Der Urwald ist ein riesiges Labor,
in dem neue Arten gezeugt, getestet
und wieder eliminiert werden, wenn
sie sich als mangelhaft erweisen …
ALEXANDER SKUTCH
A Naturalist in Costa Rica
Karen Dudley
Gefährliche Gewächse
Ins Deutsche übertragen von Berthold Radke
Thriller
Edel eBooks
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Ein Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright dieser Ausgabe © 2013 Edel Germany GmbH
Neumühlen 17, 22763 Hamburg
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Copyright © Karen Dudley
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel “Macaws of Death”
Konvertierung: Datagrafix
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nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-314-3
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Der Urwald ist ein riesiges Labor,
in dem neue Arten gezeugt, getestet
und wieder eliminiert werden, wenn
sie sich als mangelhaft erweisen …
ALEXANDER SKUTCH
A Naturalist in Costa Rica
Meine Schwierigkeiten begannen, als er in mein Büro kam. Seine Haare waren dunkel, eher schwarz als braun, und er kam auf Beinen daher, die wohl niemals schlappmachen würden. Seine Augen waren grün, groß und irgendwie unschuldig. Augen, die sagten, sie haben nichts zu verbergen. Ich hörte nicht auf sie. Wir haben wohl alle ein paar Leichen und geheimnisvolle Skelette im Keller, die wir am liebsten gut verstecken möchten. Mit Skeletten kenne ich mich aus. Mein Name ist Devara. Robyn Devara. Ich bin professionelle Ornithologin.
Es ist eine anstrengende Arbeit, aber ich bin eine zähe Frau. Deshalb zahlt man mir auch die großen, grünen Scheine. Und als der hochgewachsene Dunkelhaarige mein Büro betrat, war mir sofort klar, dass er nicht gekommen war, um mich mit einer schwedischen Massage zu verwöhnen. Eigentlich schade.
Er trat nicht zum ersten Mal durch meine Tür, und wohl auch nicht zum letzten Mal. Er hatte einen Fall für mich. Und ich hegte den leisen Verdacht, dass der nicht leicht zu lösen sein würde. Das waren sie nie …
»Erde an Robyn. Bitte melden, Robyn.« Kelt wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht.
Ich blinzelte und senkte mein Buch. »Äh … was?«
Er lehnte sich an meinen Schreibtisch und neigte den Kopf, um erkennen zu können, was ich gerade las. »Der lange Abschied? Hmmm. Du hast schon wieder Arifs Bibliothek geplündert.«
»Erwischt.« Ich grinste ihn an. »Was gibt’s denn?«
»Ein Anruf für dich auf Leitung zwei. Ich weiß, du hast gerade Mittagspause, aber es ist jemand von Environment Canada.«
»Von der Bundesregierung? Was will der Typ denn?« Ich schob mein Lesezeichen zwischen die Seiten.
Kelt drückte sich vom Schreibtisch weg und zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht. Sehe ich aus wie ’ne langbeinige Sekretärin? Ich bin bloß der Kleinsäugerbiologe.«
»Wie schade. Du würdest ganz reizend aussehen in einem dieser hautengen Röckchen.«
»Träum weiter«, grinste Kelt und tänzelte zur Tür.
Ich musste lachen und äugte sehnsüchtig auf seinen Hintern. Im Grunde passte er genau in meine Träume, aber gefälligst ohne so ein kaschierendes Röckchen.
Ich seufzte schwer und griff zum Hörer. »Hier spricht Robyn Devara.«
»Hallo, ich rufe von Environment Canada an. Mein Name ist Ross Anderson. Ich bin Vollzugsbeamter für CITES.«
Bei seinen Worten setzte ich mich aufrecht hin. CITES steht für die Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora – ein ziemlicher Zungenbrecher. Die Organisation hatte wesentlich dazu beigetragen, Anfang der siebziger Jahre den Handel mit bedrohten Tierarten einzuschränken. Als umweltbewusste Biologin bewunderte ich sie.
»Hallo Ross«, begrüßte ich ihn. »Was kann ich für Sie tun?«
Ross war offenbar niemand, der groß um den heißen Brei herumredete, sondern er kam gleich zur Sache. »Sie könnten tatsächlich etwas für mich tun – zumindest hoffe ich das.«
»Na klar, ich versuch’s.«
»Ich benötige Ihre Fachkenntnis.«
»Sie brauchen eine Orni?« Ich nahm einen Bleistift und rollte ihn zwischen den Fingern.
»Genau. Vor ein paar Wochen sind am Calgary Flughafen drei Koffer angekommen. Niemand hat sie abgeholt, daher ist der Zoll auf den Plan getreten. Um es kurz zu machen, jemand hat was Übles gerochen und die Koffer geöffnet. Daraufhin hat man mich eingeschaltet.«
»Was war denn drin?«
»Tote Vögel«, antwortete Ross in diesem müden Tonfall, der verriet, dass er so etwas schon viel zu oft gesehen hatte. »Hellrote Aras, ein paar Bechsteinaras, eine Rotstirnamazone, jede Menge verschiedener Sittiche …«
Ich spielte nicht länger mit dem Bleistift herum. »Die Papageienfamilie«, sagte ich.
»Genau«, stimmte Ross zu. »Vogelschmuggel – vor allem Papageienschmuggel – ist ein riesiges Problem für uns.«
»Davon hab ich schon gehört. Aber, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Mit einer Identifizierung.«
»Einer Identifizierung? Sind Ihre Leute denn nicht darauf spezialisiert?«
»Und wie«, versicherte er mir gewissenhaft. »Aber wir haben hier einen Vogel, den wir überhaupt nicht einordnen können. Er muss einfach bedroht sein. So einen hab ich noch nie gesehen. Ich hab’s schon bei Fish and Wildlife probiert, aber die waren auch aufgeschmissen. Dann hab ich Ella Dolynchuk vom Nationalmuseum angerufen.«
»Die wollte ich Ihnen gerade vorschlagen. Sie weiß mehr über Papageien als jeder, den ich kenne.«
»Hab ich auch schon gehört. Aber leider kann sie anhand der Beschreibung keine Bestimmung vornehmen. Und die nächsten acht Monate ist sie im Ausland. So ’ne Art Sabbatjahr.«
»Hat sie mich empfohlen?«
»Ja, sie meinte, Sie hätten Ihre Dissertation über Papageien geschrieben.«
»Das stimmt auch. Aber ich hab Aras nur klassifiziert und sie eigentlich nicht beschrieben –« Ich legte eine Pause ein. »Hören Sie, Ross, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich würde mir sehr gerne Ihren geheimnisvollen Vogel ansehen. Aber ich möchte nicht, dass Sie sich allzu große Hoffnungen machen. Es ist gut möglich, dass ich ihn nicht für Sie bestimmen kann.«
»Das verstehe ich ja, aber wenn Sie mal hier vorbeikommen und es versuchen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Dann müsste ich den Vogel nicht extra ins gerichtsmedizinische Labor von Oregon schicken lassen – obwohl ich am Ende vielleicht doch dazu gezwungen bin.«
Ich nahm mir ein Schmierblatt und griff erneut zum Bleistift. »Na schön, wie ist Ihre Adresse?«
Ross Anderson war eine große, schlaksige Gestalt mit wasserblauen Augen und einer Hautfarbe, die ein bisschen mehr Sonne gut vertragen hätte.
»Kein schöner Anblick«, warnte er mich, als wir den Gang entlang zu den Kühlkammern gingen. »Sie waren in PVC-Rohre gestopft. Vierzehn Vögel in einem Koffer, jeweils elf in den anderen. Vermutlich hat man sie betäubt, damit sie ruhig blieben. Wissen Sie, manchmal flößt man ihnen Tequila ein, manchmal sticht man ihnen die Augen aus, damit sie kein Tageslicht sehen und nicht zu singen anfangen.«
Ich verzog angeekelt den Mund. Ross nickte zustimmend.
»Und was ist schief gegangen?«
Ross zuckte die Schultern, sein harter Gesichtsausdruck passte nicht zu dieser lockeren Geste. »Sie meinen, warum sie gestorben sind?«
»Genau.«
»Das ist nicht ungewöhnlich. Es ist so ziemlich Standard, dass die Sterblichkeitsrate neun von zehn beträgt.«
Ich holte tief Luft. »Das ist hoch.«
Wir blieben vor einer grauen Metalltür stehen, die dringend einen Anstrich gebraucht hätte. Ross zog einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. Die Tür öffnete sich quietschend.
Zum Glück waren die konfiszierten Vögel aus ihren PVC-Särgen herausgeholt und in einem Tiefkühler verstaut worden, um sie zu erhalten. So hielt sich wenigstens der Geruch in Grenzen. Ross hob einen langen, braunen Pappkarton aus einem Kühlfach und schob ihn auf den Tisch aus rostfreiem Stahl in der Mitte des Raumes.
»Da sind sie«, sagte er und öffnete den Deckel.
Selbst nach ihrem schrecklichen Tod hatten die Vögel nichts von ihren herrlichen Farben verloren. Leuchtendes Dunkelrot, sattes Smaragdgrün, ein pulsierendes Gelb – sie brachten ein lebhaftes Bild der Tropen in diesen kalten Betonraum.
»Oh, Scheiße«, fluchte ich leise, als Ross die traurigen Kadaver herausnahm und auf den Tisch legte.
»Hier ist der, den ich nicht einordnen kann«, sagte er und langte wieder in den Karton. »Was meinen Sie?«
Der Vogel, den er mir präsentierte, war, mit einem Wort gesagt, spektakulär – oder war es zumindest gewesen, als er noch gelebt hatte. Zweifellos ein Ara. Er musste etwa einen Meter lang sein und hatte den großen Schnabel und die typische Körperform, durch die sich Aras von kleineren Papageien unterscheiden. Aber die Farben! Schneeweiße Brust, leuchtend roter Kinnstreif und einen dunklen, purpurnen Rücken. Kein Ara, der mir je unter die Augen gekommen war, hatte so ausgesehen. Vorsichtig hob ich einen der Flügel an und spreizte ihn. Ein tiefgelbes Band dekorierte die oberen Armdecken und betonte das dunkle Purpur.
»Das ist …«, ich blickte zu Ross hoch, der mich eindringlich ansah. »Das ist ganz unglaublich! Ich habe noch nie einen derartig gefärbten Ara gesehen. Es sei denn …«, ich verstummte und untersuchte den Vogel genauer. Diese purpurne und weiße Färbung … diese Goldbänder … der Kinnstreif …
»Das gibt’s doch gar nicht!«, keuchte ich.
Ross seufzte enttäuscht. »Wie schade. Ich hatte wirklich gehofft, Sie könnten helfen –«
»Nein, nein, Sie verstehen nicht!«, unterbrach ich ihn vor Aufregung ganz unhöflich. »Ich habe noch nie einen Ara von solcher Färbung gesehen, weil er noch nie zuvor beschrieben wurde. Zumindest nicht offiziell. Wenn ich mich nicht irre, dann«, ich verstummte und holte tief Luft, »dann ist das … eine völlig neue Art.«
»Eine neue Ara-Art?«, fragte Ben und zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Bist du ganz sicher?«
»Absolut«, erwiderte ich. »Für meine Dissertation habe ich mich mit Aras beschäftigt, sie studiert, ja mit ihnen gelebt. Das Nationalmuseum in Ottawa hat die beste Sammlung tropischer Vögel im Land – tote, natürlich. Präparierte Studien-Bälge. Ein Jahr lang habe ich dort im Lagerraum campiert.«
Das war kaum übertrieben. In jenen Monaten hatte ich hinter einem Lagerschrank einen Schlafsack gehabt, für die vielen Male, wenn Koffein versagt hatte. Zählte ich meine Freitagabende mal zusammen, würde vermutlich herauskommen, dass ich den Großteil mit toten Vögeln statt mit lebenden Männern verbracht hatte (was ein ziemlich guter Grund dafür war, lieber nicht nachzurechnen).
Geistesabwesend nippte ich an meinem Kaffee, dachte an die langen Nächte, die flackernden Neonlichter und den durchdringenden Geruch von Mottenkugeln und Formaldehyd, wegen dem ich häufig selbst wie eine muffige Decke gerochen hatte.
»Ich kann nicht glauben, dass du dieses Zeug da trinkst.« Ben deutete auf meine Tasse und rümpfte angewidert die Nase. »Das steht schon den ganzen Nachmittag hier rum.«
Ich besah mir die ölige Brühe und schmeckte sie zum ersten Mal richtig. »Gut erkannt.«
»Ein Bier würde bestimmt viel besser runterlaufen«, bemerkte er mit gekünstelter Lässigkeit.
In gespielter Erwartung verzog ich den Mund.
»Das würde es wohl«, stimmte ich zu.
»Kelt und Ti-Marc halten einen Tisch frei.«
»Verstehe.«
»Wir dachten, du erzählst uns vielleicht, hinter was CITES eigentlich her war.«
»So, habt ihr gedacht. Und Kaye …?«
»... mit ihrer Nichte aus. Irgendein Frauenfilm im Plaza.«
»Aha«, sagte ich verständnisvoll und meinte dann achselzuckend: »Es ist dein Cholesterinspiegel.«
Ben rieb sich die Hände. »Wenn wir uns beeilen, gibt es die Chicken-Wings noch zum halben Preis.«
Ich begann, ein paar Sachen in meinem Rucksack zu verstauen. »Schon gut, ich beeile mich ja«, seufzte ich und verscheuchte ihn aus meinem Büro.
Vor einigen Monaten hatte Bens Ärztin ihm geraten, sich mehr zu bewegen, weniger Kaffee zu trinken und sich die Arschlöcher dieser Welt nicht so zu Herzen zu nehmen. Obendrein hatte sie ihm eine strikte, möglichst fettarme Diät verordnet, von der Ben, was womöglich ein Fehler war, seiner Frau Kaye erzählt hatte. Seitdem war Woodrow Consultants nicht mehr dasselbe.
Kaye war obendrein Bens Geschäftspartnerin und eine äußerst scharfsinnige Frau. Daher merkte sie immer schnell, wenn Ben mal über die Stränge schlug und sich von würzigen Chicken-Wings und schaumigem Bier verführen ließ. Auf ihr Missfallen reagierte Ben mit lautstarken Beteuerungen, dass Bier doch das gesündeste aller Getränke und der Cayennepfeffer der Barbecue-Sauce gut gegen seine verstopften Arterien sei. Und außerdem enthielte die Selleriestange, die als Beilage für die Hühnerflügel diente, bestimmt genügend Ballaststoffe, um die Wirkung des ganzen Fetts zu neutralisieren.
Damit überzeugte er jedoch niemanden, am allerwenigsten Kaye, die ihm in aller Deutlichkeit klar machte, dass er, voll gestopft mit gesättigten Fettsäuren, bald an einem Herzinfarkt sterben werde. Sie dankte lediglich dem lieben Gott, dass sie in Kanada lebten, wo die Gesundheitsvorsorge kostenlos war. Er sammelte auf diese Weise wenigstens keine riesigen Krankenhausrechnungen an, und sie könnte somit das Geld aus seiner Lebensversicherung für eine Weltreise – in freizügigen Kleidern – benutzen und heiße Affären mit deutlich jüngeren Männern haben.
Ben und ich verließen das Büro und fuhren im Calgary C-Train in die Stadt. Als wir die Kneipe betraten, saßen Kelt und Ti-Marc, Woodrows Empfangssekretär, bereits am Tisch und langten kräftig zu. Sie knackten Hühnerbeine, bissen herzhaft ins knusprig gebratene Fleisch und leckten sich laut schmatzend klebrige Barbecue-Sauce von den Fingern. Dieser Vorgang wurde nur von gierigen Schlucken und gelegentlichen, schlecht kaschierten Rülpsern unterbrochen: Fütterung in der Savanne. Ben und ich zwängten uns in die Sitzbank und langten ebenfalls zu.
»Wie war denn dein Treffen?«, erkundigte sich Ti-Marc und tauchte seine Finger in eine Schale mit Zitronenwasser, um sie anschließend sorgfältig an seiner Serviette abzuwischen.
Während ich auf mein Bier wartete, erzählte ich ihnen von dem Ara.
»Aber woher willst du wissen, dass es ein neuer Ara ist?«, fragte Kelt, als ich geendet hatte. »Vielleicht ist diese ganz spezielle Art ja nur nicht in der Sammlung des Museums vertreten.«
Ich schüttelte bereits den Kopf, bevor er ausgeredet hatte. »Ich weiß, dass er neu ist, da ich mich mit der einschlägigen Literatur – selbst mit dem obskuren Zeug – befasst habe. Deshalb hab ich den Vogel auch erkannt und gewusst, woher er stammt.«
»Aus Costa Rica.«
»Genau. Wisst ihr, vor zehn oder fünfzehn Jahren hat ein Amerikaner – Scott Gray – unten in Costa Rica eine Forschungsstation aufgebaut: die biologische Freilandstation Danta …«
»Danta. Ist das nicht Spanisch für Tapir?«
»Genau«, ich nickte. »Gray war Experte für Tapire. Er hat sie zwanzig Jahre lang studiert und zu diesem Zweck auch die Station aufgebaut. Ich glaube nicht, dass Danta damals mehr war als ein paar Wellblechhütten unten im Corcovado.«
»Corcovado. Das ist einer der Nationalparks, glaube ich«, meinte Ti-Marc, klaubte alle ungegessenen Selleriestangen zusammen und bot sie Ben zuvorkommend an. »Ein Freund von mir ist letztes Jahr runtergeflogen.«
»So ist es«, bestätigte ich. »Corcovado liegt ziemlich abseits in der südwestlichen Ecke von Costa Rica. Schwer zugänglich und offenbar noch schwieriger zu durchkämmen, aber Gray wollte unbedingt die Tapirkolonien dort studieren. Er hatte finanzielle Reserven und hat die Station aufgebaut.«
Mit einer gequälten Grimasse machte Ben sich über den Stapel Selleriestangen her. »Und was ist passiert?«, wollte er wissen. »Du hast doch gesagt, die Station wäre nicht mehr in Betrieb. Ist ihm das Geld ausgegangen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Es gab irgendeinen Unfall – ich weiß nicht mehr, was genau passiert ist, aber Gray kam ums Leben. Ohne seinen Einfluss und seine Energie konnten sie die Station nicht halten. Das Ganze ist trotzdem spannend. Obwohl Gray ein Tapir-Mann war, hat er seine übrigen Beobachtungen in ziemlich guten Geländenotizen festgehalten. Und am Ende hat er einige davon beim Naturkundeverein seines Ortes veröffentlicht. Ich weiß zwar nicht, wieso, aber das Nationalmuseum hat Kopien davon in seinem Archiv.« Ich zuckte die Schultern. »Die müssen wohl auf der Mailing-Liste gestanden haben, oder so.«
»In der guten, alten Zeit, als Museen und Bibliotheken noch Geld hatten, das alles zu abonnieren«, knurrte Ben, den Mund voller Sellerie.
»Vermutlich«, ich nickte und fuhr fort, bevor Ben anfangen konnte, eine Rede über Budgetkürzungen zu schwingen. »Jedenfalls hat Gray über einen Ara berichtet, wie ihn Ross in seinem Tiefkühler hatte. Der purpurne Rücken, der weiße Bauch, der dunkelrote Kinnstreif – stimmt alles. Dumm war nur, dass Gray der Einzige war, der den Vogel jemals gesehen hat – und selbst er hat in seiner Veröffentlichung zugegeben, dass Vögel eigentlich nicht sein Spezialgebiet seien.«
»Da müssen doch auch andere Leute auf der Station gewesen sein«, bemerkte Kelt.
»Natürlich. Ein paar Studenten und vermutlich ein paar Einheimische, aber niemand außer ihm hat den Vogel je gesehen. Man vermutete, dass die Farben wahrscheinlich gar nicht so leuchtend waren, wie Gray sie beschrieben hatte, und der Vogel wurde als eine Art Semi-Albino eines Gelbbrustaras abgeschrieben.«
»Aber du bist anderer Meinung?«
»Auf jeden Fall. Der Vogel, den ich heute gesehen habe, hat praktisch geleuchtet, so intensiv waren seine Farben. Falls das einer der von Gray beschriebenen Vögel gewesen ist – und es sieht ganz danach aus –, dann ist er kein sonst wie gearteter Albino.«
Ben nahm eine weitere Selleriestange. »Weiß man denn, von wo der Vogel verschifft wurde?«
»Na ja, an dem Koffer hingen Anhänger aus San Diego, aber das hat wohl nicht viel zu sagen.«
»Die Vögel werden also gewaschen?«
»Ja, gewöhnlich über Mexiko, dann über die US-Grenze. Von dort werden sie um die Staaten herumgeschifft, rauf nach Kanada, sogar rüber nach Australien. Mir ist nicht ganz klar, wie die Jungs von Fish and Wildlife diese Lieferung ausfindig gemacht haben, aber Ross hat mir erzählt, dass sie vermuten, die Koffer hätten ihre Reise in Costa Rica begonnen.«
»Was deine Hypothese unterstützt.«
Ich nickte erneut und trank mein Glas leer. »Ross war sehr an meiner Meinung interessiert. Da Ella Dolynchuk gerade nicht im Lande ist, bin ich wohl die nächstbeste Ara-Expertin. Unsere Freunde bei Environment Canada haben scheinbar noch was mit mir vor.«
Da wusste ich aber noch nicht, dass sich dieser lässige Kommentar als eine Art »Houston, wir haben ein Problem« erweisen würde. Noch bevor wir unseren nächsten heimlichen Abend mit Bier und Chicken-Wings planen konnten, wurde ich mit Spritzen attackiert, mit Anti-Malaria-Pillen vollgestopft und in ein Flugzeug nach San José gesetzt.
CITES hatte mich angeheuert.
Jeder Biologe weiß, dass das Artensterben ein natürliches Merkmal des Lebens sein kann. Und jedes Schulkind weiß, dass es dafür heute oft ganz andere Gründe gibt: Raubbau, Verlust des Lebensraumes, Pestizide und Verschmutzung – die Liste ist erschreckend bekannt und musste in den letzten Jahren um den so genannten Internationalen Handel erweitert werden.
Verbesserungen im Transportwesen ermöglichen nunmehr, in kürzester Zeit Tiere und Pflanzen von jedem Ort der Welt zum nächsten verschiffen zu können. Keine gute Sache, falls Sie zufällig zu einer bedrohten Art gehören sollten und es Leute gibt, die Riesensummen locker machen, bloß um Sie auf ihren Schultern präsentieren zu können, gerade weil Sie bedroht sind. Oder, um Sie bei sich zu Hause in einen winzigen Käfig zu sperren, damit man Sie stolz sämtlichen Freunden vorführen kann: »Seht euch doch mal unseren letzten Neuzugang an. Ist er nicht hübsch? Und ausgesprochen selten, er hat uns geradezu ein Vermögen gekostet.«
Es spielt auch keine Rolle, dass der Erwerb dieses »Neuzugangs« die gesamte Population seiner Art dem Aussterben näher bringt.
1973 wurde ein weltweites Kontrollsystem für den Handel mit bedrohten Tierarten eingerichtet. CITES will nicht den gesamten Tierhandel unterbinden, sondern sicherstellen, dass menschliche Bedürfnisse mit den Zielen von Tier- und Naturschützern in Einklang gebracht werden. Problematisch ist nur, dass manche Leute die Bedürfnisse ziemlich weit auslegen, und was den Einklang betrifft … na, sagen wir einfach, es gibt viele Leute, die viele verschiedene Lieder singen.
Der Wert des illegalen Tierhandels beläuft sich heutzutage etwa auf drei bis fünf Milliarden Dollar pro Jahr, was noch vorsichtig geschätzt ist. Weil die Profitspannen mit denen des Drogenhandels vergleichbar sind, handeln viele kriminelle Organisationen nun auch mit geschützten Tierarten. Die Güter werden auf denselben Routen wie Drogen oder Waffen transportiert, gelegentlich sogar in denselben Schiffsladungen. 1993 wurden Hunderte von Boa constrictors am internationalen Flughafen von Miami beschlagnahmt. Die meisten von ihnen waren bereits tot – vermutlich von den achtzig Pfund Kokain zerquetscht, die man in ihre Behälter gestopft hatte.
Trotz dieses Erfolgs der Zollfahndung stellt sich die Frage, wie viele andere Ladungen unentdeckt bleiben. Im Internet können reiche Sammler ihre Suchanzeigen ins Netz stellen oder Chatrooms benutzen, um mit illegalen Händlern Geschäfte zu machen. Und was geschieht, wenn man mit einem Rucksack voller Boa constrictors oder einer wattierten Weste voller seltener Vogeleier erwischt wird? Halb so schlimm, denn allzu oft sind die vorgesehenen Strafen nicht einmal der Rede wert. Angesichts dessen scheint CITES eine armselige Lösung zu sein, die jedoch um einiges besser ist als gar nichts zu unternehmen.
Um eine Tierart unter Artenschutz zu stellen, sind bestimmte wissenschaftliche Informationen erforderlich. An dieser Stelle kommen Leute wie ich ins Spiel. Theoretisch hat CITES zwar in jedem Land seine eigenen Experten, doch es ist schwierig, die exakten biologischen Parameter einer Tierart festzustellen. Daher wird die Analyse oft von einem Team von Wissenschaftlern aus mehreren Ländern und Institutionen durchgeführt. Die kombinierte Fachkenntnis bürgt für genauere Ergebnisse und die Kosten werden aufgeteilt.
Neben den wissenschaftlichen Sachverständigen von CITES in Costa Rica und Kanada hatte sich auch der World Wildlife Fund für diese Expedition interessiert und sich, was noch viel wichtiger war, bereit erklärt, dafür Gelder locker zu machen. Ich musste mich mit zahllosen Bundesbeamten, CITES und WWF-Funktionären treffen, sowie unbezahlten Urlaub nehmen, um dem geheimnisvollen Ara-Team angehören zu können. Doch das schien dafür ein geringer Preis zu sein.
Eine neue Ara-Art.
Mich überkam jedes Mal wieder die pure Begeisterung, wenn ich nur daran dachte, was ich fast dauernd tat. In einem Zeitalter, das eher für das Verschwinden von Tierarten berüchtigt ist, ist das Entdecken einer unbekannten Art so etwa wie das Aufspüren der verlorenen Bundeslade durch Indiana Jones, bloß, dass es sich hier nicht um Archäologie sondern um Biologie handelte. Und (hoffentlich) ohne Nazis ablief.
Das Beste aber war, dass ich noch nie zuvor einen tropischen Regenwald betreten hatte. Und jetzt sollte ich nicht nur in irgendein tropisches Land fliegen, sondern nach Costa Rica, ein Land mit einer immensen Anzahl an Nationalparks und Schutzgebieten. Mit seiner unglaublichen Vielfalt an Leben und seinen üppigen, regensatten Dschungeln war Costa Rica der feuchte Traum eines jeden Biologen. Ich bedauerte nur, dass Kelt nicht mitkommen würde.
Kelt Roberson und ich waren mehr als nur Kollegen, ich wusste bloß nicht, worin dieses mehr bestand. Freunde? Ganz bestimmt. Mehr als Freunde? Die Jury beriet sich noch. Manchmal hegte ich auch den Verdacht, die Jury hätte diese Frage als unlösbare Aufgabe abgelehnt und wäre schon nach Hause gegangen. Da Kelt und ich oft abwechselnd im Freiland eingesetzt wurden und er im Anschluss daran, zum Beispiel über Weihnachten, heim nach British Columbia fuhr, hatten wir uns kaum länger als ein paar Wochen hintereinander in derselben Stadt aufgehalten.
Vielleicht nahmen manche Frauen etwas so Belangloses wie Entfernung ja nicht so wichtig. Vielleicht waren einige Frauen ja so sexy, dass sie einen Kerl über Landesgrenzen hinweg betören konnten. Vielleicht hatte ich auch nur zu viele knallharte Detektivromane gelesen. Doch als Kelt im neuen Jahr zurück nach Calgary kam und die eisige Jahreszeit zunächst keine weitere Freilandarbeit zuließ, war ich in sein Büro geschlendert und so gut ich konnte als Velda aufgetreten und hatte ihn, mit berechnender Schlauheit, gebeten, ob er mir nicht Kochunterricht geben könne.
Oh, den einen oder anderen Tipp in Sachen Küche konnte ich zweifelsohne gut gebrauchen. Wenn es um kulinarische Finesse ging, war ich ein wandelndes Desaster. Aber ich muss zugeben, dass ich gehofft hatte, etwas mehr als nur Speisen zu erhitzen.
Doch nun würden die Kochlektionen wohl bis zu meiner Rückkehr warten müssen. Typisch. Ich hatte keinen Sex mehr gehabt, seit Star Trek: Deep Space Nine abgesetzt worden war, und das ist zu lange her. Zum Teufel, ich konnte mir die ganze Star-Trek-Staffel in meiner Videothek ausleihen. Doch für sexuelle Ekstase gibt es keine Wiederholungstaste.
Wenigstens lud Kelt mich am Vorabend meiner Abreise zum Essen ein.
»Wusstest du, dass es in Costa Rica über achthundertfünfzig Vogelarten gibt?« Mit dem Bestimmungsbuch in der Hand lehnte ich an seinem Türrahmen und begrüßte ihn mit einem Lächeln.
Kelt grinste und bat mich herein. »Dazu hundertfünfunddreißig Schlangenarten, von denen siebzehn giftig sind.«
»An diese Biester versuche ich lieber nicht zu denken«, sagte ich und verzog das Gesicht.
»Ich weiß, was du meinst. Als ich vor ein paar Jahren in Belize war, hab ich mit einem Stock in jedem Unterholz gestochert, bevor ich durchgegangen bin.«
Ich schlüpfte aus meiner Jacke, warf sie Kelt zu und beugte mich vor, um mir die Stiefel auszuziehen. »Hast du denn dort jemals Schlangen gesehen?«
»Oh ja. Einige, inklusive eine Buschmeister – zum Glück nur ihre Schwanzspitze. Aber die, die du nicht siehst, rauben dir den Schlaf. Im Regenwald ist es so dunkel; neben dir auf dem Farn könnte eine Schlange hocken oder zusammengerollt unter deinem Fuß liegen, oder wie eine Kletterpflanze vom Baum hängen, ohne dass du sie –«
»Du kannst gerne wieder damit aufhören.«
Kelt lächelte mich schief an. »Keine Sorge«, sagte er und führte mich in die Küche. »Nach ein paar Tagen denkst du nicht mehr so viel an sie. Du wirst dich wohl fühlen.«
»Aber die Schlangen werden immer noch da sein.«
»Ja, schon.«
»Hmm.«
»Du machst das schon«, versicherte er mir.
»Was ist denn mit dem anderen Viehzeug? Ich hab zwar keine Ahnung, was ich meinem Bruder jemals angetan haben könnte, aber vorhin hat er mir ein Buch in die Hand gedrückt über tropische Spinnen und Skorpione und –«
»Aaach.« Kelt machte eine wegwerfende Handbewegung. »Über die brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen.«
Er hatte gut reden.
Mein skeptischer Blick brachte ihn zum Lachen. »Hast du das Buch denn gelesen?«, fragte er.
»Noch keine Zeit. Ich hab mir nur die Bilder angesehen. Ein paar von den Viechern sind riesig –«
»Und keins von ihnen ist giftig.«
»– und sie … gar keins?«
»Nicht die in Costa Rica. Zumindest«, korrigierte er sich, »sind sie nicht tödlich. Falls du gestochen oder gebissen wirst, schwillt die Wunde vielleicht etwas an und du kriegst wahrscheinlich Fieber, aber du kommst nicht gleich ins große Biologenlabor im Himmel.«
»Hmm«, machte ich erneut.
»Gott, ich wünschte, ich könnte mit dir kommen«, seufzte Kelt, während er den Wein einschenkte.
»Trotz all der Krabbeltierchen?«
Er grinste. »Ja, trotzdem. Hast du eine Ahnung, wie viele Fledermausarten es in Costa Rica gibt?«
Ich verdrehte die Augen und setzte mich auf einen der Küchenstühle. Ich hätte es wissen müssen.
»Nein, aber du wirst es mir bestimmt verraten.«
»Über einhundert!« Seine grünen Augen weiteten sich bei dem Gedanken.
»Nicht möglich!«
»Oh, doch!«
Kelt hatte seine Doktorarbeit über Fledermäuse geschrieben.
»Manche Fledermäuse sind Insekten- oder Fleischfresser, einige saugen aber auch Blut oder ernähren sich von Früchten und Blütensaft.«
»Oh, natürlich.«
»In Costa Rica leben vier Arten aus der Gattung der Pteronotus. Vier, die ein besonders raffiniertes System zur Orientierung entwickelt haben. Je nach Bedarf können sie die Frequenz ihrer Ortungsschreie korrigieren und auch etwas tiefere Rufe aussenden …«
Also, ich bin ja die Erste, die zugibt, dass Fledermäuse reizvolle – sogar faszinierende – Geschöpfe sind, aber Bat Boy hier war durchaus in der Lage, mich stundenlang über sie zu belehren. Abgesehen davon, dass ich gefüttert werden wollte, hatte ich mir andere, interessantere Aktivitäten für diesen Abend vorgestellt.
»Die Scheibenflügel-Fledermaus schläft sogar in aufgerollten Wegerichblättern. Und wenn sich die Blätter alle paar Tage aufrollen, müssen die Fledermäuse einen neuen Schlafplatz finden.«
Ich machte die passenden Geräusche.
»... und dann gibt’s noch die Zelt-Fledermäuse: Kleine, weiße, pelzige Wesen, die mit ihren Krallen die Blattadern von Helikonien durchtrennen, so dass die Blattränder einklappen und ein Zelt bilden.«
»Wirklich?«, hakte ich, schließlich doch neugierig geworden, nach. »Wo leben diese Burschen denn?«
»Auf der Halbinsel Osa.«
»Da fahre ich auch hin.«
Kelt machte ein langes Gesicht. »Ach.«
»Ich mache ein paar Fotos für dich«, ließ ich mich angesichts seiner Enttäuschung erweichen. »Ich werde Blätter aufrollen und unter einige Blätterzelte gucken. Vielleicht treibe ich ja ein paar Fledermäuse auf.«
Er wehrte ab und grinste. »Nee, lieber nicht. Zelt-Fledermäuse haben mehrere Pflanzen als Schlafplatz. Wenn die Fledermäuse nicht unter den Blättern hausen, kannst du ziemlich sicher sein, dass dort Wespen sind – und das sind aggressive Scheißkerle.«
»Verstehe.«
»Aber falls du zufällig über eine Fledermauskolonie stolpern solltest …«
»Dann verschieß ich einen ganzen Film für dich.«
»Danke.«
Er holte ein paar nach Knoblauch duftende Brotstangen aus dem Ofen und arrangierte sie in einem Korb. »Ich freue mich wirklich für dich«, sagte er und versuchte, nicht allzu geknickt zu klingen. »Ich beneide dich, aber ich freue mich für dich. Du warst doch noch nie in Mittelamerika, oder?«
»Ich war noch nirgendwo in den Tropen«, gestand ich ihm. »Allein zu leben und Studentendarlehen zurückzuzahlen ist nicht gerade dienlich, um für einen Urlaub zu sparen. Meine tropischen Urlaube beschränkten sich auf ein Sonnenbad in meinem Wohnzimmer, dazu hatte ich eine Kassette mit Meeresgeräuschen eingeschaltet und eine Dose Thunfisch geöffnet.«
»Eine Dose Thunfisch?«
»Ich wollte das volle Erlebnis für all meine Sinne, aber Kater Guido hat mit dem Thunfisch kurzen Prozess gemacht, daher währte die Freude nur kurz.«
Kelt lachte, da er mein Haustier mit seiner Fisch-Fixierung gut kannte.
»Der Regenwald ist ganz erstaunlich«, fuhr er mit entrücktem Blick fort, »noch mehr, als du denkst. Alles ist so … viel mehr.«
»Wie mehr?«
Er warf die Arme nach oben. »Mehr von allem. Pflanzen auf Pflanzen, auf denen noch mehr Pflanzen wachsen. Insektenschwärme. Alle möglichen Frösche und Echsen. Es ist dunkler als man glaubt, aber trotzdem sind die Farben leuchtender und pulsierender als hier im Norden. Die Luftfeuchtigkeit ist höher, und es klingt auch alles ganz anders. Weißt du, man hört etwas, lange bevor man es zu sehen bekommt und –« Kelt verstummte. »Da wir gerade über Klänge reden, ich hab etwas für dich.« Er verschwand im Wohnzimmer und kam mit einer Musikkassette zurück.
»Hier.« Er überreichte sie mir. »Wenn du keine Brüllaffen und Aras mehr hören kannst, leg die in deinen Walkman ein.«
»Du hast mir eine Kassette aufgenommen?« Ganz gerührt drehte ich die Kassette um und las die Beschriftung. »Rachmaninovs Etüden für zwei Klaviere. Die hab ich ja noch nie gehört.«
»Eine ziemlich seltene Aufnahme«, sagte Kelt. »Die hab ich in der Bibliothek entdeckt, als dort die ganzen LPs ausgemistet wurden. Sie sind wunderschön, sehr entspannend. Fast spirituell. Gefällt dir bestimmt.«
»Das ist wirklich lieb von dir«, sagte ich und strahlte vor Freude. »Danke, Kelt.«
Einen Moment lang erwiderte er mein Lächeln – ein Moment, der sich hinzog und das Raum-Zeit-Kontinuum sprengte. Wir sahen uns fest in die Augen. Ich weiß nicht, welche Tricks meine draufhatten, aber seine schienen dunkler zu werden, seine meeresgrünen Iriden wichen samtschwarzen Pupillen. Ausgesprochen sexy. Ein warmes Kribbeln machte sich in meinem Bauch breit und wanderte schnurstracks zwischen meine Beine. Mir wurde heiß. Ich konnte nicht mehr klar denken. Oder atmen.
Dummerweise war nicht nur ich gar.
Bsssssssssssss.
Ich zuckte zusammen, als die Ofenuhr die Stille zerriss. Kelt wirbelte herum, um sie mit einem Hieb abzustellen. Raum und Zeit hüstelten und setzten sich wieder in Bewegung. Als Kelt sich wieder umdrehte, war der Augenblick verpufft.
Mist. Mist, Mist, Mist, Mist, Mist, Mist, Mist.
»Tja … der, äh«, stammelte er, »der andere Nachteil an, äh, Mittelamerika – außer den Schlangen – ist die Musik.«
Musik! Wen interessierte denn in einem Moment wie diesem Musik? Mich bestimmt nicht. Doch ich spielte mit und hoffte auf eine weitere Gelegenheit. »Ähm … was … stimmt denn nicht mit der Musik?«, gelang es mir zu fragen.
»Eigentlich nichts. Solange du auf Techno oder Disco stehst.«
Ich rümpfte die Nase. »Eher nicht so.«
»Ich weiß. Aber du hast ja jetzt etwas anderes zum Anhören.« Er drehte sich abrupt weg, um dem Abendessen den letzten Schliff zu geben.
Normalerweise stehe ich sehr darauf, wenn Männer mich bekochen, doch zu diesem Zeitpunkt war mir das Abendessen herzlich egal. Trotzdem war das Essen köstlich. Gegrillte Tomaten und Auberginen auf Fettuccine mit jeder Menge anderem Zeug. Echt lecker. Aber nun lastete eine Peinlichkeit auf dem Abend, die sich nicht überspielen ließ, und obwohl ich ganz fest die Daumen drückte, kam es zu keiner weiteren Steigerung auf der Gefühlsskala.
Stattdessen drehte sich die Unterhaltung um Regenwälder und Forschungsarbeiten im Freiland und wechselte schließlich zu Musik und spannenden Krimis. Doch unser Schweigen dazwischen war unsicher, und als ich ihn einmal wie zufällig berührte, zuckte Kelt mit seinem Arm zurück.
Noch vor meinem Eintreffen hatte ich mir einen halbwegs ausgeklügelten Plan ausgedacht, um ihn in eine eindeutige Situation zu bringen (also Lippen auf Lippen), doch die gemischten Signale, die er nun aussendete, verwirrten mich. Jedes Mal, wenn ich den Mund öffnete, um das Thema anzusprechen, fing er mit etwas anderem an. Vermutlich kann ich Andeutungen genauso gut verstehen wie jeder andere. Und vielleicht war es ja auch keine so tolle Idee, ein derartiges Thema am Vorabend einer sechsmonatigen Auslands-Exkursion anzufachen.
Daher erwies sich mein letzter Abend in Calgary als ziemlicher Flop. Vielleicht hatte ich einfach zu viel erwartet. Als dann auch noch Kelts Schwester aus British Columbia anrief und ihn in Sachen Studium um Rat fragte, nahm ich dies als Zeichen und verabschiedete mich. Kelt bot an, mich nach Hause zu begleiten, doch ich meinte, er solle lieber bleiben und mit seiner Schwester reden. Ich bedankte mich fürs Abendessen und das Rachmaninov-Band und dafür, dass er sich während meiner Abwesenheit um meinen Kater kümmern würde. Dann huschte ich nach draußen in die Winternacht auf jene Schlittschuhbahnen, die von den Einheimischen scherzhaft Bürgersteige genannt werden.
Kelt ist ein echtes Rätsel, grübelte ich, als ich nach Hause rutschte. Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. Aber es schien klar zu sein, dass er nicht gerade wild darauf zu sein schien, seinem Namen alle Ehre zu erweisen. Ein Kelt – für alle, die es wissen wollen – ist ein Lachs nach der Laichzeit.