Der Medicus
Der Medicus (Filmausgabe)
Der Medicus von Saragossa
Die Erben des Medicus
Der Katalane
Der Rabbi
Der Diamant des Salomon
Sauks und Mesquakies leben noch heute in Tama, Iowa, auf Land, das ihnen gehört. Die ursprünglichen hundert Morgen Grundbesitz wurden allerdings beträchtlich erweitert. Heute leben etwa fünfhundertfünfundsiebzig Indianer – die wahren Eingeborenen Amerikas – auf etwa viertausendvierhundert Morgen an den Ufern des Iowa. Ich habe zusammen mit meiner Frau Lorraine Tama im Sommer 1987 besucht. Don Wanatee, der damalige Geschäftsführer des Stammesrates, und Leonard Young Bear, ein bekannter indianischer Künstler, beantworteten mit viel Geduld meine Fragen. Später waren Muriell Racehill, die gegenwärtige Geschäftsführerin, und Charlie Old Bear ähnlich aufgeschlossene Gesprächspartner.
Ich habe versucht, die Ereignisse während des Krieges des Schwarzen Falken geschichtlich so getreu wie möglich darzustellen. Der Kriegshäuptling mit dem Namen Schwarzer Falke (engl. Black Hawk – die wörtliche Übersetzung seines Sauk-Namens, Makatai-me-shekiakiak, lautet Black Sparrow Hawk, Schwarzer Sperber) war eine historische Gestalt. Auch der Schamane Wabokieshiek, Weiße Wolke, ist geschichtlich belegt. Im Buch allerdings entwickelt sich daraus ein fiktiver Charakter, nachdem er das Mädchen kennenlernt, das Makwa-ikwa, die Bärenfrau, werden soll.
Für das in diesem Buch benutzte Sauk- und Mesquakie-Vokabular habe ich frühe Veröffentlichungen der Abteilung für amerikanische Ethnologie des Smithsonian Institute zu Rate gezogen.
Die Anfangszeit der als Boston Dispensary bekannten Wohltätigkeitsorganisation entspricht im wesentlichen meiner Darstellung im Buch. Künstlerische Freiheit habe ich mir jedoch beim Aspekt der Entlohnung der Ärzte zugestanden. Obwohl die erwähnten Jahresgehälter authentisch sind, erhielten die Mediziner erst ab 1842 eine Entschädigung für ihre Dienste, also einige Jahre nachdem Rob J. im Buch die Armen versorgt. Bis dahin war die Arbeit bei der Boston Dispensary für angehende Mediziner eine Art unbezahlte Assistenzzeit. Die Zustände waren jedoch so schwierig, daß die jungen Ärzte rebellierten; zuerst verlangten sie eine Bezahlung, und dann weigerten sie sich, die Patienten in den Slums zu besuchen. So wurde aus der Boston Dispensary eine Ambulanz mit eigenen Räumen, die die Patienten aufsuchen konnten, wenn sie einen Arzt brauchten. Als ich mich in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren als Wissenschaftsredakteur des »Boston Herald« mit der Boston Dispensary beschäftigte, war aus ihr bereits ein etabliertes Krankenhaus mit Ambulanz geworden, das zusammen mit der Pratt Diagnostic Clinic, dem Floating Hospital for Infants and Children und der Tufts Medical School das Tufts-New England Medical Center bildete. 1965 entstanden aus diesen nur in lockerer administrativer Verbindung stehenden Einzelkrankenhäusern die bekannten New England Medical Center Hospitals. David W. Nathan, der ehemalige Archivar des Medical Center, und Kevin Richardson aus dem Büro für Öffentlichkeitsarbeit des Medical Center lieferten mir Informationen und historisches Material. Während der Arbeit an »Der Schamane« fand ich eine unerwartete Fülle von Hinweisen und Wissen in meiner nächsten Umgebung, und ich danke allen meinen engen Freunden, Nachbarn und den Bewohnern meiner Stadt.
Edward Gulick unterhielt sich mit mir über Pazifismus und erzählte mir von Elmira im Staate New York. Elizabeth Gulick klärte mich über die Gesellschaft der Freunde auf und überließ mir einige ihrer Veröffentlichungen über das Quäkertum. Don Buckloh, ein Umweltschützer beim amerikanischen Landwirtschaftsministerium, beantwortete meine Fragen über damalige Farmen im Mittelwesten. Seine Frau, Denise Jane Buckloh, die ehemalige Karmeliterin Sister Miriam of the Eucharist, führte mich in den katholischen Glauben und den Klosteralltag einer Nonne ein. Donald Fitzgerald lieh mir Nachschlagewerke und schenkte mir eine Kopie des Bürgerkriegstagebuchs seines Urgroßvaters John Fitzgerald, der mit sechzehn Jahren zu Fuß von Rowe, Massachusetts, über den Mohawk Trail ins fünfundzwanzig Meilen entfernte Greenfield ging, um sich zu den Unionstruppen zu melden. John Fitzgerald kämpfte bei den 27th Massachusetts Volunteers, bis er von den Konföderierten gefangengenommen wurde, und überlebte mehrere Gefangenenlager, darunter auch das in Andersonville.
Bei Theodore Bobetsky, einem Farmer, dessen Land an unseres grenzt, informierte ich mich über das Schlachten. Der Anwalt Stewart Eisenberg diskutierte mit mir das im 19. Jahrhundert von den Gerichten angewandte Kautionssystem, und Nina Heiser stellte mir ihre Bücher über eingeborene Amerikaner zur Verfügung. Walter A. Whitney jr. überließ mir die Kopie eines Briefes, den Addison Graves am 22. April 1862 an seinen Vater, Ebenezer Graves, in Ashfield, Massachusetts, schrieb. Der Brief ist ein Bericht über Addison Graves’ Erlebnisse als freiwilliger Sanitäter auf dem Krankenhausschiff War Eagle, das verwundete Unionssoldaten von Pittsburgh in Tennessee nach Cincinnati brachte. Dieser Bericht war die Grundlage für das entsprechende Kapitel des Buches, in dem Rob J. Cole als freiwilliger Arzt auf dem Krankenhausschiff War Hawk arbeitet.
Beverly Presley, für Karten und Geographie zuständige Bibliothekarin an der Clark University, berechnete für mich die Entfernungen, die das historische und das fiktive Schiff zurücklegten.
Die Altphilologische Fakultät am College of the Holy Cross half mir mit einigen Übersetzungen aus dem Lateinischen.
Dr. vet. Richard M. Jakowski, Professor für Pathologie am Tufts – New England Veterinary Medical Center in North Grafton, Massachusetts, beantwortete meine Fragen über die Anatomie von Hunden.
Ich danke der University of Massachusetts in Amherst, weil sie mir die Benutzung ihrer sämtlichen Bibliotheken gestattet hat, sowie Edla Holm von der interuniversitären Ausleihestelle dieser Universität.
Unterstützt haben mich weiterhin Richard J. Wolfe, Kurator für seltene Bücher und Manuskripte, und Joseph Garland, Bibliothekar an der Countway Medical Library. Bernard Wax von der American Jewish Historical Society an der Brandeis University lieferte mir Hinweise über die Company C des 82nd Illinois, die »jüdische Kompanie«.
Meine Quelle für das Jiddische war meine Schwiegermutter Dorothy Seay.
Im Sommer 1989 besuchte ich mit meiner Frau verschiedene Schlachtfelder des Bürgerkriegs. In Charlottesville gewährte mir Professor Ervin L Jordan jr., der Archivar der Alderman Library an der University of Virginia, die Gastfreundschaft dieser Bibliothek und lieferte mir Informationen über die Krankenhäuser der Konföderiertenarmee.
Während meiner Arbeit an diesem Buch gehörte Ann N. Lilly sowohl der Belegschaft der Forbes Library in Northampton als auch der des Western Massachusetts Regional Library System in Hadley, Massachusetts, an. Sie suchte oft Titel für mich heraus und brachte eigenhändig Bücher aus beiden Einrichtungen in unseren gemeinsamen Wohnort Ashfield. Ich danke auch Barbara Zalenski von der Belding Memorial Library in Ashfield und den Angestellten der Field Memorial Library in Conway, Massachusetts, für ihre Hilfe bei meinen Recherchen.
Die Planned Parenthood Federation of America schickte mir Material über die Herstellung und den Gebrauch von Kondomen im 19. Jahrhundert. Dr. Robert Cannon vom Center for Disease Control in Atlanta, Georgia, lieferte mir Hinweise über die Behandlung von Syphilis in der Zeit, in der meine Geschichte spielt, und die American Parkinson Disease Association stattete mich mit Material über das Parkinson-Syndrom aus.
William McDonald, Student der Metallurgie am Massachusetts Institute of Technology, informierte mich über die Metalle, die in der Zeit des Bürgerkriegs zur Instrumentenherstellung verwendet wurden.
Was ich Jason Geiger im drittletzten Kapitel über die Entwicklungen sagen lasse, die eingetreten wären, wenn Lincoln die Konföderierten sich ohne Krieg hätte abspalten lassen, basieren auf den Ansichten des verstorbenen Psychographen Gamaliel Bradford, wie er sie in seiner Biographie von Robert E. Lee formulierte.
Ich danke Dennis B. Gjerdingen, dem Direktor der Taubstummenschule Clarke School for the Deaf in Northampton, Massachusetts, weil er mir Zugang zu seiner Bibliothek und seinem Mitarbeiterteam gewährte. Ana D. Grist, die ehemalige Bibliothekarin an dieser Schule, gestattete mir, Bücher für oftmals lange Zeit auszuleihen. Vor allem danke ich aber Marjorie E. Magner, die dreiundvierzig Jahre lang taube Kinder unterrichtet hat. Ihr verdanke ich wertvolle Hinweise, und sie hat außerdem das Manuskript gelesen, um dessen Korrektheit in Fragen der Taubheit sicherzustellen.
Verschiedene Ärzte in Massachusetts haben mir großzügig Hilfe gewährt. Dr. Albert B. Giknis, der Leichenbeschauer des Franklin County, Massachusetts, hat mit mir ausführlich über Vergewaltigung und Mord gesprochen und mir seine Pathologiebücher geliehen. Dr. Joel F. Moorhead, Direktor der Ambulanz am Spaulding Hospital und Dozent für Rehabilitationsmedizin an der Tufts Medical School, hat meine Fragen über Verletzungen und Krankheiten beantwortet. Dr. Wolfgang G. Gilliar, Facharzt für Chiropraktik und Programmdirektor für Rehabilitationsmedizin am Greenery Rehabilitation Center sowie Dozent für Rehabilitationsmedizin an der Tufts Medical School, hat sich mit mir über Physiotherapie unterhalten. Mein Hausarzt Dr. Barry E. Poret hat mir sein Fachwissen und seine medizinische Bibliothek zur Verfügung gestellt. Dr. Stuart R. Jaffee, der in Worcester, Massachusetts, am St. Vincent Hospital Chefarzt für Urologie ist und an der University of Massachusetts Medical School Urologie lehrt, hat meine Fragen zur Blasensteinbildung beantwortet und das Manuskript auf medizinische Korrektheit hin überprüft.
Ich danke meinem Agenten Eugene H. Winick von McIntosh & Otis, Inc. für seine Freundschaft und seine Begeisterung, und Dr. Karl H. Blessing, Geschäftsführer des Droemer Knaur Verlags in München. »Der Schamane« ist das zweite Buch einer geplanten Trilogie über die Ärztedynastie der Coles. Dr. Blessing hat von Anfang an auf den Erfolg des Eröffnungsbandes der Trilogie, »Der Medicus«, vertraut und damit geholfen, es in Deutschland und anderen Ländern zu einem Bestseller zu machen. Er hat mich während der Arbeit an »Der Schamane« sehr ermutigt.
In vieler Hinsicht ist »Der Schamane« ein Familienprojekt. Meine Tochter Lise Gordon ist eine hervorragende Lektorin, die das Manuskript redigierte, bevor es an die Verlage ging. Sie arbeitet mit großer Akribie, ja sogar Härte gegen ihren eigenen Vater und ist wunderbar befeuernd. Meine Frau Lorraine half mir bei der Erstellung des Manuskripts und hat mir wie immer ihre Liebe und ihre uneingeschränkte Unterstützung geschenkt. Meine Tochter Jamie Beth Gordon, eine Fotografin, hat mich die Scheu vor der Kamera vergessen lassen, als sie die Aufnahme von mir, die für den Buchumschlag verwendet wurde, machte. Ihre Ermunterungen und die Anrufe meines entfernt lebenden Sohnes Michael Seay Gordon kamen immer dann, wenn ich seinen Zuspruch am dringendsten brauchte.
Diese vier Menschen sind das Wichtigste in meinem Leben, und sie haben meine Freude an der Fertigstellung dieses Buches mindestens verzehnfacht.
Ashfield, Massachusetts,
20. November 1991
Noah Gordon
Challa | Sabbatbrot |
Cholent | jüd. Eintopfgericht |
coska | indian. männliches Glied |
hedonoso-te | indian. Langhaus aus geflochtenen Ästen |
izze | indian. Talisman aus gefärbten Sehnen |
Jichuss | jüd. edle Abstammung, Adel |
Jom Kippur | jüd. Versöhnungstag |
kalumet | indian. Friedenspfeife |
Kohanim | jüd. Priester |
Masesibowi | indian. Mississippi |
mee-shome | indian. Medizinerbündel |
Mide’wiwin | Rat der Algonquin-Medizinmänner |
Mizwa | jüd. Gebote |
mookamonik | indian. die Weißen |
Pessach | jüd. Fest zum Gedenken an den Auszug aus Ägypten |
pucca-maw | indian. Kriegskeule |
Rosch-ha-Schana | jüd. Neujahrsfest |
Schadchan | jüd. Heiratsvermittler |
Schul | jüd. Lehr- und Bethaus |
Seder | jüd. auch: häusliche Feier am Pessach-Abend |
Zadik | jüd. frommer Mann, Gerechter |
Die Spirit of Des Moines schickte ihr Signal voraus, als sie sich in der morgendlichen Kühle dem Bahnhof von Cincinnati näherte. Shaman spürte zuerst ein schwaches, kaum wahrnehmbares Vibrieren des hölzernen Bahnsteigs, dann ein deutliches Zittern und schließlich eine kräftige Erschütterung. Plötzlich war das Ungetüm da mit seinem Geruch nach heißem, öligem Metall und Dampf. Im fahlgrauen Zwielicht brauste es auf ihn zu, Messingarmaturen glänzten auf dem schwarzen Drachenkörper, mächtige Kolbenarme bewegten sich rhythmisch, und eine helle Rauchwolke stieg himmelwärts wie die Fontäne eines Wals und löste sich schließlich in zerfasernde Fetzen auf, als die Lokomotive langsam zum Stehen kam.
Im dritten Waggon waren nur noch wenige der harten, hölzernen Sitzplätze frei, und er nahm auf einem von ihnen Platz, während der Zug erzitterte und wieder anfuhr. Züge waren noch immer etwas Neues, aber sie bedeuteten auch, daß man mit zu vielen Leuten reisen mußte. Er zog es vor, allein und gedankenverloren auf einem Pferd zu reiten. Der lange Waggon war brechend voll mit Soldaten, Handlungsreisenden, Farmern und Frauen, von denen einige kleine Kinder dabeihatten. Das Kindergeschrei störte ihn überhaupt nicht, aber der Waggon roch nach einer Mischung aus säuerlich stinkenden Socken, dreckigen Windeln, schlechter Verdauung, verschwitzten, ungewaschenen Körpern und dem Mief von Zigaretten und Pfeifen. Das Fenster schien als Kraftprobe gedacht zu sein, aber Shaman war groß und stark, und es gelang ihm, es zu öffnen, was sich allerdings schnell als Fehler herausstellen sollte. Die mächtige Lokomotive drei Waggons weiter vorne stieß nicht nur Rauch, sondern auch ein Gemisch aus Ruß, glimmenden oder erloschenen Kohlestückchen und Asche aus, das der Fahrtwind nach hinten und zum Teil auch durch das offene Fenster in das Abteil wehte. Bald hatte ein glühender Funke in Shamans neues Jackett ein Loch gebrannt. Hustend und verärgert murmelnd stieß er das Fenster wieder zu und klopfte seine Jacke ab, bis der Funke erloschen war.
Eine Frau auf der anderen Seite des Mittelgangs sah ihm zu und lächelte. Sie war etwa zehn Jahre älter als er und modisch, aber für die Reise praktisch gekleidet. Ihr graues Wollkostüm hatte einen lose fallenden Rock ohne Reifen und war von Paspeln aus blauem Leinen eingefaßt, die das Blond ihrer Haare betonten. Die Augen der beiden trafen sich einen Augenblick lang, doch dann konzentrierte sich die Frau wieder auf das Handarbeitsschiffchen in ihrem Schoß. Shaman wandte sich ohne Bedauern von ihr ab; die Trauer war nicht die rechte Zeit für das Spiel zwischen Männern und Frauen.
Er hatte sich ein wichtiges Buch zum Lesen mitgenommen, doch sosehr er auch versuchte, sich darin zu vertiefen, seine Gedanken wanderten immer wieder zu Pa.
Der Schaffner hatte sich im Mittelgang bis zur Bank hinter Shaman vorgearbeitet; doch er bemerkte ihn erst, als der Mann ihm die Hand auf die Schulter legte. Er schreckte hoch und starrte in ein gerötetes Gesicht. Der Schnauzbart des Schaffners endete in zwei gewachsten Spitzen, und sein ergrauender rötlicher Kinn- und Backenbart gefiel Shaman, weil er den Mund frei ließ. »Sind wohl taub«, sagte der Mann gutmütig. »Ich hab’ Sie schon dreimal nach Ihrer Fahrkarte gefragt, Sir.«
Shaman lächelte ihn ohne Verlegenheit an, denn so etwas passierte ihm immer und immer wieder. »Ja, ich bin taub«, sagte er und gab dem Schaffner die Fahrkarte.
Shaman sah, wie sich vor dem Fenster die Prärie ausbreitete, doch der Anblick fesselte ihn nicht. Die Landschaft hatte etwas Monotones, und außerdem raste der Zug so schnell an ihr vorbei, daß einem die Einzelheiten kaum ins Bewußtsein dringen konnten. Am besten reiste man zu Fuß oder zu Pferd – wenn man dann an ein hübsches Fleckchen kam und hungrig war oder pinkeln mußte, konnte man einfach stehenbleiben und sein Bedürfnis befriedigen. Kam ein Zug an ein solches Fleckchen, rauschte es nur verschwommen an einem vorbei.
Das Buch, das er dabeihatte, hieß »Lazarett Skizzen« und stammte aus der Feder einer gewissen Louisa Alcott aus Massachusetts, die seit Beginn des Krieges Verwundete pflegte und deren Schilderungen des Leids und der entsetzlichen Zustände in den Lazaretten in Medizinerkreisen für große Aufregung gesorgt hatten. Als er jetzt darin blätterte, wurde er noch trauriger, denn er mußte dabei daran denken, welche Qualen sein Bruder Bigger durchleiden mochte, der als Kundschafter der Konföderierten vermißt war, wenn er nicht sogar schon zu den namenlosen Gefallenen gehörte. Diese Gedanken führten ihn auf dem Pfad tränenloser Trauer zurück zu seinem Vater, und er sah sich verzweifelt um.
Weiter vorne im Waggon fing ein magerer kleiner Junge an, sich zu übergeben, und seine Mutter, die bleich zwischen Gepäckstapeln und drei weiteren Kleinkindern saß, hielt hastig seinen Kopf, damit er nicht ihre Habseligkeiten bekleckerte. Als Shaman bei ihr war, hatte sie bereits begonnen, den Unrat aufzuwischen.
Er sprach sie an.
»Kann ich ihm vielleicht helfen? Ich bin Arzt.«
»Wir haben kein Geld, um zu bezahlen.«
Er tat den Einwand mit einer Handbewegung ab. Der Junge schwitzte nach dem krampfartigen Erbrechen, doch seine Haut fühlte sich kühl an. Seine Drüsen waren nicht geschwollen, und die Augen wirkten einigermaßen klar.
Sie sei Mrs. Jonathan Sperber, sagte die Frau auf seine Fragen, aus Lima in Ohio und auf dem Weg zu ihrem Gatten, der zusammen mit anderen Quäkern in Springdale, fünfzig Meilen westlich von Davenport, eine Siedlung errichte. Der kleine Patient hieß Lester und war acht Jahre alt. Er sah zwar noch blaß aus, doch die Farbe kehrte bereits in sein Gesicht zurück. Er schien also nicht ernstlich krank zu sein.
»Was hat er gegessen?«
Aus einem schmierigen Mehlsack zog sie widerstrebend eine hausgemachte Wurst. Sie war grün, und Shamans Nase bestätigte, was seine Augen ihm sagten. Mein Gott!
»Iih … Haben Sie die allen gegeben?«
Sie nickte, und Shaman sah die Kleinen angesichts ihrer Verdauung mit Bewunderung an.
»Die dürfen Sie ihnen nicht mehr geben! Die ist ja total verdorben.«
Ihr Mund wurde ein schmaler Strich. »So verdorben kann sie nun auch wieder nicht sein. Sie ist gut gepökelt, wir haben schon Schlimmeres gegessen. Wenn sie wirklich so schlecht ist, wie Sie behaupten, müßten die anderen ebenfalls krank sein und ich auch.«
Er kannte genug Siedler der verschiedensten Bekenntnisse, um zu wissen, was sie damit meinte: Die Wurst ist alles, was wir haben, entweder essen wir die verdorbene Wurst oder gar nichts. Er nickte und ging zu seinem Platz zurück. Sein Proviant steckte in einer aus Seiten des »Cincinnati Commercial« gedrehten Tüte: drei dicke Doppelscheiben dunkles Brot nach deutscher Art mit magerem Rindfleisch dazwischen, ein Erdbeertörtchen und zwei Äpfel, mit denen er kurz jonglierte, um die Kinder zum Lachen zu bringen. Als er Mrs. Sperber das Essen anbot, öffnete sie den Mund, als wolle sie protestieren, schloß ihn aber schnell wieder. Die Frau eines Siedlers braucht eine vernünftige Portion Realismus.
»Wir sind Ihnen sehr verbunden, mein Freund«, sagte sie.
Die blonde Frau auf der anderen Seite des Gangs sah wieder zu ihm herüber, doch Shaman versuchte sich erneut auf das Buch zu konzentrieren, da kam der Schaffner zurück. »Sagen Sie mal, ich kenn’ Sie doch, ist mir grade erst gekommen. Doc Coles Sohn aus Holden’s Crossing, oder?«
»Ja.« Shaman wußte, daß er aufgrund seiner Taubheit erkannt worden war.
»An mich erinnern Sie sich wohl nicht mehr? Frank Fletcher? Hab’ draußen an der Hooppole Road Mais angebaut. Ihr Daddy hat sich über sechs Jahre lang um uns sieben gekümmert, bis ich dann verkauft habe und zur Eisenbahn gegangen bin. Wir sind nach East Moline gezogen. Ich weiß noch, wie Sie als Knirps manchmal mitgekommen sind. Hinten auf dem Pferd haben Sie sich festgeklammert, als wär’s ums Leben gegangen.« Hausbesuche waren für seinen Vater die einzige Möglichkeit gewesen, mit seinen Söhnen zusammenzusein, und den Jungen hatte es sehr gefallen, ihn bei diesen Ausritten zu begleiten. »Jetzt erinnere ich mich an Sie«, sagte er zu Fletcher, »und an Ihre Farm. Ein weißgestrichenes Holzhaus, daneben der rote Stall mit Blechdach und die alte Torfhütte, die Sie als Lagerraum benutzt haben.«
»Ja, genauso war’s. Manchmal sind Sie mitgekommen, manchmal Ihr Bruder – wie heißt er gleich wieder?«
»Sie meinen Bigger, meinen Bruder Alex.«
»Ja. Wo steckt der jetzt?«
»Beim Militär.« Er sagte nicht, in welcher Armee.
»Natürlich. Und Sie werden wohl Pfarrer?« fragte der Schaffner mit einem Blick auf den schwarzen Anzug, der vierundzwanzig Stunden zuvor noch auf einem Verkaufsständer bei Seligman’s in Cincinnati gehangen hatte.
»Nein, ich bin auch Arzt.«
»Mein Gott. Sie sind doch noch gar nicht alt genug.«
Shaman spürte, daß seine Lippen sich verkrampften, denn mit seiner Jugend kam er schwerer zurecht als mit seiner Taubheit. »Ich bin alt genug. Hab’ in einem Krankenhaus in Ohio gearbeitet. Mr. Fletcher … mein Vater ist am Donnerstag gestorben.«
Fletchers Lächeln verschwand so langsam und vollständig, daß kein Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Trauer blieb. »Ach. Wir verlieren doch immer die Besten, nicht? Im Krieg?«
»Er war schon wieder zu Hause. Im Telegramm stand Typhus.« Der Schaffner schüttelte den Kopf. »Sagen Sie doch bitte Ihrer Mutter, daß sie eine ganze Menge Leute in ihre Gebete einschließen werden.«
Shaman dankte ihm und erwiderte, das werde sie sehr freuen. »Kommen eigentlich an einer der nächsten Haltestellen noch Imbißverkäufer in den Zug?« fragte er dann.
»Nein. Hier bringt jeder seine Verpflegung mit.« Der Eisenbahner sah ihn besorgt an. »Kaufen können Sie sich erst etwas, wenn Sie in Kankakee umsteigen. Mein Gott, hat man Ihnen das denn nicht gesagt, als Sie die Fahrkarte gekauft haben?«
»Doch, doch. Ich brauche ja nichts. Es hat mich nur interessiert.«
Der Schaffner tippte mit dem Finger an sein Mützenschild und ging. Fast im gleichen Augenblick stand die Frau auf der anderen Seite des Mittelganges auf, um sich nach einem umfänglichen Eichenspankorb auf der Gepäckablage zu strecken und dabei von der Brust bis zu den Schenkeln wohlgeformte Kurven zu präsentieren. Shaman ging hinüber und hob den Korb für sie herunter.
Sie lächelte ihn an. »Sie müssen von mir etwas nehmen«, sagte sie. »Wie Sie sehen, habe ich genug für eine ganze Armee.« Er wollte ablehnen, mußte aber zugeben, daß ihre Vorräte wirklich für eine Kompanie reichten. Bald darauf aß er Brathuhn, Gerstenmehlkuchen mit Kürbis und Kartoffelpie. Mr. Fletcher, der mit einem zerdrückten Schinkenbrot zurückkehrte, das er von einem Fahrgast für Shaman erbettelt hatte, grinste und erklärte, Dr. Cole sei im Proviantrequirieren besser als die Potomac-Army. Dann ging er schnell wieder, offensichtlich um das Brot selber zu essen.
Shaman aß mehr, als er redete, und der Appetit angesichts seiner Trauer wunderte und beschämte ihn. Sie redete mehr, als sie aß. Ihr Name war Martha McDonald. Ihr Gatte Lyman war in Rock Island Vertreter für die American Farm Implements Co. Sie drückte ihre Anteilnahme an Shamans Verlust aus. Während sie ihm das Essen reichte, berührten sich ihre Knie, eine angenehme Vertraulichkeit. Er hatte schon sehr früh festgestellt, daß viele Frauen von seiner Taubheit abgestoßen, viele aber auch von ihr erregt wurden. Vielleicht hing letzteres mit dem verlängerten Augenkontakt zusammen, denn während sie sprachen, schaute er ihnen ins Gesicht – eine reine Notwendigkeit, da er von ihren Lippen ablesen mußte, was sie sagten.
Er machte sich keine Illusionen über sein Aussehen. Auch wenn man ihn nicht gerade schön nennen konnte, war er doch groß, ohne tolpatschig zu wirken, er verströmte die Energie junger Männlichkeit und ausgezeichneter Gesundheit, und seine ebenmäßigen Gesichtszüge und die klaren blauen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte, ließen ihn zumindest anziehend erscheinen. Aber all das war im Zusammenhang mit Mrs. McDonald bedeutungslos. Er hatte es sich zur Regel gemacht, sich nie mit einer verheirateten Frau einzulassen, und diese Regel war so unumstößlich wie das Händewaschen vor und nach einer Operation. Deshalb dankte er Mrs. McDonald für das gute Essen und ging, sobald der Rückzug nicht mehr verletzend wirken konnte, zu seinem Platz zurück.
Den Großteil des Nachmittags verbrachte er über seinem Buch. Louisa Alcott berichtete von Operationen, die ohne schmerzbetäubende Mittel durchgeführt wurden, und von Männern, die an infizierten Wunden starben, weil die Lazarette nach Dreck und Verwesung stanken. Tod und Leid hatten ihn schon immer traurig gestimmt, überflüssiger Schmerz und unnötiges Sterben aber machten ihn wütend. Am Spätnachmittag kam Mr. Fletcher noch einmal vorbei und verkündete, der Zug bewege sich mit einer Geschwindigkeit von fünfundvierzig Meilen pro Stunde vorwärts, dreimal so schnell wie ein Pferd, und das ohne zu ermüden. Genauso hatte ein Telegramm Shaman, schon am Morgen nachdem es geschehen war, vom Tod des Vaters unterrichtet. Er überlegte sich verwundert, daß die Welt in eine Ära schneller Transportmittel und noch schnellerer Kommunikation trieb, in eine Ära neuer Krankenhäuser und Behandlungsmethoden, einer Chirurgie ohne Schmerzen entgegen. Doch da ihn solch erhabene Gedanken müde machten, zog er heimlich Martha McDonald mit den Augen aus, um, wenn auch feige, eine angenehme halbe Stunde damit zu verbringen, sich eine medizinische Untersuchung vorzustellen, die in einer Verführung endete – die ungefährlichste und harmloseste Verletzung des Hippokratischen Eids.
Die Ablenkung hielt nicht lange vor. Seine Gedanken landeten immer wieder bei Pa. Je näher er der Heimat kam, desto schwieriger fiel es ihm, sich der Realität zu stellen. Tränen kitzelten hinter seinen Lidern. Ein einundzwanzig Jahre alter Arzt durfte in der Öffentlichkeit nicht weinen. Pa … Die Nacht brach schwarz herein, schon Stunden bevor sie in Kankakee umstiegen. Schließlich und, wie ihm schien, viel zu früh – kaum elf Stunden nachdem sie Cincinnati verlassen hatten – verkündete Mr. Fletcher das Ziel der Reise: »Ro-o-ck I-i-i-sla-a and!«
Der Bahnhof war eine Oase des Lichts. Beim Aussteigen entdeckte Shaman sofort Alden, der unter einer Glaslampe auf ihn wartete. Der Knecht klopfte ihn auf den Arm, schenkte ihm ein trauriges Lächeln und begrüßte ihn mit der vertrauten Wendung: »Willkommen zu Hause, jiggety-jig!«
»Hallo, Alden!« Sie blieben einen Augenblick unter dem Licht stehen, damit sie sich unterhalten konnten. »Wie geht’s ihr?«
»Ach, du weißt schon, dreckig. Ist ihr noch gar nicht richtig zu Bewußtsein gekommen. Hatte ja noch kaum Gelegenheit, allein zu sein, bei all dem Kirchenvolk im Haus und diesem Reverend Blackmer, der ihr den ganzen Tag nicht mehr von der Seite geht.«
Shaman nickte. Der unbeugsame Glaube der Mutter war für sie alle eine Prüfung, aber wenn die First Baptist Church ihr in ihrem Kummer helfen konnte, wollte er dankbar dafür sein. Alden hatte richtig vermutet, daß Shaman nur mit einer Tasche reisen würde, und deshalb das einachsige Gig genommen, das im Gegensatz zum zweiachsigen Buckboard eine gute Federung hatte. Das Pferd war Boss, ein grauer Wallach, den sein Vater sehr gemocht hatte. Shaman streichelte ihm die Nase, bevor er auf den Sitz kletterte. Unterwegs war eine Unterhaltung unmöglich, denn in der Dunkelheit konnte er Aldens Gesicht nicht sehen. Der Knecht roch wie früher: nach Heu und Tabak, ungesponnener Wolle und Whiskey. Auf der Holzbrücke überquerten sie den Rocky River und folgten dann im Trab der Straße nach Nordosten. Das Land zu beiden Seiten konnte Shaman nicht sehen, doch er kannte jeden Baum und jeden Stein. Stellenweise war die Straße nur schwer zu befahren, weil sie das Schmelzwasser in einen Schlammpfad verwandelt hatte. Nach einer Stunde Fahrt hielt Alden an, wie er es immer tat, um das Pferd verschnaufen zu lassen. Er und Shaman stiegen aus, pinkelten auf Hans Buckmans feuchte untere Weide und vertraten sich ein paar Minuten lang die Beine. Bald darauf überquerten sie die schmale Brücke über den Fluß auf ihrem eigenen Anwesen, und als das Haus und der Stall in Sicht kamen, rutschte Shaman zum ersten Mal das Herz in die Hose. Bis dahin war alles wie immer gewesen, Alden hatte ihn abgeholt und nach Hause gefahren. Doch wenn sie jetzt ankamen, würde Pa nicht dasein. Nie mehr.
Shaman ging nicht sofort ins Haus. Er half Alden beim Ausspannen und folgte ihm in den Stall, wo er die Öllaterne anzündete, damit sie sich unterhalten konnten. Alden griff ins Heu und zog eine Flasche hervor, die noch etwa zu einem Drittel voll war, doch Shaman schüttelte den Kopf.
»Bist du da oben in Ohio vielleicht Abstinenzler geworden?«
»Nein.« Es war kompliziert. Er war nur ein schwacher Trinker wie alle Coles, entscheidender war jedoch, daß sein Vater ihm schon vor langer Zeit erklärt hatte, der Alkohol vertreibe jene geheimnisvolle Gabe. »Aber ich trinke nur selten.«
»Ja, du bist wie er. Aber heute abend würde es dir nicht schaden.«
»Ich will nicht, daß sie etwas riecht. Ich hab’ schon genug Schwierigkeiten mit ihr und möchte nicht auch noch darüber streiten müssen. Aber laß die Flasche bitte hier! Ich hol’ mir dann einen Schluck auf dem Weg zum Abort, wenn sie im Bett ist.«
Alden nickte. »Du mußt ein wenig Geduld mit ihr haben«, sagte er zögernd. »Ich weiß, daß sie schwierig sein kann, aber …« Er erstarrte vor Verblüffung, als Shaman auf ihn zukam und die Arme um ihn legte. Das gehörte nicht zu ihrer Beziehung; Männer umarmten einander nicht. Verlegen klopfte ihm der Knecht auf die Schulter. Einen Augenblick später wünschte Shaman ihm gute Nacht, blies die Laterne aus und ging über den dunklen Hof zur Küche, wo, nachdem alle anderen gegangen waren, seine Mutter auf ihn wartete.