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ISBN 978-3-218-01030-6
Copyright © 2016 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien
unter Verwendung eines Fotos von dreamstime/©Jessamine
Typografische Gestaltung und Satz: Michael Karner, Gloggnitz
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
Nina ohne Geld
Christl und Ralph
Der Falsche
Der Mann
Erinnerung
Mehrgleisig
Mütter
Musik
Plötzlich
Prinzessin
Charlotte
Für meinen Enkelsohn Vinzent
Georg lernte Nina über eine Internet-Partnerbörse kennen. Sie wechselten ein paar E-Mails, dann trafen sie sich in einer kleinen Bar in der Innenstadt und verliebten sich auf Anhieb ineinander. Wir haben solches Glück gehabt, sagten sie nachher über diesen magischen Moment. Oder die magischen Momente. Nina schwört, dass sie schon beim Betreten der Bar (Georg wartete an der Theke) blitzartig so etwas wie eine Vorahnung hatte. Und Georg erinnert sich an Ninas melodiöses Lachen, das ihn unwiderstehlich zu ihr gezogen habe. Als Georg seinen Blick in Ninas Augen versenkte und nach ihrer bereitwilligen Hand griff, um sie an seinen Mund zu führen, war bereits klar, dass sie einander bald wiedersehen mussten. Wo gibt’s denn so was, es hat sofort gefunkt, nie hätte ich gedacht, dass mir das noch einmal passieren würde. So redeten sie, überwältigt von dem Glück, das sie gehabt hatten. Da wusste Georg noch nicht, dass Nina praktisch mittellos war. Aber als er es erfuhr, machte es ihm nichts aus, schließlich hatte er nicht nach einer reichen Frau gesucht.
Nina hatte bei ihrer Scheidung auf jeglichen Unterhalt verzichtet. Das eheliche Haus, das ihrem Mann gehörte, hatte sie bewohnen dürfen, bis das jüngere ihrer zwei Kinder achtzehn war. Inzwischen waren beide Kinder in Wohngemeinschaften gezogen und studierten, ihr Vater kam für ihre Lebenshaltungskosten auf, dazu war er von Gerichts wegen verpflichtet. Für sich hatte Nina eine winzige Einzimmerwohnung gefunden, in der sie jetzt lebte. Sie hatte sie geschmackvoll eingerichtet, mit wenigen Möbeln, die ihr Freundinnen und Freunde geschenkt hatten, und einem Sinn für charmante Details. Sie war begabt im Herbeizaubern einer einnehmenden häuslichen Atmosphäre. Sie hatte kleine, weiche Hände und bewegte sich leichtfüßig, durch ihre Gegenwart gewann die enge Wohnung an Tiefe, man fühlte sich geborgen darin. Georg hielt ihren Puppenhaushalt zunächst für Absicht, er dachte, diese Dimension käme ihrer fröhlichen Bescheidenheit entgegen.
Durchgefüttert wurde Nina von ihrer Mutter, die eine vergleichsweise hohe Witwenrente bezog. Wenn die Mutter einmal starb, würde diese Geldquelle allerdings versiegen. Es existierte kein Erbe, das Nina materielle Sicherheit versprach. Dennoch war Nina zuversichtlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mich Alex im Stich lassen würde, wenn es mir wirklich schlecht ginge, sagte sie, sobald die Rede auf ihre ungewisse Zukunft kam. Alex hatte sie mit zwei halbwüchsigen Kindern im Stich gelassen und sich nicht gescheut, ihren Unterhaltsverzicht anzunehmen sowie ihr später das Haus zu entziehen. Nichts deutete darauf hin, dass er ein weiches Herz haben würde, wenn es Nina einmal noch schlechter gehen sollte. Aber sie beharrte auf ihrer guten Meinung über ihn.
Ich bin keine Rosenkriegerin, sagte sie zu Georg, als sie sich gerade kennengelernt hatten. Das fand er reizend. Ja, reizend. Nichts passte besser zu Nina mit den weichen Händen, dem weichen Herzen und dem Weltvertrauen eines arglosen Mädchens als das altmodische Wort reizend, dachte Georg. Damals. Heute denkt er sich manchmal: Hätte sie nur einen Rosenkrieg geführt und etwas erstritten, was ihr gehört.
Sie habe Alex nicht wehtun wollen, sagte sie zur Erklärung ihrer Situation. Alex ihr ja auch nicht. Das wisse sie. Sie weiß, wie er wirklich ist. Alex ist ein anständiger Mensch. Sie kennt ihn besser als er sich. Bis heute ist sie stolz darauf, dass sie im Guten auseinandergegangen sind. Das war sie sich und ihrer Ehe schuldig. Und den Kindern. Alex und sie sind nicht gerade befreundet, dazu sehen sie einander zu selten, aber für Nina ist klar, dass sie gute Freunde wären, wenn es die Umstände erforderten. Beziehungsweise möglich machten. Nina hätte nichts dagegen, Alex nach wie vor zu treffen, auch mit seiner neuen Frau, auch mit Georg – also zu viert, sie, Georg, Alex und die neue Frau –, aber irgendwie scheint Alex sich davor zu scheuen. Vielleicht macht es ihn befangen, Nina mit Georg zu sehen. Oder zu wissen, dass sie jetzt zu Georg gehört. Oder die neue Frau hat etwas dagegen. Vielleicht ist sie eifersüchtig.
Wieso, fragte Georg verständnislos, als Nina ihm diese Überlegungen vortrug, wenn ich dich recht verstanden habe, ist er doch weggegangen von dir. Wegen seiner neuen Frau. Warum sollen die zwei eifersüchtig auf uns sein?
Georg hat, denkt Nina nachsichtig, keine Ahnung von Psychologie. Er kennt die Finten des Herzens nicht. Das macht ihn aber liebenswert, findet sie.
Georg ist 52 und war noch nie verheiratet. Er hat zwei längere Beziehungen und eine vertretbare Anzahl kürzerer Affären hinter sich. Mit seiner letzten Freundin lebte er zehn Jahre zusammen – sozusagen, denn sie hatten ihre getrennten Wohnungen nie aufgegeben. Obwohl sie oft wochenlang miteinander in derselben Wohnung lebten, mal in seiner, mal in ihrer, hatten sie diese Rückzugsmöglichkeit in die eigenen vier Wände beibehalten und machten auch Gebrauch davon. Georg hielt das für den Grund, warum diese Partnerschaft so erstaunlich lang gehalten hatte, Nina hingegen meint, daran sei sie schließlich zerbrochen.
Georg fühlt sich wohl in Ninas kleiner Wohnung, wenn er darin zu Besuch ist, mit Nina dauernd darin leben möchte er nicht. Inzwischen weiß er, dass Nina das auch nicht möchte. Sie möchte mit ihm zusammen eine große Wohnung bewohnen. Oder ein Haus, wie mit Alex. Aber das Modell der symbiotischen Zweisamkeit ist Georg grundsätzlich fremd. Seine Freundinnen waren immer selbständig. Auch finanziell standen sie auf eigenen Füßen, mit keiner hatte er eine gemeinsame Kasse.
Nina ist nachgiebig und zärtlich. Georg führt sie gern zum Essen aus. Führte, genau genommen. Präteritum. Leider. Er machte ihr oft kleine Geschenke. Er bezahlte die Urlaubsreisen mit ihr. Er fühlte sich großzügig und fürsorglich dabei. Mittlerweile weiß er, dass ihr das nicht genügt. Sie erwartet mehr. Das nimmt ihm die Freude am Großzügigsein. Er sitzt mit ihr im Restaurant, begleicht die Rechnung und denkt sich, warum musste es ausgerechnet das Filetsteak für sie sein, schaut sie eigentlich nie auf die Preise? Dabei ist ihm klar, dass sie ihn, obwohl er widerspruchslos für Filetsteaks blecht, für knausrig hält, weil er sie weiterhin in ihrer Puppenwohnung sitzen lässt und sich nicht zuständig fühlt für die Finanzierung ihres alltäglichen Lebens. Früher kaufte er ihr gelegentlich schöne Kleidungsstücke, ein teures Abendkleid, weil sie so gerne auf einen Ball gehen wollte, oder einen Kaschmirpullover, oder kostspielige Schals, aber langsam vergeht ihm die Lust dazu. Vielleicht würde sie ja im Restaurant mehr auf die Preise achten, wenn er ihr das Gefühl gäbe, dass sein Geld auch ihres ist, dass sie also auch in ihrem Interesse spart, wenn sie spart, vielleicht würde sie sogar den Ehrgeiz entwickeln, ihn durch umsichtiges Wirtschaften zu beeindrucken, aber Georg will sich ihre Kooperation nicht erkaufen, indem er sich ihr finanziell ausliefert.
Ist die Liebe ein Geschäft? Nein, findet Georg und hält es für sein gutes Recht, sein gutes Geld im Wesentlichen für sich zu behalten. Nein, sagt auch Nina und meint damit, wenn Georg sie liebte, würde er ihr sein Geld nicht vorenthalten, weil es angesichts seiner Liebe zu ihr keine Bedeutung für ihn hätte. Nina ist romantisch, sie hat keine Ahnung vom richtigen Leben und dass darin alles seinen Preis hat, und dass man in Schwierigkeiten kommt, wenn man ihn nicht zahlen kann, in ihrer Vorstellung gibt es immer irgendwo irgendjemanden, der einen notfalls schon retten wird. Diese ungewohnte Weltfremdheit hat Georg anfangs verzaubert und gerührt, aber da wusste er noch nicht, dass er der Retter sein sollte.
Nina lebt von den Zuschüssen ihrer Mutter und von gelegentlichen Übersetzungsarbeiten (sie hat Italienisch und Spanisch studiert). Aber große Sprünge kann sie damit nicht machen. Als sie mit Alex verheiratet war, ging sie keinem Beruf nach, sie führte den Haushalt und kümmerte sich um die Kinder. Ihr Hausfrauenlos war komfortabel, Alex verdiente gut, es gab eine Putzfrau, die zweimal in der Woche kam, und ein zeitweilig verfügbares männliches Faktotum für Garten- und Reparaturarbeiten. Nina verstand sich als diejenige, die Alex den Rücken freihielt, damit er Karriere machen konnte, ohne durch Ärger mit den Kindern oder häuslichen Kleinkram irritiert zu werden. Haushaltsmanagerin sei sie gewesen, sagt Nina, nicht ohne Stolz. Als sie geschieden wurde, war sie in einem Alter, in dem es nahezu unmöglich ist, beruflich noch einmal durchzustarten. Wenn sie darauf bestanden und sich eine gute Anwältin genommen hätte, wäre Alex wahrscheinlich verpflichtet worden, ihr monatlich ausreichend Geld zu überweisen und ihr auch einen fairen Anteil an Haus und Grund abzutreten, schließlich war beides ehelicher Zugewinn. Doch statt dessen warf sie sich bildlich gesprochen auf den Rücken wie ein Hund, ging in Demutshaltung, verlangte nichts und entsagte allem, sei es, um an Alex’ gutes Herz zu appellieren oder womöglich in der hirnrissigen Hoffnung, Alex würde angesichts ihrer Selbstlosigkeit erneut in Liebe zu ihr entflammen. Alex blieb jedoch kalt und streifte kalten Herzens ein, was er kriegen konnte.
Wenn sie Haushaltsmanagerin war, warum hat sie sich dann nicht wenigstens einen Abfertigungsanspruch zugestanden?, fragt sich Georg, aber er fragt nur sich und nicht sie, weil er sie nicht kränken will und der Karren ohnehin verfahren ist.
Alles hat seinen Preis, sagte auch Eva, Georgs Ex, als er ihr von Ninas Fürsorglichkeit und ihren häuslichen Talenten vorschwärmte. So eine Vollzeithausfrau ist natürlich bequem, sagte Eva, aber sie kostet, da muss der Mann löhnen, wahrscheinlich ist ihr Geschiedener zu hohen Unterhaltszahlungen verdonnert worden, das arme Schwein. Und lachend fügte sie hinzu: Anscheinend bist du auf die Butterseite gefallen, du kriegst jetzt den Service, für den ein anderer blecht. Ihr Lachen klang gekünstelt. Georg erwiderte nichts.
Bei sich dachte er, dass sie vielleicht recht hatte. Möglicherweise war er Nina etwas schuldig für ihre Anschmiegsamkeit, ihre Sorge um sein Wohlergehen, ihre Rücksichtnahme auf seine Zeitpläne, aber wenn er weiter überlegte, kam er zu dem Schluss, dass er eigentlich sehr gut ohne eine Geisha leben konnte.
Nicht ohne Nina. Doch ohne diese demonstrative Aufmerksamkeit, in die er eingewickelt wurde wie in ein Laken, das ihn hinderte, sich frei zu bewegen. Die Vorstellung, Nina nicht mehr zu sehen, zu fühlen, zu hören, schmerzte, aber er wäre, dachte er jedenfalls, sehr gut mit ihr zurechtgekommen, wenn sie ihn weniger nachdrücklich in den Mittelpunkt ihres Lebens und ihrer Erwartungen gestellt hätte.
Er hatte keine reiche Frau gesucht, das stimmte, doch eine arme war ein Problem, so viel wurde ihm mehr und mehr klar. Ninas Mittellosigkeit hatte ihn nicht erschreckt, solange er meinte, dass sie ihn im Grunde nichts anging. Georgs Vorstellung von annehmbarer Mittellosigkeit war an einen diskreten Umgang der mittellosen Person mit ihrem Status geknüpft. Irgendwie war ihm vorgeschwebt, Ninas Mittellosigkeit wäre eine elegante, unauffällige, und es würde ihm hoch angerechnet werden, wenn er sie taktvoll überging. Seit Nina ihn jedoch verpflichten will, sie aus ihrer finanziellen Misere zu erlösen, ist er irritiert.
Und jetzt die Sache mit dem Auto. Alex hat den Kindern den alten Golf seiner Frau geschenkt, weigert sich jedoch, notwendige Reparaturen zu bezahlen. Nina findet das kleinlich und lächerlich, wenn sie könnte, würde sie die Kosten übernehmen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Aber leider: Sie hat kein Geld.
Brauchen die Kinder denn ein Auto?, fragt Georg.
Nina hält die Frage für einen Scherz.
Nein, wirklich, sagt Georg. Sie wohnen doch in der Stadt. Immer mehr junge Leute in den Städten verzichten auf ein eigenes Auto, der öffentliche Verkehr ist doch prima ausgebaut.
Du wohnst auch in der Stadt, sagt Nina. Verzichtest du auf ein Auto?
Wenn ich es mir nicht leisten könnte, würde ich darauf verzichten, erwidert Georg.
An Ninas Gesichtsausdruck merkt er, dass er gerade etwas unglaublich Rohes gesagt hat.
Nina fängt sich und schlägt einen beiläufigen Ton an. Ich verstehe ja nicht, sagt sie, weshalb er ihnen den alten Golf gegeben hat. Ich meine, der ist nun wirklich uralt. Inzwischen hat Claudia den zweiten BMW. Da hätten sie den ersten doch an die Kinder abtreten können.
Warum redest du nicht mit Alex?, fragt Georg.
Nina zieht die Schultern zusammen, als fröstle sie. Dann sagt sie: Nein, lieber nicht. Ich will ja, dass die Kinder weiterhin ein gutes Verhältnis zu ihm haben.
Gutes Verhältnis?, wiederholt Georg. Aber ein erneuter Blick auf Ninas Gesicht lässt ihn innehalten. Er führt die Frage nicht weiter aus.
In dieser Nacht würde Nina ihn mit Beischlafverweigerung bestrafen, vermutet Georg, wenn er nicht von selber lustlos von ihr abrücken würde.
Sie waren in Kapstadt, Georg hatte geschäftlich dort zu tun. Für den Flug tauschte er sein Business-Ticket gegen zwei Plätze in der Holzklasse, sie saßen zusammengepfercht, aber Nina beklagte sich nicht. In Kapstadt wohnten sie in einer romantischen, kleinen Pension, die von einer schönen Inderin geführt wurde. Sie fuhren auf den Tafelberg und auf den Lion’s Head und ans Kap der Guten Hoffnung. Georg fotografierte Nina vor dem Wegweiser, der die Richtung zum Südpol zeigt. Nina war fröhlich und aufgeregt, wie ein Kind, dem man etwas Schönes schenkt. Aus einem ihrer Gespräche mit der Pensionswirtin erfuhr Georg dann, dass sie nicht zum ersten Mal in Kapstadt war. Sie sei mit ihrem geschiedenen Mann hier gewesen, erzählte Nina der schönen Inderin, damals habe sie einem Hotel direkt am Meer gewohnt, im zehnten Stock, wenn man aus den Fenstern schaute, habe man gesehen, wie die Wogen des Ozeans dramatisch heranrollten und sich am Ufer brachen, diesen Anblick habe sie nie vergessen.
Warum hast du mir nicht gesagt, dass du schon einmal in Kapstadt warst?, fragte Georg. Nina lächelte verlegen. Ich hab mir gedacht, das ist nicht so wichtig.
Ihr habt in einem dieser Fünf-Sterne-Luxuskästen gewohnt, richtig?, fragte Georg. Und bestimmt seid ihr Business geflogen?
Georg konnte Ninas Gesichtsausdruck nicht deuten, es lag Betretenheit darin, aber auch ein leiser Triumph. Bei Langstreckenflügen hat Alex immer Business gebucht, sagte sie, er hatte Angst vor Thrombosen.
Nina hat sich angewöhnt, in Gesellschaft auf ihrem neuen Lieblingsthema herumzureiten: wie der Staat mit Müttern umgeht. Wir ziehen Kinder groß, sagt sie, wir erziehen sie zu ordentlichen Menschen, aber was haben wir davon? Nichts. Wir werden missachtet. Wir kriegen kein Gehalt und wir haben keinen Rentenanspruch. Wir stehen da mit leeren Händen. Manchmal denke ich mir, ich hätte egoistischer sein sollen. Karriere machen, statt mich um die Kinder zu kümmern. Dann ginge es mir heute besser.
Georg zieht den Kopf ein. Wenn sie sagt, dass es ihr schlecht geht, stellen sich die anderen bestimmt die Frage, warum er nichts dagegen tut. Aber gleichzeitig denkt er sich: Es waren nicht meine Kinder, die du großgezogen hast. Du hast nicht für mich auf eine Karriere verzichtet. (Was für eine Karriere wäre das überhaupt gewesen?) Ich bin dir nichts schuldig.
Nicht alle, die zuhören, spenden Nina Beifall. Du bist für ein Müttergehalt?, fragt Bettina, die als Anwältin arbeitet. Im Ernst?
Ja, sagt Nina tapfer.
Und wer soll das bezahlen?
Der Staat.
Na ja, das tut er doch. Es gibt staatliches Kindergeld.
Ich meine keine lächerlichen Almosen. Ich meine ein richtiges, echtes Gehalt, von dem man leben kann. Und später eine ordentliche Rente.
Was ist mit berufstätigen Müttern? Sollen die das auch kriegen?
Die brauchen das nicht.
Ist das nicht ungerecht?
Wieso? Das war deren Entscheidung.
Georg mischt sich nicht ein. Muss er auch nicht. Denn Bettina stellt die Frage, die er gern stellen würde: Und was ist mit den Vätern?
Was soll mit den Vätern sein?, fragt Nina zurück. Und fügt hinzu: Meinst du, ich hätte meinen Mann abzocken sollen?
Ich würde es nicht abzocken nennen, sagt Bettina.
Nenne es, wie du willst, sagt Nina. Ich hätte das unfair gefunden. Ich bin nicht rachsüchtig.
Dabei geht es doch nicht um Rache, ruft Bettina, lauter als nötig.
Nina erhebt sich vom Tisch. Du verstehst das nicht, sagt sie zu Bettina. Ich bin nicht wie du. Aber vielleicht ist das ja ein Fehler. Sie lacht hilflos auf, dann verschwindet sie ins Badezimmer. Als sie zurückkommt, sieht sie irgendwie verweint aus. Nicht verheult, nicht rotnäsig, sondern auf eine dezente, attraktive Art verweint.
Bettinas Freund Christian schaut betreten, und er und Bettina verabschieden sich früh.
Warum liebe ich dich bloß?, fragt Georg zärtlich. Kannst du mir das sagen? Sie liegen im Bett, und er umfasst mit beiden Händen ihre kleinen, festen Brüste, um sie nacheinander zu küssen.
Nina lacht ihr melodiöses Lachen, in das er sich als erstes verliebt hat.
Und während er ihre Brüste küsst, merkt er, dass seine Frage kein rhetorisches Geplänkel war, sondern ehrlich gemeint. Warum liebt er sie wirklich?
Ninas sexuelle Erfahrungen halten sich in Grenzen. Sie hatte einen Freund vor Alex, dann Alex, danach zwei kurze Affären (nicht weiter bedeutsam, Versuchsballons sozusagen, die gleich platzten), und jetzt hat sie Georg.
Alex war ein erregender Liebhaber. Wenn er auf Dienstreise war, freute sie sich auf den Sex nach seiner Rückkehr. Darauf freute sie sich fast mehr als auf das häusliche Beisammensein mit ihm, in das er Unrast und Geistesabwesenheit trug.
Heute weiß sie, dass seine diesbezüglichen Talente nicht nur ihr zugute kamen, und das nimmt der Erinnerung an die erotischen Höhepunkte mit ihm ein wenig Glanz. Aber damals lieferte sie sich ihm mit Leib und Seele aus und war glücklich, wenn er sie berührte.
Vertrauen, das ist es, worauf es ihr ankommt. Sie möchte sich einem Mann anvertrauen können. Alex war ihr vielleicht sexuell nie treu, aber ehe er sie stehenließ, fühlte sie sich bei ihm geborgen. Solange es mit ihm gut ging, erfüllte er alle Ansprüche, die sie an eine Partnerschaft stellt. Deshalb gab sie sich ihm freudig hin (sie denkt nach, ob sie dieses Wort wirklich verwenden möchte, aber, ja, es stimmt, freudig ist der passende Ausduck), und darum war die körperliche Liebe mit ihm so schön. Sie braucht das Gefühl, sich einem Mann vorbehaltlos überlassen zu können. Alex hat sie in dieser Hinsicht nicht enttäuscht, bevor er sie dann doch enttäuschte. Er sorgte für sie und die Kinder, sie war in Sicherheit bei ihm und mit ihm, das war das, was sie wollte und sich wünschte. Dass die Sicherheit ein Ablaufdatum hatte, wusste sie ja nicht, deshalb war ihr Glück mit Alex ungetrübt, solange sie mit ihm lebte und das Bett mit ihm teilte. Jedenfalls kommt es ihr heute so vor. Die Zeit mit Alex erscheint ihr im Nachhinein wie ein kompaktes Stück perfekten Lebens, ein Schatz, der in ihrer Vergangenheit gut aufbewahrt ist und den ihr niemand nehmen kann. Sie hat einfach keine Lust, und dazu steht sie, diesen Schatz zu beschädigen, schäbig zu reden hinterher, indem sie die Zeit mit Alex auf Zeichen des Verrats absucht, und in Lebensphasen, die ihr geglückt erschienen, bereits die Ankündigung des späteren Endes entdeckt. Für sie hat ein rätselhafter Schicksalsschlag Alex von ihrer Seite gerissen, nicht ein letztlich unsteter Charakter, nicht Claudia, sondern eine höhere Macht, die ihn – gegen seinen Willen – verwandelt, ihm seine Liebe zu ihr genommen hat, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Es ist fast so, als wäre Alex gestorben, der Alex, den sie gekannt und der sie geliebt hat. Hätte sie mit einem Toten um Geld und Gut streiten sollen? Wenn sie Alex nicht behalten konnte, dann wollte sie auch sonst nichts von ihm festhalten, nicht das Haus, nicht die Möbel, nichts davon hätte ihn ihr zurückgegeben, und monatliche Unterhaltszahlungen von ihm wären Geld von einem Fremden gewesen, der ihren Alex aus ihrem Leben entfernt hatte. Der Fremde hätte ihr ihren Alex abgekauft mit seinem Geld, er hätte bezahlt dafür, dass er jetzt an Alex’ Stelle auf der Welt war, und sie hätte dieser Ablöse zustimmen müssen, wenn sie das Geld genommen hätte, es wäre ihr wie Hohn vorgekommen.
Als sie Georg kennenlernte, war sie ihrem Schicksal aufrichtig dankbar für diese neue Chance. Georg war natürlich kein zweiter Alex, das war klar und auch nicht nötig, anfangs fand sie sogar, dass Georg besser aussah als Alex (der ziemlich attraktiv war und ist), und dass es mit ihm unterhaltsamer war als mit Alex, der sich in Gedanken viel zu oft in seiner Firma aufgehalten hatte. Vertrauensvoll hatte sie sich an Georg angeschlossen, bereit, sich ihm rückhaltlos zu überantworten. Was nicht hieß, dass sie nicht ebenfalls ihren Teil beitragen wollte zu ihrer Verbindung, in der sie die Verschmelzung zweier Leben zu einem einzigen sah. Sie war entschlossen gewesen, seine Sorgen zu den ihren zu machen. Sie war willens, seine familiären Pflichten mit ihm zu teilen. Sie lud seine Schwester zum Essen ein und bot an, sich um seine alte Mutter zu kümmern. Es stellte sich heraus, dass seine Mutter es vorzog, Bridge zu spielen oder mit Freundinnen zu reisen. Georgs Schwester kam einmal, sprach keine Gegeneinladung aus und war danach immerzu derart beschäftigt, dass man sich nichts mehr mit ihr ausmachen konnte. Georg sagte, seine Schwester und er gingen schon lang getrennte Wege, sie hätten einander einfach nichts zu sagen. Umgekehrt ist Georg an Ninas Kindern nur marginal interessiert. Auch ihre Mutter lässt ihn gleichgültig, er sieht ein, dass Nina ihr Aufmerksamkeit schuldet, hat aber wenig Lust, sie mit Nina zu besuchen oder bei den wöchentlichen Mutter-Tochter-Essen dabei zu sein. Dabei sucht Ninas Mutter gute Restaurants dafür aus und übernimmt selbstverständlich immer die Rechnung. Sie ist eine eifrige Leserin von Gastro-Kolumnen und geht gern in Lokale, die von den Küchenkritikern gerade gehypt werden. Manchmal denkt Nina flüchtig, wenn ihre Mutter nicht immer die Neigung gehabt hätte, auf großem Fuß zu leben, dann hätte sie jetzt was zu vererben, aber noch in derselben Minute verbietet sie sich solche Überlegungen. Nein, sie gönnt ihrer Mutter jeden Lebensstil, der sie glücklich macht, wirklich.
Georg will Ninas und sein Leben nicht zu einem verschmelzen, im Gegenteil, je mehr Nina sich nach Gemeinsamkeit sehnt, desto nachdrücklicher besteht er auf Verschiedenheit.
Und, ja, die Sache mit dem Geld. Für Nina ist eine gemeinsame Kasse mehr als ein Konto, auf das beide Zugriff haben, ihr beweist es, dass ihr Partner zu ihr steht. Würde es beweisen. Denn Georg denkt leider nicht daran, ihr irgendeine Art von selbstverständlichem finanziellem Rückhalt anzubieten. Wenn sie ins Theater gehen, dann nimmt er immer teure Sitze. Er bestellt im Internet und teilt ihr dann mit, welche Plätze er in welcher Preiskategorie erworben hat, und es hört sich jedesmal so an, als erwarte er, dass sie versucht, ihm das Geld für ihre Karte zu geben. Wenn er wirklich davon ausgehen würde, dass sie ihre Theaterkarte selber zahlt, müsste er sie dann nicht wenigstens fragen, welcher Preis ihr recht wäre? Er fragt nicht, für ihn ist klar, dass er sich einen guten Platz gönnt, koste er, was er wolle. Und wenn Nina dann die kleine Pause nicht nützt, die er macht, nachdem er ihr gesagt hat, wo sie wie teuer sitzen werden, fügt er hinzu: Du bist selbstverständlich eingeladen. Doch er sagt es – im Gönnerton –, weil es eben keineswegs selbstverständlich ist.
Er setzt voraus, dass Nina mithält mit ihm und seinen Konsumgewohnheiten, aber er muss sich offenbar immer wieder selbst daran erinnern, dass sie das nur kann, wenn er ihr unter die Arme greift. Und wie es scheint, erfüllt ihn das immer mehr mit Missmut, jedesmal, wenn er sich erinnert, wird er noch griesgrämiger.
Nina ist die Unbefangenheit verlorengegangen, mit der sie Georg ihren Körper früher ausgeliefert hat. Nina möchte sich ausliefern, wahre Leidenschaft ohne temporäre Selbstaufgabe ist ihr nicht vorstellbar. Aber wie kann sie das, wenn sie das Gefühl hat, dem anderen als Mühlstein um den Hals zu hängen? Wer als Last empfunden wird, muss sich davor schützen, abgeworfen zu werden. Nina schützt sich inzwischen vor Georg. Sie schläft mit ihm, weil sie glaubt, dass sie ihm das schuldig ist. Wenigstens das. (So denkt er, stellt sie sich vor.) Aber sie empfindet immer weniger Lust dabei. Es kommt ihr langsam vor, als prostituiere sie sich, wenn sie mit ihm schläft, und wofür? Für Theaterkarten, ein Abendessen, ein Wochenende in Grado.
Wäre sie wirklich die Goldgräberin, als die Georg sie anscheinend sieht, hätte sie sich längst auf die Suche nach einem freigiebigeren Typ gemacht. Das Internet ist voller Angebote, man kann wählen wie in einem Supermarkt mit gut gefüllten Regalen. Obwohl – die Big Spender machen wahrscheinlich einen eher kleinen Teil des Sortiments aus. Und Nina gibt sich keinen Illusionen über die Anforderungen hin, die potenzielle Sugar Daddys an mögliche Gespielinnen stellen. Die erste und wichtigste lautet: Jugend. Damit kann sie nicht punkten. Nina ist nicht mehr in einem Alter, das ihr die Option eröffnet, als vorzeigbare Begleiterin eines Societylöwen zu fungieren. Aber trotzdem: Wäre sie bloß auf Versorgung aus, würde sie sich nach einem eventuellen Versorger umschauen. Er müsste ja kein Societylöwe sein. Vor Ninas geistigem Auge taucht kurz die Vorstellung von einem väterlichen Herrn in biederem Anzug auf, verwitwet nach langer, seriöser Ehe, dankbar für Zuwendung und bereit, eine angenehme Gesellschafterin an seinem vielleicht nicht berauschenden, aber soliden Wohlstand teilhaben zu lassen.
Doch sie liebt ja Georg. Liebt sie Georg?
Sie sitzen in einem Café bei einem Glas Rotwein. Georg hat angekündigt, dass er zu Hause schlafen wird, er muss morgen sehr früh aufbrechen und will Nina nicht stören. Wenn er zu Hause sagt, meint er seine Wohnung. Nina hat sich daran gewöhnt. Anfangs hat sie gehofft, dass er einmal, wenn er zu Hause sagt, ein Zuhause meinen wird, in dem auch sie daheim ist, aber inzwischen weiß sie, diese Hoffnung wird sich nie erfüllen. Sie dreht ihr Rotweinglas in den Händen und sagt unvermittelt: Ach, übrigens habe ich Martin getroffen.
Martin?, fragt Georg verständnislos.
Ja, meinen Jugendfreund. Ich hab dir doch von ihm erzählt.
Nicht dass ich wüsste.
Wirklich nicht?, fragt Nina. Und fügt hinzu: Na ja, schon möglich. So wichtig war er ja auch nicht.
Was heißt, du hast ihn getroffen?
Zufällig. Im Supermarkt. Nach … Ach, ich mag gar nicht nachrechnen, nach wie vielen Jahren. Es ist eine Ewigkeit her. Und plötzlich steht er vor mir. Am helllichten Vormittag. Komisch, nicht?
Am Vormittag? Im Supermarkt?
Ja, wieso?
Ein Mann mit Tagesfreizeit?
Nein, eigentlich nicht. Er ist … Anwalt.
In einer bekannten Kanzlei?
Keine Ahnung.
Wie heißt er denn – Martin und wie noch?
Nina schaut an Georg vorbei auf eine Wand, an der ein Plakat für ein Konzert wirbt, das längst stattgefunden hat. Das Café, in dem sie sitzen, versteht sich immer noch als Künstlertreffpunkt, obwohl seit Langem kaum noch Künstler darin verkehren.
Seliger, sagt sie.
Martin Seliger? Nie gehört.
Du kannst ja auch nicht von allen Anwälten gehört haben.
Also, die bedeutenden kennt man.
Dann ist er eben unbedeutend, sagt sie mit einem charmanten Lächeln.
Sie hofft, dass er sich nicht umdreht. Das Konzertplakat an der Wand hinter ihm kündigt einen Pianisten namens Robert Seliger an. Auf die Frage nach Martins Nachnamen war sie nicht gefasst gewesen. Warum hat sie nicht einfach Meier gesagt? Weil sie auf das ganze Gespräch nicht gefasst gewesen ist. Der erste Satz ist ihr irgendwie passiert, sie weiß selbst nicht, warum. Plötzlich hat sie ihn von sich gegeben, selber überrascht, als sie sich reden hörte, der Satz hat sie überrumpelt, ehe sie nachdenken konnte, wohin er sie führen würde.
Was für eine Art von Jugendfreund?, fragt Georg leichthin, nebenbei, im Konversationston.
Sie überlegt kurz, dann entschließt sie sich zu der Auskunft: Wir hatten eine sehr keusche Beziehung.
Warum?
Wir waren halbe Kinder.
Und weiter?
Was, weiter?
Na ja, er steht plötzlich vor dir – und was war dann? Wieso hat er dich eigentlich erkannt, nach so langer Zeit?
Er sagt, weil ich immer noch so aussehe wie damals, erwidert Nina mit bescheidenem Stolz.
Da hat er sicher recht. Und er? Gleichfalls unverändert? Oder ein dicker Sack mit Glatze? (Die Haare zu verlieren ist eine von Georgs Schreckensvorstellungen.)
Nein. Er ist eigentlich viel fescher als früher. Männlicher. Ich meine, er war nie unattraktiv. Aber damals war er … na ja, unfertig.
Georg lehnt sich zurück. So, so, sagt er leichthin, du hast also einen feschen Anwalt getroffen, mit dem dich eine, sagen wir: Jugendfreundschaft verbindet. Muss ich eifersüchtig sein?
Sie dreht wieder ihr Weinglas hin und her und blickt kurz zu Boden, so, als müsse sie sich sammeln, um eine Unwahrheit auszusprechen. Selbstverständlich nicht, sagt sie dann und lächelt ihn ein bisschen zu strahlend an.
Georg weiß nicht, was er von diesem Martin halten soll, den Nina überraschend aus dem Ärmel gezogen hat wie ein Ass. Geschieden, nach ihren Angaben, kinderlos, erfolgreich als Wirtschaftsanwalt, breitschultrig, gutaussehend.
Ist er groß? Oder einer von diesen gutaussehenden Napoleons?
Nein, groß. Mindestens deine Größe.
Reich?
Nina zuckt die Achseln. Arm ist er sicher nicht. Es scheint ihm sehr gut zu gehen.
Sie war, erzählt sie, mit Martin Kaffee trinken. In alter Freundschaft. Georg hätte mitkommen können, aber er musste ja am Donnerstag nach Mailand.
War er in dich verliebt? Damals?
Sie bejaht. Georg hält es für möglich, dass sie ihm bloß einen Rivalen präsentiert, um ihn auf Touren zu bringen. Er hat keine Lust, auf diesen ältesten aller Tricks hereinzufallen. Vielleicht ist Martin ja in Wahrheit ein schwabbeliger Kerl mit Geheimratsecken, der in einer Anwaltskanzlei die Akten hin- und hertragen darf. Vielleicht aber auch nicht. Verdammt.
Was stellt sie sich vor? Soll er sie heiraten, damit sie ihm kein anderer wegschnappt?
Vielleicht sollte er sie ziehen lassen, wenn sie endlich einen gefunden hat, der ihr bietet, was er ihr nicht bieten will. Der Gedanke tut ihm weh, er weiß nur nicht, ob aus Liebe, oder weil sein Stolz sich dagegen sträubt.