Nr. 2868
Der Fall Janus
Die Milchstraße vor einem Wendepunkt – das Solsystem wappnet sich gegen den Angriff der Tiuphoren
Christian Montillon
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.
Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.
Perry Rhodan ist von einer Expedition in vergangene Zeiten in die Gegenwart zurückgekehrt. Diese wird nicht nur von der Herrschaft der Atopen bedroht, sondern auch durch die brutalen Tiuphoren, die durch einen Zeitriss aus tiefster Vergangenheit zurückgekehrt sind. Immerhin scheint mit dem ParaFrakt eine Abwehrwaffe gefunden zu sein.
Doch der Zeitriss, durch den die Invasoren ihren Weg in die Milchstraße finden, steht nach wie vor offen, und zwei zerstörerische Perforationszonen bewegen sich quer durch die Galaxis – eine direkt auf das Solsystem zu. Doch ehe diese eintrifft, marschieren die tiuphorischen Heerscharen: Es ist DER FALL JANUS ...
Perry Rhodan – Der Terraner bangt um ihm wohlbekannte Wesen und Welten.
Dienbacer – Der tefrodische Mutant hat mehrere Stelldicheins.
Margorat Ruwaog – Der Ertruser lernt Prominente aus nächster Nähe kennen.
Aichatou Zakara – Die Chronotheoretikerin bringt schlechte Nachrichten.
1.
Drüben am Fluss
»Dir ist klar, dass wir sterben werden?«
»Du vielleicht. Ich nicht.«
»Träum weiter.«
»Ich sehe nur einen, der träumt, und das bist du. Ich bleibe aktiv, und darum überlebe ich.«
Es zerriss Margorat Ruwaog das Herz, seine Kinder so reden zu hören. Die Letzten, die ihm blieben. Der einzige Grund, weshalb er nicht aufgab. Sie saßen an der Feuerstelle, drüben am Fluss, und ihr Vater hatte das Akustikfeld der Kommunikationsverbindung ursprünglich nur geöffnet, weil er sie ins Haus hatte rufen wollen.
Stattdessen belauschte er sie seit einigen Minuten vom Wohnzimmer aus. Ein Krug mit kaltem Wasser stand vor ihm auf dem Tisch. Er hörte zu, schämte sich wegen der Heimlichkeit und trauerte.
Er hätte ihnen gerne ein besseres Universum geschenkt, eine bessere Milchstraße, ein besseres Ertrus. Aber wie sollte er den Lauf der Dinge ändern? Das Verderben kam von außen, und er konnte es nicht aufhalten. Natürlich nicht. Niemand vermochte das. Nicht einmal ein Perry Rhodan.
Margorat Ruwaog schenkte sich etwas zu trinken ein und kostete. Es war kühl, erfrischend und normal. Er hatte stets angenommen, solchen einfachen Luxus bis an sein Lebensende genießen zu können. Schließlich lebte er auf einem zivilisierten, reichen Planeten.
Eine Täuschung.
Es gab keine Selbstverständlichkeiten mehr, seit die Tiuphoren diese Galaxis überrannten. Als wäre das Atopische Tribunal nicht schlimm genug, ließen die höheren Mächte – lang mögen sie Hof halten, lang mögen sie Gerechtigkeit gießen auf die Welten des Universums – eine weitere Plage zu.
»Du wirst nicht überleben«, sagte Caarko, sein Jüngster, einige Hundert Meter entfernt und doch so klar, als säße er mit am Tisch. »Was willst du denn tun? Zehntausend Feinde in ihren Kriegsbrünnen höchstpersönlich erschießen, wenn sie Ertrus überrennen?«
»Ich werde jedenfalls nicht hier sitzen und warten, bis ich sterbe!« Das war Lonnerd, und Margorat konnte vor sich sehen, wie er seine Oberarme anspannte, wie die Muskeln den Stoff fast zerrissen. Er sah es so deutlich, als gäbe es nicht nur die akustische Verbindung, sondern eine Holoübertragung.
»Dann kannst du ja irgendwelche höheren Wesen anrufen wie unser Vater!« Der Spott in Caarkos Worten war beißend, und das schmerzte Margorat mehr als die Gewissheit des nahenden Todes. Den tiefen Glauben an die Mächte, die das Universum in der Hand hielten und das Schicksal jedes Lebewesens lenkten, hatten seine Söhne nie von ihm übernommen.
»Er wird genauso untergehen wie du«, spie Lonnerd aus. »Die Tiuphoren schert es nicht, ob ihre Opfer zitternd in einer Ecke hocken wie jämmerliche Niras oder auf Götter warten, die nicht existieren! Ihr seid alle verloren. Aber mich, mich bekommen sie nicht!«
»Was willst du tun?«, fragte Caarko.
»Ich kämpfe und entkomme, und wenn mir das nicht gelingt, werde ich mich töten, ehe sie mich erwischen.«
Das Wasser in Margorats Glas zitterte. Er kappte die Verbindung zum Fluss und schaute nach oben, zur gläsernen Decke seines Hauses. Der Blick ging zum malvenfarbenen Himmel; bald würden dort die Sterne zu sehen sein, die er stets so geliebt hatte, sein Leben lang: Millionen Lichtpunkte.
Einige von ihnen – ein Dutzend, hundert, tausend, wer wusste das schon – konnten an diesem Tag ebenso gut Lichtreflexe auf den Hüllen der Sterngewerke und Sternspringer sein. Die Tiuphoren bezogen Stellung rund um Ertrus. Und über anderen wichtigen Welten der Milchstraße.
Der Untergang stand bevor.
Margorat atmete tief durch.
Nein. Sein Sohn musste sich nicht selbst töten. Denn falls es keinen Ausweg mehr gab, übernahm er als Vater diese letzte Pflicht. Doch das würde er verhindern!
Er erhob sich und ging los, hinunter zum Fluss, um seine Kinder zu holen. Ertrus mochte an diesem Tag sterben, der ganze Planet, die komplette Galaxis mochte untergehen ...
... aber seine Familie nicht.
*
Bienen surrten in der Luft.
Eine echte Plage, diese kleinen Biester, seit dieses elende terranische Forschungsteam sie vor wenigen Jahrzehnten eingeschleppt hatte. Die Insekten passten sich wegen ihrer raschen Generationenfolge extrem schnell an die hiesigen Bedingungen an, wurden größer und aggressiver, und ein Stich vermochte sogar einen Ertruser zu schmerzen. Gerüchte von allergischen Reaktionen verbreiteten sich. Man stelle sich vor: ein Ertruser, der unter einem allergischen Schock litt! Margorat hatte von einigen Todesfällen gehört.
Er stampfte mitten durch einen kleinen Bienenschwarm. Ihr Nest musste irgendwo in den Urwaldbäumen auf seinem Grundstück liegen. Vor Kurzem hatte er sich noch darüber geärgert. Ja, es als Problem angesehen.
Lächerlich!
Wenn er keine anderen Probleme hätte, wäre er der glücklichste Mann des Universums. Dann wäre sein Planet nicht dem Untergang geweiht.
»Die Bastionen fallen«, flüsterte er in die surrende, raschelnde Natur, die ihn umgab.
So hatte es Sully Arukitch – angeblich der Enkel des legendären Eden Arukitch – im von ihm wiederbelebten Radio Freies Ertrus verkündet.
Nicht, dass Margorat daran glaubte, Sully wäre tatsächlich ein Nachfahre jenes Reporters, der unter der arkonidischen Besatzung den Freiheitskampf angeführt hatte. Eden Arukitch war allein gewesen, der Letzte seiner Familie, jemand, der nichts mehr zu verlieren hatte. Einer, der schließlich in Frieden eingeschlafen und von den Mächten aufgenommen worden war.
Doch welche Rolle spielte die Identität desjenigen, der sich Sully Arukitch nannte? Sein neues Radio Freies Ertrus war ein Symbol – genau wie er selbst. Niemand hatte ihn jemals gesehen oder kannte seinen wahren Namen.
Margorat ließ den Bienenschwarm hinter sich. Er bahnte sich einen Weg durch den überwucherten Pfad, der hinunter zum Fluss führte, zu seinen Kindern.
Eines ging ihm dabei nicht aus dem Sinn – das Schlagwort des neuen Radio Freies Ertrus:
»Die Bastionen fallen – aber wir nicht.«
Große Worte. Wahrscheinlich hatte sie jeder Ertruser schon einmal gehört, sei es in der originalen Ausstrahlung, in den offiziellen Trividberichten oder geflüstert am Abend, in den Gassen der Städte, an den Mahnfeuern in den Nächten.
Und wenn wir doch fallen, dann mit erhobenem Haupt, dem Schicksal und den Tiuphoren zum Trotz.
Eine Biene landete auf seiner Nase. Er wedelte sie hinweg. Sie stach zu, aber nur in den Daumen. Er zerquetschte das Insekt, so beiläufig, wie er den nächsten Schritt hinter sich brachte.
Bald hörte er das Plätschern des Wassers auf den Steinen.
Er roch den herben Kräuterduft, der von den am Ufer wuchernden Pflanzen aufstieg.
Er schmeckte die Pollen, die im Wind trieben.
Er fühlte die Weite des Flusses, der sich bis zur Hauptstadt Baretus erstreckte, über tausend Kilometer entfernt.
Er sah einen Korangan im Sturzflug, der mit seinem spitzen Schnabel einen Springfisch in der Luft aufspießte.
Aber das war alles.
Seine Kinder waren nicht mehr da.
2.
Heimkehr
Der Koloss aus Metall blieb hinter ihm im Nichts zurück.
Eben hatte die RAS TSCHUBAI noch die komplette Sichtscheibe eingenommen – eine Kugel von den Ausmaßen einer mobilen Megacity; zwei Atemzüge später war sie ein Ball im All, nur ein wenig zu groß, um ihn anzuheben; ein Blinzeln danach nur eine Murmel, mit der ein Kleinkind spielen könnte.
Perry Rhodan hielt Sichu Dorksteigers Hand, als die Korvette, in der sie das Schiff verlassen hatten, den Kurs änderte und Terra in ihrem Blickfeld auftauchte.
»Au«, sagte Terras Chefwissenschaftlerin.
Da erst merkte er, dass er ihre Finger quetschte. »Entschuldige.«
Das goldene Muster ihrer Haut über den Wangen und Schläfen tanzte, als sie lachte. »Es gibt Schlimmeres.«
Trotzdem ließ er sie los.
»Was geht dir durch den Kopf?«, fragte Sichu.
Wenn er das nur wüsste. Rhodan überlegte, wie er antworten sollte.
Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. »Denk nicht lange nach. Was empfindet der Mann, der neben mir steht, wenn er seinen Heimatplaneten sieht? Nicht der Unsterbliche, den alle Medien beobachten. Nicht der, der tausend militärische Schlachten geschlagen hat. Nicht der, der Superintelligenzen und Kosmokraten getroffen hat. Was geht dir durch den Kopf?«
»Ich bin all diese Leute, Sichu. Es gibt keinen Perry Rhodan, der nicht all diese Funktionen erfüllt. Ich trage das Erbe meiner Vergangenheit und meines Lebens bei jedem Atemzug mit mir.«
Ihre Hand wanderte zu seinem Nacken. Sie umarmte ihn, bis er nur noch den Duft ihrer Haare roch. »Nicht in diesem Augenblick. Jetzt bist du nur du. Du kehrst nach Hause zurück, und die Zeichen stehen auf Sturm. Oder auf Untergang. Wie geht es dir dabei?«
Er schloss die Augen. Terra verschwand. All die Anspannung wich unter ihrer Berührung. »Ich denke, dass ...« Er zögerte.
»Ja?«
»Ich denke ... gar nichts.«
Er fühlte ihr Lächeln, ohne dass er es sehen musste.
»Wundervoll«, sagte sie. »Vergiss nie, dass du ein Mensch bist, Perry. Vielleicht ein besonderer, aber trotzdem einfach nur ein Mensch.«
*
Die Korvette landete in Terrania.
Perry Rhodan und Sichu Dorksteiger flogen in einem Zweipersonengleiter zum Solaren Haus. Diesmal steuerte Rhodan selbst. Die Wolkenkratzer und Häuserschluchten seiner Stadt zogen unter ihm hinweg. Für einen kurzen, unwirklichen Moment war ihm, als läge die Stadtgründung auf seine Initiative erst Monate zurück – keine drei Jahrtausende.
In der Ferne glitzerte das Salzwasser des Goshun-Sees in der gerade noch über dem Horizont stehenden Sonne. Er zog tiefer, fädelte sich in die Flugschneisen für Kleingleiter ein.
Auf einem Häuserdach, das aus einer dunstigen Wolkenschicht herausragte, spielten Kinder Vibroball. In Atlan-Village fand ein Freiluftkonzert statt. Die Menschenmenge bewegte sich in einem so weit oben unhörbaren Takt.
Beim Anflug auf das Regierungsgebäude aus ungewöhnlicher Richtung, wenn man den Landeplatz bedachte, sahen Rhodan und Sichu einen riesigen gläsernen Würfel, in dem ein kleines Abbild der Sonne den Lauf am Himmel von Terra nachvollzog – eine perfekte Holoshow auf dem Gebäude. Gerade näherte sich Sol dem Untergang.
Untergang, dachte der Terraner. Wie passend angesichts der ganzen Probleme.
Er schob den Gedanken verärgert von sich. Pessimismus brachte ihn nicht weiter. Brauchte er wirklich Sichu, die ihm das immer wieder aufs Neue klarmachte?
Der Gleiter setzte direkt neben dem Solaren Haus auf.
Ehe sie ihr Fluggefährt verließen, kam ihnen jemand entgegen – Cai Cheung höchstpersönlich, die Solare Premier und damit die höchstrangige Politikerin des Solsystems. Rhodan hatte sie bereits als blutjunge Frau gefördert und war nach wie vor davon überzeugt, dass niemand das Amt besser ausfüllen könnte. Sie führte Terra durch die Krise ...
... jede einzelne, denn momentan lauerten Gefahren und Probleme an vielen Ecken und Enden.
Cai Cheung war nicht nur brillant, sondern auch anders. Sie dachte und handelte unkonventionell, und das war wertvoller als tausend Kriegsschiffe, gerade wenn Lösungen zur Mangelware wurden. Sie wusste genau, was sie wollte, und nicht einmal als Politneuling hatte sie zwischen dem legendären Perry Rhodan und irgendeinem sonstigen Menschen einen Unterschied gemacht.
Die beiden Neuankömmlinge stiegen aus.
»Cai«, begrüßte er sie mit einem dünnen Lächeln, hinter dem die Anspannung deutlich erkennbar war. Wie hätte es in einer solchen Situation anders sein können?
»Perry.« Sie lächelte zurück, ohne indes ihre Müdigkeit verbergen zu können. Sie wirkte ausgezehrt. Die schwarzen Haare sahen aus, als bedürften sie endlich wieder einmal einer ausgiebigen Pflege.
Rhodan wusste, dass Cais PR-Berater wegen solcher Details regelmäßig die Hände über dem Kopf zusammenschlugen ... und dass die Solare Premier sie üblicherweise abkanzelte: »Was ist wichtiger – meine Frisur oder die aktuellen Probleme des Solsystems?«
Sie tauschten einige Höflichkeiten aus – Floskeln, mehr nicht, weil keiner von ihnen sich unmittelbar den ernsten Themen zuwenden wollte. Nicht unter offenem Himmel. Niemand wusste, wer sie womöglich sah.
»Gehen wir in meinen Trainingsraum«, sagte Cai, als sie das Solare Haus betraten. »Es ist dort weniger ... offiziell.«
»Du willst gerne ungestört reden«, stellte Sichu fest.
Cai nickte. »Und das an einem Ort, der mich nicht an die tausend dringenden Regierungsgeschäfte erinnert, die ich erledigen muss. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele wirklich wichtige Anfragen im Minutentakt reinrauschen, die meine Leute nicht ausfiltern können.«
Rhodan zuckte mit den Achseln. »Doch.«
Cai lachte. »Klar. Alle, die jahrelang einen ähnlichen Job wie meinen hinter sich haben, sind natürlich ausgenommen.«
Es ging in einem Antigravschacht tiefer, ins dritte Kellergeschoss. Vor der einzigen Tür im Korridor wartete ein Roboter – ein simples, tonnenförmiges Modell, das sie mit »Willkommen« begrüßte und ergänzte: »Cai, gibt es eine Eintrittsgenehmigung für Sichu Dorksteiger?«
»Selbstverständlich«, sagte Cai, und die Maschine schwebte zur Seite. »Entschuldige! Ich habe für dich noch keine generelle Genehmigung ins System einprogrammiert. Du musst verstehen, ich lasse hier unten nicht viele einfach so durch. Ich brauche beim Training meine Ruhe. Diese Zeit schneide ich mir aus den Rippen, und deswegen gehört sie eigentlich nur mir.«
»Schon gut«, versicherte Sichu.
Sie betraten einen erstaunlich schlichten Raum – man hätte ihn eher für ein Lager halten können als für den Trainingsbereich der höchstrangigen Politikerin des Solsystems. In der Mitte war ein einige Meter langes Laufband in den Boden eingelassen, von der Decke baumelte ein Boxsack, etliche Stäbe lagen in einer Vertiefung.
Einen Augenblick später, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, offenbarte sich allerdings ein bis dahin verborgener Luxus. Die Wände rundum verschwanden, oder zumindest wirkte es so. Holoprojektionen simulierten eine Landschaft unter freiem Himmel. Die Bäume und Büsche wirkten, als wären sie zum Greifen nahe, die schneebedeckten Berggipfel jedoch kilometerweit entfernt.
»Ihr habt nichts dagegen?«, fragte Cai und deutete in die Raummitte.
»Tu dir keinen Zwang an«, meinte Sichu.
Die Solare Premier betrat das Laufband und startete es mit einem Sprachbefehl und dem Zusatz »in der üblichen Geschwindigkeit«. Sie verfiel in ein lockeres Lauftempo, gerade so, dass sie sich nicht vom Fleck rührte. Die Müdigkeit schien mit der Bewegung von ihr abzufallen. »Habt ihr von der MOCKINGBIRD gehört?«
Rhodan verneinte. »Ein neuer Spieler auf der großen kosmischen Bühne?«
»Einerseits schon«, meinte Cai, »andererseits würde ich den Kommandanten des Schiffs ganz sicher nicht neu nennen.«
»Wer ist es?«, fragte Rhodan, während er knapp zwei Meter hinter Cai auf das Laufband sprang und mitlief. Auch er hielt sofort perfekt das Tempo.
»Julian Tifflor.«
»Oh.« Der Zellaktivatorträger verlor den Rhythmus und wäre beinahe gegen Cai gestoßen. Er hüpfte vom Band. »Tiff?«
»Nicht der, den du kanntest«, sagte Cai. »Nicht mal der, den wir nach seinem Jahrmillionenmarsch wenigstens ansatzweise zu kennen glaubten.«
»Sondern?« Das war Sichu Dorksteiger, die scheinbar versunken und teilnahmslos zu den Bergen schaute. Rhodan verstand sie gut genug, um zu wissen, dass sie intensiv nachdachte.
»Er ist ein Richter des Tribunals, die MOCKINGBIRD sein Atopenraumer.« Cai Cheung kam weder aus dem Takt noch atmete sie schwer. Sie war mustergültig in Form, schloss kurz die Augen und sagte in verändertem Tonfall: »Schneller!«
Das Laufband beschleunigte.
Perry Rhodan brauchte nicht lange, um die Bedeutung ihrer Worte zu verstehen. »Wir gehen sowieso davon aus, dass das Atopische Tribunal aus der Zukunft agiert – spätestens seit unserer Begegnung mit der Atopin Saeqaer in ihrer CHEMMA DHURGA.«
»Falls es eines Beweises bedurft hätte, liegt er uns nun vor«, führte Sichu seinen Gedanken fort. »Julian Tifflor wird irgendwann zu einem Atopen werden ... und ist momentan in seine Vergangenheit, also unsere Gegenwart zurückgekehrt, um ...« Sie stockte. »Ja, um was zu tun?«
»Er kümmert sich um das Problem der Perforationszonen«, erklärte Cai Cheung, die nun rennen musste, um das Tempo zu halten. »Allerdings auf seine ganze eigene Weise und nicht gerade ... mitfühlend. Ein Matan Addaru hätte vielleicht genauso gehandelt. Wahrscheinlich kann Aichatou Zakara euch später mehr darüber berichten. Ich erwartet sie jede Sekunde.«
Rhodan kannte die Chronotheoretikerin, seit die RAS TSCHUBAI auf Medusa vom Permafrost befreit worden war – also seit seiner eigenen Rückkehr in die Milchstraße der Gegenwart. Nur war er nicht aus der Zukunft, sondern aus der Vergangenheit heimgereist.
»Aber das ist nicht das eigentliche Problem«, ergänzte Cai Cheung.
Das überraschte Rhodan nicht. »Sondern?«
»Die Tiuphoren haben ihre Vorbereitungen offenbar abgeschlossen.« Cai hielt das Laufband an. Nun ging ihr Atem schwer. Schweißtropfen perlten auf ihren breiten Augenbrauen. »Das Ende hat begonnen, Perry, und wir werden es nicht aufhalten können.«
3.
Die Säulen der Welt
Das Wasser plätscherte über die Steine und rauschte an ihm vorbei, hin zu dem kleinen Pool, in dem es sich sammelte, ehe es träge weiterfloss. Margorat Ruwaog starrte ins Leere.
Seine Kinder waren verschwunden. Doch das musste nichts Schlimmes bedeuten. Sie konnten einfach weggegangen sein, seit er das Haus verlassen hatte, um sie zu holen. Es gab keinen Grund, nach den Spuren eines Kampfes zu suchen. Trotzdem tat er es. Ohne fündig zu werden.
»Caarko! Lonnerd!«
Seine Stimme scheuchte ein Tier im Unterholz am anderen Flussufer auf. Er hörte es rascheln, dann huschte ein kompaktes, pelziges Wesen davon.
Sonst blieb alles ruhig.
Bis die Luft vor ihm flimmerte. Der Ertruser sah eine huschende Bewegung im Augenwinkel. Er wirbelte herum. Eine Gestalt schälte sich aus dem Nichts: ein Tiuphore, der den Schutz seines Deflektors verließ?
Margorat verfluchte sich selbst, dass er unbewaffnet losgezogen war. Aber er war ein Ertruser! Sein Gegner würde sich wundern, mit wem er sich da eingelassen hatte. Er bückte sich, hob einen großen Stein aus dem seichten Ufer und ...
Es war kein Tiuphore, sondern ein Raumsoldat der Heimatflotte. »Bleib ruhig!«, rief er. »Alles ist in Ordnung.«
Margorat ließ die improvisierte Waffe fallen; Wasser spritzte bis an seine Hände. »Wer bist du? Warum ...«
»Wir haben deinen Sohn gesucht.«
Die Auskunft verwirrte ihn. Trotzdem entging ihm nicht, dass der andere wir gesagt hatte. Er war nicht allein, was Margorats Alarmbereitschaft noch erhöhte. »Wieso? Was willst du von ihm? Und welches meiner Kinder? Lonnerd? Hat er sich Ärger eingehandelt mit seinem draufgängerischen ...«
»Du weißt es wirklich nicht?«, unterbrach der Soldat.
»Was soll ich wissen?«
»Was dein Sohn getan hat.«
»Lonnerd? Mir ist klar, dass er ...«
»Nicht er.«
»Caarko?« Das vermochte sich Margorat noch weniger vorzustellen, wie ausgerechnet der stille und fatalistische Caarko die Aufmerksamkeit des Militärs auf sich gezogen haben könnte. Und das in Zeiten, während die Tiuphoren aufmarschierten und es andere Probleme geben sollte als die Dummheiten eines Heranwachsenden.
Der Soldat lachte, laut und dröhnend, bis auf seiner Gesichtshaut hektische rote Flecken blühten. »Du weißt es wirklich nicht. Caarko ist ein Held. Virgil Roosa erwartet ihn. Er ist mit seinem Bruder und zwei meiner Kameraden unterwegs zu unserem Gleiter.«
»Aber ...« Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Das war irgendein perfides Spiel, ein Täuschungsmanöver des Geheimdienstes oder der Tiuphoren! Virgil Roosa? Der Präsident des Bundes Freies Ertrus höchstpersönlich? Lächerlich! »Was soll das?«
»Komm mit, dann erfährst du es. Virgil Roosa wird sich freuen, Caarkos Vater kennenzulernen.«
Margorat fühlte sich wie in einem Traum. Er blieb misstrauisch. »Wohin bringst du uns?«
»Auf die KIM TASMAENE.«
Nun war es an Margorat zu lachen. »Die KIM TASMAENE. Das Flaggschiff des Flottenkommandanten Toronar Gogorin.« Er verharrte. »Ja klar. Vielleicht sind ja auch noch Perry Rhodan und Atlan dort, zur Besprechung.«
»Weißt du nicht, dass Atlan seit einiger Zeit verschollen ist?«, fragte der Soldat. »Aber es könnte sein, dass zumindest Rhodan sich per Holofunk zuschaltet.«
Nun wunderte Margorat sich über gar nichts mehr. »Wieso bist du zurückgeblieben, wenn ihr meine Kinder bereits gefunden habt?«
»Ich suchte dich, während meine Kameraden Caarko und Lonnerd abgeholt haben. Oder glaubst du, wir hätten dich hier zurückgelassen, ohne deine Söhne?«
*
Es war ein Traum.
Zumindest konnte ein Traum nicht unwirklicher sein.