Impressum

 

Autorin:

Adi Hübel

Titel:

Tod in Ulm

 

Kriminalroman, 3. überarbeitete Ausgabe

 

Foto Cover: Stephan Werner

Verlag: © nexx verlag gmbh, 2015 (www.nexx-verlag.de). Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungstermin: Dezember 2015

ISBN/EAN: 978-3-95870—493-0

 

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Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

1

 

 

Der Himmel war grau und wolkenverhangen als Kiki Wunder an diesem Morgen einen ersten Blick aus dem Fenster warf. Noch regnete es nicht, aber es deutete alles darauf hin, dass ihr wieder ein Tag im grauen Nebelkleid bevorstand. „Ulm ist ein Nebelloch“, hatten die Kollegen sie schon in den ersten Tagen ihres Amtsantritts gewarnt.

Dabei konnte sie sich nicht beklagen. Noch vorgestern strahlte die Sonne so intensiv, wie man es sich von der Maisonne nur wünschen konnte. Allerdings war es da gar nicht Mai gewesen, sondern der letzte Apriltag, erinnerte sie sich, während sie sich unter die Dusche stellte. Haare waren heute auch dran. Ihren wirren Lockenschopf musste sie zwar nicht allzu oft waschen, aber sie mochte es, wenn die feinen Gespinste um ihr Gesicht wehten. Zum Schwitzen würde sie heute wohl kaum kommen. Schon gestern war kein Grund gewesen, sich Gedanken um Achselschweiß oder Sonnencreme zu machen.

Das war ein erster Mai! Keinesfalls wie aus dem Bilderbuch, eher wie aus dem Putzeimer gezogen. Nichts hatte geleuchtet, nichts gewärmt, alles war klamm und diesig gewesen. Sie hatte nach Fliederbüschen Ausschau gehalten, als sie frühmorgens mit dem Rad Richtung Stadtmitte gedüst war. Aber nirgends auch nur eine Spur von lila! Selbst die Tulpen in den Vorgärten hatten verschämt die Köpfe verschlossen und ihre Farben bedeckt gehalten. Dann hatte es auch noch angefangen zu tröpfeln.

Schon während des Demonstrationszuges oder sollte sie besser Aufzuges sagen, wie manche ihrer Kollegen es nannten, war sie pitschnass geworden. Weshalb musste sie auch hier Dienst tun. Mehrere Kolleginnen und Kollegen von der Schutzpolizei waren nach Berlin abgeordnet worden, um dort Krawalle zu verhindern. Also musste hier einspringen, was Beine hatte.

 

So hatte sie sich ihren ersten großen Einsatz am neuen Dienstort nicht vorgestellt. Schließlich war sie Kriminalassistentin, zwar noch zur Anstellung, aber nicht mehr lange. Sie fand, dass es nicht ihre Aufgabe war, friedliche Demonstranten zu observieren. Lieber wäre sie mitgezogen durch die Straßen. Eigentlich hätte auch sie wirklich genug Anlass, hin und wieder zu demonstrieren, zum Beispiel für weniger Arbeitseinsatz und bessere Bezahlung, aber vor allem auch gegen diese braune Brut, die immer unverschämter und offener ihre menschenverachtenden Ansichten zum Besten gab.

Solche Aktionen waren ihr keineswegs fremd. Berlin war in dieser Hinsicht ein gutes Pflaster gewesen. Während ihrer Schulzeit und auch danach hatte sie sich oft die Mahnungen ihrer Mutter anhören müssen, wenn sie wieder einmal, mit den anderen, zu Demos aufgebrochen war: „Pass auf dich auf! Dräng dich nicht in die vorderen Reihen! Ruf an, wenn etwas nicht in Ordnung ist! Denk daran, die Nazis sind gewalttätig!“

Dabei war Mama, oder Siria, wie sie von klein an ihre Mutter nannte, auch kein Kind von Traurigkeit. Meist war sie bei den Demos selbst dabei und sie hatten des Öfteren für hinterher einen Treffpunkt ausgemacht. Dann waren sie gemeinsam mit Freunden noch im Biergarten am Schweriner Eck gesessen. Dort wurde die Demo dann noch einmal von allen Seiten begutachtet. Die Gespräche drehten sich um den Polizeieinsatz, den Verfassungsschutz, um die Chaoten, die sich wieder einmal nicht hatten bremsen lassen, und um den möglichen Erfolg ihrer Forderungen.

 

In all den Jahren ihrer Kindheit und Jugend waren die oft schlimmen Verhältnisse dieser Republik in aller Deutlichkeit an Kiki vorbeigezogen und hatten ihr Gefühl für Gerechtigkeit auf eine harte Probe gestellt. Irgendwann war ihr bewusst geworden, dass diese Art von Protest sich verlief wie glucksendes Wasser im Gully. Immer wieder gab es Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Art und Weise, wie die Politiker ihre Großprojekte durchdrückten, doch nach einigen Medienberichten blieb dann alles beim Alten. Natürlich wusste sie um die langfristige Wirkung eines heftigen Protesthagels, aber genau besehen, ließ sich kaum eine Änderung der Verhältnisse erkennen. Im Gegenteil, vieles wurde bei genauem Hinsehen noch schlimmer. Die Armut und die sichtbar Armen nahmen zu, die Umwelt verkam fast unbemerkt zu einer Müllkippe, die Meere wurden verölt und leer gefischt, die Nazis hatten die Oberhand.

Ach“, musste sie jetzt denken, während sie sich abrubbelte, „so schlimm ist es nun auch wieder nicht und ich tu immerhin meinen Teil dazu, dass das Verbrechen, in welcher Form auch immer, nicht überhandnimmt. Und vor allem, dass die Täter nicht ungestraft davonkommen.“

 

Damals, nach dem Abitur, als sich für sie die Frage der Berufswahl stellte, hatte sie für sich zwei Wege gesehen. Entweder wollte sie in die große Politik, oder sie würde bei der Polizei für Gerechtigkeit eintreten. Das anfängliche Politikstudium war ihr schnell zu trocken geworden und sie hatte sich für den Polizeidienst entschieden. Das war dann allerdings eine harte Schule gewesen.

Während Kiki die Haare föhnte, nahm sie entfernt das Schrillen des Telefons wahr. Sie nahm nicht ab. Sollte der Anrufer doch denken, sie sei schon aus dem Haus und unterwegs. Wenn es dienstlich war, würde sie die Angelegenheit in spätestens einer halben Stunde erfahren und für private Gespräche hatte sie im Moment wirklich keine Zeit.

Sie musste los.

Als sie in die warme Hose schlüpfte und den Pullover überzog, kamen ihr die ersten, ziemlich schrecklichen Jahre in Uniform in den Sinn. Damals hatte sie jeden Tag die ungeliebte grüne Kleidung tragen müssen. Grundausbildung nannte man das. Ja, die letzten Jahre waren kein Honigschlecken gewesen, aber nun war sie da angelangt, wo sie ziemlich bald schon ihren Platz gesehen hatte, bei der aktiven Verbrechensbekämpfung, bei der Kriminalpolizei, und seit zwei Monaten lebte sie nun hier in Ulm.

Dass sie sich gerade diese Stadt ausgesucht hatte, hatte durchaus seinen Grund. Endlich war sie dem ständigen Hinterherspionieren ihres Exfreundes Wolf entkommen. Man sollte es nicht glauben, aber auch eine Polizistin war nicht vor einem Stalker sicher. Sie hatte sich immer wieder die Frage gestellt: Umzug oder nicht und sich dann doch für diesen Ortswechsel entschieden.

 

Mit schnellen Schritten verließ sie die Wohnung, zog sich die Kapuze über den Kopf und schob das Fahrrad ins Freie. Frau Zummermann im ersten Stock, schlief hoffentlich noch den Schlaf der Ungerechten, wie Kiki es bei sich nannte. „Ja, wenn alle ihre Räder in den Flur stellen würden, wie würde das denn aussehen“, war ihr ständiges Lamento. Und das auch noch in Schwäbisch. „Du meine Güte, wer sollte das auf Anhieb verstehen!“

Kiki hatte sich Einiges von ihrem Kollegen Manfred Knopf, von allen nur Manni genannt, übersetzen lassen.

Sie schwang sich aufs Rad und trat los. Nein, ihr Fahrrad musste in den Flur, da konnte Frau Zummermann sagen, was sie wollte. Sie mochte sich nicht schon wieder ein Rad stehlen lassen. In Berlin hatte sie drei Stück auf diese Weise verloren. Nur eines hatte sie wieder bekommen. Das war ein glücklicher Zufall gewesen, wie man ihn nicht oft erlebte.

Am Tag nach dem Diebstahl war sie Brötchen holen gegangen. Und gerade als sie aus der Bäckerei kam, sie hatte noch kaum ein paar Schritte gemacht, hatte sie doch tatsächlich einen dunkelhaarigen, jungen Mann auf ihrem Rad erwischt. „Das ist mein Rad“, hatte sie gerufen und war schnell hinter ihm her gespurtet. Sie hatte ihn am Gepäckständer erwischt und festgehalten. Dann hatte sie versucht, ihm deutlich zu machen, dass das ihr Fahrrad war, auf dem er es sich bequem gemacht hatte. Er verstand nur wenig Deutsch oder tat zumindest so. „Hören Sie, das ist mein Fahrrad, es ist mir gestern gestohlen worden“, hatte sie ihm immer wieder versucht zu erklären, „es ist mein Rad und ich will es wieder haben.“

Doch der junge Mann dachte nicht daran, es herauszurücken. Er hielt es mit beiden Händen fest und sie hielt es fest und so zogen sie von zwei Seiten daran, bis die von Passanten gerufene Streife eintraf. Wäre er doch losgespurtet, hatte Kiki damals gedacht. Er hätte ihr doch ihr Rad einfach wieder geben können und alles wäre in Ordnung gewesen. Aber nein, er musste mit auf die Wache, war Asylbewerber und in Berlin nicht aufenthaltsberechtigt. Er hatte ihr wirklich leidgetan, aber was sollte sie machen. Sie brauchte das Rad täglich und ihre Mutter war sowieso schon sauer auf sie gewesen, weil sie es nicht ordentlich gesichert hatte. Und Fahrräder sollte man auch nicht einfach so klauen. Die waren in Berlin ein nicht zu unterschätzendes Verkehrsmittel, sie wurden einfach gebraucht.

Na, das konnte ihr hier in dieser schwäbischen Stadt wohl kaum passieren. Aber Vorsicht war immer geboten. Geschickt umrundete sie etliche tiefe Löcher im Belag und jagte die Wörthstraße entlang, Richtung Innenstadt. Ihr telefonino, wie sie ihr Handy bei sich manchmal ganz italienisch nannte, fing an zu klingeln.

„Ich bin doch schon da“, rief sie unwillkürlich laut aus und jagt am Ehinger Tor in die Unterführung hinein, bog am Kinopalast Xinedome unter heftigem Klingeln links ab, überquerte die Glöcklerstraße und an der kleinen Blau entlang, mit den noch schlafenden Enten, ging es unter flottem Treten den Lautenberg empor.

Bevor sie das Rad anschloss, fischte sie jetzt doch ihr Handy aus der Jackentasche. Auch im Hof des Neuen Baus, wie das imposante Gebäude genannt wurde, in dem das Polizeipräsidium untergebracht war, war man womöglich vor Dieben nicht sicher. Das unaufhörliche Bimmeln machte sie nervös und ihr „Ja!“ klang nicht gerade sehr freundlich.

„Wo bist du denn?“ Ihr Kollege Manni war am Apparat.

„Rate mal“, rief sie, „wo ich wohl sein könnte. Und um dir etwas Hilfestellung zu geben, ich bin ganz nahe bei dir.“

„Ich finde das gar nicht lustig“, beschwerte er sich, „erstens bist du zu spät dran und zweitens haben wir einen Mordfall.“

„Was heißt das denn, wir haben einen Mordfall? Hier? Wo?“

Kiki war total überrascht. Ein Mord, hier in Ulm, am frühen Maimorgen. Gut, er hatte nicht strahlend angefangen, dieser Maimorgen, aber sollte er deshalb so weitergehen?

Dann aber regte sich in ihr das Berufsinteresse.

„Sprichst du wirklich von einem Mordfall oder willst du mich auf den Arm nehmen“, fragte sie etwas misstrauisch bei Manni nach.

„Komm doch erst mal hoch“, rief er aufgeregt, „und zwar schnell. Alle hier warten schon auf dich. Wir wollen anfangen.“

 

Ein Mord! Während Kiki die Treppe hochraste, riss sie sich schon die Jacke von den Schultern und zog den Pullover über den Kopf.

Im Besprechungsraum sahen alle Anwesenden auf, als sie wie ein Wirbelwind durch die Türe und auf den freien Stuhl fegte, den entweder Kollege Manni rechts oder Kollege Federle links für sie frei gehalten hatte.

„Ausgerechnet diese beiden!“, schoss es ihr durch den Kopf.

Schnell zog sie ihren Block und einen Stift aus der Tasche und sah sich dann etwas betreten um.

„Schön, dass Sie auch schon da sind“, hörte sie die ironische Stimme ihres Chefs, „dann können wir ja anfangen. Ich bitte in Zukunft um etwas mehr Pünktlichkeit.“

 

Kiki verkniff sich jegliche Richtigstellung. Das leidige Erröten, das sie während ihrer Pubertät geplagt hatte, hatte sie inzwischen erfreulicherweise abgelegt. Und was hätte sie auch erwidern sollen?! Etwa: „Ich konnte doch hier in dieser Stadt an einem frühen Maimorgen nicht mit einem Mord rechnen“, oder: „Der Tote ist doch sowieso schon tot, da kommt es auf ein paar Minuten auch nicht mehr an.“

„Seien Sie nicht dauernd so flapsig und driften Sie nicht immer ab in ihren Gedanken und Handlungen“, hörte sie ihre frühere Ausbilderin, Frau Dr. Jakobs, mahnen.

Sollte es sich vielleicht um eine Tote, um ein weibliches Opfer handeln? Meistens waren es ja doch Frauen, die den gewalttätigen Männern unterlegen waren. Doch ob Mann oder Frau, sie rief sich in Erinnerung, dass es in ihrem Job nicht um die Toten, sondern um die Lebenden ging, um Täter, Mörder, Verbrecher, um die Angehörigen, um Freundinnen und Kollegen der Ermordeten.

Laut und deutlich verdrängte da die energische Stimme des Einsatzleiters ihre Überlegungen:

„Es handelt sich bei dem Toten um eine männliche Leiche“, hörte sie ihn sagen und dann berichtete er die Einzelheiten, die oft so überdeutlich die Situation beleuchteten, in der sich Gewaltverbrechen meist ereigneten.

 

Aufmerksam verfolgte Kiki die genaueren Ausführungen zum Todesfall. Kinder hatten die Leiche entdeckt. Nackt und völlig unbekleidet hatte sie im Wasser getrieben. Früh am Morgen waren zwei Jungen auf dem Schulweg an dem kleinen Flüsschen entlanggegangen, der einen Stadtteil Söflingens durchfloss.

„Da wohne ich ja, den Bach kenne ich“, rutschte es Kiki heraus. Gott sei Dank hatte es nur Manni gehört, der neben ihr saß. „Das muss für die Kinder ja schrecklich gewesen sein“, zischte sie Manni zu.

„Der nackte Mann oder das männliche Geschlecht oder was“, flüsterte er grinsend zurück. Was glaubst du, was die alles schon gesehen haben im Abendprogramm, auf RTL, Monster und sonstige Frauen.“

„Du hast auch nur eines im Kopf“, murmelte sie ärgerlich, „und zwar das, was andere zwischen den Beinen haben.“

Dieser Manni! Er kam ihr vor wie ein kleiner Terrier, der immer mal wieder nach einem Hosenbein schnappt und wie verrückt daran herumzerrt. Das Hosenbein war in diesem Falle wohl sie. Er war fast einen Kopf kleiner als Kiki und drahtig von Kopf bis Fuß. Mit Schnauzbart natürlich, das wirkte ja so männlich! Manni ließ wirklich keine Gelegenheit aus, um sie zu reizen, und leider sprang sie immer mal wieder auf seine doofen Sprüche an. Jedes Mal nahm sie sich vor, sie einfach zu ignorieren, aber es gelang ihr nur selten. Nicht dass sie besonders prüde gewesen wäre, die Kripo Berlin war da wirklich ein heftiges Pflaster gewesen. Kiki konnte auch über einen deftigen Witz lachen, nur, es musste tatsächlich Witz oder Humor dabei sein. Zoten und rassistische Bemerkungen hatte sie dicke und wehrte sich immer wieder dagegen.

Allerdings, bei Mord mochte sie flapsige Bemerkungen nicht so gerne hören. Dazu fand sie die Tatsache, dass ein Mensch gewaltsam das Leben verloren hatte, viel zu ernst. Und außerdem konnte sie sich ziemlich gut in die Beteiligten einfühlen.

Sie konnte sich den Schrecken vorstellen, der die Kinder beim Anblick eines leblosen, im Wasser treibenden Körpers erfasst haben musste.

 

Viel war es nicht, was in der kurzen Zeit seit Auffinden der Leiche erfasst worden war. Konnte wohl auch nicht sein. Kiki blickte verstohlen auf ihre Uhr. Zehn Uhr fünfzehn, da war schon das Wenige, das sie wussten, recht ordentlich. Jetzt hieß es sich sputen, um die näheren Umstände zu erforschen und vor allem, die Identität des Toten in Erfahrung zu bringen.

 

In diesem Moment kam auch ihr Chef, Heiner Roth, auf diese Idee. Sie wurde dazu eingeteilt, die Kinder über ihren Fund, den Fundort und die genaue Zeit zu befragen. Es könnte ja sein, meinte Roth, die beiden kannten den Toten doch oder hatten ihn wenigstens schon einmal in ihrer Umgebung gesehen, obwohl sie das zunächst verneint hatten. Als der Chef ihr den Auftrag erteilte und ihr auch gleichzeitig den Partner nannte, wäre sie am liebsten wieder laut schreiend aus dem Zimmer gerannt. Ausgerechnet Friets Federle, dieser widerliche Affe, musste ihr zugeteilt werden. Das konnte doch nicht wahr sein.

Irgendwie hatte Kiki das Gefühl, dass ihr Chef ihre Animosität diesem Kollegen gegenüber ahnte und die ablehnende Haltung gegen Federle durch eine möglichst enge und häufige Zusammenarbeit aus der Welt schaffen wollte. Im Augenblick konnte sie nichts anderes machen, als zustimmend zu nicken, das heißt, es blieb ihr einfach nichts anderes übrig, sie machte gute Miene zum bösen Spiel. Mit schmalen Lippen konnte sie sich jedoch ein gestöhntes „Nicht schon wieder“ nicht verkneifen.

Manni, der ihre Reaktion bemerkt hatte, grinste unverschämter als je zuvor.

„Na, da finden ja zwei Liebende zusammen“, meinte er mit einem süffisanten Lächeln. Kiki meinte fast, ein wenig Neid aus seiner Stimme zu hören. Vielleicht wäre Manni ja gerne mit ihr gemeinsam unterwegs gewesen. War er etwa neidisch auf Federle, diesen Lackaffen? Sie riss sich zusammen und entgegnete mit einem ebenso süßlichen Lächeln:

„Ja, so ist das nun mal im Leben, wer hat, der hat.“

 

Du meine Güte, ausgerechnet mit diesem Federle sollte sie ermitteln, mit diesem arroganten Schönling. Der brauchte morgens sicher Stunden, bis er seine Männlichkeit ins rechte Licht gerückt hatte. Immer tadellos gekleidet, immer topmodisch, als wären sie ein Versicherungsunternehmen. Sie konnte ihn, obwohl sie noch nicht oft mit ihm zusammengearbeitet hatte, auf den Tod nicht ausstehen. Dazu kam, dass auch das Verstehen von Federles Schwäbisch nicht immer einfach für sie war. Dabei wusste sie genau, dass er auch anders konnte. So lange lebte er noch nicht in Ulm, sie hatte sich erkundigt. Aufgewachsen war er hier auf jeden Fall nicht. Aber er sprach absichtlich in breitestem Dialekt, wenn er mit ihr zu tun hatte, und freute sich diebisch, wenn sie nachfragen musste. Woher er seine schwäbischen Sprachkenntnisse hatte, war ihr bis heute unklar.

Die Zusammenarbeit zu verweigern war nun einmal nicht möglich. Es blieb nichts anderes übrig, als zähneknirschend zuzustimmen.

 

Dass sie als eine der zwei Frauen des Dezernats für die Kinder zuständig sein sollte, ärgerte sie obendrein. Hatten denn nur Frauen ein Händchen für Kinder? Erst mussten sie sie kriegen, windeln und so weiter, und dann waren sie ihr Leben lang für sie zuständig.

Da musste sie nur an Siria, ihre Mutter, denken. Von ihrem Erzeuger war ja in der Hinsicht nichts zu erwarten gewesen. Zuerst schöne Sprüche klopfen, bis man die Frauen im Bett hatte, und dann, wenn es ernst wurde, sich dünnemachen. Paul, ihr biologischer Vater, hatte sich schon ein halbes Jahr nach ihrer Geburt eine neue, kinderlose Partnerin angelacht und Siria konnte sehen, wie sie zurecht kam.

Das war wohl ein paar Jahre ziemlich hart für sie gewesen. Ein kleines Kind versorgen, arbeiten gehen und sich nach einem neuen Partner umschauen. Wenigstens das hatte relativ bald geklappt. Kind war ja heute kein Hindernis mehr. Die meisten schleppten ja selbst schon eines oder gar mehrere mit in die nächste Beziehung.

So war Kiki ganz rasch zu einem Bruder gekommen. Das war anfangs nicht gerade leicht für sie gewesen. Nicht mehr alle Aufmerksamkeit der Mutter zu genießen. Aber das hatte sich dann doch gegeben. Man konnte ja nicht seine ganze Kindheit und Jugend mit Eifersüchteleien und Unglücklichsein verplempern.

 

Trotzdem dachte sie nicht gerne an den Beginn ihres geschwisterlichen Daseins zurück. Noah hieß der Bruder, der ihr so überraschend beschert worden war. Er war zwei Jahre jünger als Kiki und so etwas von schwarzhaarig und dunkelhäutig, dass es kaum zu glauben war. Einen wirren, dichten Lockenkopf hatte er damals, der zu Kikis rotem Schopf einen interessanten Kontrast bildete.

 

Und Noah hieß er! Wie konnte man ein kleines Kind nur Noah nennen! Im Laufe der Zeit lernte Kiki, was es mit diesem Noah auf sich hatte: Es sollte ein Name aus der Bibel sein. Ein Schiff, riesengroß, gebaut von einem gewissen Noah, einem alten Mann mit einem langen Bart, ein heftiger Regenguss, der nicht aufhören wollte und sämtliche Tiere der Erde auf diesem schwimmenden Untersatz und dann ging es los, das Abenteuer auf dem Wasser. So lange, bis eine Taube einen Zweig mitbrachte. Woher der gekommen war, war nicht überliefert. Das war eine schöne, aber nicht sehr glaubhafte Geschichte, die ihr da präsentiert wurde.

Jedenfalls hatte ihr Bruder bis heute noch keine Schreinerlehre angefangen. Das mit der Arche war wohl das Wunschdenken seiner Mutter gewesen. Natürlich hatte Kiki sie kennengelernt, Noahs Mutter, das blieb ja in solchen Patchworkfamilien nicht aus. Sie mochte sie nicht, diese falsche Mutter, die ihren Sohn einfach so dem Vater überließ. Wenn das Siria auch getan hätte, hätte sie die letzten Jahre bei Paul verbringen müssen, und diese Aussicht war ihr nicht angenehm.

Paul war alles andere als ein Bilderbuchvater. Siria nahm ihn trotz allem immer wieder in Schutz. Er sei eben abgestürzt. Bei ihm habe vieles nicht geklappt. Vor allem mit seinen Beziehungen sei es immer schwierig gewesen. Nicht alle Schicksale seien so glatt wie ihres. Er lebte in einem Bauwagen irgendwo in Pankow und Kiki hatte lange gebraucht, um sein Aussteigerdasein zu akzeptieren.

Da war es gut, dass sie zwei Väter hatte. Christof, der neue, und Siria hatten sogar geheiratet, als sie merkten, dass es mit ihnen klappte. Das hatte Kiki einige Sicherheit gegeben. Und die beiden waren immer noch zusammen.

 

Jetzt war sie also auch bei diesen Ermittlungen für die Kinder zuständig.

Wenn sie ehrlich sein sollte, hatte sie sich schon öfter über die unsensible Herangehensweise bei der Vernehmung von Kindern durch männliche Kollegen aufgeregt.

Er hatte ja recht, ihr Vorgesetzter, Frauen waren tatsächlich sensibler und einfühlsamer und auch geduldiger, das war ein Plus, auf das Kiki stolz war. Meistens bekamen sie auch mehr zu hören als die männlichen Kollegen. Sie hoffte auch in diesem Fall auf einen Erfolg. Vielleicht hatten die Jungen ja sogar den Täter oder die Täterin gesehen.

Also, zusammengepackt und los ging es!

„Herr Federle“, rief sie beim allgemeinen Aufbruch nach vorne, „gehen wir?“

Ich lasse mir jetzt einfach nichts anmerken, nahm sie sich vor.

 

Und Federle ließ nicht auf sich warten. Die Lederjacke, natürlich schwarz, hatte er lässig im Daumen eingehängt und über seine Schulter geworfen. Mit seinen dunklen, halblangen Haaren, war er wirklich ein Bild von einem Mann. Chic und irgendwie elegant in seinen engen Jeans, kam er mit einem aufgesetzten Siegerlächeln auf Kiki zu.

„Bis er seinen Mund aufmacht, ist er ja wirklich in Ordnung.“ Fast hätte sie es laut gesagt.

„Na dann viel Vergnügen euch beiden“, bemühte sich Manni, die Situation noch zu verschärfen.

„Dir kratze ich die Augen aus, wenn Du nicht augenblicklich still bist“, knurrte Kiki ihn an.

Mit der erschrockenen Feststellung:

„Eine Wildkatze ist ja ein Schmusetier gegen dich“, ließ Manni sie stehen und ging auf seine Partnerin Suse zu.

Aufmerksam lächelnd hatte Friets Federle den kleinen Wortwechsel verfolgt.

„Also, dann ganga mer“, ließ er sich jetzt schmunzelnd hören und ging vor ihr zur Türe. Wie nicht anders zu erwarten, hielt er sie mit großer Geste auf und wartete, bis sie nach kurzem Zögern mit vorgerecktem Kinn und einem vernichtenden Blick auf ihn durch die Türe gefegt war. Dieses großspurige, so gentlemanlike aussehende Gehabe Federles war der zweite Grund, warum sie nicht mit ihm arbeiten mochte.

Er hielt ihr die Eingangstüren auf, er öffnete ihr die Autotüre, er stellte sie vor, nicht umgekehrt. Du meine Güte, das in Zeiten von Frauenemanzipation und weiblicher Selbstständigkeit. Er glaubte wohl, mit solchen übertriebenen Altherrengesten von anno dazumal bei ihr landen zu können. Zugegeben, direkte Versuche hatte er noch nicht unternommen. Das würde sie ihm auch nicht geraten haben. Diesem Schnösel!

Wie oft hatte sie sich jetzt schon mit ihm deswegen auseinandergesetzt. Sie wollte nicht wie ein dämliches Dämchen behandelt werden. Sie wollte keine aufgehaltenen Türflügel, keine schräg nach oben gezogenen Jackenärmel, keine untergeschobenen Stühle. Sie war Kollegin und wollte als solche behandelt werden.

 

Irgendwie schaffte es dieser Schönling immer wieder, sie auflaufen zu lassen. Irgendwie wusste er genau, wann sie es auf keine Konfrontation ankommen lassen würde. Jetzt zum Beispiel. Vor versammelter Mannschaft konnte sie doch nicht wieder davon anfangen und er wusste das.

Widerling“, knurrte sie vor sich hin.

Wie bitte“, kam es von hinten, „habet Sie was gsagt?“

„Nicht dass ich wüsste. Wenn ich damit anfangen würde, Ihnen etwas zu sagen, würde es Ihnen bestimmt nicht gefallen“, konnte sie sich nicht verkneifen zurückzurufen, während sie die Stufen hinuntereilte.

Mit ihm musste sie jetzt also in den Dienstwagen steigen und würde womöglich während der ganzen Ermittlungen mit ihm zusammengespannt bleiben. Das konnte heiter werden.

„Könnten wir nicht die Räder nehmen?“, hörte sie ihn hinter sich im Hof fragen. „Sie fahren doch auch gerne mit dem Rad.“

Ach da schau an, er konnte also auch anders, als immer nur dieses schwer verständliche Genuschel von sich zu geben.

„Ach, Sie können Radfahren? Ich dachte, sie sind so ein Motorradfreak. Aber von mir aus gerne. Ist ja nicht weit nach Söflingen und den Weg kenne ich.“

 

Natürlich hatte er ein Sportrad und einen Radhelm vom Feinsten. Herr Federle hatte anscheinend immer alles vom Feinsten. Was der bei der Kripo verloren hatte, wollte sie auch mal wissen. So wie der aussah, würde er doch besser in die Vorstandsetagen von Daimler oder EADS passen. Aber nein, er war bei der Kripo und musste sie nerven, so oft es nur ging.

Jetzt hielt er sich allerdings brav hinter ihr. Das gefiel ihr einerseits, andererseits fühlte sie sich von ihm dadurch beobachtet und gehetzt. Fuhr sie zu schnell, würde er sicher denken, sie rase, fuhr sie zu langsam, war sie wahrscheinlich eine Schnecke für ihn. Aber sie wollte alles andere als eine Schnecke sein und so jagte sie über die Gehsteige und Radwege und bedauerte sehr, kein Blaulicht zur Verfügung zu haben. Sollte er nur sehen, ob er mitkam bei diesem Tempo. Aber er kam mit, war ja klar!

 

In Söflingen angekommen, wusste sie anfangs nicht so recht wohin. Natürlich kannte sie sich in ihrem Wohngebiet schon etwas aus. In verschiedenen Geschäften hatte sie schon eingekauft und festgestellt, dass sie, um den täglichen Bedarf zu decken, hier alles fand, was nötig war.

Vor allem die vielen kleinen Bäckereien hatten es ihr angetan. Da gab es ja an jeder Ecke eine. So gehäuft kamen sie in ihrem Berlin wirklich nicht vor. Nachdem ihr der Kollege Manni ein Gebäck, namens Seelen, dringend ans Herz gelegt hatte, hatte sie diese Ulmer Spezialität schon in allen Bäckereien ausprobiert.

„Manni“, hatte sie vor zwei Wochen anerkennend zu ihm gesagt, „Du hast nicht zu viel versprochen, diese Seelen mit Butter darauf sind wirklich ein Gedicht.“

Sie waren sozusagen ein himmlisches Gebäck, allerdings um vieles handfester, als ihr Name dies versprochen hatte.

 

In den Klosterhof sollten sie sich begeben, hatte es im Büro geheißen. Dort sei der Tote an einem Wehr hängen geblieben. Diesen Klosterhof kannte Kiki mittlerweile ziemlich gut. Sie durchquerte ihn immer dann, wenn sie ihr Radtraining Richtung Blaustein absolvierte. Durch den Hof, die Blau überquert, an der Klosterkirche und dem großen Spielplatz vorbei, schon war sie im Grünen. Sie konnte sich nicht genug wundern, wie schnell das hier ging: Aus dem Haus, aufs Rad und schon in der Landschaft. Das war einfach klasse!

 

Aber heute sollte sie den Kosterhof nicht nur durchqueren. Der Tote war hier gefunden worden und sie sollten ermitteln. Tatsächlich war jetzt der freie Zugang durch den Torbogen abgesperrt und sie konnten sich nur durch ihre Ausweise Zutritt verschaffen.

Hinter ihnen hatte sich eine Menge Leute angesammelt. Die meisten standen um die italienische Eisdiele herum.

„Wie kann ma bloß bei dem Wettr a Eis schlecka?“ Herr Federle schüttelte sich auffällig. Ihn schien ein solches, diametral zu den herrschenden Kältegraden an den Tag gelegtes Verhalten etwas zu irritieren.

„Das sollte wohl nicht unbedingt unser Problem sein, wir sollen uns um wichtigere Dinge kümmern.“ Damit ließ Kiki ihn stehen, um mit den Kollegen Kontakt aufzunehmen.

Sie sollten die beiden Kinder vernehmen, die den Toten im Wasser entdeckt hatten. Es war jetzt genau 10.20 Uhr, Kiki stellte es verwundert fest. Was in drei Stunden seit ihrem Erwachen so alles passieren konnte. Unglaublich!

 

Die Kinder waren sicher nicht zur Schule gegangen nach ihrer grausigen Entdeckung. Sie fanden die beiden schließlich in dem historischen Gebäude, das den Platz flankierte. Eine Außenstelle des Rathauses war hier untergebracht, ein Minirathaus sozusagen, die Bürgerdienste für den Stadtteil Söflingen. Kiki kannte die Räumlichkeiten, sie hatte sich hier vor zwei Monaten umgemeldet. Über eine alte, schön gepflegte Holztreppe stiegen sie in den ersten Stock. Hier hatte die Polizei ein vorläufiges Vernehmungszimmer eingerichtet. Eine Kollegin bat sie herein.

Zwei Kinder, beide etwa zehn Jahre alt, saßen, etwas blass, doch mit wachen, interessierten Gesichtern, auf den Stühlen und warteten darauf, was wohl als Nächstes passieren würde. Jetzt musste behutsam vorgegangen werden.

Kiki wollte sich einen Stuhl heranziehen, um sich zu den Kindern zu setzen, doch der Herr Kollege hatte schon zwei Sitzgelegenheiten angeschleppt.

„Danke, vielen herzlichen Dank“, presste Kiki hervor. „Sei nicht so zickig, er meint es nur gut“, dachte sie dann und schenkte diesem so aufmerksamen Kavalier doch einmal ein knappes Lächeln.

Dann stellte sie sich und den Kollegen erst einmal vor. Bei der Nennung der beiden Namen schmunzelten die Kinder. Frau Wunder und Herr Federle, na, was es da zu lachen gab, blieb Kiki verborgen. Vielleicht war es auch nur ein Verlegenheitslächeln, etwas Entspannung nach so viel Aufregung tat sicher gut. Sie notierte die Namen der Kinder, ihr Alter, die Adressen und wo sie zur Schule gingen.

 

Die beiden Schüler gingen in die dritte Klasse der Meinloh-Grundschule, die hier im Klosterhof ihr Schulgebäude hatte. Rafael war neun Jahre alt, schmal und wesentlich kleiner als der andere Junge. Mathias schien robuster zu sein. Trotz seiner zehn Jahr war er schon ziemlich groß und ein gewisser Hang zu Süßigkeiten und Chips war nicht zu übersehen.

Beide waren aufgeweckte Jungen und hatten keine Schwierigkeiten, das abenteuerliche Erlebnis zu berichten. Während des Erzählens merkte man allerdings, dass ihnen der Schrecken doch ziemlich in die Knochen gefahren war. Sie waren blass und wirkten etwas verstört, als sie vom Aussehen dessen berichteten, was da im sonst so schön sprudelnden Wasser getrieben hatte. Einen Arm hatten sie zuerst gesehen, dann ein Bein und dann Haare, die sich im Strudel bewegten. Sie hatten es erst nicht glauben können, dass es sich um einen echten Menschen handeln sollte. Erst hatten sie an einen Schwimmer gedacht, dann aber bald gemerkt, dass der Mann ja keine Luft mehr holte und immer mit dem Gesicht im Wasser blieb. Woran sie denn gemerkt hätten, dass es sich um einen Mann handelte, fragte Herr Federle, der sich bisher sehr zurückgehalten hatte.

„Der hatte kurze Haare und war groß und sah halt aus wie ein Mann von hinten“, berichtete Mathias.

Sie hätten sogar gerufen, ob der Mann Hilfe bräuchte, meinte Rafael. Nachdem er sich nicht gerührt hatte und sich immer weiter so nackt im Kreis gedreht hatte, seien sie zurückgelaufen zu Mathias’ Mutter in die Glockengasse.

„Die ist gerade aus dem Hof gefahren, mit dem Rad, und wollte zur Arbeit. Die hat uns zuerst gar nicht geglaubt. Dann ist sie aber mit uns mitgekommen und hat sich den Mann angeschaut.“

Sie sei ganz erschrocken gewesen, als sie den Mann gesehen habe, und hätte sie beide vom Geländer weggezogen.

Und was passierte dann? Und wo ist deine Mutter jetzt?“, wollte Kiki wissen.

„Ich glaube, die ist bei der Arbeit. Da muss die doch jeden Tag hin. Sie hat gesagt, sie ruft die Polizei an und wir sollen zur Schule gehen. Weil wir aber sehen wollten, was mit dem Mann passiert, sind wir dort stehen geblieben. Dann ist ganz schnell die Polizei gekommen, mit Blinklicht und so, und dann mussten wir weg vom Wehr und hierher.

„Der Mann ist doch tot oder?“, getraute sich Rafael schüchtern und mit leiser Stimme zu fragen. Die Sache hatte ihn doch mehr mitgenommen, als man zunächst vermuten konnte.

„Ja“, stimmte Kiki ihm mit verständnisvoller Stimme zu.

„Er ist wohl ertrunken. Mehr wissen wir auch noch nicht“, musste Federle seinen Senf noch dazugeben.

 

Bei der weiteren Befragung stellte sich heraus, dass die beiden Jungen außer einigen Schulfreunden und dem Fahrer eines Lieferwagens beim Bioladen niemanden sonst gesehen hatten, vor allem nicht beim Wehr oder auf dem übrigen Areal. Sie konnten sich an keine weitere Person erinnern, die ihnen begegnet war. Sie waren auch schon ziemlich spät dran gewesen, sodass die meisten Schülerinnen und Schüler wohl schon in den Klassenzimmern gewesen seien.

 

Kiki und Federle notierten sich die Angaben der jungen Zeugen und brachten sie dann in ihre Klasse. Sie nach Hause zu bringen ging nicht, da niemand dort sei, auch bei Rafael nicht, wie sie sagten, und ganz alleine wollten sie die beiden nicht lassen. Sollten sie doch einmal die Helden im Schulgeschehen sein. Sie informierten die Klassenlehrerin Frau Bungert, die sehr verständnisvoll reagierte und ein Auge auf die beiden haben würde.

Kiki erinnerte sich, wie sie einmal einen Taschendieb in einem Kaufhaus beobachtet hatte. Sie war damals etwa zwölf Jahre alt gewesen. Der Mann hatte den Geldbeutel einer alten Frau aus dem Einkaufskorb genommen und eingesteckt. Die Frau hatte nichts bemerkt und Kiki hatte das ziemlich gemein gefunden. Sie erzählte es der Verkäuferin an der Kasse.

Der Dieb war daraufhin gefasst worden und Kiki hatte von der Frau so viel Geld geschenkt bekommen, dass sie sich am nächsten Tag im Freibad mehrere Portionen Eis leisten konnte. Sie hatte das Erlebnis in der Klasse erzählt und war die Heldin des Tages.

Die beiden Kinder würden mit ihrer Wasserleiche sicher auch nicht hinter dem Berg halten und bis ins kleinste Detail berichten, was sie gesehen hatten. Aber ob heute oder an einem der nächsten Tage, war egal. Sie würden die Helden sein. Wenigstens für kurze Zeit.

 

Die Kinder waren also vorerst versorgt und Kiki machte sich mit Federle auf den Weg in die Glockengasse. Vielleicht war Frau Künzle, die Mutter der beiden Schüler, nach ihrem Anruf doch zu Hause geblieben. Leider hatten sie kein Glück, sie mussten in die Stadt zurückfahren und fanden die Zeugin in der Süßwarenabteilung des Kaufhofs. Daher also die Körperfülle des Sohnes, vermutete Kiki.

Frau Künzle hatte sie schon erwartet und ging bereitwillig mit in den Personalraum. Sie hatte den Angaben der beiden Kinder allerdings nichts hinzuzufügen. Außer dem im Wasser treibenden Toten hatte auch sie nichts Ungewöhnliches bemerkt oder gar jemanden gesehen.

Sie arbeitete halbtags, wollte aber heute ganz pünktlich nach Hause gehen, um ihren Sohn in seinem Schock nicht alleine zu lassen.

„Ich glaube, ihr Mathias hat das ganz gut verkraftet“, ließ Federle einmal wieder seine Meinung hören.

„Ja klar“, dachte Kiki, „dieser Federle mal wieder mit seiner Küchenpsychologie. Für ihn sind Männer eben Helden, die kann nichts aus der Bahn werfen, schon gar nicht eine Wasserleiche. Hätte mich interessiert, was er gesagt hätte, wenn zwei Schülerinnen den Fund gemeldet hätten.“

 

Die beiden Ermittler verabschiedeten sich mit dem Hinweis, dass dieser ersten Vernehmung sicher noch eine weitere folgen würde, und schwangen sich wieder aufs Rad. Da die nächste Dienstbesprechung auf vierzehn Uhr dreißig angesetzt war, wollten sie noch einmal in den Klosterhof radeln und sehen, was sich dort getan hatte.

Der smarte Friets fuhr jetzt zügig vor ihr. Er nahm die etwas nähere Strecke nach Söflingen, am Finanzamt vorbei, den Radweg Richtung Westplatz. Allerdings ging es hier eine viel befahrene Straße entlang und an den vielen Ausfahrten musste man öfter abbremsen.

Als Federle so vor ihr fuhr, konnte Kiki ihm eine gewisse Anerkennung nicht versagen. Mit seinen breiten Schultern und seinem durchtrainierten Körper bewegte er sich sicher und elegant auf seinem Rad. Es machte Spaß, ihm zuzusehen.

„Kiki, lass das“, ermahnte sie sich selbst, „lass deine Hormone stecken. Der Letzte war schon so ein Reinfall! Schau einfach nicht hin!“

 

Inzwischen war es Mittag geworden. Von der Turmuhr der Christuskirche schlug es ein Uhr, als sie in die Söflingerstraße einbogen.

Kiki spürte ein heftiges Grummeln im Magen. Das bisschen Frühstückstee war wohl aufgebraucht. Kollege Federle schien es ähnlich zu gehen.

„Wir könnten uns doch noch ein wenig umhören, hier in Söflingen, wer der Tote sein könnte“, schlug er an der nächsten roten Ampel vor. Er schaute Kiki treuherzig an.

„’S ischd Mittag, i han Honger, ganga mer doch mitanander zom Essa. Was moinet Se?“

„Da vorne an der Ecke hat vor kurzem ein kleiner italienischer Imbiss eröffnet“, stimmte Kiki zu, „es gibt echt italienische Küche, wie bei Mama, oder wir könnten uns auch ein leckeres Panini machen lassen.“

„Ach, Sie meinet des La mangia, an des hab i jetzt net denkt. Do gang i au gera na, abr des machet mir a anders mol. I hab heut Luscht auf was Schwäbisches. Am beschta ganget mir ens Kreuz, do sitzt ma net so weit ausanandr. I lad Sie ei.“

Was sollte jetzt das schon wieder? „Des machen wir ein andermal“ und „Man sitzt nicht so weit auseinander.“ Wollte der etwa dicht bei ihr sitzen? Wieso das denn?

Kiki war kurz irritiert und wusste nicht so recht, was sie antworten sollte.

„Na gut“, stimmte sie dann zu, „umhören kann nicht schaden und Hunger habe ich auch. Bedingung ist, ich bezahle selbst und sie reden mit mir so, dass ich Sie verstehen kann.“

„Einverstanden.“ Federle strahlte sie an und schwang sich aufs Rad. Anscheinend kannte er sich hier in Söflingen auch ganz gut aus.

 

2

 

 

In der Gaststube des Gasthofes Zum Kreuz, welche die beiden kurz darauf betraten, herrschte reger Betrieb.

„Na, ob wir da noch einen Platz finden?“ Kiki wollte schon wieder rückwärts gehen.

Draußen im Hof waren ja einige Bierbänke und Biertische aufgestellt. Aber heute, bei dieser Maikälte, saß hier kein Mensch und auch Kiki wollte in diesem unwirtlichen Terrain, grau asphaltiert und mit wenigen mageren Büschen, auf keinen Fall essen. Dann schon lieber hier drinnen und von mir aus „auch nicht so weit auseinander“, was immer das heißen mochte. Sie reckte den Hals und suchte nach einem freien Tisch.

„Do henda wird glei ebbes frei“, gab ihnen die Bedienung Bescheid, „dia hend scho zahlt, sie miased halt no a bissele warta.“ Das „bissele warta“ lohnte sich schneller als erwartet.

Sie setzten sich inmitten der Gaststube an den frei gewordenen Tisch. Federle schien sich öfter hier aufzuhalten, denn die freundliche Bedienung mit Notizblock und Stift begrüßte ihn vertraulich mit Namen.

„So, jetzedle, was hättet mir denn heut gern, Herr Federle?“

„Wia emmer“, ließ sich Federle vernehmen, "’s gleiche wia emmer, au zum Trenka.“

„Ond Ihra Freindin, s gleiche wia Sie?“

Das war die Höhe! Freundin!! Federle lachte laut auf und stellte Kiki als neue Kollegin und gleichzeitig neue Bewohnerin Söflingens vor.

„Das finde ich eher nicht zum Lachen“, konnte Kiki sich nicht verkneifen.

Ach kommet se, das kann doch die Isolde nicht wissen, dass Sie mir am liebsten den Hals umdrehen würden“, versuchte Federle die Situation zu entschärfen.

„Des wär abr schad om den“, stellte die Bedienung fest und nahm schmunzelnd Kikis Bestellung auf.

 

Im Nu stand das Essen vor ihnen. Kiki hatte sich mit der schwäbischen Küche noch nicht so anfreunden können und ein Wiener Schnitzel mit Pommes bestellt. Federle gab sich ganz heimisch und stöhnte vor Wonne, als er seinen Berg Kartoffelsalat mit den zwei weißen, leicht angebräunten Würsten verspeiste. Kiki wartete nur darauf, dass er auch noch zu Schmatzen anfing. Sicher, das Essen war gut, aber wie man gleich in so ein Wohlbehagen verfallen konnte bei einem Kartoffelgericht und diesen weißen Brätlingen, diesen „Nackerten“, wie Federle sie nannte, war ihr doch etwas sehr fremd. Zudem waren diese Würste völlig ohne Gewürze angerichtet. Eine kleine Lache brauner Brühe schwamm im Teller und schien Herrn Federle den ultimativen Kick zu verschaffen.

Wehmütig musste Kiki an die köstlichen Currywürste denken, die sie in den Pausen mit den Kollegen in Berlin verzehrt hatte. Currywurst und Pommes. Das war eines ihrer Lieblingsgerichte gewesen.

Bei Gelegenheit wollte sie sich bei Manni nach den hiesigen Verhältnissen erkundigen. Sie selbst hatte bei ihren Spaziergängen durch Ulm den Eindruck gewonnen, dass es in der Innenstadt kaum einen Imbiss gab. Die vielen Schickimicki-Restaurants waren ja schön und gut, um hin und wieder gepflegt Essen zu gehen, aber eine Wurstbude oder ein Kiosk für den schmalen Geldbeutel könnte es in dieser aufgeräumten Stadt doch auch geben. Sie jedenfalls hatte noch keinen Stehimbiss gesehen. Na ja, war halt doch Provinz. Ihre Mutter hatte sie ja gewarnt.

 

Von Umhören war hier im Kreuz übrigens keine Rede mehr.

„Aha, der Herr Kollege wollte wohl nur etwas zwischen die Zähne bekommen“, konnte Kiki sich nicht verkneifen.

Nachher, später, wenn ich hier fertig bin, dann wollen wir mal sehen. Sie können ja jetzt schon die Ohren spitzen, wenn sie so diensteifrig sind“, grunzte Federle aus vollem Mund.

Die Ohren spitzen war gut, bei dem Lärm hier und bei diesem Dialekt. Kiki merkte allerdings, dass die Gäste an den anderen Tischen sich durchaus über den Todesfall und über die Leiche in der Blau unterhielten. Das schien sich ja schnell herumgesprochen zu haben.

Da gab es wieder die Neugierigen und die Neunmalklugen, die alles besser wussten, alles schon geahnt hatten und mehr wussten, als alle Polizisten zusammen.

Kiki konnte auch bei größter Aufmerksamkeit aus den Gesprächsfetzen keine Andeutung auf die Identität des Toten heraushören. Niemand schien in diesem Stadtteil vermisst zu werden, niemand berichtete von Streitereien oder größeren Zerwürfnissen. An keinem der Tische wurde eine konkrete Vermutung geäußert. Da war es gut, dass die meisten nur eine begrenzte Mittagspause hatten und der Gastraum sich bald leerte.

Auch sie beide hatten aufgegessen. Kiki wunderte sich wieder einmal über sich selbst. Ein ganzes, großes Schnitzel, die Pommes und der kleine Salat, alles weggeputzt. Sie schien in diesem Schwabenland einen ganz gesunden Appetit zu entwickeln. Wenn sie so weiter aß, dann gute Nacht Figur!

Jetzt fand auch die Bedienung Zeit, sich bei Federle Informationen zu beschaffen. Das heißt, sie versuchte es. Das schien hier in die umgekehrte Richtung zu laufen. Viel konnten sie sowieso noch nicht sagen und das Wenige wusste die neugierige Isolde selbst schon aus anderen Quellen. Nur, was wusste sie außerdem noch?

Federle verwickelte sie in ein intensives Gespräch. Natürlich bekam so eine langjährige Bedienung in einem viel besuchten Gasthof Einiges mit, was sich in der Gemeinde beziehungsweise im Stadtteil so tat. Aber in diesem Falle hatte auch sie keine Ahnung, ob der Tote ein Söflinger sein könnte oder doch nur ein Durchgereister.

Die letztere Variante wäre ihr lieber gewesen, das ließ sie allerdings durchblicken. Wer wollte schon einen toten Söflinger haben!? Nein, sie konnte sich überhaupt nicht denken, wer das sein könnte. Und wer den Mord begangen haben könnte, schon zweimal nicht. Söflinger waren doch keine Mörder! Fast schien es, als fühlte sich Isolde in ihrer Ehre gekränkt und durch eine so „gruslige, aber auch widerwärtige Tat“, wie sie den Mord selbst schaudernd bezeichnete, geradezu beleidigt.

 

Kiki ließ Federle das Gespräch ohne Unterbrechung führen. Sie hätte schon gerne das eine oder andere dazwischen gefragt, aber sie ließ es lieber. Das hatte natürlich seinen guten Grund. Die beiden unterhielten sich in astreinem Schwäbisch und Kiki beschränkte sich darauf, zuzuhören und die Wörter zu entschlüsseln, die sie nicht gleich verstand.

Nachdem das Gespräch wenig Neues gebracht hatte, zahlten sie und verabschiedeten sich. Federle bat noch darum, ihn bei Neuigkeiten doch auf der Dienststelle anzurufen.

Und jetzt, was machen wir jetzt, fahren wir noch in den Klosterhof oder gleich in den Neuen Bau, zurück zur Dienststelle?“

Kiki schlug zwei Dinge vor: Zunächst wollte sie in der italienischen Eisdiele einen kurzen Espresso nehmen und außerdem, fand sie, sollten sie vor der Besprechung unbedingt noch den Tatort besichtigen.

Nach dem Kaffee radelten sie, dieses Mal durch den schmalen Durchgang am kleinen Hutgeschäft vorbei, Richtung Klosterhof zum Wehr an der Blau.

Die schmale, gewundene Hauptstraße, die sie überquerten, war jetzt um die Mittagszeit ungewöhnlich leer. Normalerweise konnten sich die Söflingerinnen, die die tägliche Einkaufsarbeit erledigen mussten, vor Autos nicht retten. Was sich durch diese Straße den Tag über alles hindurchzwängte! Es war kaum auszuhalten. Die Stadtverwaltung hatte es anscheinend noch nicht geschafft, hier Abhilfe zu schaffen.

Aber auch der örtliche Vorstadtverein, der doch, wie Kiki gehört hatte, mehrere Stadträte im Ulmer Gemeinderat stellte, war offensichtlich wenig interessiert, das Problem anzugehen. Die Klagen waren angeblich vielfältig und häufig und verhallten doch ungehört. Selbst Frau Zummermann, die nun nicht gerade im direkten Kern wohnte, regte sich immer mal wieder darüber auf:

„Zum Mond kann man fliegen, aber eine vernünftige Lösung der Verkehrsprobleme hier in Söflingen, die scheint auch auf dem Mond begraben zu sein, und wie es aussieht für alle Zeiten.“

 

Das einzig Gute war, dass eine Ampel immer wieder für wenige Minuten den Verkehrsfluss unterbrach. Und natürlich die Mittagspause, die hatte es in sich. Kiki hatte es anfangs nicht glauben wollen, die Geschäfte machten Mittagsruhe. Von dreizehn Uhr bis vierzehn Uhr dreißig blieben die Türen verschlossen. Einzig der Bioladen hatte geöffnet.