stand er auf und reichte Jorge die Hand; der fehlenden Finger wegen fühlte sie sich steif an, wie die einer Schaufensterpuppe. «Tun Sie das für mich oder für Ihr Land?»

«Für mein Land», entgegnete Jorge.

«Und welches wäre das?», fragte der General. «Passen Sie auf, was Sie jetzt sagen.»

«Beide», hatte Jorge geantwortet; doch während er jetzt auf Felipe wartete, fragte er sich, ob er überhaupt zu einem davon gehörte. Er traute weder Felipe noch Forbes, und doch war er hier, ein Jahr nach Castro, dessen Staatsgrab immer noch mit Blumen überhäuft wurde, Tribut einer dankbaren Nation. Letztlich war es unausweichlich, hier zu sein. Schicksal. Grübelnd hob er einen Kieselstein auf und warf ihn in den Bach, dann noch einen.

Von unten kam ein hohes Wiehern. Jorge hielt inne und blickte in Richtung des Geräuschs, doch da war nichts als Grün. Für einen Augenblick stellte er sich vor, wie er den Alten tötete, wie sein Kampfmesser durch die Sehnen des faltigen Halses fuhr, das tote Gewicht in Jorges Armen. Er erinnerte sich daran, wie er den Professor von der Ladefläche eines Pick-up heruntergewuchtet hatte, an das Geräusch der entweichenden Gase, dann schüttelte er sich den Gedanken aus dem Kopf.

Jorge lauschte, und nach einer Minute hörte er leise, sichere Schritte – keine raschelnden Blätter, kein Schleifen und Klappern eines Gewehrgurts, nur das bedächtige Stapfen der Füße auf dem Boden. Er zog die Pistole und trat an die Felswand zurück. Die Schritte kamen von links, von dem Weg, den Felipe genommen hatte, aber da kam mehr als nur eine Person. Jorge kniete sich hin, stützte den Ellbogen aufs Knie und zielte mit der Waffe auf die Höhe, in der die Brust eines Mannes erscheinen würde. Die Schritte wurden nun lauter, weniger bedächtig. Der Abzug schnitt ihm in den Finger, und dann trat ein einzelner hellbrauner Arbeitsstiefel auf den Fels.

Es war Felipe. Hinter ihm kam ein zweiter Mann, der – lächerlicherweise – ebenfalls eine Detroit-Tigers-Windjacke trug und ein M-16 über den Rücken geschnallt hatte; seine Nase wirkte wie übers Gesicht geschmiert, und eine Narbe verschwand in seinem Bart. Die beiden lachten über die Pistole, aber Jorge legte einen Finger vor den Mund und nickte bergab.

In einer einzigen Bewegung nahm der Mann neben Felipe das M-16 von der Schulter und lag flach auf dem Boden. Der Lauf zielte auf Jorges Gesicht.

Hinter ihm zuckte Felipe hilflos mit den Schultern.

«Du bist El Tiante?», zischte der Mann.

«Der bin ich», flüsterte Jorge.

«Hast du den Beweis dafür?» Der Mann zog aus seiner Windjacke eine halbe Baseball-Sammelkarte, die rechte Hälfte von Luis Tiant – nur dass der große Pitcher zu Jorges Überraschung ein Cleveland Indian war und nicht der Red-Sox-Spieler auf Jorges Kartenhälfte. War das ein Bluff, eine Falle?

Jorge wühlte in seinen Jeans und reichte dem Mann die Karte.

Als dieser sein Gewehr senkte, um die Karte zu nehmen, riss ihm Jorge die Waffe aus der Hand und richtete sie auf ihn.

Der Mann beachtete das nicht, die Karten interessierten ihn mehr. Sie passten genau zusammen; der Tiant bei den Cleveland Indians schaute nach hinten, während sein Körper bei den Boston Red Sox sich zur Homeplate drehte. «Du bist es», sagte der Mann widerwillig.

«Hast du einen Ausweis für mich?», forderte Jorge.

Der Mann schleuderte ihm die Karten ins Gesicht, stand auf und ging davon.

Jorge riss den Bolzen nach hinten, doch die Waffe war leer. Der Mann verschwand auf dem Pfad. «Culo», fluchte Jorge.

Felipe bedeutete Jorge mit dem Kopf, er solle ihm folgen, und ging los. Jorge schulterte seinen Rucksack und beeilte sich, die beiden einzuholen. Der andere war weit vorausgeeilt, nur noch eine Silhouette, die sich durch den üppigen Dschungel bewegte.

«Wie heißt dein Freund?», fragte Jorge.

«Er ist nicht mein Freund. Das ist Aurelio, der Abschnittskommandant. Er hat Sorge, du nimmst ihm seine besten Männer weg und vergeudest sie bei diesem einen Einsatz. Er war nicht immer so ein Hasenfuß. Du bist nicht unser erster americano, hat dir der generalissimo das nicht erzählt?»

«Wie viele hat es schon gegeben?»

«Seit Fidel bist du der dritte.»

«Und sollte ich fragen, was mit ihnen geschehen ist?»

«Sie waren blancos, keine von unseren Leuten.»

«Ist das entscheidend?», fragte Jorge.

«Wer du bist, ist entscheidend. Forbes hat es mir erzählt. Ich kenne deinen Großvater. Er war mein generalissimo, als wir das erste Mal gegen die Fidelistas kämpften. Ich war bei Mariel dabei und hab für ihn die Gewehre geladen.»

«Du bist zu jung für Mariel.»

«Am Morgen war ich noch ein Junge, am Abend ein alter Mann.»

«Respekt, Don Felipe.»

«Er hat gesagt, du warst im Wüstenkrieg.»

«Der war nach einem Monat vorbei», sagte Jorge. «Wir mussten Pillen nehmen, für den Fall eines Gasangriffs. Nervengas. Der Feind hockte in Bunkern. Erst bombardierte unsere Luftwaffe sie mit Napalm, dann rollten die Pioniere alles platt, was übrig blieb, dann kamen wir hinter unserer Panzerung.»

«Also hast du gelernt, was Respekt ist.»

«Nein», sagte Jorge. «Ich habe gelernt, nicht hinzusehen.»

«Das ist Respekt, oder?»

«Kann sein. Und Aurelio, hat er Respekt gelernt?»

«Er hat gelernt, den americanos nicht zu trauen. Er verliert nicht gern Männer.»

«Wer tut das schon», sagte Jorge.

Der Alte blieb stehen, und Jorge musste ebenfalls stehen bleiben. Rings um sie herum war es im Dschungel still. Felipe sah ihm in die Augen. Ja, dachte Jorge, wie der Professor, wahrhaft gläubig. Wann hatte er selbst diesen Glauben verloren? Er glich einem Boxer, der den Kampf schon aufgegeben hat, aber noch die Glocke hört und linkisch in den Ring tapst, um seine Strafe zu kassieren.

«Manchmal ist es notwendig. Dein Großvater wusste das.» Wie um dem Nachdruck zu verleihen, starrte Felipe ihn weiter an, dann wandte er sich um, reckte seinen Stock vor und trottete den Berg hinauf.

Aurelio erwartete sie auf einer Lichtung, Felipes Rucksack zu Füßen. Er trank aus einer Feldflasche und hielt sie Felipe hin. «El Tiante», sagte er. «Ich nehme mein Gewehr zurück.»

Jorge nahm es ab. Am liebsten hätte er es ihm hingeschleudert, aber er wusste, er musste noch mit ihm arbeiten. Er reichte es ihm und achtete dabei sorgsam auf den Lauf.

Aurelio schob einen Ärmel der Windjacke hoch. Auf dem Arm flossen unter der Haut einige grüne Ziffern ineinander – eine Gefängnistätowierung aus dem federale, dem Staatsgefängnis. «Hier hast du deinen Ausweis. Warum bist du in meinen Abschnitt gekommen?»

«Eine kleine Operation, die nur mich was angeht.»

«Wenn sie in Santa Rosa abläuft, geht sie auch mich was an.»

«Ich habe nicht gesagt, dass sie in Santa Rosa abläuft.»

Felipe wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und reichte Jorge die Feldflasche. Aurelio sah den Alten an, sagte aber nichts.

Aurelio stand auf. «Wir sind nicht seit drei Jahren hier, um uns in den eigenen Brunnen zu pinkeln. Wir operieren jenseits der Berge, in den Hügeln rings um Arriaga. Du kannst nicht am selben Ort leben und operieren. Das mag ja was für Amerikaner sein, die nach Miami fliegen und in Mietshäusern wohnen können, aber nicht für uns. Wir leben hier. Ich muss sichergehen, dass wir auch dann noch eine Handlungsbasis haben, wenn du wieder weg bist.»

«Ich verstehe.» Jorge reichte die Feldflasche zurück, und Aurelio verschloss sie.

«Das glaube ich nicht, aber es ist nicht an mir, das zu sagen. Forbes sagt, wir werden dir helfen, also helfen wir dir.» Er patschte auf Felipes Rucksack. «Du bist ein Radio-Typ, oder? Du interessierst dich für die Station. Wahrscheinlich, um eine Landung zu koordinieren.»

Jorge spürte, dass er die Augen zu Schlitzen verengte und ein verächtliches Grinsen über seinen Mund huschte.

«Mein junger Tiante, eine Revolution besteht entweder nur aus Geheimnissen oder aus gar keinen. Gar keine ist manchmal besser.» Er schulterte den Rucksack des Alten. «Hier, ich zeige dir unser Geheimnis. Vielleicht erspart uns das beiden einigen Ärger.»

Er führte sie über eine kahle, moosfleckige Felsplatte in eine staubige Wasserrinne. Hier war es still, Insekten schwebten ihnen vor den Gesichtern, Vögel segelten von Ast zu Ast. Von fern hörte Jorge das Brummen eines großen Propellerflugzeugs, einer neueren Tupolev, dem Ton nach. Die Firma flog Spookys – C47er mit elektrischen Minigewehren an den Mittelluken; ihre älteren Allisons summten höher, winselnder. Sie flogen außerdem ausgemusterte Cobras und Hueys, die vom Flugfeld der Anti-Drogenagentur DEA von Key Largo aus starteten, einer reinen Tarnoperation. Angeblich würde eine davon am Montag auftauchen, genau auf dem Spielfeld im Baseballstadion landen und ihn dort aufgabeln. Dass bis dahin nur drei Tage blieben, konnte Jorge sich nicht vorstellen. Merkwürdigerweise beunruhigte ihn das nicht.

Der Pfad endete an einer Wand aus Bougainvilleen. Aurelio schob die Zweige wie einen Vorhang beiseite und enthüllte ein gezacktes Loch. Sie mussten die Rucksäcke absetzen, um hineinschlüpfen zu können.

Aurelio hatte eine rotlinsige Taschenlampe dabei. In der Höhle war es kühl; der Boden bestand aus feinem Staub. Jorge duckte sich und legte Felipe eine Hand auf den Rücken.

«Vorsicht hier.» Aurelio leuchtete drei kleine Felsen an.

«Vermint», sagte Felipe.

Sie kamen um eine Ecke, und Aurelio blieb vor einer olivfarbenen Tarnplane stehen, die über zwei sarggroßen Kästen lag. Mit einer Hand zog er die Plane beiseite, und im Schein der Taschenlampe wurden zwei alte PRC-25 sichtbar, noch in ihren Holzkisten; die Holzwolle wirkte wie ein Nest. In der Ausbildung hatte Jorge Filme aus Vietnam darüber gesehen. Selbst ihre kürzeren Antennen gaben ein leichtes Ziel ab; der Moderator im Film pries ihre Strapazierbarkeit, nannte sie dann aber veraltet.

«Funktionieren sie?»

Aurelio hakte den Kopfhörer aus, legte einen Schalter um, und im Empfänger rauschte es. Aurelio schien zufrieden zu sein.

«Du solltest die Batterien abklemmen, wenn du sie nicht benutzt», sagte Jorge.

«Bei dem anderen ist sie abgeklemmt», sagte Aurelio. «Die hab ich nur deinetwegen angeschlossen.»

«Hast du die Langantennen?»

«Lang und kurz. Und schau dir das mal an.» Er richtete den Schein der Lampe zur Seite und wies auf ein paar russische Walkie-Talkies aus den späten achtziger Jahren. Jorge wusste, dass sie in ihrer Reichweite zu begrenzt waren, um ihnen wirklich von Nutzen zu sein, nahm aber eines in die Hand, um es zu bewundern.

«Wir haben zwei guardia getötet», sagte Aurelio.

«Glückwunsch.»

«Sie hielten einen unserer Laster auf der Straße zwischen Segovia und Maria del Rey an. Eine Ladung Mörser. Wir hatten zwei Mann hinten drin.»

«Hast du viele von Clementes Männern umgebracht?», fragte Jorge.

«O nein», sagte Felipe, «das waren keine von Clementes Leuten.»

«Nein», sagte Aurelio. «Wir haben es für das Klügste gehalten, ihn in Ruhe zu lassen.»

«Was ist mit dem Flugfeld?»

«Ohne Hilfe können wir da nicht viel machen.»

«Ihr könnt keine Granate auf das Flugfeld abfeuern?»

Keiner der beiden Männer antwortete, und Jorge hielt es für besser, nicht nachzubohren. Es fing ohnehin schon schlecht an. Auf den Alten konnte er sich ein wenig verlassen, aber der Kommandant stellte offenbar seine eigene Sicherheit über jeden noch so risikoarmen Einsatz. Im Corps hatten sie einen Namen für solche Offiziere – die wandelnden Toten. Aber vielleicht hatte der Mann ja Recht. Wenn Forbes sich nicht engagierte, dann wäre das alles nur Gewäsch, man würde jede Verantwortung ablehnen, die Ausrüstung vergraben, und Amerika hätte saubere Hände. Es gab jede Menge Gruppen in Miami, die als Aushängeschilder dienten und die Schuld auf sich nehmen würden, und die einzige Folge wäre ein Schwall öffentlicher Beachtung und ein warmer Spendenregen.

Aurelio deutete hoffnungsvoll auf die Funkgeräte. «Damit kannst du deine Leute vor der Küste erreichen.»

«Wir brauchen immer noch den Transmitter», erwiderte Jorge, obwohl es stimmte, was der Kommandeur sagte.

«Ay, du bist entschlossen, Clemente herzulocken.» Er sah die Funkgeräte düster an und warf dann die Plane wieder darüber. «Solange es nur Pferde sind, prima, aber wenn Clemente seine Hubschrauber schickt, sind wir hier am Ende, und wo sollen wir dann hin? Sag mir das mal, Tiante.»

«Du hörst dich an wie ein Bürokrat», sagte Felipe verächtlich. «Machst dir Sorgen um dein Haus.»

Die Vehemenz, mit der der Alte sprach, überraschte Jorge, doch Aurelio zuckte nur mit den Schultern.

«Es gibt auch noch andere Berge», sagte Jorge.

«Was weißt denn du schon von den Bergen?», erwiderte Aurelio, und seine Stimme erfüllte die Höhle. «Welches Recht hast du, ein Amerikaner, uns zu sagen, was wir machen sollen?»

«Es gibt andere, wenn du Angst hast.»

«Wir haben keine Angst», versicherte Felipe. «Wir hatten nur einen harten Sommer.»

«Es liegt nicht am Sommer», sagte Aurelio. «Es liegt am Krieg. Er dauert schon zu lang.»

«Ein Jahr», sagte der Alte, «der richtige Krieg. Noch nicht mal. Du bist einfach nur kein guter Verlierer. Wozu kämpfen, wenn du Angst vor dem Verlieren hast? Ich versteh das nicht. Du warst nicht immer so, mein Freund.»

«Wir verschwenden unsere Zeit», fuhr Jorge dazwischen, um ihre Philosophiererei zu unterbrechen. Sie sahen ihn beide seltsam an, und er bedauerte seine Worte. «Ich muss nach Einbruch der Dunkelheit wieder hinunter und mir die Lage genauer anschauen.»

«Er hat Recht», sagte Felipe. «Wir alle wissen, was wir zu tun haben.»

«Um das Was geht es nicht», sagte Aurelio, «sondern um das Wie, um das Wann und Wo und vor allem um das Warum.»

«Und um wen», sagte Felipe.

«Ja», sagte Aurelio, «aber danach frag mich später. Ich habe noch nicht entschieden, was wir machen.» Er drehte sich um, als sei dies sein abschließendes Wort, und nahm die Taschenlampe mit, sodass Jorge im Dunkeln nach dem glitschigen Nylon der Windjacke des Alten grabschen musste. Während sie durch die Dunkelheit tappten, stolperte er über Steine und sank im weichen Boden ein. Felipe atmete pfeifend. Es ist einfach lächerlich, dachte Jorge; hier war er nun in einem Land, das er liebte, das ihn aber niemals akzeptieren würde, und folgte einem alten Säufer und einem Feigling durch die Dunkelheit. Zum ersten Mal, seit er am frühen Morgen seinen Rucksack an Land gezerrt hatte, lachte er auf.

«Was ist denn so witzig», fragte Aurelio.

«Nichts», sagte Jorge. «Gar nichts.»