Der Name dieses Buches ist ein Geheimnis
Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis
Zeichnungen von Sabine Völkers
Für W. P. May
Veröffentlicht als E-Book 2010
Text copyright © Pseudonymous Bosch
© für die deutsche Ausgabe: Arena Verlag GmbH, Würzburg 2009
Umschlag: Frauke Schneider
Zuerst erschienen unter dem Titel »The Name of this Book is Secret«
bei Little, Brown and Company
Hachette Book Group USA
New York 2007
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-401-80033-2
www.arena-verlag.de
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WARNUNG:
Nicht weiterlesen
!
Gut.
Jetzt weiß ich, dass ich dir vertrauen kann.
Du bist neugierig. Du bist mutig. Und du hast keine Angst, eine Verbrecherlaufbahn einzuschlagen.
Nur damit eins klar ist: Wenn du trotz meiner Warnung darauf beharrst, dieses Buch zu lesen, mach bitte nicht mich für die Folgen verantwortlich.
Also, lass es dir gesagt sein: Das ist ein sehr gefährliches Buch.
Nein, es wird nicht vor deinen Augen explodieren. Oder dir den Kopf abbeißen. Oder dich in Stücke reißen.
Es wird dir vermutlich gar nichts tun. Es sei denn, jemand wirft es dir an den Kopf – eine Möglichkeit, die man nie außer Acht lassen sollte.
Im Allgemeinen sind Bücher eher harmlos. Außer man liest sie. Dann beschwören sie allerlei Probleme herauf.
Bücher können dich beispielsweise auf Ideen bringen. Ich weiß nicht, ob du schon jemals eine Idee hattest, aber falls ja, weißt du sicher, welche Scherereien man sich damit einhandeln kann.
Bücher können auch Gefühle hervorrufen. Und die sind manchmal sogar noch riskanter als Ideen. Gefühle verleiten die Menschen dazu, alle möglichen Dinge zu tun, die sie später bereuen – wie zum Beispiel, ähm, jemandem ein Buch an den Kopf zu werfen.
Der eigentliche Grund, warum dieses Buch so gefährlich ist: Es enthält ein Geheimnis.
Ein großes Geheimnis.
Mit Geheimnissen ist das so eine Sache. Wenn du nichts von einem Geheimnis weißt, kümmert es dich auch nicht. Du lebst weiter sorglos in den Tag hinein.
La, la, la singst du. Alles ist in bester Ordnung. (Okay, vielleicht singst du nicht gerade la, la, la, aber du weißt schon, was ich meine.)
Aber sobald du Wind von dem Geheimnis bekommst, fängt es an, in dir zu rumoren. Was für ein Geheimnis ist das?, fragst du dich. Warum darf ich nichts davon wissen? Was ist daran so wichtig?
Plötzlich hast du nur noch eins im Sinn: das Geheimnis zu lüften.
Du bittest. Du bettelst. Du drohst. Du schmeichelst. Du versprichst, es niemandem zu verraten. Du probierst es auf jede nur denkbare Art. Du fängst an, in den Sachen des Geheimnisträgers herumzuschnüffeln. Du raufst ihm oder ihr die Haare. Und wenn das alles nichts nützt, raufst du dir deine eigenen.
Ein Geheimnis nicht zu kennen, ist so ungefähr das Schlimmste, was einem passieren kann.
Nein, ich kenne etwas, was noch schlimmer ist.
Ein Geheimnis zu kennen.
Lies weiter, wenn’s denn sein muss.
Aber denk dran, ich habe dich gewarnt.
Kapitel eins
Xxxxxxxxx xxx Xxx-Xxxxxx xxxxx xxxxxxx Xxxxxx xxxxx xxxxx. Xxxxx xxx xxxxxx, xxxxxxxx xxx xx xxxx Xxxx xxxx xxxxx xxxx xxxxxxx xxx xxxx xxxxx xxxxx Xxxxxx xxxxx xxx Xxxxxx.
»Xxxxx xxxx xxxxx xxx xxx«, xxxx Xxxxx xxx xxxx xxx
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»Xxxxx xxxx xxxxx xxx xxx xxxx Xxxxx xxx xxxx xxx
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»Xxxxx xxx xx!«
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»Xxxxx xxxx xxxxx xxx xxx«, xxxx Xxxxx xxx xxxx xxx
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»Xxxxx xxx xx!«
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Kapitel eineinhalb
Eine Apologie*
Tut mir leid, aber ich durfte dich Kapitel eins nicht lesen lassen.
Dann hättest du nämlich erfahren, wie die Figuren in dem Buch heißen. Und du hättest gewusst, wo die Handlung spielt. Und wann. Du hättest all die Dinge herausgefunden, die man für gewöhnlich am Anfang eines Buchs erfährt.
Leider darf ich dir das nicht verraten.
Ja, die Geschichte handelt von einem Geheimnis. Aber gleichzeitig ist es auch eine geheime Geschichte.
Ich dürfte dir eigentlich nicht einmal verraten, dass ich dir nichts verraten darf. So geheim ist sie.
*Falls du dich fragst, was das ist: Bei einer Apologie handelt es sich nicht um eine besondere Insektenart. Es ist auch kein gefährlicher Krebstumor. Es ist vielmehr eine Verteidigungsrede. Mit anderen Worten, sie ist das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben steht.
Ich darf dir nicht nur nicht die Namen der Personen verraten, sondern auch nicht, was sie gemacht haben und warum.
Ich darf nicht sagen, welche Haustiere sie haben. Oder wie viele nervtötende kleine Brüder. Oder herumkommandierende große Schwestern. Oder ob sie ihre Eiscreme pur oder gemischt mögen.
Ich darf dir nichts von ihrer Schule verraten oder von den Freunden oder von ihren Lieblingsfernsehsendungen. Oder ob sie gern Skateboard fahren. Oder erstklassige Schachspieler sind. Oder an Fechtwettkämpfen teilnehmen. Nicht einmal, ob sie eine Zahnspange tragen.
Kurzum, ich kann dir nichts sagen, was dir einen Hinweis auf die in die Handlung verwickelten Personen geben könnte. Es könnte ja sein, dass du sie im Wartezimmer deines Kieferorthopäden triffst.
(Zähne sind, wie du sicher aus dem Fernsehen weißt, sehr nützlich, wenn die Polizei eine Leiche identifizieren muss.)
Es ist zu deinem eigenen Schutz, aber auch zu meinem. Und zum Schutz deiner Freunde. Ja, sogar deiner Feinde. (Du weißt schon, die Leute, die du am liebsten erwürgen würdest, am Ende aber doch am Leben lässt.)
Trotzdem wird dich mein Schweigen enttäuschen.
Wie willst du einer Handlung folgen, wenn du nicht weißt, von wem sie handelt? Denn schließlich muss sich ja irgendjemand im Wald verirren oder Drachen töten oder Zeitreisen unternehmen oder was auch immer.
Weißt du, was? Ich mache dir einen Vorschlag.
Damit du meiner Geschichte folgen kannst, werde ich meine eigene Regel brechen – jetzt schon! – und meinen Figuren Namen und Gesichter geben. Aber denk dran, es sind nicht die richtigen Namen und nicht die richtigen Gesichter. Es sind Decknamen wie bei einem Spion oder einem Verbrecher.
Sollte dir ein Name nicht gefallen, änderst du ihn einfach. Wenn ich schreibe: »Tim bohrte gern in der Nase« und du bevorzugst den Namen Tom, dann liest du an der Stelle einfach: »Tom bohrte gern in der Nase«. Das macht mir überhaupt nichts aus. Du kannst es mit allen Namen so machen.
Natürlich kannst du sie auch beibehalten. Das liegt ganz bei dir.
So schwer es ist, eine Geschichte zu lesen, ohne zu wissen, von wem sie handelt, so schwer ist es auch, eine Geschichte zu lesen, ohne zu wissen, wo sie spielt. Selbst wenn man von Außerirdischen aus einer anderen Dimension liest, möchte man sich doch eine Vorstellung davon machen, in welcher Umgebung sie leben. Schweben sie in einer trüben grünen Giftbrühe? Oder sind sie an einem sehr, sehr heißen Ort?
Da dies in unserem Fall ein Geheimnis bleiben muss, aber auch, um es dir ein bisschen leichter zu machen, schlage ich vor, so zu tun, als spielte sich alles an einem Ort ab, den du sehr gut kennst.
Wir wär’s mit deiner Heimatstadt?
Wenn du etwas über die Stadt liest, in der die Figuren leben, dann stell dir einfach die Stadt vor, in der du wohnst. Ist sie groß oder klein? Liegt sie an der Küste oder an einem See? Oder ist sie ein Asphaltdschungel, der fast nur aus Einkaufsstraßen besteht? Sag du es mir.
Wenn du über eine Schule liest, dann denk an deine eigene Schule. Ist es ein altes Schulhaus mit nur einem Klassenzimmer? Oder ist es eine Ansammlung von extrabreiten Metallcontainern? Entscheide selbst.
Wenn die Figuren nach Hause gehen, dann stell dir vor, sie wohnten in deiner Straße, vielleicht sogar im Haus gegenüber.
Wer weiß, vielleicht spielt die Handlung ja tatsächlich in deiner Straße. Wenn’s so wäre, würde ich es dir nicht verraten. Aber ich kann dir auch nicht versprechen, dass es nicht so ist.
Im Gegenzug zu all den Freiheiten, die ich dir gewähre, verlange ich nur das eine: Sollte ich mich jemals verplappern und etwas ausplaudern – und ich fürchte, genau das wird mir passieren –, dann vergiss bitte sofort, was ich dir gesagt habe.
Am besten, du vergisst alles sofort wieder, gleich nachdem du es gelesen hast. Falls du zu den Menschen gehörst, die mit geschlossenen Augen lesen können, rate ich dir dringend, es zu tun. Falls du blind bist und dieses Buch in Brailleschrift lesen willst, empfehle ich dir, im wahrsten Sinne des Wortes die Finger davon zu lassen.
Du willst wissen, warum ich unter solch furchtbaren Umständen überhaupt schreibe? Wäre es nicht besser, dieses Buch ins Altpapier zu werfen und etwas anderes zu machen?
Oh, ich könnte dir eine ganze Reihe von Gründen nennen.
Ich könnte zum Beispiel sagen, dass ich dieses Buch schreibe, damit du aus den Fehlern anderer lernst. Ich könnte sagen, so gefährlich das Buch auch ist, es wäre noch viel gefährlicher, es nicht zu schreiben.
Aber der eigentliche Grund ist kein sehr rühmlicher. Die Sache ist ganz einfach.
Ich kann kein Geheimnis für mich behalten. Das konnte ich noch nie.
Hoffentlich hast du mehr Glück als ich.
Kapitel zwei
Ein Mittwoch
Ich kann dir zwar nicht verraten, in welchem Jahr die Geschichte anfängt, und auch nicht, in welchem Monat. Aber ich denke, es schadet nicht, dir zumindest den Tag zu nennen.
Es war ein Mittwoch.
Ein ganz normaler, unbedeutender Tag. Das mittlere Kind der Wochenfamilie. Ein Mittwoch muss sich schon anstrengen, um Aufsehen zu erregen. Die meisten Leute lassen ihn einfach so vergehen.
Nicht jedoch die Heldin unserer Geschichte. Sie gehört zu der Art von Mädchen, die das bemerkt, was anderen entgeht.
Darf ich dir Kassandra vorstellen?
Mittwoch ist ihr Lieblingstag. Sie ist nämlich der Ansicht, dass gerade dann, wenn man es am wenigsten erwartet, etwas Weltbewegendes passiert.
In der griechischen Mythologie ist Kassandra eine Prinzessin aus dem alten Troja. Sie war wunderschön und Apoll, der Sonnengott, verliebte sich in sie. Als sie ihn abwies, wurde Apoll so wütend, dass er sie mit einem Fluch strafte: Er verlieh ihr die Gabe, in die Zukunft zu sehen, doch zugleich sorgte er dafür, dass niemand ihren Prophezeiungen Glauben schenkte. Stell dir vor, du wüsstest genau, dass die Welt von einem Tornado oder einem Taifun verwüstet wird, und niemand hört auf dich. Furchtbar.
Anders als Kassandra in der Mythologie ist das Mädchen in unserer Geschichte keine Weissagerin. Sie kann nicht in die Zukunft sehen. Sie wurde auch nicht von einem Gott verflucht, zumindest weiß ich nichts davon. Aber sie ähnelt einer Prophetin, weil sie immer Katastrophen ankündigt. Erdbeben, Wirbelstürme, Seuchen – sie ist eine Expertin für alles, was schrecklich ist, und sie sieht überall Beweise dafür.
Aus diesem Grund nenne ich sie Kassandra – oder kurz: Kass.
Wie du weißt, kann ich Kassandra nicht in allen Einzelheiten beschreiben. Ich will nur so viel verraten: Äußerlich ist Kass eine typische Elfjährige. Ihr Hauptmerkmal sind ihre ziemlich großen, spitz zulaufenden Ohren. Bevor du mich ermahnst, dass ich das mit den Ohren besser nicht ausgeplaudert hätte, will ich dir erklären, dass sie die Ohren fast immer unter ihrem Haar oder einem Hut versteckt. Du wirst sie also kaum jemals zu Gesicht bekommen.
Mag sie auch aussehen wie andere Mädchen ihres Alters, so ist Kass in anderer Hinsicht ein sehr außergewöhnlicher Mensch. Sie spielt nicht das, was andere spielen, also weder Wahrsagen noch Seilspringen oder Gummitwist. Sie sieht nicht einmal sehr oft fern. Sie besitzt keine gefütterten Wildlederschuhe. Sie würde auch gar keine wollen, es sei denn, sie sind wasserdicht und sie können ihr in einem Schneesturm gute Dienste leisten.
Daran merkst du, wie praktisch Kass veranlagt ist. Für Banales hat sie einfach keine Zeit.
Ihr Motto: Allzeit bereit.
Ihr Auftrag: Dafür zu sorgen, dass sie, ihre Freunde und ihre Familie drohende Katastrophen wohlbehalten überleben.
Kass ist nämlich eine Überlebenskünstlerin.
Und das sind die Dinge, die sie jeden Tag in ihrem Rucksack mit sich herumträgt:
Taschenlampe
Kompass
silberfolienbeschichtete Isoliermatte – überraschend warm, falls du es noch nicht ausprobiert hast, außerdem reflektiert sie
Safttüte – meistens Traubensaft, notfalls auch als Tinte zu verwenden
Kaugummi – weil es Klebstoff ersetzt und auch, weil Kaugummikauen die Konzentrationsfähigkeit erhöht
Kassandras Spezial-Superchip-Mischung – Schokochips, Erdnussbutterchips, Bananenchips und Kartoffelchips (aber niemals Rosinen!)
Landkarten – von sämtlichen Wüsten-und Gebirgslandschaften der näheren Umgebung, dazu eine Karte von Mikronesien und den Galapagos-Inseln
Seil
Werkzeug
Erste-Hilfe-Ausrüstung
Staubmaske
Socken und Schuhe zum Wechseln – im Fall einer Sturzflut oder anderer Nässe
Zündhölzer – obwohl es verboten ist, sie in die Schule mitzubringen
Plastikmesser – weil es strengstens verboten ist, ein Klappmesser mitzubringen
Schulbücher und Hausaufgabenhefte – falls sie daran denkt, was nicht allzu oft passiert (meistens vergisst sie, Hausaufgaben auf ihre Vorratsliste zu setzen)
Der Inhalt des Rucksacks lässt vermuten, dass Kass ein sehr abenteuerliches Leben führt. Aber das ist falsch. Tatsächlich ist bis zu dem Zeitpunkt, an dem diese Geschichte beginnt, nie eine der von ihr erwarteten Katastrophen über sie hereingebrochen. Es gab kein Erdbeben an der Schule – zumindest keines, das heftig genug gewesen wäre, um ein Fenster zum Bersten zu bringen. Der Schimmel in der Dusche ihrer Mutter stellte sich als genau das heraus – und nicht als Killerpilz, wie Kass vermutet hatte. Und das Kind, das auf der Wiese herumtollte, hatte nicht etwa Rinderwahnsinn, sondern spielte einfach nur vergnügt vor sich hin.
Kass machte es nichts aus, wenn ihre Vorhersagen nicht eintrafen. Es war ja nicht so, als sehnte sie eine Katastrophe herbei. Aber sie hätte sich doch gewünscht, dass die Leute ihre Warnungen etwas ernster nähmen.
Stattdessen sagten sie, es sei falsch, immer wieder blinden Alarm zu schlagen, nach dem Motto: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht. Aber Kass wusste es besser. Ein blinder Alarm hieß noch lange nicht, dass man auch blind war. Also besser vorher als nachher Zeter und Mordio schreien.
Es gab nur zwei Menschen auf der Welt, die Kassandras Voraussagen Aufmerksamkeit schenkten: Großvater Larry und Großvater Wayne.
Larry und Wayne waren nicht Kassandras leibliche Großväter. Sie waren ihre Ersatzgroßväter. Larry war an der Highschool der Geschichtslehrer ihrer Mutter gewesen und seit dieser Zeit waren beide miteinander befreundet. Da die echten Großväter nicht zur Hand waren, hatte Kassandras Mutter Larry und Wayne gebeten, diese Lücke zu füllen.
Larry und Wayne lebten gleich um die Ecke in einem alten, verlassenen Feuerwehrhaus. Das Erdgeschoss, in dem die Feuerwehrautos abgestellt waren, hatten sie in einen Antiquitätenladen und ein Warenlager verwandelt. Ihre Wohnräume befanden sich im Obergeschoss, wo sich früher die Feuerwehrleute zwischen den Einsätzen ein wenig Schlaf gegönnt hatten.
Jeden Mittwoch nach der Schule ging Kass ihnen im Geschäft zur Hand, bis ihre Mutter anrief, um zu sagen, dass das Abendessen fertig war. In Wahrheit gab es allerdings nur sehr wenig zu tun.
»Du kommst gerade richtig zum Tee«, pflegte Großvater Larry zu sagen, sobald sie den Laden betrat.
Großvater Larry war kein Brite, aber er hatte einige Zeit als Soldat in England verbracht und es sich zur Gewohnheit gemacht, Tee zu trinken. Kass fand Larrys ausgefallene Teerituale ein wenig albern, aber sie liebte Larrys Plätzchen (er selbst sagte Kekse) und die Geschichten, die er zum Besten gab, während der Tee zog. Zwar hatte sie mittlerweile den Verdacht, dass er beim Geschichtenerzählen ein wenig übertrieb, um nicht zu sagen, flunkerte, trotzdem konnte sie das ein oder andere daraus lernen – etwa, wie man während eines Sandsturms ein Zelt aufstellt oder wie man ein Kamel melken muss.
An jenem Mittwoch, an dem unsere Geschichte ihren Anfang nimmt, zeigte Larry ihr, wie man einen Kompass macht, indem man einen Korken in eine Schüssel mit Wasser legt.*
Der Kompass war so gut wie fertig und der Korken wollte gerade nach Norden zeigen, als Larrys Basset Sebastian so laut zu bellen anfing, dass das Wasser über den Rand der Schüssel schwappte.
Sebastian war blind und auf seine alten Tage so gut wie taub. Aber das machte er dadurch wett, dass er die beste Nase der ganzen Stadt hatte – alle nannten ihn nur Sebastian, das Schnüffelauge. Er wusste sofort, wenn sich Besucher ankündigten.
»Feueralarm!«, rief Großvater Wayne von unten hoch. Das war das Geheimwort, wenn ein Kunde im Anmarsch war.
»Schätze, der Kompass muss warten«, grummelte Großvater Larry. »Runter mit dem Kopf. Bei Rauchentwicklung ist es am besten, wenn man sich flach auf den Boden legt, das erleichtert die Atmung.«
*Falls du dich für Großvater Larrys Korkenkompass interessierst, sieh im Appendix nach. Das heißt so viel wie Anhang. Er befindet sich am Ende des Buches und ist nicht zu verwechseln mit dem Wurmfortsatz deines Blinddarms.
Er und Kass kauerten sich auf den Boden und zogen ihre Hemden über die Nase, als wäre der Raum voller Qualm. Larry deutete auf die alte Messingrutschstange. »Damen zuerst.«
Kass klammerte sich an die Stange und machte einen Schritt über das Loch im Boden.
»Warte«, sagte Larry. »Versprich mir, es nicht deiner Mutter zu verraten.«
»Versprochen«, sagte Kass und rutschte die Stange hinunter.
Die beiden Großväter unterhielten zwar einen Antiquitätenhandel, konnten es jedoch nicht ertragen, etwas zu verkaufen – zu sehr hingen sie an ihren Sachen.
Das führte dazu, dass der Laden so vollgestopft war wie ein riesengroßes Labyrinth mit Mauern aus Möbelstücken. Jeder freie Platz war mit Plunder zugestellt – von alten Clown-Gemälden, mechanischen Affen, defekten Schreibmaschinen bis zu Dingen, die sich einfach nicht beschreiben ließen.
Gerade hatten Larry und Kass ihren Weg nach unten angetreten, da ging auch schon die Ladentür auf. Dahinter kamen zwei kurze Beine zum Vorschein, die fast nachgaben unter dem Gewicht eines großen, ausladenden Kartons.
Kaum hatte er die Kiste erspäht, eilte Larry zur Tür, stemmte sich mit beiden Händen gegen den Karton und versperrte den Weg.
»Nein, nein, nein! Böse Gloria!«, sagte er streng, als spräche er mit einem Hund und nicht mit der Person hinter der Kiste. »Habe ich beim letzten Mal nicht gesagt, keine Sachen mehr? Schau dich um. Der Laden platzt aus allen Nähten.«
»Dann lass mich das schwere Ding wenigstens für einen Augenblick abstellen«, beschwerte sich eine Frauenstimme.
Larry hatte Mitleid. Er nahm den Karton und stellte ihn auf der Türschwelle ab. Eine kleine, rundliche Frau in einem leuchtend gelben Kostüm sah ihn finster an. Es war Gloria Fortune.
»Willst du nicht wenigstens wissen, woher ich den Karton habe?«, fragte sie schwer atmend und mit hochrotem Gesicht unter der hohen Bienenstockfrisur. »Faszinierende Sachen . . . aber ganz wie du meinst. Ihr habt hinten einen Abfallcontainer, nicht wahr?«
Larry verschluckte sich fast. »Nein! Ich meine, ja, da ist ein Container, aber...du willst doch nicht...du würdest den Karton doch nicht etwa . . . wegwerfen?«, fragte er, als hätte Gloria gerade einen Mord angekündigt.
Gloria lächelte listig und zupfte an einer widerspenstigen Locke. »Tut mir leid, Larry. Du warst meine letzte Hoffnung. Ich habe jedenfalls keinen Platz mehr.«
Larry zögerte. »Wenn das so ist – warum kommst du nicht auf eine Tasse Tee rein und ich werfe rasch einen Blick in den Karton, bevor du voreilig etwas tust...«
Gloria grinste triumphierend. »Du wirst es nicht bereuen«, versprach sie und trat ein.
Larry hob schüchtern den Karton hoch und folgte ihr nach.
»Tut mir leid«, flüsterte er Kass im Vorbeigehen zu. »Es dauert nur ein paar Sekunden, ähm, Minuten, ähm, fünf, ähm, zehn... zwanzig Minuten – allerhöchstens.«
Gloria, das erfuhr Kass bei ihrer dritten – oder war es schon die vierte? – Tasse Tee, war eine Immobilienmaklerin, eine sogenannte Nachlass-Spezialistin. Mit anderen Worten: Sie verkaufte die Häuser, nachdem die Besitzer gestorben waren. Sie war sozusagen eine Maklerin für Tote.
Gloria liebte Klatsch und Larry lauschte begierig ihren Schauergeschichten über ihre toten Kunden. (Wayne, ein pensionierter Automechaniker, ging meistens weg, um irgendetwas zu reparieren, sobald Gloria aufkreuzte.) Was den Karton anging, so stammte er aus dem Heim eines »seltsamen und zurückgezogen lebenden Mannes – eine Art Magier oder so ähnlich. Wenn ihr mich fragt, ein verschrobener alter Kauz«, sagte Gloria.
»Nun mal langsam, Gloria«, sagte Großvater Larry. »Unter uns gibt es wohl auch ein paar Leute, die in diese Kategorie fallen.«
Der Magier, fuhr Gloria ungerührt fort, war vor einigen Monaten plötzlich gestorben, und zwar bei einem Küchenbrand, dessen Ursache nie richtig geklärt werden konnte. Er hinterließ, soweit bekannt, weder Verwandte noch andere Hinterbliebene. »Nicht einen einzigen Freund hatte er, der arme Mann.«
Weil das Haus des Magiers abseits aller ausgetretenen Pfade lag, wäre die Leiche wohl nie entdeckt worden, hätte der Gärtner nicht einen schrecklichen Geruch aus der Küche wahrgenommen.
Kass nickte wissend. »Der Geruch von verwesendem Fleisch kann sehr durchdringend sein«, sagte sie, um zu zeigen, dass sie sich mit solchen Sachen auskannte (obwohl sie, das möchte ich betonen, ihre Kenntnisse über Leichen zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus erster Hand hatte).
»Wohl wahr«, schniefte Gloria. »Aber in Wirklichkeit hat der Gärtner etwas ganz anderes gerochen. Schweflig, so hat er es beschrieben. Wie huevos podridos.«
»Das heißt faule Eier«, sagte Kass, die Spanisch in der Schule lernte.
»Ich dachte, es bedeutet so viel wie Schnattergans«, sagte Gloria spitz.
Kass hielt es für ratsam, nichts mehr zu sagen, erklärte, sie habe Hausaufgaben zu erledigen, und tat so, als sei sie nicht länger an der Geschichte des toten Magiers interessiert. Aber natürlich hörte sie weiter zu, besser gesagt, sie lauschte heimlich, während Gloria ihre Geschichte zu Ende erzählte.
Offenbar gab es gar keine Leiche, Geruch hin oder her. Das Feuer hatte so gewütet, dass von dem Hausbewohner nur noch ein paar Zähne übrig blieben. (Siehst du, ich hab dich ja gewarnt wegen der Zähne.) Seltsamerweise war nur die Küche in Flammen aufgegangen, der Rest des Hauses blieb unversehrt, als sei das Feuer genauso schnell erloschen, wie es ausgebrochen war.
Laut Gloria war die Ursache für den widerlichen Gestank nie entdeckt worden, obwohl es immer noch ein wenig danach roch. Sie hoffte, das würde den Verkauf des Hauses nicht beeinträchtigen, der ohnehin schwierig genug war bei einem Objekt, das »schrullig« war und »ab vom Schuss« lag.
Gloria betonte das, als sei es etwas Anrüchiges, aber Kass, die nicht genau wusste, was sie damit meinte, war begeistert. Sollte sie je ein Haus kaufen, dann müsste es so wie das des Magiers sein.
Nachdem Gloria gegangen war, gesellte sich Wayne zu ihnen und gemeinsam sahen sie die Sachen des Magiers durch. Das meiste davon war enttäuschend. Was Gloria als eine »Vorrichtung, um Tränke zu brauen« beschrieben hatte, stellte sich als ganz normaler Küchenmixer heraus. Und was sie als »Instrument, um etwas verschwinden zu lassen« bezeichnet hatte, war in Wirklichkeit eine Art Fitnessgerät.
Gerade als sie zu dem Schluss kamen, dass sie nun alles Verwertbare aussortiert hatten, fing Sebastian aufgeregt zu bellen an. Der blinde Hund umkreiste den Karton, schnüffelte daran, als wäre etwas darin, was er heiß begehrte. Oder wovor er Angst hatte. Oder beides.
Kass entfernte einen Packen Zeitungspapier vom Boden des Kartons und entdeckte etwas, das ihnen bisher entgangen war: eine kleine Holzkiste.
Sebastians Bellen wurde lauter.
Die flache Kiste ähnelte in Größe und Gestalt einem Aktenkoffer, Scharniere und Verschlüsse waren aus Messing. Sie war aus einem dunkel gemaserten rötlichen Holz und der Deckel war mit verschlungenen Ranken und Blumen verziert, in deren Mitte ein Gesicht eingraviert war. Es war im Profil abgebildet und saugte Rauch in sich hinein.
»Rosenholz«, sagte Wayne und nahm Kass die Schachtel ab, um sie eingehender zu betrachten. »Für eine Zigarrenschachtel ist sie zu groß... vielleicht ein Besteckkasten?«
Larry nickte. »Gut möglich ...im Stil von Art nouveau*.Ungefähr hundert Jahre alt. Französisch?«
*Art nouveau ist tatsächlich französisch und heißt »Neue Kunst«, ist aber, wie du an der Holzkiste siehst, eigentlich alt. Falls du je nach Paris kommen solltest, und ich hoffe, das wird eines Tages der Fall sein, wird dir auffallen, dass die Eingänge zur Metro, der Pariser U-Bahn, mit üppigen Rankenornamenten verziert sind, die aus dem Gehweg in die Höhe zu wachsen scheinen – ein Art-nouveau-Dschungel.
Er nahm die Schachtel und hielt sie hoch, um einen Blick auf ihren Boden zu werfen. »Keine Markierungen. Scheint eine Sonderanfertigung zu sein.«
»Darf ich sie aufmachen?«, fragte Kass. Sie wusste aus Erfahrung, dass es noch stundenlang so weitergehen würde, wenn sie die beiden nicht bremste.
Wayne knuffte Larry und Larry gab die Schachtel an Kass weiter. »Mach du es«, sagte er, obwohl er das zweifellos gerne selbst übernommen hätte.
Während links und rechts je ein Ersatzgroßvater über ihre Schulter blickte, öffnete Kass den Verschluss und klappte den Deckel auf. Beide Männer schnappten nach Luft und daran konnte Kass ablesen, dass sie so etwas noch nie gesehen hatten. Sie selbst auch nicht.
Das Innere der Holzkiste war mit üppigem Purpursamt ausgeschlagen. Und in dem Samt lagen, zu vier Halbkreisen angeordnet, Dutzende von funkelnden Kristallphiolen. Die meisten (Kass zählte später insgesamt neunundneunzig) enthielten Flüssigkeiten in verschiedenen Farben: Lavendelwasser, Bernsteinöl, Alkohol in einem schrillen Grün. Andere waren gefüllt mit unterschiedlich feinem Puder, wieder andere mit Blüten, Blättern, Kräutern und Gewürzen, Holzsplittern und Rinde, ja sogar mit Dreck. Ein Glasfläschchen enthielt eine einzelne Haarsträhne.
»Was ist das, eine Art Chemiebaukasten?«, überlegte Kass laut.
»Hm, könnte sein«, meinte Larry. »Wusstest du, dass man in England Apotheker als Chemiker bezeichnet?«
Als sie den Samt berührte, entdeckte Kass, dass hinter einer Stofffalte etwas verborgen war: eine kleine Messingplakette, auf der die Worte eingraviert waren:
Die Symphonie der Düfte
»Die Symphonie der Düfte?«
»Vielleicht ist das eine Art Werkzeugkasten für Parfümhersteller.«, mutmaßte Wayne.
Kass nahm eine Phiole und öffnete sie. Ein scharfes Zitrusaroma strömte heraus.
»Zitrone«, sagte sie.
Sie gab das Fläschchen an Wayne weiter und nahm ein zweites in die Hand. Die nächsten Minuten verbrachten sie damit, die Glasfläschchen zu öffnen und den Duft zu erraten, den sie enthielten: Pfefferminze, Limette, Kräuterbier (aus der Sas-safras-Wurzel, wie Larry wusste), nasse Wolle, alte Socken, frisch gemähtes Gras.
»Ich glaube, es ist eine Art Riechspiel«, sagte Kass, der das Ausprobieren großen Spaß machte. »Um die Geruchsnerven zu trainieren. Man wird zu Detektiv Spürnase. Damit man im Notfall schnell erkennt, wonach es riecht. Zum Beispiel am Ort eines Verbrechens.«
»Was immer es auch ist, meine Nase ist inzwischen sehr müde«, sagte Larry.
»Nur noch eine einzige.« Kass seufzte und nahm eine Phiole vom Rand der zweiten Reihe. Das Glasfläschchen hatte einen hauchdünnen Sprung und es war fast leer bis auf ein paar Körnchen eines gelben Puders. Kass öffnete die Phiole – und erkannte den Geruch sofort wieder.
Huevos podridos. Faule Eier.
Kapitel drei
Und hier kommt... Max-Ernest!
Frage: Was ist zu wenig für einen,
genau richtig für zwei und zu viel für drei?
Antwort: Ein Geheimnis.
Max-Ernest, elf Jahre alt und hoffnungsvoller Jungkomödiant, hatte den Witz – der streng genommen ein Rätsel war – in einem seiner siebzehn Scherzbücher gelesen und nun probierte er ihn nacheinander an seinen sechsundzwanzig Klassenkameraden aus.
Keiner von ihnen lachte. Sie lächelten nicht einmal.
Die meisten hatten genug von seinen Witzen und machten sich gar nicht erst die Mühe, darauf zu reagieren. Einige wenige sagten: »Aha« oder »Ach ja?« oder »Das ist albern« oder »Keine Witze mehr – du nervst, Max-Ernest!« oder »Warum reicht dir nicht ein einziger Name, so wie allen anderen auch?«
Du oder ich würden vermutlich in Tränen ausbrechen, wenn man uns so niederbügeln würde, aber Max-Ernest war daran gewöhnt. Er ließ sich von dem, was andere Leute sagten, nicht aus der Ruhe bringen.
Später einmal würde er der lustigste und beste Stegreif-Komiker aller Zeiten sein. Er musste nur noch ein wenig üben.
Max-Ernest ließ seinen Blick über den Schulhof schweifen, auf der Suche nach jemandem, dem er seinen Witz noch nicht erzählt hatte. Es war nur noch eine Schülerin übrig. Sie kauerte am Rand des Fußballfelds, neben ihr lag eine Baseballmütze.
Er kannte sie nicht näher, weil sie nicht in derselben Klasse waren. Aber er wusste, wer sie war. Das verrieten ihm ihre großen, spitz zulaufenden Ohren.
Da ich schon den Fehler gemacht habe, Kassandras hervorstechendstes äußerliches Merkmal zu erwähnen (Ja, ihre Ohren! Ich bin fälschlich davon ausgegangen, dass sie sie immer versteckt.), kann ich dir genauso gut auch unseren zweiten Helden, Max-Ernest, beschreiben. Aber denk dran, was ich dir gesagt habe von wegen vergessen. Also sieh zu, dass du das, was du über Max-Ernests Aussehen erfährst, sofort aus deinem Kopf verbannst – zu deiner eigenen Sicherheit.
Er war ziemlich klein, aber das Auffälligste an ihm war sein Haar. Es stand in alle Himmelsrichtungen ab, wie bei einer Comicfigur, die gerade den Finger in die Steckdose gesteckt hat.
Dabei war seine Frisur keine Frage der Mode, es ging vielmehr um Philosophie. Max-Ernest schnitt jedes einzelne Haar auf die exakt gleiche Länge, weil er keins seiner Haare bevorzugen wollte. Haare mochten zwar aus abgestorbenen Zellen bestehen, so argumentierte er, aber sie wuchsen dennoch und verdienten es daher, gerecht behandelt zu werden. (Falls du seinen Standpunkt verschroben und exzentrisch findest, kann ich dir nur beipflichten.)
Dass Haare abgestorben sind, aber dennoch wachsen, ist ein wohlbekanntes Paradox: Etwas, das unmöglich erscheint, aber dennoch so ist. Max-Ernest mochte Paradoxe wie auch sonst alle Rätsel, Scherzfragen und Wortspiele.
Max-Ernest mochte auch Mathematik. Und Geschichte. Und Naturwissenschaften. Und so ziemlich jedes andere Fach auch.
Trotz seiner schmächtigen Statur zog Max-Ernest die Aufmerksamkeit auf sich, wo er auch hinging. Er konnte nichts dafür. Max-Ernest war, wie du bald feststellen wirst, eine Plaudertasche. Eine große sogar. Er redete die ganze Zeit. Ununterbrochen. Sogar im Schlaf.
Sein »Zustand«, wie seine Eltern es nannten, war so schlimm, dass sie schon zahllose Experten aufgesucht hatten in der Hoffnung auf eine eindeutige Diagnose.
Der erste sagte, Max-Ernest habe eine Aufmerksamkeitsstörung. Der zweite erklärte, der erste sei selbst gestört. Der dritte behauptete, Max-Ernest sei Autist, der vierte, er sei Artist. Einer stellte ein Tourette-Syndrom fest, der nächste tippte auf Asperger-Syndrom. Ein anderer war davon überzeugt, dass das eigentliche Problem die Eltern wären, die unter dem Münchhausen-Syndrom litten.
Und wieder ein anderer behauptete, Max-Ernest bräuchte nichts weiter als eine ordentliche Tracht Prügel.
Sie verabreichten ihm Pillen und verordneten Übungen. Aber je verbissener sie ihn zu heilen versuchten, desto schlimmer wurde es mit ihm. Statt mit dem Reden aufzuhören, redete er nach jeder neuen Kur nur noch mehr.
Am Ende konnten sich die Experten ebenso wenig auf eine Bezeichnung für seine Krankheit einigen, wie seine Eltern es bei seinem Namen geschafft hatten.
Wie aus Max-Ernest Max-Ernest wurde
Eine Kurzgeschichte
Max-Ernest war ein Frühchen. Das heißt, er wurde früher geboren – ungefähr sechs Wochen zu früh. Bei seinem Eintritt in die Welt hatten seine Eltern noch nichts unternommen, um sich auf seine Ankunft vorzubereiten. Sie hatten keinen Kinderwagen, kein Bettchen, keine grässlichen Spieluhren, keine Babyfeuchttücher und keine Großpackung Windeln. Auch lagen noch reihenweise spitze, gefährliche Dinge im Haus herum. Und sie hatten keinen Namen für ihn. Während das kleine, verschrumpelte rosige Bündel, aus dem später einmal Max-Ernest werden wollte, im Brutkasten der Klinik lag wie ein kleines Hühnchen (oder eher wie ein Kaninchen?) und in diesem Glasofen vor sich hin brutzelte, stritten seine Eltern darüber, wie er heißen sollte. Seine Mutter wollte ihn nach ihrem Vater Max nennen, der Vater dagegen nach seinem Vater Ernest. Keiner von beiden gab nach. Max-Ernests Mutter erklärte, eher würde ihr Kind ohne einen Namen durchs Leben gehen, als einen so altmodischen Namen wie Ernest zu tragen. Der Vater schwor, dass er lieber überhaupt kein Kind haben wollte als eins mit einem so armseligen, unbedeutenden Namen wie Max. Da er erst wenige Tage alt war, konnte Max-Ernest seinen Eltern nicht mitteilen, welchen Namen er selbst bevorzugte. Aber das hinderte die beiden nicht. Wenn er schrie, wertete seine Mutter das als Zeichen dafür, dass er den Namen Ernest hasste und lieber Max heißen wollte. Wenn er sich vollspuckte, fühlte sein Vater sich bestätigt, dass er den Namen Max hasste und lieber Ernest gerufen werden wollte. Am Ende drohte die Krankenschwester damit, das Kind zur Adoption freizugeben, falls die Eltern sich nicht endlich auf einen Namen einigten. Daher beschlossen sie, den Streit zu beenden und beide Namen in die Geburtsurkunde eintragen zu lassen. Aber die Auseinandersetzung hatte sie so wütend und verbittert gemacht, dass sie noch am selben Tag, als sie mit dem Baby das Krankenhaus verließen, die Scheidung einreichten. Inzwischen ist Max-Ernest elf Jahre alt und kann schon lange sprechen. Aber immer wenn ihn die Eltern fragen, welchen Namen er bevorzugen würde, so wie jedes Jahr zu seinem Geburtstag, wird er stumm wie ein Fisch. Er weiß, sobald er einen Namen auswählt, entscheidet er sich auch für ein Elternteil, und wie die meisten Kinder will er genau das nicht.
So kommt es, dass Max-Ernest bis zum heutigen Tag zwei Namen hat und sie wahrscheinlich auch noch für den Rest seines Lebens haben wird.
Als Max-Ernest Kassandra auf dem Schulhof erspähte, war sie gerade dabei, mit bloßen Händen in der Erde zu wühlen. Unter ihren Fingernägeln sammelte sich Dreck und sie murmelte vor sich hin, dass sie besser Schutzhandschuhe übergezogen hätte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, so unvorbereitet an etwas heranzugehen.
Sie starrte auf eine Stelle ganz in der Nähe, unterhalb der Tribüne, wo ein kleines, flauschiges graues Etwas im Gras lag: eine tote Maus.
Möglich, dass die Maus eines natürlichen Todes gestorben war, überlegte Kass. Aber warum roch es dann hier nach faulen Eiern? Was, wenn die Todesursache dieselbe war wie bei dem Magier? Was, wenn die ganze Stadt auf einer Giftmülldeponie erbaut worden war? Wenn sie nichts dagegen unternahm, wären alle Menschen, die sie kannte, zum Untergang verurteilt!
Oder sollte sie genau das zulassen? Vielleicht verdienten es die Menschen ja nicht anders.
Falls du es noch nicht erraten hast, Kass hatte heute einen schlechten Tag.
Am Morgen hatte sie ihrer Schuldirektorin, Mrs Johnson, mitgeteilt, sie hätte Grund zu der Annahme, dass die Schule auf einer Giftmülldeponie stehe. Gleichzeitig hatte sie vernünftigerweise vorgeschlagen, die Schule räumen und das Erdreich umgraben zu lassen.
Mrs Johnson, die eine Prinzipienreiterin war (»Eine Direktorin mit Direktiven«, wie sie es selbst bezeichnete), musterte Kass streng. »Wie lautet das Zauberwort, Kassandra? Ganz gleich, ob du um ein Glas Wasser bittest oder um eine Evakuierung der Schule?«
»Bitte, lassen Sie die Schule räumen«, sagte Kass ungeduldig.
»So ist es besser. Die Antwort lautet Nein. Was habe ich dir schon einmal über blinden Alarm gesagt?«
Von da an wurde der Tag noch schlimmer.
»Du siehst aus, als könntest du einen Smoochie vertragen.«
Amber fing Kass auf dem Rückweg vom Direktorat ab und es gab kein Entkommen. Das gab es bei Amber nie.
Amber war das netteste Mädchen in der Schule und das dritthübscheste.*
Ambers einziger Fehler, den man wohl eher einen reizenden Fimmel nennen sollte, bestand darin, dass sie, wie sie es selbst gern umschrieb, »total süchtig« nach einer bestimmten Marke Lippenbalsam war, ebenjenen samtweichen, superfeuchten Smoochies** von Romi und Montana (Romi und Montana Skelton, auch bekannt als die Skelton-Schwestern, waren reiche Teenie-Erbinnen und Fernsehstars, die über ein eigenes Kosmetikimperium herrschten und von Amber »total verehrt« wurden). Jede Woche hatte Amber einen Lippenbalsam mit neuer Geschmacksnote und verschenkte den alten. Für die meisten Schüler war es eine große Ehre, einen von Ambers abgenutzten Smoochies zu bekommen, und sie hängten ihn sich um den Hals wie eine olympische Medaille. Kass aber wusste, dass sie nur deshalb so viele bekam, weil Amber Mitleid mit ihr hatte.
* Niemand konnte sagen, woher diese Beurteilung stammte; es waren Tatsachen, so wie die Schwerkraft oder Mrs Johnsons Hüte.
** Sprich: Smuutschies
Und Kass hasste es, wenn andere sie bemitleideten.
Jedes Mal wenn sie einen Smoochie annahm, schwor sie sich, beim nächsten Mal abzulehnen, aber Amber schaffte es immer wieder, Kass zu überrumpeln, wenn sie gerade nicht auf der Hut war. Ehe Kass sich’s versah, murmelte sie schon ein Dankeschön und stopfte einen weiteren Balsamstift tief in ihre Tasche.