Nr. 2857

 

Die Hyperfrost-Taucher

 

Mit drei Parabegabten im Einsatz – die RAS TSCHUBAI soll gerettet werden

 

Michael Marcus Thurner

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.

Während sich der Arkonide Atlan ins vermutete Herz dieser Macht begeben hat – die Ländereien jenseits der Zeit –, reist Perry Rhodan durch vergangene Zeiten, um der Gegenwart Hilfe zu bringen. Denn die Gegenwart, wie er sie kennt, wird nicht nur durch die Atopen bedroht, sondern auch durch die brutalen Tiuphoren, die durch einen Zeitriss aus tiefster Vergangenheit zurückgekehrt sind.

Von allen bekannten Schiffen könnte nur die RAS TSCHUBAI den Tiuphoren Paroli bieten, doch sie ist von deren Indoktrinatoren befallen und wird durch eine undurchdringliche Schicht Hypereis vor der Vernichtung geschützt. Sie zu befreien, ist die nächste Aufgabe Perry Rhodans und seiner Begleiter: Es sind DIE HYPERFROST-TAUCHER ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner riskiert Verstand und Leben.

Germo Jobst – Der Junge aus einer anderen Zeit sucht seine MUTTER.

Pey-Ceyan – Die Larin sieht sich selbst in neuem Licht.

Gucky – Der Mausbiber muss seine Fähigkeiten dosiert einsetzen.

Sichu Dorksteiger – Die Wissenschaftlerin begleitet die Befreiung der RAS TSCHUBAI.

1.

Gucky, im Zwischenwo

 

Er schleppte sich weiter. Durch diese endlose, widerliche, an seinen Kräften zehrende Einöde. Guckys Füße schmerzten, der Schweifmuskel ebenso.

Das Land war öde und leer. In der Ferne zeigten sich schroff aufragende Berge mit scharfgratigen Rücken. Der Himmel war grau, am Horizont schimmerten Polarlichter, ineinander verwobene Bänder und milchartige Schleier, die aber keinesfalls vom Sonnenwind verursacht werden konnten – denn an diesem Ort, der eigentlich keiner war, gab es keine Sonne.

Eine Steinlawine brach an der Flanke eines der Berge los, Material kollerte im Zeitlupentempo und in aller Stille in die Tiefe. Eine Staubwolke verdeckte bald die Sicht.

Gucky wandte seinen Blick ab. Die Ebene ließ ihn weniger werden. Sie ließ ihn verzweifeln und mit sich selbst hadern.

Nur zu gerne wäre er teleportiert, doch in diesem Land sprachen seine Gaben nicht an. Kein Wunder.

Schritt für Schritt. Nicht nachdenken, niemals aufgeben. Weitergehen, auf das Ziel zu, das in zwei Minuten und neun Sekunden erreicht sein würde. Wobei Zeit in dieser sonderbaren Nicht-Welt keinerlei Bedeutung hatte.

Guckys Nackenpelz stellte sich auf, er zog die Schultern ein. Er konnte nicht anders, er musste sich nochmals den Bergen am Horizont zuwenden. Denn dort erreichte die Staubwolke immer größere Ausmaße. Sie war nun schweflig-braun, sie bauschte sich weiter auf und formte Arme aus, die sie wie eine ins Ungeheure vergrößerte Krake wirken ließ.

Die Fangarme der Krake griffen in seine Richtung.

Gucky setzte seinen Weg fort, schneller nun, mit laut pochendem Herzen. Immerhin: Der Zellaktivator funktionierte. Er schlug heftig und erzeugte ein Gefühl der Wärme.

Wie lange noch? Wann kam seine Leidenszeit zu einem Ende? Seinem Gefühl nach bewegte er sich bereits seit Tagen durch die Ebene. Er hatte Hunger, Durst, war müde, fürchtete sich vor sonderbaren Phänomenen.

Die Staubkrake gab einen Ton von sich. Ein grässliches, hasserfülltes Brüllen. Die Arme verästelten sich weiter, wurden zu einer Vielzahl dünner Greifer, die bald den gesamten Himmel einfassten und umschlangen. Zwischen den Ästen waren albtraumhafte Gesichter zu sehen. Sie bewegten ihre Münder und sagten etwas. Worte, die nicht mit Ohren zu hören waren, Gucky aber dennoch etwas sagten. Die Urängste in ihm auslösten und ihn weiter antrieben. Er musste weg, weg von diesem ... Ort!

Er entdeckte eine Anomalie inmitten der Landschaft. Etwas, das womöglich Schutz vor Verfolgung bot – oder den gesuchten Ausweg aus diesem unmöglichen Raum. Ein einsam hochragendes Objekt.

Ein auf Stelzenbeinen ruhendes Gebilde, absurd und völlig deplatziert.

Gucky mobilisierte alle verbliebenen Kräfte. Eilte auf seinen kurzen Beinen auf das Objekt zu. Behindert vom SERUN, den er am Leib trug, der sich bis auf die notwendigsten Funktionen als Ballast erwies.

Ringsum war rollender Donner zu hören. Die Geräuschkulisse erreichte rasch ein schier unerträgliches Ausmaß, um dann zu einer Stimme zu werden, die aggressive, bellende Laute von sich gab.

Das Stelzengebilde war nah, immer neue Details zu erkennen. Die Beine waren aus roh behauenem Holz gefertigt, an der Vorderseite ragte eine Leiter hoch.

Ein Hochsitz. Wie er früher auf Terra Verwendung gefunden hatte, bevor er von Schwebeplattformen abgelöst worden war.

Nein. Er bestand nicht aus Holz, sondern aus ... Knochen. Riesenhafte Gebeine wurden durch kleinere ergänzt. Die bleichen und unregelmäßig geformten Dinger waren ineinander verschränkt und geschoben worden, als bestünden sie nicht aus sprödem Material, sondern aus leicht zu verbiegender Substanz.

Gucky erreichte den Hochsitz. Klammerte sich an der Leiter fest, wollte sie hochsteigen zu der überdeckten Plattform, die, wie ihm ein Gefühl sagte, Sicherheit bot.

Kaum stellte er ein Bein auf die erste Sprosse, verschwand die Erscheinung im Himmel, verschwanden all seine Ängste. Er war in Sicherheit, er hatte es geschafft!

Da war eine knöcherne Platte an der Basis des Hochsitzes angebracht, rechts von ihm.

Vorsichtig ließ Gucky den Handlauf der Leiter los und besah den Knochen. Gelbbraune Ablagerungen ließen ihn uralt erscheinen. Sachte berührte er ihn, wischte Staub mit den Handschuhen beiseite.

Er fühlte Vertiefungen. Er ahnte, dass sie eine Bedeutung hatten, und tastete sie ab. Behutsam und in aller Ruhe. So lange, bis er wusste, dass die Einkerbungen Teil einer Schrift waren.

Alle Furcht war vergessen. Ihn kümmerte nur noch die Tafel. Was er hier vor sich hatte, war wichtig für ihn, für ihn ganz allein.

Gucky reinigte die Tafel mit aller Sorgfalt, trat dann zurück und betrachtete die Bildschriftzeichen. Er kannte diese Art der Schrift. Doch es waren nur vage Erinnerungen, die er mit ihr verband.

Es kam ihm vor, als handelte es sich um die Symbolschrift der Ilts, deren letzter Vertreter er war. Intuitiv erkannte er, was da stand:

»Hundertneunter Hochsitz der Geiststreiter im Passagenland«, las Gucky laut.

Er erinnerte sich an eine Begegnung mit dem Aiunkko namens Manzaber, auf einem Sternenportal zwischen der Milchstraße und der Galaxis Larhatoon. Manzaber hatte ihn als Yllit bezeichnet und den Begriff Geiststreiter verwendet. Erinnerungen kehrten zurück. Und eine Hoffnung machte sich breit; eine, die bereits so oft enttäuscht worden war.

Gab es noch andere seines Volkes?

Gucky weinte hemmungslos.

2.

Germo Jobst

 

Er betrachtete die Bilder, eines nach dem anderen. Und wieder war er insbesondere von Gedächtnisernte angetan. Das Gemälde stellte etwas dar, es berührte ihn.

In wenigen Stunden würden sich seine Präferenzen ändern, genau wie immer. Nun, da er sich auf die Gedächtnisernte konzentrierte, auf den Kerouten mit seiner Schubkarre, erschien ihm die Malarbeit wichtiger als alles andere in seiner Kabine.

Seiner Kabine? – Nein, dieser Raum an Bord der ELEPHANT & EAGLE war ihm fremd. Weiterhin. Obwohl er ihn bereits seit fünf Wochen bewohnte. Er kam nicht immer gut mit Veränderungen zurecht. Wenn nur diese Kopfschmerzen nicht wären ...

»Träumst du?«

Germo schreckte aus seinen Gedanken hoch. Er wandte sich Jawna Togoya zu. »Ja«, gestand er. »Ich habe über Vergangenes nachgedacht.«

»Ob das Vergangene überhaupt Sinn und Wert hat, angesichts der Existenz einer dys-chronalen Drift?«, fragte die Posbi.

»Darum kümmere ich mich nicht.« Es konnte kaum anders sein – er war einerseits zu jung und andererseits zu alt. Germo hatte für seine siebzehn Lebensjahre viel zu viel erlebt und gesehen. Da würde er sich wohl kaum mit derartigen Gedankenspielereien belasten.

»Verstehe ich.«

Tat sie das wirklich? Die Bio-Komponente des Posbis, der sich selbst als weiblich definiert hatte, war stark ausgeprägt und machte Jawna zu einem selbstständig denkenden und handelnden Wesen. Doch verfügte sie über ausreichend Empathie, um sich in seine Lage zu versetzen zu können?

»Es kann losgehen«, wechselte Germo das Thema. »Ich bin bereit für die Einsatzbesprechung.«

»Na schön.« Farye Sepheroa erhob sich von ihrem Platz. »Wir möchten, wie du weißt, dass du an einem Einsatz teilnimmst, der ins Innere der RAS TSCHUBAI führt. Die Vorbereitungen auf dieses Kommandounternehmen haben bereits vor einigen Tagen begonnen. Doch nun wird es ernst.«

»Ja.«

»Wir möchten uns, banal gesagt, deine Begabungen zunutze machen. Du wirst gemeinsam mit Gucky und Pey-Ceyan agieren. Ihr drei verfügt über bemerkenswerte Psi-Fähigkeiten, durch die ihr womöglich die Schicht des Hyperfrostes passieren könnt.«

»Kann man dieser Pey-Ceyan denn vertrauen? Sie ist eine Proto-Hetostin. Eine Larin.«

Farye Sepheroa nickte zögerlich. »Nicht alle ihre Motive sind durchschaubar. Aber sie hat ebenso wie wir ein Interesse daran, die RAS TSCHUBAI aus dem Hyperfrost zu befreien.«

»Also schön.« Germo setzte sich nieder und ließ über dem Couchtisch ein Holo entstehen. Es zeigte die ELEPHANT & EAGLE, die über der Welt Medusa in einem Orbit schwebte. Die Proportionen waren verfälscht und zeigten den SHELTER-Tender größer, als er in Wirklichkeit war. Und dennoch – diese Transport- und Wartungsstation war riesig. Fünftausend Meter lang, tausend Meter hoch, fünftausend Meter breit. Ein Schiff wie die RAS TSCHUBAI hätte problemlos auf einem ihrer Landefelder Platz gefunden.

Germo zoomte auf die Dunkelwelt hinab. Jene Kaverne, in der das Schiff Perry Rhodans unter einer Schicht Hyperfrost verborgen lag, zeigte sich als tiefer Einschnitt. Als tief reichende Wunde des Planeten.

»Du hast Angst vor dem Einsatz, nicht wahr?«, fragte Jawna Togoya.

»Ja«, gab Germo freimütig zu.

Die Posbi legte den Kopf schief. »Angst hilft. Sie schärft deine Sinne und macht, dass du konzentriert bleibst.«

Germo nahm die Worte hin. Er wusste nicht, wie weit er Togoyas biologisch-positronisch gesteuerten Wahrnehmungen vertrauen konnte.

»Es bleiben vier Stunden bis zum Beginn des Einsatzes. Lass uns wiederholen, was für einen Erfolg der Aktion wichtig ist.«

»Das haben wir bereits zweimal durchgekaut!«, beschwerte sich Germo.

»Wir haben einen mentalen Schutz gegen den Hyperfrost entwickelt«, fuhr Togoya ungerührt fort. »Das Sextadim-Integritätsliquid mit dem Profannamen Frostschutz. Mit seiner Hilfe kannst du dich etwa zehn Stunden lang im Hyperfrost aufhalten.«

»Nach Ablauf dieser Frist bin ich verloren«, sagte Germo und seufzte. » Das weiß ich längst!«

»Du warst nicht aufmerksam genug«, maßregelte ihn die Posbi. »Wir wissen nicht genau, was nach Ablauf dieser Frist mit dir und den anderen Teilnehmern des Experiments geschieht. Die Lage könnte kritisch werden. Es mag sein, dass du ein wenig länger als zehn Stunden durchhältst.«

»... oder kürzer«, ergänzte Germo.

»Richtig«, gab Togoya zu. »Die zehn Stunden sind lediglich ein Richtwert. Du musst auf dein Inneres achten. Darauf, ob du Veränderungen an dir spürst. Ob es zu Momenten der Verwirrung oder der Desorientierung kommt.«

Farye mischte sich erstmals in das Briefing ein. »Der Hyperfrost entzieht dem Bewusstsein prozessorale Fähigkeiten, wie wir mittlerweile wissen. Das Bewusstsein wird in einer ewigen Gegenwart gefangen. In einer Schleife des Jetztseins.«

Diese Vorstellung hatte etwas Grauenerregendes an sich. Alles, was er in einer derartigen Situation noch dachte oder geistig verarbeitete, würde keinen Bestand haben. Das Erinnerungsvermögen war weg, die Möglichkeit zur Extrapolation ebenso. Blutgerinnsel waren möglich, geplatzte Kapillaren, Gehirnschlag.

Und dann ... der Exitus.

»Woher habt ihr dieses Frostschutz-Zeugs eigentlich?« Germo hatte sich bis dato nicht mit dieser Frage beschäftigt, es war ihm einerlei gewesen. Nun aber musste er sich ablenken, da kam ihm der Gedanke gelegen.

»Die Kerouten von Medusa haben es entwickelt. Die Grundlage des Mittels beruht auf speziell aufbereiteten Spuren von PEW-Metall. Sie haben uns insgesamt 50 Dekagramm Frostschutz zur Verfügung gestellt.«

»PEW-Metall?«

»Ja. Aus uralten Beständen.«

Germo Jobst fühlte sich wie erschlagen. Er wollte das alles nicht! Er wollte nicht in den Einsatz gehen. Er hatte ein neu entwickeltes Mittel injiziert bekommen, vor nunmehr vierzig Stunden. Es arbeitete in ihm, breitete sich aus. Womöglich zeitigte es unwillkommene Wirkungen, die sich niemals wieder beseitigen ließen.

»Und es musste unbedingt in die Gehirnrinde eingebracht werden?«

Jawna Togoya nickte. So etwas wie Bedauern oder Verständnis zeigte sich in ihren dunkelbraunen, fast schwarzen Augen. »Ja. Aber mach dir keine Sorgen. Das Sextadim-Integritätsliquid verbraucht sich vollständig, es wird keinerlei Rückstände geben.«

»Zumindest nimmt man das an«, meinte Farye mit einiger Skepsis in der Stimme.

»Der Frostschutz wird mit herkömmlichen Stoffwechselvorgängen ausgeschieden«, fuhr Togoya fort. »Durch Diffusion, durch Umbildung und Einbindung in vorhandene Moleküle, durchs Aufbrechen stofflicher Verbindungen, durch Entkoppelung der notwendigen höherdimensionalen Komponenten.«

Die Zimmerpositronik meldete, dass ein Besucher vor der Tür des Wohntraktes wartete. Jawna Togoyas Blick verklärte sich, gleich darauf nickte sie. Sie hatte den Besucher durch eine kurze Kontaktaufnahme mit der Positronik der ELEPHANT & EAGLE identifiziert.

Germo Jobst ließ die Tür öffnen. Ein feister Terraner stand davor, zwei kleine Schweberoboter begleiteten ihn. Es war Brimo Klimpkin, ein Mediker, mit dem er während der letzten Tage mehrmals Bekanntschaft gemacht hatte.

»Und, Wunderknabe?«, fragte Klimpkin respektlos. »Wie fühlst du dich?«

»Ein wenig benommen, und der Kopf schmerzt«, gestand Germo.

»Das ist bloß die Anspannung.« Der Mediker nahm ein Schokokügelchen aus der Hosentasche seiner Borduniform und steckte es sich in den Mund. »Dann wollen wir mal.«

Klimpkin trat ohne Umschweife auf Germo zu und hieß einen der Schweberoboter, sich seinem Gesicht zu nähern.

»Ich weiß, dass das Gefühl unangenehm ist«, sagte der Mediker leise schmatzend. »Aber da du die Prozedur bereits kennst, weißt du, dass dir nichts geschehen kann.«

Germo nickte. Der kleine Roboter landete auf seinem Hals und kletterte mit augenblicklich ausgefahrenen Fühlern hoch zu seinem Kopf. Die Berührungen waren sachte und vorsichtig. Dennoch fühlte sich Germo unwohl, als die metallenen Glieder über seine Gesichtshaut tasteten.

Der Roboter veränderte seine Form. Er stülpte sich über ihn, und für einen Augenblick meinte Germo ersticken zu müssen. Doch das künstliche Geschöpf ließ ihm ausreichend Luft zum Atmen. Nase und Augen blieben frei, der Rest seines Kopfes wurde von der Robotmaske belegt. Die Spinnenfühler verbanden sich am Hinterkopf, das kalte Metall passte sich der Kopfform an.

»Ganz ruhig bleiben!«, mahnte ihn Klimpkin. »Es ist gleich wieder vorbei.«

Der junge Mann fühlte einen Händedruck, sanft und dennoch fest. Jawna Togoya war an seine Seite getreten. Sie zeigte ihm, dass sie für ihn da war.

»Jetzt kommen die Einstiche. Du kennst das.«

Kennen bedeutete allerdings nicht, dass Germo sich je an die dünnen Nadeln gewöhnen würde, die der Spezialroboter von allen Seiten durch seinen Schädel bohrte, um die notwendigen Messungen vornehmen zu können.

Die Kanülen waren nur wenige Mikrometer stark. Mit leisem Surren schoben sie sich durch den Knochen. Germo meinte zu spüren, wie sie in die Flüssigkeit darunter vordrangen, wie sie seine Gehirnmasse betasteten, die winzigen Messsonden versenkten und jene Informationen sammelten, die Klimpkin benötigte.

»Gleich ist es vorbei«, sagte der Mediker.

Germo wandte sich ihm zu. Der unappetitliche Kerl kaute nach wie vor auf seinem Stück Dauer-Diätschokolade und zeigte dabei ein maliziöses Lächeln. Als bereitete es ihm Freude, sein Opfer leiden zu sehen.

Germo hielt es kaum aus. Am liebsten wäre er davongelaufen, Togoyas Beistand hin oder her. Zumindest hätte er sich gerne die eng umschließende Robotmaske vom Kopf gerissen.

»Alles klar«, sagte Klimpkin. »Die Fühler ziehen sich jetzt zurück. Ich habe alles, was ich brauche.«

Wieder erklang das grässliche Sirren. Die Bohrer fingen die ausgeschickten Sonden mithilfe winziger Magneten wieder ein, sie glitten zurück. Eine Art Gipsmasse verschloss die winzigen Lücken in seinem Schädel, es würden keinerlei Spuren der Einstichlöcher zurückbleiben.

»Ich nehme den Roboter jetzt ab. Du weißt, wie alles abläuft. Du wirst dich schwindlig fühlen, womöglich ein wenig desorientiert, und deine Sicht wird geringfügig gestört sein. Ich musste wie immer einige deiner Hirnregionen kleinen Tests unterziehen. In dreißig Sekunden ist alles wieder in Ordnung.«

Die Maske hob sich, feinste Fühler tasteten erneut über den Kopf. Klimpkin zog den Roboter von ihm ab. Augenblicklich löste sich ein Datenkristall vom Korpus des silbrig glänzenden Dings. Ein flugfähiger Speicher, der sich auf das Armbandkom des Medikers hinabsenkte und dort in einer Hülle verschwand. Die gewonnenen Informationen wurden nicht nur in mehreren voneinander getrennten Positroniken gelagert, sondern auch in zumindest einem Festspeicher.

»...nd?«, krächzte Germo, räusperte sich mehrmals und fragte dann nochmals: »Und?«

»Scheint alles in Ordnung zu sein«, antwortete Klimpkin.

Mithilfe seines Armbandkoms erzeugte der Mediker ein Holo, dessen Inhalte Germo unverständlich blieben. Sie zeigten Berechnungen und dreidimensionale Modelle, Zahlentabellen und neuronale Strömungsbilder.

Ihm war speiübel, und wie immer ließ das Gefühl der Desorientierung nicht nach einer halben Minute nach. Er würde sich mindestens fünf Minuten gedulden müssen, um wieder richtig sehen, hören und riechen zu können. Derzeit meinte er, mit den Augen zu atmen und helles Licht riechen zu können. Seine Sinneswahrnehmungen waren gehörig durcheinandergeraten.

Jawna Togoya stützte ihn weiterhin. Germo fragte sich zum wiederholten Mal, warum Klimpkin darauf bestand, dass er die Tests im Stehen über sich ergehen lassen musste.

»Es ist alles bestens«, sagte der Mediker, schob sich eine weitere Diät-Schokokugel in den Mund und desaktivierte das Holo. »Du bist hiermit einsatzfähig. Wie im Übrigen alle anderen Mitglieder deiner Gruppe ebenfalls . Wenn ihr mich nun bitte entschuldigt ...«

Er grüßte mit einem knappen Kopfnicken in die Runde und verließ den Raum, ohne auf die gemurmelten Grußworte zu achten. Die Tür schloss sich hinter ihm, der Messroboter huschte im letzten Augenblick durch den Spalt.

 

*

 

»Juhu«, sagte Germo. »Ich darf also durch den Hyperfrost gehen.«

Farye war mit einem Mal ebenfalls an seiner Seite. Er konnte ihre Wärme fühlen. Er hatte unbändiges Verlangen danach, sich an die junge, hübsche Frau zu lehnen. Doch er tat es nicht.

»Es geht bald los«, sagte sie. »Du solltest dich ein wenig entspannen. Leg dich schlafen. Ich wecke dich rechtzeitig.«

»Du glaubst wirklich, ich könnte jetzt ein Auge zutun?«

»Es reicht, wenn du dich hinlegst. Ruh dich aus.«

»Nein, danke. Aber es wäre mir recht, wenn ihr noch eine Weile bei mir bleiben würdet.«

Farye zögerte und nickte dann. »Also schön. Nachdem wir derzeit ja so etwas wie bezahlten Urlaub haben ...«

Die gesamte Besatzung der RAS TSCHUBAI befand sich an Bord des riesigen SHELTER-Tenders. Tausende Wesen, die sich erst wieder daran gewöhnen mussten, in ihre Heimzeit zurückgekehrt zu sein. Viele saßen in Schulungen, einige wenige gaben erworbenes Wissen weiter. Sie erzählten von Welten, die vor zwanzig Millionen Jahren untergegangen waren, und von Völkern, deren Geschichte und Geschichten neu geschrieben werden mussten.

Vor allem aber redeten sie über ihre Abenteuer in einer Milchstraße, die von den Tiuphoren verwüstet worden war. Von schrecklichen Kämpfern, die sich nun auch in der Gegenwart breitmachten und Verwüstung säten.

Germo Jobst ließ sich auf die Couch sinken. Sepheroa reichte ihm ein Glas Wasser, er trank gierig.

»Erzählt mir bitte mehr über die Angriffe der Tiuphoren. Ich würde gerne wissen, warum ich diesen Wahnsinn über mich ergehen lasse.«

»Na schön.« Jawna setzte sich neben ihn. Sie aktivierte den Monitor seiner Kabine und suchte einen Bordnachrichtenkanal. Er brachte Informationen, die nicht jedermann zugänglich waren.

Es waren Nadelstiche, die die Tiuphoren derzeit setzten. Nadelstiche, die durchaus schmerzhaft für die Völker des Galaktikums waren. Die erbarmungslosen Kämpfer tauchten mal da und mal dort auf, rieben sich an Flottenverbänden und verschwanden bald darauf wieder. Sie bewegten sich insbesondere an den Peripherien der Staatsgebiete der Liga Freier Terraner, des Neuen Tamaniums, der diversen Blues-Sternenreiche sowie in und nahe M 13.

Germo sah angeekelt und fasziniert gleichermaßen hin, als das Bild eines Tiuphoren erschien. Dieses rote Gesicht mit tief liegenden, glänzenden Augen und ohne erkennbare Gefühlsregungen. Dessen Nasenschlitze sich mit jedem Atemzug wie feinste Lamellen aus Gazematerial bewegten.

Der Tiuphorenkrieger war von einer Spionsonde aufgenommen worden. Er trug keine Rüstung, er war beinahe nackt – und nahm es dennoch mit mehreren angreifenden Epsalern auf. Er tötete mit seinen Händen und sang und schrie und jubelte dazu, bevor ihm durch einen Strahlschuss der Garaus gemacht wurde. Doch selbst im Sterben setzte er den Kampf fort, schleppte sich auf einen seiner Gegner zu, wollte ihn anfallen, ihn mit sich in den Tod reißen.