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Frau Podolski machte sich stadtfein, wie sie es ausdrückte. Die vier Kostgänger saßen noch in der Küche rund um den Frühstückstisch.
»Wir werden uns diesen 19. Januar 1919 merken müssen«, sagte Robert, ein blonder, untersetzter Mann von etwa dreißig Jahren.
»Aber sicher«, stimmte Frau Podolski zu. »Zum ersten Male dürfen wir Frauen in diesem Jahr zur Wahl gehen.«
»Ich dachte mehr an das Rosinenweißbrot, das Sie gebacken haben«, versuchte Robert sie zu necken.
»Es hat herrlich geschmeckt«, schwärmte Bruno. »Seit Jahren habe ich kein Rosinenbrot mehr gegessen.«
»Rundherum hungern alle, leben von der Hand in den Mund, und Frau Podolski kann Rosinenbrot auf den Tisch stellen«, wunderte sich Eduard.
Frau Podolski freute sich offenbar über sein Lob. Eduard Pietz war nämlich ein wortkarger Geselle. Er hatte in seinem zweiten Lehrjahr einen Arbeitsunfall gehabt und war gehbehindert, kaum merklich zwar, aber zum Militär hatten sie ihn nicht geholt.
»Eure Frau Podolski hat für so etwas die richtige Nase«, prahlte die Zimmerwirtin. »Die weiß, wo es langgehen soll.« Sie holte tief Atem und fügte hinzu: »Anders als ihr Radikalinskis. Viel Geschrei und nichts dahinter.«
»Streichen Sie auf dem Wahlzettel alles durch, Frau Podolski, und schreiben Sie drauf: ›Die neue KPD!‹ Sie werden sehen, wir krempeln den Staat um«, riet Robert ihr. »Die Diktatur des Proletariats …«
»So weit kommt es noch«, unterbrach Frau Podolski ihn. »Ich bin für eine Republik. Keiner soll mir diktieren. Kein Kaiser und kein Proletariat. Mehrheiten sollen entscheiden.«
»Lass sie doch, Robert«, sagte Eduard. »Sie wählt, wenn ich das richtig sehe, sowieso das Zentrum.«
»Nee, Junge. Katholisch bin ich zwar, aber ob die, die da ganz vorn in den Kirchenbänken sitzen, ob die wissen, wie es uns Arbeitern zumute ist? Mein Mann hat schon die Sozis gewählt, als ihr noch eure Windeln voll gemacht habt. Vor Verdun ist er im Juni 1916 gefallen. Ich übernehme seine Stimme.«
Sie zeigte mit der ausgestreckten Hand auf ein braunes Soldatenfoto an der Wand, an dessen Rahmenecke sie ein schwarzes Bändchen befestigt hatte.
»Ich denke, ich wähle den Ebert.«
»Friedrich Ebert hat so eine schöne Frisur und einen treuen Seehundsblick«, lachte Paul Bienmann. »Auf den fliegen die Frauen.«
»Ebert schafft Ruhe und Ordnung, du Milchbart. Und überhaupt, die Wahl ist schließlich geheim. Was geht es euch an, wohin ich mein Kreuzchen male.« Sie schob davon.
»Aufgetakelte alte Fregatte«, schimpfte Eduard hinter ihr her.
»Lasst sie«, lachte Paul. »So altmodisch sie auch ist, die Fregatte schießt aus allen Rohren.«
Für Eduard schien es kein Spaß zu sein. »So Leute wie die Podolski, die sorgen dafür, dass alles beim Alten bleibt. Die Kommissköppe, die Richter, die Lehrer, die Beamten, alles bleibt wie vor dem Krieg. Nur, wo sonst der Kaiser saß, da setzen sich jetzt andere hin. Meint ihr denn, die Offiziere, die Freikorps, die Herren von und zu, die wollen eine Demokratie? Die würden alle lieber heute als morgen ihren Kaiser wieder auf den Thron setzen.«
Paul ließ sich nicht weiter auf politische Gespräche mit Eduard ein. Immer zog er den Kürzeren und kam sich vor wie ein Blödkopf. Er verstand einfach nicht, was Eduard eigentlich wollte, wie das werden solle, wenn die Arbeiter- und Soldatenräte allein am Ruder wären. Die einen sagten Hü, die anderen sagten Hott.
»Ich gehe auch los«, sagte Paul. Er zog seine Jacke über und schlang sich den Wollschal um den Hals. »Vergiss deine Mütze nicht«, sagte er zu dem Jungen. »Es ist kalt heute.«
Bruno zog die Matrosenkappe seines Bruders aus der Tasche. Sie war ihm zu groß, aber das machte ihm nichts aus.
Eduard sagte: »Der Wilhelm, das war ein Genosse von echtem Schrot und Korn. Der würde sich im Grab herumdrehen, Bruno, wenn er sehen könnte, dass du mit dem Bienmann herumziehst.«
»Lass den Wilhelm aus dem Spiel!«, rief Paul. »Der Wilhelm war mein Freund. Und euch, euch ist doch der Junge gleichgültig.«
»Jaja, geh du nur und wähle, was dir deine Pfaffen sagen! Nur immer schön zahm«, schrie Robert den beiden in den Flur nach und schlug die Küchentür heftig zu.
»Wenn ich wählen dürfte, ich wüsste schon, welche Partei ich ankreuzen würde«, sagte Paul mehr zu sich selbst als zu dem Jungen.
»Welche denn?«, fragte Bruno.
»Geheime Wahl!«, lachte Paul. »Und außerdem werde ich erst am 22. März volljährig.«
Sie gingen in die Messe. Die Kirche war ziemlich voll. Sie blieben hinten stehen. Von der Predigt war dort kaum ein Wort zu verstehen und der Weihrauchduft, den Paul gern roch, hatte sich fern von Altar und Kanzel längst verflüchtigt.
»Seit ich mit dem Wilhelm aus Liebenberg weg bin, war ich überhaupt nicht mehr in der Kirche«, sagte Bruno.
»Hat dir was gefehlt?«, fragte Paul.
Der Junge schwieg, sagte aber dann doch: »Eigentlich habe ich es erst richtig in der vorigen Woche auf dem Platz gemerkt. Oder auch bei der Schießerei beim Vorwärts-Haus in der Lindenstraße. Ganz plötzlich spürst du es. Du willst vielleicht gar nicht, aber auf einmal betest du.«
»Merk dir’s«, sagte Paul. »Schade, dass der Sonnenschein heute nicht gepredigt hat. Ich hätte mich bis nach vorn vorgedrängt.«
»Wer ist das denn?«, fragte der Junge. »Ist das der Bischof?«
Paul lachte laut auf. »Nee, Bruno, das bestimmt nicht. Aber mir, mir hat er die Arbeit beschafft. Als ich hier in Berlin ziemlich ratlos ankam, da hat die Podolski mich zu ihm geschickt. ›Das ist ein ganz Besonderer‹, hat sie gesagt. ›Der hat ein Herz für Leute, die in Druck sind.‹«
»Weiter«, drängte Bruno, als Paul verstummte.
»Nichts weiter. Er hat so eine ulkige Sprache. Soll ein Mann aus dem Rheinland sein. Er hat viermal telefoniert und dann sagte er: ›Kannst dich bei dem Werkmeister Weber bei Borsig vorstellen. Sagst, du kommst vom schwarzen Sonnenschein.‹ Einen Zettel mit einer Adresse hat er mir in die Hand gegeben. Der Weber hat mich angeschaut und gesagt: ›Gut, wenn du vom Sonnenschein kommst, dann will ich’s mit dir versuchen.‹«
Vor der Kirche boten ein paar Jungen Zeitungen an. Paul zählte sein Geld und kaufte eine.
»Für ein Bier und eine Brause reicht es noch«, stellte er fest. »Komm, wir gehen da drüben in die Kneipe.«
In »Olgas Quelle« war ziemlich viel los. Im Saal der Wirtschaft war ein Wahllokal eingerichtet worden.
Sie drängten sich an einen Tisch in der Nähe der Theke. Paul begann ein Gespräch mit den Leuten. Der Junge blätterte in der Zeitung. Auf einmal boxte er Paul gegen die Rippen, zeigte auf ein Foto und rief: »Das ist er, Paul! Das ist er ganz bestimmt!«
Paul löste sich nun unwillig aus dem Gespräch. »Sei nicht lästig«, schimpfte er. »Trink deine Brause und bleib still.«
Der Junge aber starrte auf das Foto und stieß aufgeregt hervor: »Der hat meinen Bruder erschossen«, und deutete mit dem Finger auf ein Foto, auf dem eine Gruppe von Soldaten abgebildet war, die in Reih und Glied hinter einem Offizier hermarschierten. Der Junge zeigte auf einen anderen Offizier, der neben der Kolonne herging. »Das ist er«, sagte er.
Paul fand das Foto ziemlich unscharf, aber er musste zugeben, dass die Gestalt der ähnelte, die in der Nacht zum Sonntag auf Wilhelm geschossen hatte.
»Ich habe ihm ins Gesicht geschaut«, behauptete Bruno. »Eine Narbe lief quer über die rechte Schläfe bis in die Haare hinein. Niemals werde ich sein Gesicht vergessen.«
Die anderen Gäste am Tisch waren aufmerksam geworden. Paul erklärte ihnen mit ein paar Sätzen, dass der Junge in der Nacht zum vergangenen Sonntag bei seinem schwer verwundeten Bruder gesessen hätte und was dann auf dem Platz geschehen war.
»Bluthunde! Das sind Bluthunde«, sagte einer erbittert und fingerte erregt an den Knöpfen seiner schwarzen Wolljacke. »Und der Noske an der Spitze ist der allerschärfste Hund.«
Ein älterer Mann mit einem kurzen Bürstenhaarschnitt widersprach heftig. »Hör auf damit! In den Freikorps sind mehr anständige Kerle als bei den Revoluzzern.«
»Wie du an diesem Beispiel siehst«, höhnte der in der Wolljacke. »Einen Mann, der schwer verwundet daliegt, ganz einfach abzuknallen! Pfui Deibel!«
»Und die Handgranate, die der Revoluzzer aus dem Gürtel zog, das ist wohl gar nichts, wie?«, ereiferte sich der, der den Freikorps gut gesinnt war. Er nahm die Zeitung und las die Bildunterschrift vor: »Gestern schlug so manches deutsche Herz höher. Das Freikorps Werwolf marschierte. Endlich sorgen famose Truppen dafür, dass wieder Ordnung und Disziplin einkehren.«
»Die Toten legen sie in Reih und Glied ins Massengrab. Das ist ihre Ordnung«, schrie einer.
»Wenn ihr euch prügeln wollt, geht nach draußen«, rief die Wirtin Olga und zeigte mit dem ausgestreckten Arm zur Tür. Der, der die Freikorps verteidigt hatte, stand auf, rief: »Was sollen die Soldaten denn machen, wenn sie aus dem Hinterhalt angegriffen werden?«, und ging wütend weg.
»Hau ab! Zusammengeschossen haben sie unsere Revolution!«, schallte es ihm nach.
Die Zeitung ging von Hand zu Hand, einige Bemerkungen wurden gemacht, aber dann wechselten die Männer das Thema. Es waren bei den Kämpfen in diesen Januartagen so viele Hunderte umgekommen, Kanonen waren eingesetzt worden und Maschinengewehre. Straßenschlachten am Alexanderplatz, in der Friedrichstraße, der Lindenstraße und an vielen Orten waren entbrannt und die Regierungstruppen hatten schließlich das Verlagshaus des »Vorwärts« gestürmt, nachdem fünf Arbeiter, die mit einer weißen Fahne aus dem Gebäude kamen und verhandeln wollten, erschossen worden waren.
Bruno nahm sein Taschenmesser heraus und schnitt sorgfältig das Foto aus der Zeitung. Der Offizier, den der Junge meinte, war wirklich nur undeutlich zu erkennen, aber Bruno schien seiner Sache ganz sicher zu sein. »Ich werde ihn anzeigen. Laut werde ich ›Mörder!‹ schreien, wenn er mir begegnet!«
Seine Augen, viel zu groß in dem mageren Hungergesicht, waren dunkel vor Erregung. Bruno trug unter dem Pullover einen speckigen Brustbeutel aus Leder. Bruno zog den Beutel hervor. Sorgfältig faltete er das Zeitungsfoto zusammen und steckte es hinein.
Sie zogen los. Paul, ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß, kräftig und ein wenig gedrungen, hatte seinen Arm um den Jungen gelegt, der ihm kaum bis an die Schulter reichte und neben ihm noch dünner aussah, als er in Wirklichkeit war.
Was fange ich bloß mit dem Kind an?, grübelte Paul und murmelte: »Wenn ich nur eine Ahnung hätte, wo die Warczaks sind.«
Bruno hatte ihn verstanden und sagte: »Der Hubert Warczak ist schon lange weg aus Liebenberg. Mit Sack und Pack ist er damals ins Ruhrgebiet gegangen. In Gelsenkirchen hatte Onkel Warczak Verwandte. Dort wollte der Hubert hin.«
»Meinst du, du könntest bei dem Hubert Warczak unterkommen?«, fragte Paul.
»Lieber möchte ich bei dir bleiben, Paul«, sagte der Junge leise.
In den folgenden Tagen rannte der Junge von einer amtlichen Stelle zur anderen. Er versuchte herauszufinden, wohin die Männer auf dem Planwagen die Leiche seines Bruders gebracht hatten.
»Ich will wenigstens wissen, wo er verscharrt worden ist«, hatte er verbissen gesagt, wenn Frau Podolski oder Paul ihn davon abzubringen versuchten. Aber wohin er auch lief, wen er auch fragte, niemand konnte ihm eine Auskunft geben. In den Ämtern schaute man flüchtig in die Listen, zuckte die Schultern, schüttelte die Köpfe, wies ihm die Tür, wenn er zudringlicher wurde. Vier Friedhöfe hatte er abgesucht. Auf zweien hatte er riesige Grabhügel gefunden.
»Hier liegen viele, viele.« Das war das Einzige, was er aus einem alten Totengräber herausbekommen hatte.
»Ohne Pfarrer, ohne einen letzten Segen in die Erde!«, klagte Frau Podolski. »Wie ein Stück Vieh, ganz einfach ins Loch geworfen. Schrecklich. Nicht einmal mehr vor den Toten ziehen sie ihren Hut!«
Schließlich gab der Junge es auf, nach seinem toten Bruder zu forschen. »Aber der Mörder, der kommt mir nicht davon«, sagte Bruno wohl zehnmal am Tag.
Paul fühlte sich oft einsam in der riesigen Stadt. Sicher, er hatte Arbeit in der Lokomotivfabrik Borsig gefunden. Ein großer Staatsauftrag ließ den Betrieb auf Volldampf laufen. Die Koststelle bei Frau Podolski war auch nicht übel, wenn er davon absah, dass es in seinem Zimmer immer noch scharf nach dem Kammerjäger roch, der die Wanzen wenigstens für eine Weile ausgeräuchert hatte. Zwei lange Briefe hatte Paul inzwischen an seine Eltern geschrieben. Er hatte danach gefragt, ob man im Dorf die Anschrift des jungen Warczak in Gelsenkirchen kenne, hatte von seiner Arbeit berichtet und von der riesigen Stadt. Das hatte auf dem Papier alles sehr schön ausgesehen und sein Vater hatte ihm in einem kurzen Brief geantwortet und geschrieben, dass er stolz sei auf seinen Sohn, der in dieser schwierigen Zeit Boden unter die Füße bekommen hätte. Hubert Warczaks Adresse hatte er ganz unten auf dem Briefbogen notiert.
Pauls Briefe zeigten aber nicht, wie ihm eigentlich zumute war. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er mit dem Jungen über Liebenberg sprach, über das Dorf an der Grenze, in dem sie aufgewachsen waren. Jeder hatte dort von jedem gewusst, sie kannten die Standplätze der guten Apfelbäume und jene Stellen im Wald, an denen nach einem warmen Sommerregen die Pfifferlinge aus dem Boden schossen.
Ja, selbst bei den Soldaten war es anders gewesen als in Berlin. Da hatte die Angst ihnen beigebracht, dass einer auf den anderen angewiesen war. Paul dachte oft an seinen Unteroffizier Karl Schneider, einen Mann aus dem Süddeutschen. Der war nur drei Jahre älter als er selbst. Schon in den ersten Kriegstagen im August 1914 war Karl eingezogen worden. Er erzählte dem Jungen von diesem seinem besten Freund, der auch Schlosser gelernt hatte. In Berlin, so hatten sie ausgemacht, wollten sie sich nach dem Krieg gemeinsam eine Arbeit suchen. Aber dann war alles anders gekommen. Zwei Tage bevor die Truppen in Frankreich den Befehl bekamen, die Kämpfe einzustellen und nach Deutschland zurückzumarschieren, hatte es den Karl erwischt. Ein Schrapnellsplitter hatte ihm den linken Oberarm aufgeschnitten. Nicht so schlimm wie 1916 an der Somme, als es beinahe mit ihm aus gewesen wäre.
»Fleischwunde«, hatte der Sanitäter gesagt. Geblutet hatte Karl wie ein Stück Vieh, aber dort an der Front, da klang »Fleischwunde« so, als ob sich einer in Friedenszeiten einen Holzsplitter unter den Nagel reißt. Der Sanitäter hatte Karl einen Pressverband angelegt und ihm die Richtung zum Verbandsplatz gezeigt. Seitdem war Karl dem Paul aus den Augen gekommen.
Was von Pauls Kompanie übrig geblieben war, das war mit den Armeen quer durch Deutschland gezogen, teils mit Viehwagen der Eisenbahn, teils auch zu Fuß. Am 10. Dezember 1918 marschierten die ersten Felddivisionen in Berlin ein. Ihre Waffen führten sie mit sich. Paul hatte noch zwanzig Schuss scharfe Munition in den Patronentaschen am Koppel und seinen Karabiner über der Schulter. Am Brandenburger Tor hatte der Oberbürgermeister Wermuth sie empfangen. Der Reichskanzler Friedrich Ebert hatte sogar eine Rede gehalten. Die war Paul ans Herz gegangen, obwohl in den Kriegsjahren so manche großen Worte verschlissen worden waren.
»Kein Feind hat euch überwunden«, rief der Kanzler den Soldaten zu. »Nun liegt Deutschlands Einheit in eurer Hand!«
Aber zu viel hatte in der Hand der Soldaten gelegen, in zu viel Dreck und Blut hatten sie greifen müssen, zu viele Tote hatten sie verscharrt, zu viele grobe Kreuze in flache Grabhügel gedrückt, zu selten hatten sie Brot in den Händen gehalten und zu selten Blumen.
Jedenfalls hatte Paul es an diesem Dezembertag so gemacht wie die meisten anderen Soldaten auch. Er hatte seine Waffen auf einen Haufen geworfen und sich nach einer Schlafstelle und nach Arbeit umgesehen. Die Waffen waren allerdings nicht auf diesem Haufen liegen geblieben. Paul wusste, dass Eduard und Robert im Kleiderschrank Karabiner stehen hatten. Mehr als hundert Schuss Munition lagen im Wäschefach versteckt.
Wenn vom Krieg die Rede war, dann konnte Bruno nicht genug erfahren. Paul sprach dann wie zu sich selbst, sprang aber mit heißem Kopf plötzlich auf und beschimpfte sich: »Warum komme ich nicht davon los? Ich will vergessen, Bruno, vergessen will ich das alles, verstehst du?«
Meist knallte er dann die Tür hinter sich zu und lief hinaus.
»Er hat wieder geschossen, nicht wahr?«, sagte dann Frau Podolski, wenn Bruno zu ihr in die Küche ging. Bruno nickte und sie fügte hinzu: »Ich hab den Knall gehört.«
An einem solchen Tag im Februar, bei Borsig wurde seit drei Tagen gestreikt, ging Paul schon am Vormittag zu »Olgas Quelle« hinüber. Es standen nur wenige Männer an der Theke. Pauls Augen mussten sich erst an das trübe Licht in der Gaststube gewöhnen. Er hörte, dass im Saal etwas los war. Stimmengewirr drang bis in die Gaststube herein.
»Die Sozis streiten mit denen vom Spartakus«, erklärte die Wirtin. »Hoffentlich bleibt’s bei den Wortschlachten. Von Saalschlachten habe ich allmählich die Nase voll.«
Paul ließ sich ein Bier zapfen und schlenderte zur Saaltür. Ungefähr dreißig Männer saßen auf den Stühlen, einige rittlings, die hielten ihr Bier in der Hand und stützten das Glas auf die Stuhllehne. Sie kehrten Paul den Rücken zu und schauten auf zwei Männer, die sich jeder auf einen Tisch gestellt hatten und heftig debattierten. Es waren die alten Themen: Räterepublik durch eine Revolution oder eine Wahlrepublik, wie Ebert sie wollte. Als die beiden Kampfhähne sich »Arbeiterverräter« und »bolschewistischer Wirrkopf« beschimpften und die Zuhörer schon aufgeputscht von den Sitzen sprangen, da zog ein Mann den Sozialdemokraten, der bisher geredet hatte, vom Tisch und trat an seine Stelle.
»Genossen«, sagte er ganz ruhig, »was denkt ihr wohl, wer sich am meisten freute, wenn er wüsste, wie uneinig wir Arbeiter sind?«
Paul hätte am liebsten »Karl!« geschrien, aber er biss sich auf die Lippen und hörte zu, was Karl Schneider sagte. Dem gelang es ziemlich schnell, die Männer nachdenklich zu machen.
Er rief: »Erinnert ihr euch noch an August 1914? Habt ihr vergessen, wie wir damals in den Krieg gezogen sind? Gejubelt haben wir und begeistert waren wir alle!«
»Du vielleicht«, versuchte der Spartakusmann noch einmal die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber aus der Zuhörerschar wurde »Ruhe!« geschrien und: »Lasst den Mann reden!«
»Wir haben unseren Verstand damals ausgeschaltet«, fuhr Karl fort. »Wir sind wie Blinde ins Elend marschiert.«
»Du hast doch bestimmt in der Etappe gesessen, du Klugscheißer!«, rief der Spartakist.
»Hat er nicht!«, rief Paul laut.
Die Gesichter wandten sich ihm zu.
»Karl Schneider war vom ersten bis zum letzten Tag an der Front. Er war zweimal verwundet. Ich hab oft genug neben ihm im Dreck gelegen. Ich kann’s bezeugen.«
»Mensch, Paul!«, rief Karl überrascht, aber dann fuhr er fort: »Genossen, was geschieht in diesen Wochen in Berlin und in ganz Deutschland? Wieder ist die Begeisterung groß. Wieder wird wenig nachgedacht und viel geschrien. Wieder bezahlen wir das alles mit unserem Blut. Ich bin dafür, dass wir den Frieden nicht genauso falsch beginnen, wie wir den Krieg angefangen haben. Lasst uns überlegen, lasst uns nachdenken und kühl handeln. Was wir brauchen, das ist ein neues Recht, eine neue Verfassung. Ich bin dafür, dass wir mit dem Verstand kämpfen und nicht mit der Faust.«
»Bravo!«, riefen einige und: »Sehr richtig!«
»In vielen Parteien sitzen Arbeiter, in der USPD, im Zentrum und in der Partei, der ich angehöre, in der SPD. Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass unsere Interessen vertreten werden, dass Gerechtigkeit endlich auch für uns Arbeiter geschaffen wird, für uns und für das ganze Volk.«
»Bravo!«, stimmten die meisten zu. Andere aber sagten auch: »Er ist ein Träumer. Ohne Gewalt geht nichts in diesem Land.«
Die Versammlung begann sich zu zerstreuen. Karl drängte sich zwischen den Männern durch bis hin zu Paul. Der schüttelte Karl die Hand und schlug ihm auf die Schulter, doch Karl schrie auf und sagte: »Mensch, Paul, denk an meine Verwundung.«
Sie setzten sich an einen Tisch in der Ecke der Gaststätte und begannen zu erzählen, wie es ihnen in den letzten Monaten ergangen war. Sie vergaßen alles rund um sich herum. So bemerkten sie nicht, dass sich Bruno an den Nachbartisch gesetzt hatte und begierig den Worten lauschte, die von Paul und Karl herüberdrangen. Schnell hatte er heraus, wer der hagere Mann sein konnte, der da bei Paul saß. Sein schwäbischer Dialekt, die scharfen Gesichtszüge, der auf und nieder springende Adamsapfel, Paul hatte oft genug seinen Freund Karl beschrieben. Zuerst empfand Bruno so etwas wie Zurücksetzung, aber dann hatte Karl ihn doch in seinen Bann gezogen und das beklemmende Gefühl, der Fremde könne ihm etwas wegnehmen, wich allmählich. Endlich entdeckte Paul den Jungen.
»Bruno, Salzknabe, was willst du denn hier?«, fragte er aufgeräumt.
Bruno antwortete: »Frau Podolski hat mich vor einer Stunde losgeschickt. Ich soll dich zum Mittagessen holen. Aber ich wollte euch nicht stören.«
»Heute ist mir ganz gleichgültig, was die Podolski sagt, mein Junge.«
Paul zog seine Uhr aus der Westentasche. »Aber es ist schon fast zwei Uhr.« Er überlegte einen Augenblick, zeigte auf die leer getrunkenen Biergläser und sagte: »Karl, ich bin pleite. Kein weiteres Bier also. Ich schlage vor, geh mit auf meine Bude oder, wenn es da zu kalt ist, in Podolskis Küche. Die Frau ist gar nicht so giftig, wie sie sich gibt.«
»Gut«, stimmte Karl zu. »Wir können dann in Ruhe besprechen, wie es mit uns weitergehen soll.«
Frau Podolski hatte bereits das Geschirr gespült und die eiserne Platte des Kochherdes blank geputzt. Sie saß am Küchentisch und kramte in Papieren, die in einem Schuhkarton lagen. Als sie die Männer im Flur hörte, rief sie: »Sind Sie es, Paul?«
»Meist redet sie den Paul mit ›du‹ an«, sagte Bruno. »Aber sie hat sicher gehört, dass wir jemand mitbringen. Dann tut sie immer ganz vornehm.«
Paul betrat die Küche. Karl und der Junge blieben im Türrahmen stehen.
»Es zieht. Schließ die Tür, Junge. Und nimm die Matrosenmütze vom Kopf.«
Karl schien das als Einladung zu verstehen. Frau Podolski sagte: »Ich habe nichts gegen Besuch, aber noch einen Kostgänger, Paul, schieben Sie mir bitte nicht unter.«
»Das ist Karl Schneider, Frau Podolski. Wir waren im Krieg lange zusammen.«
Diese Vorstellung verstärkte Frau Podolskis Misstrauen. Karl aber sagte: »Keine Sorge, Frau Podolski. Ich wohne drüben in Moabit in der Wohnung von einem Landsmann, der vor ein paar Wochen ins Ruhrgebiet gezogen ist. Der Paul und ich wollen nur miteinander reden.«
»Mittagessen gibt es um diese Zeit sowieso nicht mehr«, knurrte Frau Podolski und schaute missbilligend auf die Wanduhr.
Eigentlich wollten Paul und Karl von der Zukunft sprechen, aber dann fielen Worte wie Marne und Somme und Verdun und Flandern. Die Erinnerungen stürzten über sie her. Sie fragten nach Namen von Soldaten und Offizieren und was wohl aus ihnen geworden war.
Als die Rede auf Flandern kam, da zog Frau Podolski, die bis dahin schweigsam am Tisch gesessen hatte, ein Foto aus dem Schuhkarton und reichte es den Männern hinüber. Es zeigte einen jungen Mann mit einem Kindergesicht und gewellten blonden Haaren. Er trug die feldgraue Infanterieuniform und stand da in voller Ausrüstung, den Tornister auf dem Rücken, die ledernen Patronentaschen am Koppel, den Brotbeutel, das Blechkochgeschirr, die Feldflasche, den kleinen Spaten und den Karabiner neben den Schuh gestellt.
»Ein Mausergewehr 98«, sagte Bruno und deutete auf das Foto.
»Schlimm genug, dass die Kinder so etwas heute genau wissen.« Frau Podolski schüttelte den Kopf.
Die Männer sahen sich das Foto an. Frau Podolski erklärte: »Das hat mein Bruder Bastian machen lassen, bevor er nach sage und schreibe acht Wochen Ausbildung gleich von der Kaserne ins Feuer geschickt worden ist. Im Herbst 1914 ist er vor Langemarck in Flandern gefallen. Schüler war er noch. Meine Eltern haben sich jahrelang krummgelegt, damit er auf das Gymnasium gehen konnte. Er sollte mal studieren. Aber er war nicht zu halten, als der Krieg ausbrach. Freiwillig hat er sich gemeldet und er war glücklich, als sie ihn nahmen.«
Sie knüpfte ein schmales Briefbündel auf und legte das blassblaue Seidenband sorgfältig zusammen. Den obersten Brief nahm sie herunter, zog ihn aus dem Umschlag und las. Das Papier zitterte ein wenig in ihren Händen. Sie seufzte und schob Karl den Brief zu. »Waren Sie auch in Flandern?«
»Ja«, antwortete Karl. »Ich habe den ganzen Schlamassel bei Diksmuide von Anfang an mitgemacht.«
Als er merkte, dass sie damit nichts anzufangen wusste, ergänzte er: »Diksmuide, nördlich von Langemarck, mehr die Yser abwärts, aufs Meer zu.« Karl begann, den Brief leise vorzulesen. Nur der erste Teil stammte von Bastian selbst:
»Liebe Mama!
Ich weiß nicht, ob ich noch lebe, wenn du meinen Brief erhältst. Die letzten Oktobertage waren schrecklich. Genauso stelle ich mir die Hölle vor. Im Viehwagen erst und dann nach gewaltigen Märschen kamen wir in Flandern an. Im Sturm wollten wir bis nach Dünkirchen vorstoßen und die Engländer ins Meer treiben. Aber es kam alles ganz anders. Erst waren wir wie von einer großen Spannung befreit, als wir hörten, der Feind liege dicht vor uns. Du wirst es nur schwer glauben, liebe Mama, aber als ich dann zum ersten Male schießen durfte, war es, als ob die Schüsse eine eiserne Fessel sprengten, die mir um die Brust gelegt war. Als der Trompeter das Signal ›Rückt vor!‹ blies, stürmte unser Bataillon, tausend Soldaten, Mann an Mann auf den Ort Bikschote zu. Im Sturmschritt ging es quer über einen endlosen Rübenacker. Der Lehmboden klebte an unseren Stiefeln, aber nicht die schlammige Erde stoppte unseren Sturmlauf. Wir waren schon ziemlich nah vor den ersten Häusern des Ortes, keine Deckung weit und breit. Die gelblich grünen Rübenblätter klatschten uns um die Stiefel. Da ging es auf einmal los, Maschinengewehre feuerten wie wild, tausend Gewehrschüsse, leichte Artillerie. Zischen, Donnern, explodierende Feuerbälle, und wir liefen oder fielen, wer weiß, nach welchem blinden Zufall, und wir liefen und wir fielen in den Tod. Der Kurt Bernstein neben mir wurde zu Boden gerissen, und links und rechts ein Schreien, Stolpern, Taumeln, Fallen. Der Trompeter blies schon längst nicht mehr, als ich mit wenigen Kameraden keuchend in einer flachen, schlammigen Erdmulde Schutz suchte.
›Grabt euch ein, Jungs!‹, hat ein älterer Unteroffizier gesagt. Er war aus der 3. Kompanie und ich kannte ihn vom Sehen. Er selbst konnte den Spaten nicht mehr halten, er hatte einen Oberarmdurchschuss. Ich will es kurz machen, Mama. In der Nacht haben wir uns zurückgeschlichen. Es lag, Gott sei Dank, ein dünner Nebel über dem Acker. Erwin und ich haben den Unteroffizier mitgeschleppt. Er hatte so viel Blut verloren, dass er ganz matt war.
In den folgenden Tagen sind wir noch zweimal gegen Bikschote angerannt, haben es genommen und wurden wieder zurückgetrieben. Nun haben wir zwei Tage Ruhe, ein wenig hinter den Linien. Endlich konnten wir uns satt essen. Es gab Reissuppe mit Hühnerfleisch, Suppe, so viel wir wollten. Aus unserem Regiment sind zwei von drei Mann gefallen, verwundet, vermisst. Aber heute ist es bis zur ursprünglichen Zahl wieder aufgefüllt worden, fast nur Schüler, Studenten, junge Leute. Lauter Freiwillige. Sie fragen uns, wie es da vorn ist. Sie sind so voller Zuversicht, voller Leben. Ich komme mir uralt vor, wenn ich sie sehe und sie so begeistert von Sieg und Vaterland reden höre.
Mama, ich weiß, ich mache dir das Herz schwer, wenn ich das schreibe, aber es wird mir ein bisschen leichter, wenn ich nicht alles in mich hineinfressen muss. Wer weiß, vielleicht zerreiße ich diesen Brief. Der Sieg, sagt unser Feldwebel, frisst alle Angst auf. In der Morgendämmerung, so munkelt man, werden wir westlich von Langemarck wieder nach vorn geworfen. Wahnsinn, das wird auf unseren Kreuzen stehen.«