Es war ein ganz normaler Nachmittag im Zoo.
Die Tierpfleger fütterten die Schimpansen und die Mini-Schweine. Die Schweine quiekten und verdrückten schmatzend ihre Äpfel, während die Affen heftig winkten, um noch mehr zu bekommen. Die Störche klapperten mit den Schnäbeln und die Flamingos reckten die Hälse nach Brotkrumen, die eine Gruppe von Kindern ihnen zuwarf.
Hamlet, der junge Wolf, döste in der warmen Sonne in seinem Gehege und ließ sich auch nicht von Knut, dem Tierpfleger stören, der mit Gummistiefeln an den Füßen und einem Besen in der Hand durch das Wolfsgehege stapfte und sauber machte.
Doch plötzlich knallten schnelle Schritte über den Rundweg des Zoos, und Hamlet war sofort hellwach. Er kannte diese Schritte. Alle Tiere im Zoo kannten sie. Und sie verhießen selten etwas Gutes. Selbst Knut beeilte sich plötzlich mit dem Fegen und hielt den Blick gesenkt, als wollte er sich unsichtbar machen.
Die Schritte kamen näher. Dann legte sich ein Schatten über Hamlet, und die Sonnenstrahlen, die gerade noch so schön seinen Rücken gewärmt hatten, wurden von einer großen, bedrohlichen Gestalt in einem schwarzen Anzug verdeckt: der Gestalt von Zoodirektor Müller.
Müller hatte kein Herz für Tiere, wie ein Zoodirektor es eigentlich haben sollte. Er benutzte die Tiere, um sich an ihnen zu bereichern. Das konnte Hamlet sogar riechen. Wie alle Wölfe hatte er eine sehr feine Nase und konnte die Gefühle von Menschen wittern. Und Müller verströmte den Geruch von Gier mit einer Prise Grausamkeit.
In der Vergangenheit waren immer wieder Tiere aus dem Zoo verschwunden, weil Müller sie an reiche Menschen verkauft hatte. Es gab immer jemanden, der schon immer mal ein junges Känguru haben wollte, einen Schimpansen oder eine Anakonda. Tags darauf hieß es dann, das Tier sei leider über Nacht verstorben. Die übrig gebliebenen Tiere wussten es natürlich besser. Aber wer hört schon auf das Jaulen und Knurren und Bellen aus den Gehegen?
Hamlet sprang ängstlich auf und begann, hin und her zu laufen. Doch der Zoodirektor mit den kalten Augen und dem breiten schwarzen Schnurrbart starrte ihn durch die Gitterstäbe hindurch an und verfolgte jede seiner Bewegungen.
»Machen Sie mal schneller da!«, herrschte er den Tierpfleger an. »Wie heißen Sie noch mal?«
»Knut«, sagte Knut.
»Knut, aha! Arbeiten Sie immer so langsam? Den Namen muss ich mir wohl merken. Los doch, hier ist es sauber genug, es warten noch andere Käfige!«
Eilig nahm Knut seinen Besen und suchte das Weite.
Nun waren Müller und Hamlet allein.
»Dein Fell ist wirklich schön, Wolf. Constanze hat einen guten Geschmack. Und zum Glück bist du noch jung. Ein paar Jahre älter und dein Pelz wäre zu stumpf und struppig, um ihn meiner Tochter zu schenken. Sie ist anspruchsvoll, weißt du. Für sie kommt nur das Beste infrage.«
Unwillkürlich stellten sich Hamlet die Nackenhaare auf und er knurrte den Zoodirektor an und fletschte die Zähne.
»Ja, ja, knurr mich nur an, mein junger Wolf. Es wird dir nichts nützen. Morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, hat dein letztes Stündlein geschlagen. Mal sehen, vielleicht lasse ich deinen Kopf ausstopfen und hänge ihn mir ins Wohnzimmer an die Wand. Zwischen dem Eisbären und dem Tiger ist noch Platz. Dann kannst du die Zähne fletschen, bis du von Motten zerfressen bist.« Müller lachte, dann drehte er sich um und schlenderte davon. Er tätschelte noch ein paar Schulkindern, die gerade auf dem Weg zu den Zebras waren, den Kopf, dann war er verschwunden.
Hamlet wurde von Angst und Wut überwältigt. Er war so außer sich, dass seine Hinterläufe zitterten und er ein ängstliches Knurren ausstieß, als Knut zurückkehrte. Der Tierpfleger hatte offenbar in der Nähe gewartet und den Zoodirektor belauscht. Mit hängenden Schultern trat er auf Hamlet zu.
»Armer Hamlet«, seufzte Knut und strich dem Wolf durch das Gitter übers Fell. »Müller ist so grausam! Aber ich kann nichts für dich tun. Tut mir wirklich leid. Mach‘s gut, alter Junge.«
Hamlet meinte, eine Träne in den Augen des Tierpflegers schimmern zu sehen. Dann wandte Knut sich ab und schlurfte aus dem Gehege. Für heute schloss der Zoo seine Pforten.
Im nächsten Gehege quer über den Weg regte sich ein riesiger Fellberg. »Oh Mann, Hammi«, sagte Hamlets bester Freund, der Gorilla Barnabas. »Das klingt aber gar nicht gut, was der Knut da sagt. Sieht aus, als würde Müller es wirklich ernst meinen. Ich dachte ja erst, der macht bloß Spaß.«
»Spaß? Das war bestimmt kein Spaß!« Die Verzweiflung schnürte Hamlet die Kehle zu. »Müllers jüngste Tochter wird bald sechzehn. Und du weißt genau, was passiert ist, als seine anderen Töchter sechzehn wurden.«
Barnabas wusste es. Zwei Mal schon waren Tiere aus dem Zoo verschwunden: ein Eisbär und ein Tiger. Einfach so, spurlos. Und jedes Mal war eine von Müllers Töchtern kurz darauf mit einem Pelzmantel herumgelaufen, den sie zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte: die eine mit einem Eisbärpelz, die andere mit einem Tigerpelz.
»Müllers Tochter stand in den letzten Wochen immer wieder vor meinem Käfig und hat mich angestarrt. Nein, eigentlich nicht mich, sondern mein Fell. Sie hatte ganz glänzende Augen dabei. Und den gleichen gierigen Geruch wie ihr Vater. Ich hab es immer geahnt, Barnabas: Eines Tages werde ich als Pelzmantel enden. Jetzt ist es also so weit.«
»Aber vielleicht überlegt Müller sich das noch mal anders und kauft einen Kunstpelz. Oder Knut hilft dir. Der mag dich doch. Vielleicht unternimmt er was. Meinst du nicht?«
Hamlet wurde wütend. »Quatsch! Er ist ein Wärter, Barni! Damit ist die Sache ja wohl klar. Er hätte mich längst befreien können, wenn er gewollt hätte. Stattdessen überlässt er mich meinem Schicksal. Er ist kaum besser als Müller. Menschen sind alle gleich.«
»Ach, Quatsch, der tut auch nur, was er tun muss. Weil er sonst seinen Job verliert.«
»Barnabas, du verstehst die Menschen einfach zu gut. Dabei haben sie dich aus deiner Heimat entführt und in einen Käfig gesperrt.«
»Und du verstehst sie immer noch nicht, Hammi. Dabei bist du hier geboren worden. Dein ganzes Leben hast du im Zoo unter Menschen verbracht.«
Hamlet senkte den Kopf. »Ja, ich weiß. Aber das ist ja morgen vorbei.«
»Ist es nicht«, widersprach der Gorilla. »Jedenfalls nicht, wenn du von hier abhaust.«
Aber Hamlet war nicht nach aufmunternden Worten zumute. »Und wo soll ich dann hin? Ich kann mich ja schlecht hier im Zoo verstecken.«
Barnabas sah Hamlet ruhig an. »Du musst natürlich raus aus dem Zoo. Und dann musst du das Wilde Pack suchen.«
»Das Wilde Pack!« Hamlet hätte am liebsten laut aufgeheult. »Fängst du schon wieder damit an, Barnabas? Das Wilde Pack ist eine schöne Geschichte. Aber auch nicht mehr. Noch nie hat irgendein Tier dieses Wilde Pack zu Gesicht bekommen.«
Barnabas streckte eine seiner Pranken aus, als wollte er Hamlet streicheln. »Hammi«, sagte er leise. »Das Wilde Pack gibt es wirklich! Es sind Tiere, die an einem Geheimversteck hier in der Stadt leben. Sie sind vor den Menschen geflüchtet und haben sich zusammengetan. Wer das Wilde Pack findet, der wird von ihm aufgenommen. Dort gibt es keine Menschen. Und keine Käfige. Dafür haben die Tiere dort immer genug zu trinken und zu essen, nur die feinsten Sachen! Und es ist warm und schön da, sie leben in einem Paradies! Du musst das Wilde Pack nur finden, dann bist du gerettet!«
Für einen Augenblick wurde Hamlet ganz leicht ums Herz. »Wenn es nur wahr wäre«, murmelte er. »Wenn ich aus dem Zoo entkommen und das Wilde Pack finden würde … dann müsste ich vielleicht nicht sterben.« Hamlets Blick fiel auf die Gitterstäbe vor ihm. »Aber ich stecke ja in diesem Käfig fest. Und hier komme ich auch nicht raus. Knut wird mir nicht helfen und auch sonst niemand.«
Barnabas kicherte, was in etwa so klang wie die Brandung an einem Kieselstrand. »Ach, Hammi, das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Vielleicht hast du ja recht mit Knut, aber meinst du echt, dass ich dich im Stich lasse?«
Hamlet warf dem Gorilla einen traurigen Blick zu. »Das ist wirklich nett von dir, aber ich wüsste nicht, wie du mich hier herausholen könntest.«
Barnabas zeigte seine spitzen Reißzähne, als er grinste. »Ich schon. Guck mal!« Er sprang zum nächsten Ast seines Kletterbaums hinauf, der unter dem Gewicht des Gorillas ächzte und knackte, hangelte sich in Windeseile nach oben und schwang sich auf ein Betonpodest. Das Podest war so hoch, dass die Wärter niemals dorthin kamen. Es wurde auch nie gereinigt. Zum Glück. Denn erstens mochte Barnabas den Geruch von Sauberkeit nicht. Und zweitens hatte so noch niemand sein Geheimversteck entdeckt: einen alten Fressnapf, unter dem er seine größten Schätze aufbewahrte. Eine goldene Armbanduhr, die einem dicken, schwitzenden Mann mal vom Arm gerutscht war, nachdem Barnabas ihn erschreckt hatte. Eine Packung Gummibärchen, die Barnabas schon seit Monaten aufbewahrte. Barnabas liebte Gummibärchen. Barnabas liebte eigentlich alles, was man essen konnte. Aber Gummibärchen liebte er so sehr, dass er sie für einen ganz besonderen Tag aufgehoben hatte. Und dann waren da noch zwei kleine, gefiederte Pfeile, beide nicht größer als sein kleiner Finger. Triumphierend hielt er sie hoch.
»Was ist denn das?«, wollte Hamlet wissen.
»Das sind Dartpfeile. Man kann sie werfen.«
»Ich kann mir schon denken, wonach die Menschen damit werfen«, knurrte Hamlet.
Barnabas schüttelte seinen massigen Kopf. »Du schätzt die Menschen völlig falsch ein, Hammi. Das ist ein Spiel bei denen.«
»Ein Spiel? Es ist ein Spiel, diese Pfeile nach dir zu werfen? Gib’s doch zu, Barni, genau das haben sie mit dir gemacht, oder?«
Barnabas senkte den Blick. »Jaaaa … schon … aber sie haben ja gar nicht getroffen.« Er lachte schnaubend. »Und selbst wenn, glaubst du, diese kleinen Dinger tun weh?«
»Aber was willst du denn nun eigentlich damit? Willst du sie Müller in den Hintern jagen?«
Barnabas’ Lachen steigerte sich zu einem Brüllen, bei dem jeder Zoobesucher ängstlich ein paar Schritte zurückgewichen wäre. »In den Hintern jagen! Der war gut, Hammi, der war echt gut! In den Hintern jagen! Gar keine schlechte Idee! Das sollte ich vielleicht machen. Aber ich dachte an was anderes: Müller wird bestimmt mit seinem Betäubungsgewehr kommen. Wenn dich so ein Betäubungspfeil trifft, dann schläfst du sofort ein und bist nicht mehr gefährlich für ihn. So hat er mich damals ja auch in Afrika gefangen, als ich noch klein war. Aber jetzt kommt der Trick: Ich tausche die Betäubungspfeile einfach gegen die Dartpfeile aus.« Barnabas sah Hamlet begeistert an.
Der Wolf reagierte nicht.
»Ist doch super, oder?«
Hamlet wusste nicht, was er sagen sollte. »Das ist dein Plan? Das soll mir das Leben retten?« Barnabas’ Hilfsbereitschaft war rührend, aber Hamlet konnte sich kaum vorstellen, dass es irgendeinen Sinn hatte. »Wie willst du das denn machen? Du kommst doch niemals an das Betäubungsgewehr heran. Und was ist danach? Ich meine, das löst doch das Problem nicht! Müller wird den Irrtum sofort bemerken. Und dann muss ich sterben.«
Doch der Gorilla kicherte siegesgewiss. »Lass mich mal machen, Hammi! Lass mich mal machen!«
In der Nacht tat Hamlet kein Auge zu. Unruhig wanderte er in seinem Gehege auf und ab. Es war sternenklar und kühl. Normalerweise hätte er die frische Luft genossen und den Rufen der Hyänen und Stachelschweine gelauscht oder ein wenig den Mond angeheult, doch er musste immerzu an den nächsten Morgen denken. Barnabas’ Plan würde niemals klappen, er war einfach zu verrückt. In ein paar Stunden würde Hamlet ein Pelzmantel sein, und daran konnte auch sein bester Freund nichts ändern.
Der Morgen graute, die Hyänen wurden leiser, die anderen Tiere erwachten – und mit ihnen auch Zoodirektor Müller.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Müller sich wie ein Dieb an das Gehege heranschlich. Hamlet stellte sich schlafend, doch er hatte ein Auge geöffnet und beobachtete genau, was passierte.
Müller hatte seinen schwarzen Anzug gegen khakifarbene kurze Hosen getauscht. Auf dem Kopf trug er einen Tropenhelm. Er benahm sich, als wäre er auf Safari. In der rechten Hand trug er das Betäubungsgewehr! Hamlet konnte seine Aufregung wittern. In diesem Moment roch Müller kaum nach Mensch. Eher wie ein Raubtier auf der Jagd.