Karen Dudley
Der rote Reiher
Thriller
Ins Deutsche übertragen von Berthold Radke
Edel eBooks
Wenn man ein gebrochenes Bein auskurieren muss, kann ich mir dafür schlimmere Orte vorstellen als Junes Bed & Breakfast. Es befindet sich vier Stunden nördlich von meinem Zuhause in Calgary, in einem dieser riesigen Gutshäuser der Jahrhundertwende, mit Hartholzdielen, Escher-ähnlichen Treppenstufen und dunkler Eichenausstattung. Die Zimmer sind zwar eher klein, wirken aber heiter mit ihren Blumentapeten, pastellfarbenen Bettvorlegern und flauschigen Flickendecken, die extra für June von den Bewohnern des Holbrook Seniorenzentrums hergestellt wurden.
Es gibt ein Wohnzimmer mit tief gepolsterten Sofas, eine Vorderveranda, auf der man die Morgensonne genießen kann, und sogar ein gemütliches Gesellschafts-und-Musik-und-Internet-Zimmer. Doch das Herzstück des Hauses ist die Küche. Es ist ein großer, altmodischer Raum. Ein Ziegelsteinkamin wärmt die weißgetünchten Wände, und an den Deckenbalken hängen Pfannen und Töpfe wie glänzende Kupfer-Fledermäuse aufgereiht nebeneinander. Mit mehreren modernen Geräten, inklusive Spülmaschine, Mikrowelle und zwei herkömmlichen Öfen, bietet sie das Beste aus Vergangenheit und Gegenwart und ist zugleich Küche, Esszimmer, Wohnzimmer und gemütliche Höhle. An vielen Abenden habe ich mich mit einem guten Buch vor den Kamin gekuschelt oder mit June am Tisch gesessen, während sie gleichermaßen gelassen Zimtröllchen und Ratschläge verteilt hat.
Das gesamte Haus atmet diese ganz spezielle Note eines Zuhauses. Und den Göttern war nur allzu bewusst, dass ich diese Geborgenheit dringend benötigte. Ich litt an einem gebrochenen Arm, einem zerschmetterten Bein und einer Depression, die noch tiefer war als die Mülldeponie von Sarlak. In letzter Zeit kämpfte ich mit enormen Stimmungsschwankungen, eine Redewendung, die sich viel zivilisierter anhört, als zu sagen: Ich war eine launische Zicke. Aber in Wahrheit war es gar nicht so sehr die Gereiztheit, die mir zu schaffen machte, sondern es waren die Selbstvorwürfe. Es geschieht nicht jeden Tag, dass man Dinge tut, die mit solch schmerzlich sichtbaren und, laut meinem Arzt, bleibenden Folgen enden. Dass ich zukünftig immer etwas humpeln würde, war nur eines der kleinen Andenken, die die Erinnerung an Marten Valley wach hielten.
Marten Valley. Eine kleine Holzfällerstadt in British Columbia. Eine Stadt, in die man mich geschickt hatte, um Fleckenkäuze zu beobachten, und wo ich, neben den Vögeln, eklatante Industrievergehen, massive Vertuschungsversuche und eine Leiche entdeckt hatte. Ein dramatischer Showdown mit dem Mörder war der Grund dafür, weshalb ich mich derzeit als Schalenweichtier verkleidete.
Aus Rücksicht auf meine verschiedenen Gipse und meine schneckengleiche Mobilität hatte June mir ein Zimmer im Erdgeschoss hergerichtet. In früheren Tagen war es das Arbeitszimmer für den Herrn des Hauses gewesen. Schon vor Jahren hatte June den riesigen Schreibtisch hinausbefördert, die Bücherregale an den Wänden aber behalten, einen Ohrensessel mit Fußstütze dazugestellt und das Ganze zur Bibliothek erklärt. Nach der Küche war es mein Lieblingsraum im Haus.
Ach, diese Küche. So ein Ort, an dem wunderbares Essen zubereitet wird, das die kulinarisch Ambitionierten auf die gleiche Weise anzieht wie das Wasser die Seetaucher, hat schon etwas Besonderes. Sobald ich ausgepackt hatte (soll heißen, den Reißverschluss meiner Reisetasche geöffnet hatte), klemmte ich mir meine Krücken unter die Achseln, schwang mich den Flur entlang und blieb dort kurz stehen, um meinen Kollegen von Woodrow Consultants zuzuwinken, die gerade ihre Taschen aus dem Transporter räumten. Es war schon spät am Morgen, und sobald sie ihre Sachen abgeladen hatten, wollten sie weiter zum Arbeitsgelände fahren. Ich würde hier bleiben und war – trotz der verlockenden Gerüche aus Junes Küche und der Verheißung eines Nachmittags voller netter Gespräche – immer noch ziemlich sauer darüber.
»Bist du hungrig, Robyn?«, fragte June lächelnd, als ich die Küche betrat.
»Was für eine Frage. Ich hatte vor der Fahrt hierher keine Zeit mehr zu frühstücken, und die Zimtröllchen konnte ich schon von Calgary aus riechen.«
Sie kicherte. »Ich fürchte, du musst dich noch etwas gedulden.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »In fünf Minuten hol ich sie raus.«
»Bis dahin halt ich’s grad noch aus«, meinte ich mit zitternder Stimme.
»Dummes Ding!« June lachte und scheuchte mich zum Tisch.
Ich setzte mich, langte zur Anrichte und schnappte mir die letzte Ausgabe der Holbrook Times.
»Schon wieder ein Gartenzwerg geklaut?«, fragte ich und zeigte auf das Titelfoto. »Ihr Götter, haben diese Leute denn nichts zu tun? Wieso schleppt jemand neben all dem Kram, den man in den Urlaub mitnehmen muss, auch noch einen blöden Gartenzwerg mit sich rum?«, schnaubte ich.
June drehte sich um und sah mich eindringlich an. »Und wer hat heute Morgen in deinen Kaffee gespuckt?«
Ich errötete. »Entschuldigung. Ich versuch’s noch mal.« Ich tippte auf das Foto eines Gartenzwergs vor dem Louvre. »Sieh doch mal, June, hat da etwa wieder jemand einen Gartenzwerg gekidnappt?«
»Ja, die Saison hat wieder begonnen«, erwiderte sie. »Janice Parkers Gartenzwerg ist gerade aus Paris zurückgekehrt.«
»Sieht so aus, als hätte er es schön gehabt.«
»In der Tat. Außerdem scheint er eine Weinprobe in den besten Weinbergen gemacht zu haben.«
»Im Ernst? Vielleicht sollte ich mir eine Zipfelmütze aufsetzen und mich mit einer Pfeife im Mund in irgendeinen Vorgarten setzen.«
»Wem sagst du das. Janice war jedenfalls ganz schön neidisch.«
Die Entführung der Gartenzwerge von Holbrook hatte im vergangenen Sommer begonnen, als Gael Blackhalls Gartenfigurine plötzlich verschwunden war. Gael leitete die Theatergruppe der Gemeinde, weshalb alle was zu lachen hatten, als ihr Gartenzwerg einige Wochen später mit einem kleinen Bündel Fotos wieder auftauchte, auf denen er fröhlich beim Strat-ford-on-Avon Shakespeare Festival zu sehen war. Kurz darauf folgte Carolyn Waltons Zwerg und haute beim Edmonton Folk Festival ordentlich auf den Putz. Sobald die Geschichte der Gartenzwerg-Entführungen in den Zeitungen erschien – was in erster Linie deshalb geschah, weil Carolyn Lokalreporterin war –, waren weit über vierzig Gartenzwerge aus Holbrook von schlimmem Reisefieber gepackt worden.
Die Gartenzwerge waren über drei Kontinente gejetsettet, in Orte wie Hongkong, London, Athen – sogar in die Steppe der Serengeti. Sie waren vor Grenzschildern, Nationaldenkmälern und historischen Gebäuden fotografiert worden. Von einem besonders glücklichen kleinen Kerl war sogar ein Schnappschuss an der französischen Riviera gemacht worden, in Badehose und mit einer ziemlich flotten Sonnenbrille.
»Von meinen fehlt auch einer«, bemerkte June.
»Was denn? Ein Gartenzwerg?«
Ihre Augen funkelten. »Ja. Letzte Woche hab ich bemerkt, dass er fehlt.«
»Und du weißt nicht, wer ihn mitgenommen hat?«
Sie hob die Hände. »Keine Ahnung. Ich bezweifle, dass es jemand aus Holbrook ist. Dafür gehen zu viele Gartenzwerge auf Reisen. Ich vermute, viele von ihnen werden von Leuten aus Edmonton ausgeborgt. Aber ich freue mich schon sehr darauf zu sehen, wo der kleine Kerl gewesen ist.«
»Ganz schön traurig, wenn dein Gartenzwerg mehr Spaß hat als du.«
»Finde ich auch. Weißt du was, die haben eine Landkarte mit Zwergen-Reisezielen aufgehängt.«
»Zwergen ... was?«
»Reisezielen.«
»Du machst Witze.«
»Oh nein. Im Gebäude der Stadtverwaltung hängt jetzt eine große Weltkarte. Darauf wurden alle Reiseziele mit roten Reißnägeln markiert. Das allein ist schon eine kleine Touristenattraktion geworden.«
»Ganz schön schräg, June«, meinte ich kopfschüttelnd.
Mit einem Achselzucken wies sie jede Verantwortung dafür von sich. Dann servierte sie mir einen Becher heiße Schokolade und ein warmes, mit Rosinen gespicktes Röllchen, von dem süßer Zimtsirup hinunterlief.
»Wow!«, rief ich aus.
»Ich bin schon ein wenig überrascht, dass die Woodrow-Mannschaft nicht auf einen Happen geblieben ist.«
»Das wären sie bestimmt gerne«, murmelte ich mit einem heißen Bissen im Mund und saugte gierig Luft ein, um meinem Zahnfleisch etwas Abkühlung zu verschaffen. »Aber Ben war ganz wild darauf, das Gelände zu erkunden.«
»Haben die denn was fürs Mittagessen dabei?«
»Ja, aber mach dir keine Sorgen, wenn du ihnen die Röllchen hinstellst, werden sie trotzdem alle verschlingen.«
»Es sei denn, du kommst ihnen zuvor.«
»Das stimmt«, gab ich zu.
June nahm sich selbst ein Röllchen und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
Vier Jahre waren vergangen, seit meine beste Freundin Megan mich mit zu sich nach Hause genommen hatte, um mir ihre Mutter vorzustellen, doch es kam mir bereits vor wie eine Ewigkeit. Obwohl ich schon vor langer Zeit flügge geworden war, hatte June mich gleich an diesem ersten Wochenende richtig eingeschätzt und mich sofort unter ihre mütterlichen Fittiche genommen – ein mir unbekanntes Gefühl, da meine eigene Mutter so wahnsinnig vernarrt in meinen älteren Bruder Neil ist, dass ich mich schon oft gefragt habe, ob sich das Wort »Tochter« überhaupt in ihrem Vokabular befindet.
Bis Megan nach Calgary zog, um dort auf die Universität zu gehen, hatte sie mit ihrer Mutter in dem alten Gutshaus gewohnt, doch in jenem Sommer erweiterten die beiden für mich ihr Zuhause. June schien ohne ein Wort von mir zu wissen, wie es um meine familiäre Situation bestellt war, und hatte mit demselben Scharfblick mein Bedürfnis erkannt, bei ihnen aufgenommen zu werden. In den folgenden Jahren hatten wir uns ziemlich lieb gewonnen; wir waren einander sowohl durch Megan als auch durch unsere gemeinsame Liebe für Vögel, Wissenschaft und klassische Musik näher gekommen. Manchmal dachte ich, wenn ich dieser Frau noch näher käme, würde ich wahrscheinlich einen Abdruck auf ihr hinterlassen.
»Noch etwas heiße Schokolade?«
»Mmmm. Bitte.«
Während ich meinen Becher ausstreckte, warf June einen Blick auf mein vergipstes Bein.
»Ah. Wie ich sehe, hast du schon Autogramme bekommen.«
»Und zwar reichlich.«
»Lass mal sehen, Madame Curie, Jane Goodall... Gandhi. Donnerwetter, du kommst ja ganz schön rum, was? Sogar Queen Elizabeth und... oje, Sid Vicious?«
»Samt Umarmungen und Küssen«, erzählte ich ihr. »Die Witzbolde im Büro haben einen Filzstift gefunden und jede Menge Spaß gehabt.«
June neigte den Kopf, um eine weitere Unterschrift zu entziffern. »Und was, wenn ich fragen darf, ist ein Prostetnic Vogon Jeltz?«
Ich verdrehte die Augen. »Es handelt sich um einen Er, und glaube mir, das willst du gar nicht wissen. Aber ich möchte dich auch etwas fragen.«
»Was denn?«
»Kannst du mir bitte sagen, was Kelt da geschrieben hat?« Ich klopfte heftig auf meinen Beingips.
»Kannst du seine Handschrift nicht lesen?«
»Doch, schon, wenn ich sie sehen könnte.«
An dem Tag, an dem ich auf Stippvisite ins Büro gekommen war, hatte einer nach dem anderen meine Gipse mit gefälschten Unterschriften verziert. Als ich mich gerade fragte, wo Kaye gelernt hatte, Queen Elizabeths Unterschrift so gut zu fälschen, nahm Kelt den Filzstift an sich.
Er ließ ihn über meinem Armgips schweben und wollte schon losschreiben, als er innehielt und mich schadenfroh angrinste.
»Leg dein Bein mal auf den Stuhl da«, sagte er. Ich Einfaltspinsel half ihm auch noch dabei, den Gips hinaufzuwuchten. Daraufhin blitzte er mich mit seinen funkelnden Äuglein an und begann zu schreiben – auf die Sohle.
»Niemand will mir sagen, was da steht«, beschwerte ich mich jetzt bei June. »Aber sie finden es alle unglaublich witzig. Die Neugier bringt mich noch um!«
Sie stellte den Becher ab, beugte sich vor und sah es sich an.
»Oh«, meinte sie und begann zu kichern.
»Was? Ist es schlüpfrig? June, niemand will mir sagen, was da steht! Ich habe jeden im Büro gefragt, aber die haben mich bloß angesehen und gelacht. Nicht mal der Postbote will es mir sagen.«
»Der Postbote?«
»Ich war völlig verzweifelt«, erläuterte ich. »Ich hab es mit einem Spiegel probiert, aber der Winkel haut nicht hin. Beinahe hätte ich mir das Kreuz verrenkt. Du bist meine letzte Hoffnung.«
Sie grinste noch breiter und schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall werde ich die Katze aus dem Sack lassen.«
»Ju-une!«
Sie zwang sich, wieder ruhig und heiter dreinzuschauen, und reichte mir noch ein Zimtröllchen, um mir den Mund zu stopfen. Es funktionierte. Ich bin, sehr zu meinem Leidwesen, leicht käuflich.
Obwohl June nichts über die Botschaft auf meinem Gips verraten wollte, war dennoch heute eine Katze aus dem Sack gelassen worden – wo sie auch nicht allzu gern gesteckt hatte. Tatsächlich war Kater Guido von der ganzen Ferienidee nicht sonderlich begeistert gewesen. Mein Haustier war, wie sich herausstellte, nicht der beste Reisebegleiter. Aber June hatte ihm aufmerksamerweise ein Thunfischsteak vom Vorabend aufgehoben, und nach einem kurzen, ungläubigen Blick hatte Guido sich den Fisch geschnappt, als hätte er noch nie zuvor einen gesehen (was er auch nicht hatte; ich wusste nicht mal, dass es Thunfisch als Steaks gab), und sich umgehend unter das hintere Ende des Tisches verzogen. Sein Schnurren übertönte sogar den Regen, der gegen die Fensterscheiben trommelte.
Der frühe Frühlingstag war kühl, mit einem schneidenden Wind, der einem einen eisigen Finger auf die Seele legte. Zum ersten Mal, seit ich von dem Sanierungsprojekt der Brownfields gehört hatte, beneidete ich meine Kollegen nicht. Ich streckte mein Bein aus, hatte es gemütlich warm in Junes nach Schokolade und Zimt duftender Küche und fand mich schließlich damit ab, auf längere Zeit von meiner Arbeit als Freilandbiologin krankgeschrieben zu sein. Nein, in diesem Moment beneidete ich meine Kollegen wirklich nicht. Doch das hinderte mich nicht daran, an ihre Arbeit zu denken.
»Erzähl mir doch mal von deiner Protestgruppe«, bat ich June während einer Gesprächspause. »Megan hat erzählt, du hast mit deinen Vogelfreunden eine gegründet.«
»Sobald wir von dieser Giftmüllverwertungsanlage erfahren haben.«
»Geplante Verwertungsanlage.«
June schnaubte kräftig. »Die wird schon sehr bald von den Mächtigen genehmigt werden, da hege ich gar keine Zweifel – aber letzten Endes wird es wohl nicht durchgehen, wenn wir da noch ein Wörtchen mitzureden haben.«
»Was habt ihr denn vor?«
»Tja, das überlegen wir uns gerade, aber es herrscht noch Uneinigkeit innerhalb der Gruppe, wie wir die ganze Sache angehen sollen.«
»Uneinigkeit?«
»Ja, überwiegend zwischen den Vogelliebhabern und den Jägern. Da Beaverhill Lake zerstört werden könnte, sind die meisten der Wasservogel-Jäger auf unserer Seite – oder wären es zumindest, wenn da nicht ein paar Anti-Jäger-Typen wären, die der Meinung sind, dass die Jäger nicht einbezogen werden sollen.«
»Das scheint mir aber ziemlich engstirnig zu sein.«
»Und kurzsichtig«, stimmte June zu. »Ich glaube nicht, dass wir auf die Unterstützung der Jäger verzichten können. Ein paar dieser Jäger haben eine Menge Einfluss, und wenn wir das Interesse von Ducks Unlimited wecken können...«
»Dann hättet ihr die Leute vom Naturschutz-Feuchtgebiete mit an Bord. Gute Idee. Was ist denn das Problem? Das Jagen?«
»Teilweise. Und einzelne Personen. Im Ernst, manchmal könnte ich denen allen eine reinhauen! Die scheinen zu vergessen, worum es wirklich geht.« Sie rollte die Schultern und schüttelte die Spannung ab. »Ich kann jedenfalls nicht hier rumsitzen und es ohne Kampf zu dieser Giftmüllverwertungsanlage kommen lassen. Um dir die Wahrheit zu sagen, Robyn, mir ist nicht ganz wohl bei dem, was die Woodrow-Leute hier machen.«
Ich setzte mich etwas aufrechter hin. »Aber wir – sie – werden das Gelände säubern.«
»Und zu welchem Zweck? Um noch mehr Giftmüll herzubringen. Damit es in ein paar Jahren genau so verseucht ist wie jetzt!«
»Heutzutage gibt es andere Standards –«
»Und die meiste Zeit beaufsichtigt die Industrie sich selbst«, unterbrach sie sanft, aber mit bitterem Ton. »Ich kann wirklich nicht sagen, dass mich das beruhigt.«
»Aber das Gelände muss gesäubert werden. Es ist eine einzige Sauerei.«
»Oh, verstehe mich nicht falsch, ich möchte ja, dass das Gelände gesäubert wird – aber ich bin absolut dagegen, dass dort danach wieder eine andere Industrieanlage entsteht. Nicht bei der Nähe von Beaverhill und den Feuchtgebieten. Und schon gar nicht, nachdem ich von all diesen selbstüberwachten Fabriken gelesen habe, die regelmäßig Giftmüll in die Flüsse kippen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Und vor allem nicht«, fuhr sie mit leiser Stimme fort, »nach dem, was mit Eddie geschehen ist.«
Das unangenehme Schweigen, das durch Junes letzte Bemerkung entstanden war, verdunkelte den Raum wie ein Schwarm Krähen über einem toten Tier. Ich war überrascht – und mehr als nur ein wenig bestürzt – über Junes Gefühle. Ja, ich hatte von Anfang an vermutet, dass sie gegen den Plan einer Giftmüllverwertungsanlage sein würde, aber ich hatte nicht geahnt, dass sie Woodrows Rolle bei der Sache zwiespältig gegenüberstand. Rückblickend machte es Sinn, und ich begann, meinen Vorschlag zu bedauern, die Mannschaft möge in dem Bed & Breakfast wohnen.
June stand auf und räumte das Geschirr ab, wobei sie es vermied, mir in die Augen zu sehen – was sein Gutes hatte, denn mir war auch nicht gerade nach Blickkontakt zumute. Bisher war ich mit June noch nie uneins gewesen, zumindest nicht über ernsthafte Dinge, und ich wollte jetzt nicht damit anfangen. Nach Megans Erzählungen geriet June nur äußerst langsam in Wut, aber wenn, dann brannte sie lange und heiß. Nicht die Sorte Feuer, die man gleich am ersten Tag eines dreiwöchigen Urlaubs entfachen will.
Ich rutschte auf der Bank herum und suchte krampfhaft nach einem anderen Gesprächsthema. Bei Konfrontationen war ich nicht besonders gut. Doch gerade, als ich eine heitere Beschreibung des Kopulationsapparates verschiedener Floharten vom Stapel lassen wollte, warf June einen Blick aus dem Fenster und gab ein erfreutes Geräusch von sich.
»Da kommt Matt«, rief sie in einem erleichterten Tonfall.
Und ich hatte noch nicht mal angefangen, über Flöhe zu reden. Die Spannung zwischen uns schien auch sie bedrückt zu haben, daher griff ich das Stichwort auf und lächelte sie an.
»Matt, ja? Ich hab mich schon gefragt, ob ich ihn wohl mal kennen lernen würde. Meggie meinte, er könnte glatt als Zwillingsbruder von Sean Connery durchgehen.« Ich wiederholte hier das einzig Gute, was Megan über diesen Mann gesagt hatte.
Junes Ehemann Eddie war vor beinahe dreißig Jahren gestorben. Sie sprach nicht viel über ihn – in meiner Gegenwart fast nie –, und ich wusste nicht einmal, woran er eigentlich gestorben war, außer, dass es etwas mit der Pestizidfabrik zu tun hatte, in der er angestellt gewesen war. Doch in all den Jahren seit seinem Tod hatte sie, laut Megan, andere Männer nicht mal angesehen – bis jetzt. Und meine Freundin war von dieser neuerlichen Entwicklung alles andere als begeistert.
Von Megans diesbezüglichen Gefühlen hatte ich eine Woche, bevor ich nach Holbrook fuhr, einen ersten Eindruck bekommen. Ich hatte den ganzen Tag über missmutig in meiner Wohnung herumgehangen, deprimiert, gelangweilt und mit Schmerzen. Schließlich hatte ich die Nase voll. Als Erstes bestellte ich mir eine Pizza bei Stromboli’s, dann rief ich Megan an und lud sie ein, sie mit mir zu teilen. Sie nahm mein Angebot nur allzu gerne an, da letzte Woche ihr Fernseher endgültig seinen Geist aufgegeben hatte und gerade die Wiederholungen von Star Trek Next Generation liefen. Megan und ich standen beide ziemlich auf Captain Jean Luc Picard.
Zuerst lief uns beim Anblick von Captain Picard das Wasser im Munde zusammen, dann bei einer Stromboli Spezial mit dicken Shrimps, frischem Basilikum und genügend Knoblauch, um die Vampire bis irgendwann im nächsten Jahrhundert fern zu halten. Megan stocherte noch in den Resten rum, als ich die – wie sich herausstellte – falsche Frage stellte.
»Wie geht’s eigentlich deiner Mutter?«
Mir schien es eine ganz normale, sogar harmlose Frage zu sein, aber Megans Gesicht verdunkelte sich, und zwischen ihren Augenbrauen tauchte plötzlich eine kleine Falte auf.
»Was ist denn los?«, wollte ich wissen.
»Sie hat einen Freund.«
»June?«, stieß ich überrascht aus. »Ihr Götter, es muss Jahre her sein, seit –«
»Seit Dad gestorben ist.«, sagte Megan tonlos.
»Tja... hm, das ist ja toll... Oder etwa nicht?«
Sie zuckte die Schultern.
»Du magst ihn nicht.«
Sie zuckte erneut die Schultern.
»Megan, man benötigt keinen Raketenwissenschaftler, um herauszufinden, dass da was nicht stimmt. Was ist denn los?«
»Ich weiß nicht genau, aber ich traue ihm nicht, und sie ist so leichtsinnig.«
»Leichtsinnig.«
Mit diesem Ausdruck würde ich die praktische June normalerweise nicht beschreiben.
»Na ja, so gesehen wirkt er toll«, fuhr Megan fort. »Der Mann könnte glatt Sean Connerys Zwillingsbruder sein. Außerdem ist er auf unserer Seite.«
»Was meinst du mit ›auf unserer Seite‹?«
»Er ist Umweltschützer. Du hast vielleicht sogar schon mal von ihm gehört. Matthew Lees?«
Ich kramte kurz in meinem Gedächtnis. »Der Journalist?«, fragte ich.
»Kein anderer.«
Ich war beeindruckt. Wegen Matt Lees’ Enthüllungsartikeln über kriminelle Umweltsünden hatten in den vergangenen Jahren einige Unternehmen Federn lassen müssen.
»Wie hat deine Mum denn Matt Lees kennen gelernt?«, fragte ich.
»Offenbar war er wegen dieser NAFTA-Sache unten in Mexiko –«
»Welche NAFTA-Sache?«
Megan sah mich ungeduldig an. »Du weißt doch, die drei NAFTA-Unterzeichner, die sich darauf verständigt haben, gemeinsam einen Haufen Pestizide und anderen Mist zu reduzieren oder zu verbieten.«
»Ach ja. Ich hatte gehört, dass sie PCBs –«
»Und jetzt wurde offiziell festgelegt, dass DDT, Heptachlor und Quecksilber verboten beziehungsweise reduziert werden.«
Ich pfiff durch die Zähne. »Das wusste ich noch nicht. DDT, ja? Das ist Klasse! Und Heptachlor! Weißt du, das Zeug wird immer noch da unten in Mexiko hergestellt und weiterhin von vielen Bauern dort –«
»Möchtest du nun etwas über Matt hören oder nicht?«, wollte Megan wissen.
»Entschuldige.« Mit einem Handzeichen bat ich sie fortzufahren.
»Matt war unten in Mexiko, als er von dem Reisinger-Projekt Wind bekam.«
Mir rutschte das Herz in die Hose. »Dieser Müllaufbereitungsanlage in Holbrook«, fragte ich zaghaft, »an der Woodrow jetzt arbeitet?«
Megan nickte. »Ja, und mach mir nichts vor. Ich weiß, dass ihr da mitmachen wollt. Jetzt unterbrich mich nicht dauernd, ich erzähle hier gerade eine Geschichte. Nach Mexiko traf sich die NAFTA Pestizidkommission in Montreal, und Matt beschloss, sich nach Alberta aufzumachen, um mehr über diese Reisinger-Geschichte herauszufinden.«
»Ein ganz schön weiter Weg.«
Megan zuckte die Schultern. »Nicht, wenn du Journalist bist, schätze ich. Und es wird die erste Giftmüllverwertungsanlage im Westen Kanadas sein. Außerdem haben die früher in der alten Fabrik Heptachlor und Chlordan hergestellt, und jetzt, wo man es verbieten will und ... na ja, ich schätze mal, das gibt ‘ne gute Story. Auf jeden Fall«, sagte sie gedehnt, »wollte ich sagen, dass Matt vor einigen Monaten in die Stadt gekommen ist, um mehr darüber herauszufinden. Er hat bei Mum gewohnt, bis klar wurde, dass es ein beidseitiges Interesse aneinander gibt. Jetzt hat er ein kleines Haus gemietet, vermutlich, damit Mums guter Ruf nicht leidet.«
»Wirklich? Das ist doch süß, Megan!«
Ihrem Gesichtsausdruck konnte ich entnehmen, dass sie ganz und gar nicht dieser Meinung war.
»Bist ... bist du, äh, eifersüchtig auf ihn?«, fragte ich.
»Mach dich nicht lächerlich!«, blaffte sie und sprang auf, um den Tisch abzuräumen.
Nachdenklich blieb ich sitzen und beobachtete sie, ohne recht zu wissen, was ich sagen oder fragen sollte. Vielleicht war es ja eine etwas taktlose Frage gewesen, aber eine offensichtliche und, Megans vehementer Verneinung nach zu urteilen, eine äußerst angemessene. Über die Jahre hinweg hatten Megan und June die üblichen Mutter-Tochter-Konflikte gehabt, doch ich hatte Megan noch nie so aufgebracht erlebt. Andererseits hatte auch noch nie zuvor jemand versucht, ihren Vater zu ersetzen.
»Ich bin sicher, dass er nicht versuchen wird, deinen Vater zu ersetzen«, sagte ich zu ihr. »Deine Mum ist jetzt schon so lange alleine und –«
»Robyn«, unterbrach mich Megan. »Verschone mich! Es stört mich nicht, dass meine Mum einen Freund hat. Mit dem Mann selbst hab ich ein Problem. Ich wünsche mir so sehr, dass meine Mutter jemanden findet. Bloß nicht ihn.«
»Aber was stimmt denn nicht mit ihm? Er klingt doch toll.«
»Ja, er klingt toll, aber irgendwas an ihm ... stimmt einfach nicht.«
»Was denn nicht?«
»Zum Beispiel kann Mum ihn manchmal nirgends erreichen, und wenn er dann wieder auftaucht, sagt er nie wirklich, was er gemacht hat.«
Ich zuckte verständnislos die Schultern. »Na und? Der Typ ist ein Enthüllungsjournalist. Natürlich muss er ein bisschen geheimnistuerisch sein – vor allem bei dem Zeug, über das er schreibt. Was sonst noch?«
»Na ja, er redet nie über seine Familie.«
Ich rümpfte die Nase. »Komm schon, Maggie, das tue ich auch nicht. Viele Leute haben familiäre Schwierigkeiten, und die meisten wollen nicht darüber reden.«
»Aber Mum weiß so gar nichts über ihn«, beharrte Megan eigensinnig. »Und es scheint sie nicht zu stören. Das ist doch ausgesprochen seltsam.«
»Woher willst du wissen, was sie über ihn weiß?«, fragte ich. »Erzählt June dir denn alles?«
»Natürlich nicht.«
»Na also. Wie oft hast du ihn denn getroffen? Wann hast du ihn eigentlich kennen gelernt? Wie lange sind die beiden schon zusammen?«
»Ich hab ja nicht mal was von ihm gewusst, bevor ich letztes Wochenende zu Mum fuhr und ihn dort traf. Die beiden sind seit ein paar Monaten zusammen.«
Das verarbeitete ich einen Moment lang.
»Hat es dich gestört, dass sie so lange damit gewartet hat, dir von ihm zu erzählen?«, fragte ich behutsam.
Megan stellte klappernd das Geschirr in die Spüle. »Robyn, ich weiß, worauf du hinaus willst. Glaub mir, ich habe mich auch schon gefragt, ob ich lediglich eifersüchtig bin, aber das glaube ich nicht – jedenfalls hoffe ich das. Es wäre mir unangenehm, derartig egoistisch zu sein. Aber... tu mir bitte einen Gefallen.«
»Na klar.«
»Nimm ihn für mich mal unter die Lupe, wenn du nächste Woche nach Holbrook fährst. Ich wüsste wirklich gerne, was du von ihm hältst.«
Ich hatte noch nie zu den einfühlsamsten Menschen gehört, deshalb wusste ich, dass Megan wirklich verzweifelt sein musste, wenn sie mich bat, Matt Lees von Kopf bis Fuß zu durchleuchten. Und jetzt, wo ich in Holbrook war und ihn höchstpersönlich kennen lernen sollte, nahm ich mir ganz fest vor, ihn so gut wie möglich aufs Korn zu nehmen und Megans Bedenken zu entschärfen. Während June Matt die Tür öffnete, wischte ich mir noch rasch die Krümel des Zimtröllchens von meiner Bluse, strich über meine Locken und bereitete mich auf die Durchführung meiner Mission vor.
Matt Lees bemerkte mich nicht gleich. Er schritt durch die Küchentür und konzentrierte sich ganz auf eine plötzlich errötete und nervöse June. Seine Haare waren stahlgrau, immer noch voll und leicht gewellt. Er sah so aus, als ob er sich in Form hielt, doch das Beste an ihm waren seine Augen. Warm und funkelnd gehörten sie zu jener Sorte Augen, die lächelten, wenn sein restliches Gesicht lächelte, was den Lachfältchen nach zu urteilen häufig geschah. In einer Sache hatte Megan Recht gehabt, der Mann besaß eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Sean Connery. Dafür musste ich ihm Punkte geben. Glückliche June.
»Schau mal!«, rief er zu June und schwang einen weißen Umschlag. »Dein Gartenzwerg ist zurück!«
»Mein Gartenzwerg? Jetzt schon?«
»Ja. Ich hab ihn unter dem Fliederbusch entdeckt. Er war ...« Matt drehte sich um und sah mich an. »Oh, tut mir Leid, ich habe Sie gar nicht gesehen.«
»Matt, ich möchte dir Robyn vorstellen.« June nahm seinen Arm und führte ihn herüber. »Eine gute Freundin von Megan – und mir.« Sie lächelte mich an, die Spannung von vorhin war verschwunden.
»Nett, dich kennen zu lernen«, sagte Matt mit breitem Lächeln. »June hat mir so viel von dir erzählt.« Er streckte seine Hand aus.
Ein guter, fester Händedruck. Zwei weitere Punkte.
»Hallo, Matt. Freut mich auch. Ich habe deine Artikel über die Präriebussarde gelesen. Die waren sehr gut.«
»Oh, danke. Jemand musste es machen.«
»Hast einen Bedarf gesehen und ihn gedeckt, was?«
Matt lächelte mich schief an. »Ich schätze schon. Ich bin einfach so verdammt wütend geworden, dass ich irgendetwas tun musste. Entweder darüber schreiben oder herumsitzen und zusehen, wie mein Blutdruck in die Höhe schnellt.«
Ich kannte das Gefühl. 1996 waren etwa zwanzigtausend Präriebussarde in ihrem Winterquartier in Argentinien verendet. Schuld daran war ein Insektizid namens Monocrotophos gewesen, das in erster Linie dazu eingesetzt wurde, Luzernefelder von Heuschrecken zu befreien. Monocrotophos erwies sich jedoch in jeder für die Landwirtschaft empfohlenen Dosis als schädlich für Vögel. Wirklich schade, dass zwanzig Prozent der gesamten Weltpopulation von Präriebussarden sterben musste, um diese ganz spezielle Tatsache herauszufinden. Aber dank Matt Lees war diese besondere Tatsache ins öffentliche Bewusstsein gelangt und Monocrotophos vom argentinischen Markt genommen worden. Einen Punkt für die Vögel anrechnen.
»Ich fürchte, so komme ich an die meisten meiner Geschichten«, sagte Matt und zog eine Grimasse. »Viele Angelegenheiten machen mich derartig wütend, dass ich gezwungen bin, darüber zu schreiben.«
»Was macht dich denn in Holbrook so wütend?«
»Reisingers Plan für eine Giftmüllverwertungsanlage«, antwortete er ohne Zögern. »Bei der Vogelwelt in dieser Gegend ist das wirklich eine schlechte Idee –«
»Also, Matt«, warf June ein, um weiteren Spannungen vorzubeugen, »Robyn ist im Urlaub. Ich finde nicht, dass wir auch noch Feuer unter ihrem Blutdruck entfachen sollten – nicht, bevor sie mindestens vierundzwanzig Stunden hier gewesen ist.«
Matt lächelte sie verlegen an. »Du hast ja Recht, entschuldige. Gelegentlich lasse ich mich etwas hinreißen.«
Ich wischte seine Entschuldigung beiseite. »Das war doch gar nichts. Du solltest mal meinen Boss hören.«
»Hmmm. Ich habe schon einiges über Woodrow Consultants gehört, seit ich angefangen habe, mich mit dieser Sache zu beschäftigen. Hat einen guten Ruf, diese Firma. Ist Benjamin Woodrow tatsächlich die Mega-Persönlichkeit, für die ihn jeder zu halten scheint?«
Ich lachte. »Das ist noch untertrieben«, entgegnete ich. »Keine Sorge, du wirst noch die Gelegenheit bekommen, ihn, äh, zu erleben. Er freut sich auch schon darauf, dich kennen zu lernen, seit ich ihm erzählt habe, dass du hier sein wirst.«
»Ich kann es kaum erwarten.« Er sah auf seine Hände hinunter und blinzelte etwas überrascht den Umschlag an, den er noch zwischen seinen Fingern hielt. »Hey, den hab ich ja ganz vergessen.« Er reichte June den Umschlag. »Tut mir Leid, dass ich hier vorhin einfach reingeplatzt bin. Ich war so aufgeregt, als ich gesehen habe, dass der Gartenzwerg zurück ist, dass ich gleich wissen wollte, wo er gewesen ist.«
Wir lachten alle, und June riss mit fröhlichem Blick die Lasche auf.
»Wo ist er denn nun gewesen?«, fragte ich.
»Na, dann wollen wir mal sehen...«
June zog ein Bündel Fotos aus dem Umschlag.
»Oh mein Gott!«
Es war kein erfreuter Ausruf.
Sie blätterte rasch durch den kleinen Fotostapel, wobei ihr Gesicht in Sekundenschnelle immer blasser wurde. »Ist das ... soll das ein Witz sein?!« Hilflos hielt sie Matt die Bilder entgegen.
»Was ist los?«, wollte ich wissen und streckte mich, um über Matts Schultern zu sehen. »Wo ist er gewesen?«
June hielt immer noch das erste Foto in der Hand, als Matt den Stapel durchgesehen hatte. Sein Gesichtsausdruck war hart wie Granit geworden, aber erst als June auf den Stuhl neben mir gesunken war, konnte ich endlich erkennen, was die beiden so schockiert hatte.
Es war nicht so sehr das Reiseziel des Gartenzwergs, sondern sein Reisebegleiter. Wie auf all den übrigen Fotos der entführten Zwerge war die fröhliche kleine Figur sorgfältig platziert worden. Doch sie war nicht neben ein Denkmal oder Grenzschild oder ein berühmtes Gebäude gestellt worden. Dieser Zwerg stand neben einem Mann. Und wer auch immer dieser Mann war, war entsetzlich, zweifelsohne tot.
»Kennst du den Mann?«, fragte ich June.
Sie hatte mir das Foto rübergeschoben, und ich betrachtete es, ohne es anzufassen. Ich bezweifelte zwar, dass derjenige, der es zurückgelassen hatte, freundlicherweise auch seine Fingerabdrücke hinterlassen hatte, aber man weiß ja nie. Ich hoffte, es wäre der Fall.
Das Foto war ein Polaroid, daher würde es zum Aufspüren des Täters wohl nicht genügen, das Fotogeschäft im Ort zu überprüfen. Und wer auch immer das Foto gemacht hatte, war höchstwahrscheinlich der Mörder. So etwas ließ sich nicht fälschen. Nicht so gut.
Das Gesicht des Mannes war eine Ruine. Seine Wangen waren eingefallen, seine Haut, aus der sämtliche Farbe gewichen war, klebte an seinen Knochen. Seine Nase war ganz schmal und zerteilte sein Gesicht mit einer scharfen Linie. Aber die Augen waren das Schlimmste. Das Rot der geplatzten Blutgefäße war selbst auf dem Polaroid sichtbar, und die Augäpfel traten wie geblasene Glaskugeln aus seinem Gesicht hervor. Egal, wie er gestorben sein mochte, eines war sicher: Es war kein schmerzloser Tod gewesen.
Den Gartenzwerg – Junes Zwerg – erkannte ich von vorherigen Besuchen wieder. Megan hatte ihn Shaft genannt, wegen seiner erbsengrünen Tunika, der orangefarbenen Hose und seiner seltsam fülligen roten Mütze, die ich lediglich für einen Produktionsfehler hielt, in der Megan jedoch eine Afro-Frisur erkannte. Obwohl ich kein besonders großer Fan von Vorgartenkunst war, hatte mir dieses spezielle Exemplar immer gut gefallen. Jetzt nicht mehr. Er sah ein bisschen ramponiert aus. Mit Rissen im Gesicht und einem herausgeschlagenen Auge war er neben der Leiche platziert worden und schien auf makabre Weise den Tod des Mannes mit dämonischem Feixen zu beobachten. Ich schüttelte mich und wandte meinen Blick ab.
Als Antwort auf meine Frage nickte June mit so fest zusammengepressten Lippen, dass ich an ihren Mundwinkeln weiße Stellen sah.
»Das ist Richard DeSantis«, antwortete Matt für sie mit ungläubiger Stimme. Er starrte die Fotos noch ein paar Minuten lang an, dann schüttelte er sich. »Bleibt hier. Ich rufe die Polizei.« Er drückte Junes Schulter und ging den Flur hinunter zum Telefon.
»Richard ... DeSantis?«, wiederholte ich. »DeSantis wie in Grant DeSantis?«
June schluckte sichtbar. »Richard ist – war – sein Stiefsohn«, erwiderte sie. »Mein Gott! Wer tut bloß so etwas?«
Ich atmete langsam tief ein. Grant DeSantis. Vorstandsvorsitzender von Reisinger Industries. Der Mann, der dafür verantwortlich war, eine Giftmüllverwertungsanlage in eine Stadt zu bringen, die sich noch nicht entschieden hatte, ob sie durch das Projekt geehrt oder belästigt wurde. Oder etwa doch?
»Er wird seit zwei Tagen vermisst«, flüsterte June. »Niemand wusste, wo er hingegangen ist. Er wohnt nicht in Holbrook. Er war nur zu Besuch hier.«
»Und alle haben gedacht, er sei verschwunden, ohne auf Wiedersehen zu sagen«, vermutete ich.
June nickte. »Er hat mir erzählt, dass er sich mit seinem Stiefvater gestritten hat...«
»Du hast ihn gekannt?«
Sie blinzelte und sah auf ihre Hände. »Flüchtig. Ich hab ihn kennen gelernt, als er letzten Herbst hier zu Besuch war. Ich mochte ihn, obwohl ich ihn nicht gut kannte. Er konnte sehr gut Reiherkolonien aufspüren. Er hat sogar eine gefunden, die selbst ich noch nie gesehen hatte, und ich gehe schon seit Jahren nach Beaverhill Lake.«
»Er war ein Orni?«
»Oh ja, sogar ein sehr begeisterter. Er sollte letzte Woche mit unserer Vogelbeobachtungsgruppe rausfahren, um nachzusehen, ob die Reiher zurück sind, aber er hatte eine schlimme Nebenhöhlenentzündung und musste absagen. Und jetzt...« Sie brach ab und seufzte schwer.
»Es tut mir so Leid, June.« Ich tätschelte ihre Hand und fühlte mich bei diesem Rollentausch ein wenig unbehaglich. Ich habe nie den Florence-Nightingale-Typ in mir gesehen.
Sie saß einen Augenblick schweigend da. »Du hättest ihn gemocht, Robyn. Er war ein echter Umweltaktivist. Außerdem wollte er nächsten Monat heiraten, eine junge Naturschützerin in Mexiko. Das macht alles noch viel schlimmer.«
»Wieso hatte er denselben Nachnamen, wenn er nur der Stiefsohn war?«
»Melanie hat sich neu verheiratet, als Richard noch recht jung war, und Grant hat ihn adoptiert.« June schloss die Augen und schüttelte langsam den Kopf.
In diesem Augenblick kam Matt in den Raum zurück. Er sah June prüfend an und legte einen Arm um sie.
»Es tut mir so Leid, Schatz«, murmelte er. »Wenn ich gewusst hätte, was das für Fotos sind –«
June schenkte ihm ein etwas zittriges Lächeln. »Ist schon gut, Matt. Du kannst ja nichts dafür.« Sie holte tief Luft. »Schickt die RCMP einen Beamten vorbei?«
Die Royal Canadian Mounted Police schickte sogar mehrere Beamte vorbei, die von niemand anderem als Staff Sergeant Gary Ross angeführt wurden. Ich war Gary schon ein paarmal bei vorigen Besuchen begegnet. Obwohl ich für gewöhnlich eine gesetzestreue Bürgerin bin, schüchterte er mich immer ein.
Er war ein imposanter Typ mit schwarzem Haar, viel Muskeln und einem unergründlichen Gesicht. In Wirklichkeit war ich besser mit seiner deutlich geselligeren Frau bekannt, Dana, dennoch war das Verhältnis zwischen Gary und mir bisher freundlich, wenn nicht gar herzlich gewesen. Was hatte ich also getan, dass er nun so finstere Blicke in meine Richtung warf? Ich war neugierig, doch es schien nicht ganz der rechte Zeitpunkt oder Ort zu sein, um nachzufragen. Ich versuchte deshalb, vor allem nicht im Weg zu sein. Kater Guido hatte es sich auf meinem Schoß bequem gemacht, und so saß ich ganz ruhig am Küchentisch und hörte zu, wie June und Matt erzählten, was sie wussten.
»Und Ihnen ist der Gartenzwerg nicht aufgefallen, bis Matt kam? Sie haben niemanden in Ihrem Garten bemerkt?«, fragte Gary June.
»Nein. Ich hatte heute das Haus voller Neuankünfte. Seit heute früh hab ich sauber gemacht und gebacken. Etwa seit fünf Uhr.«
Gary kritzelte etwas in sein Notizbuch.
»Man kann die Stelle vom Haus aus nicht gut einsehen«, erläuterte Matt. »Der Fliederbusch ist so dicht. Ich hab den Zwerg auch erst gesehen, als ich den Weg entlangkam.«
Gary stellte noch einige Fragen, während sich eine Polizistin Gummihandschuhe anzog und die Fotos samt ihrem Umschlag eintütete. Die anderen Beamten waren in Junes Garten beschäftigt.
»Tut mir Leid, dass wahrscheinlich überall unsere Fingerabdrücke drauf sind«, entschuldigte sich June bei der Polizistin, während diese die Tüten beschriftete. »Aber wir dachten, es seien Urlaubsfotos, nicht – das.«
Die Polizistin schenkte June ein beruhigendes Lächeln. »Kommen Sie bitte einfach in den nächsten Tagen aufs Revier, um Ihre Abdrücke zum Vergleich zu hinterlassen«, bat sie June. »Und machen Sie sich deshalb keine Sorgen, ich hätte vermutlich das Gleiche getan.«
Die RCMP packte nun zum Aufbruch ein; die Fotos und der arme alte Shaft wurden in durchsichtigem Plastik eingewickelt und sorgfältig in einer Kiste verstaut. Doch Gary erhob sich nicht gleich vom Tisch. Stattdessen sah er mich lange und eindringlich an.
»Was?«, fragte ich schließlich voller Unbehagen.
»Kann ich allein mit dir reden?«
Arg.
»Äh, na klar.«
»Wir gehen ins Wohnzimmer«, sagte June zu mir. »Komm schon, Matt.«
Gary beobachtete, wie die beiden die Küche verließen. Ich beobachtete Gary. Und Kater Guido beobachtete den Braten, den June fürs Abendessen aus der Tiefkühltruhe genommen hatte.
Ich unterdrückte den Drang zu fragen, was denn nicht in Ordnung sei. Ich hatte das deutliche Gefühl, er würde es mir sowieso erzählen, und wollte nicht nervös erscheinen, obwohl Garys prüfender Blick selbst den Papst dazu gebracht hätte, in seinem Keller nach Leichen zu suchen.
Er schaute mich noch eine Weile lang an, dann seufzte er. »Ich weiß, was passiert ist.« Er deutete mit seinem Notizbuch auf meine Gipse. »Ich weiß Bescheid über Marten Valley.«
Damit hatte ich nicht gerechnet.
»Äh –«
»Ich hoffe nur, du hast nicht vor, eine aktive Rolle in dieser Morduntersuchung zu spielen.«
Na toll. Mein Ruf war mir vorausgeeilt.
»Gary –«, setzte ich an.
»Denn falls dem so ist«, unterbrach er mich, »dann denk noch mal in Ruhe drüber nach. Aus den Berichten weiß ich, was dort vorgefallen ist. Mir sind dein Name und deine – wie soll ich sagen? – inoffizielle Teilnahme an den Ermittlungen regelrecht entgegengesprungen.«
»Aber –«
»Daher sage ich dir hiermit ganz freundlich: Halt dich aus der Sache raus.«
»Ich hab doch gar nichts vor, Gary«, wehrte ich mich. »Ich meine, ich bin doch wohl kaum sehr beweglich hier.«
»Trotzdem. Ich wollte nur, dass diese Sache zwischen uns klar ist.«
»Mach dir keine Sorgen«, versicherte ich ihm. »Ich mache hier einen dringend benötigten Urlaub. Ich gedenke einen großen Bogen um alles zu machen, was mit Mord zu tun hat.«
Ich hätte die Klappe halten sollten. Es gibt kaum etwas, das ich so sehr hasse, wie mein Wort zu brechen.
Obwohl es bereits später Nachmittag war, saßen June und ich noch in der Küche. Sie bereitete die Füllung für Käse-Scones zu, und ich war beauftragt, Salat zu schleudern – eine zwar unbequeme, aber nicht gänzlich unmögliche Aufgabe für jemanden mit einem funktionierenden Arm. Matt war vor einer Weile gegangen, um noch eine Arbeit zu Ende zu bringen, bevor er zum Abendessen wieder zu uns stoßen würde. Mein Kater hockte auf dem Heizkörper und beobachtete scheinbar hochkonzentriert den Regen, der in Bächen die Fensterscheibe herunterlief, hatte aber gleichzeitig ein wachsames Auge auf den Braten, den June mit Senf und braunem Zucker glasiert und mit ganzen Zwiebeln garniert hatte.
Es hatte nicht lange gedauert, bis wir das Thema von Richard DeSantis’ Tod erschöpfend behandelt hatten. June hatte ihn als Einzige gekannt, und das nicht mal gut. Bis die RCMP seine Leiche finden würde, konnte eigentlich nicht viel getan – oder gesagt – werden. Doch das Gespräch über Richard DeSantis führte zu einem Gespräch über Grant DeSantis, was wiederum zu einem Gespräch über Reisinger Industries und die Sanierung der brownfields von Norsicol führte.
Brownfields-Sanierung. Für den Laien sind brownfields verlassene Industrie- oder Gewerbegebiete. Die meisten Grundstücke sind ziemlich verhunzt, was die Umwelt betrifft, im Gegensatz zu den greenfields, die noch ursprünglich sind. Der Sanierungsgedanke verfolgt die Idee, dass ein Grundstück wirtschaftlich wiederbelebt werden kann, falls Umwelt- und Haftbarkeitsfragen berücksichtigt werden. Mit anderen Worten, wenn es gründlich gesäubert wird.
Das ist eine ziemlich knifflige Angelegenheit und, nebenbei bemerkt, eine äußerst lukrative Arbeit für Umweltberater. Zudem ist es eine Tätigkeit, die es einem erlaubt, dem Büro zu entfliehen und, mit Gummistiefeln und Rucksack ausgerüstet, durch Bäche, Schlamm und anderes Dreckzeug zu waten. Eben jene Art von Beschäftigung, die mich stets daran erinnert, weshalb ich überhaupt Umweltberaterin geworden bin.
Der Sanierungsauftrag, den Woodrow an Land gezogen hatte, betraf die alte Norsicol-Fabrik zur Pestizidherstellung etwas nördlich vom Gartenzwerg-verseuchten Holbrook. Eine Firma namens Reisinger Industries hatte den Auftrag für das Gutachten und die Säuberung des Grundstücks erteilt, da sie überlegte, die stillgelegte Firma in eine Giftmüllverwertungsanlage umzuwandeln. Diesen Job an Land zu ziehen, war für Woodrow Consultants ein ziemlicher Coup gewesen.
Kaye und Benjamin Woodrow hatten die Umweltberatungsfirma vor zwei Jahrzehnten gegründet, lange bevor Begriffe wie »Umweltbelastungsgutachten« ins öffentliche Bewusstsein gelangt waren. Über die Jahre hatten sie ein kleines, aber zuverlässiges Team von Fachleuten aufgebaut. Da gab es Lisa McDonald, die Bodenspezialistin der Firma und obendrein eine ausgezeichnete Botanikerin, und Nalini Mohan, die sich auf Urbarmachung und Säuberungen spezialisiert hatte. Ben Woodrow war Experte für Wasserressourcen und Fischgründe, während Kelt Roberson und ich die Bereiche Vögel, Säugetiere und Reptilien abdeckten.
Am nicht-wissenschaftlichen Ende von Woodrow Consultants standen Kaye Woodrow, Bens Frau, die sämtliche Verträge hereinbrachte, Ti-Marc Lafarge, der uns alle organisierte, und Arif Pasula, der Programme schrieb, unsere ermittelten Daten in den Computer eingab und uns außerdem mit Lesestoff aus seiner umfangreichen Krimisammlung versorgte. Wir waren ein effizienter Haufen und verstanden uns die meiste Zeit über gut. Auf jeden Fall wusste ich das Zugehörigkeitsgefühl zu schätzen, das mir die Arbeit bei Woodrow vermittelte, auch wenn Ben die Neigung hatte, uns »Rüben« zu nennen, wenn wir einmal nicht seiner Meinung waren. Rüben sind laut Ben die unterste Gemüseart, weil sie gelblich sind, im erhitzen Zustand matschig werden und obendrein Blähungen verursachen.
Wie ich Matt gesagt hatte, war Benjamin Woodrow eine ziemlich schillernde Gestalt. Sein beruflicher Werdegang war ebenso schillernd gewesen, bevor er mit Kaye die Beratungsfirma gründete. Als Vollzugsbeamter für Floridas Kommission für Wildtiere und Süßwasserfische war er durch die Everglades patrouilliert, wo Alligator-Wilddiebe auf ihn geschossen hatten und er obendrein von den nicht besonders dankbaren Alligatoren angegriffen worden war. Als zuständiger Beamter für Fische und wild lebende Tiere in Alberta hatte er Flüsse und Seen überwacht und sogar undercover gearbeitet, um einen Ring von Wilddieben zu sprengen. Er hatte die Operation hochgehen lassen und Körperteile von Tieren im Wert von mehreren zehntausend Dollar konfisziert. Darüber hinaus war es ihm gelungen, eine Kugel vom Anführer der Gruppe zu konfiszieren, nämlich, indem er von ihm angeschossen wurde – in den Hintern. Die daraus resultierende Wunde nannte er seine »Kriegsverletzung«, die er stolz und – wenn er ein paar Bierchen intus hatte – häufig zur Schau stellte. Auf Grund all dessen machte Ben sich wenig Illusionen über seine Mitmenschen und glaubte in vielerlei Hinsicht, dass die menschliche Rasse schon viel zu lange auf der Erde sei. Und die meiste Zeit über wünschte er sich, er könnte als Rausschmeißer fungieren.
»Ich habe einen Vorbericht über den Zustand des alten Norsicol-Geländes gelesen«, erzählte ich June. »Daher erwarte ich einige von Bens kleinen Hetztiraden über die vielen Fürs und die spärlichen Widers, die menschliche Rasse auszulöschen. Vielleicht solltest du das Gleiche tun.«
»Wie schlimm steht es denn um das Gelände?«, fragte sie.
Ich verzog das Gesicht und machte mich daran, die Salatblätter zu zerreißen. »Schlimm«, meinte ich. »In ein, zwei Tagen werden wir mehr wissen, sobald sie erst mal die Gelegenheit haben, sich das ganze Grundstück anzusehen.«
»Hmmm.« June nahm einen Messbecher heraus und begann, Zutaten abzumessen. »Was beinhaltet es denn genau, ein solches Gelände zu säubern?«
»Eine ganze Menge«, sagte ich. »Man beginnt mit der Grundstücksbeurteilung, die in vier Phasen unterteilt ist. Phase eins ist eine Überprüfung des geschichtlichen Hintergrunds und der Dokumente, Phase zwei umfasst ein Bodenprobenprogramm, und die Phasen drei und vier beinhalten die eigentliche Säuberung des Geländes.«
June nahm einen Block orangefarbenen Käse aus dem Kühlschrank und begann, ihn zu zerreiben. »Dann arbeiten Ben und die anderen also an der zweiten Phase?«
»Genau, und auch schon ein bisschen am Aufräumen. Ich glaube, sie sind alle ganz wild darauf loszulegen. Wie ich hörte, hatte Ben eine Menge Schwierigkeiten mit Phase eins.«
»Der Überprüfung der Dokumente?«
»Ja. Die Aufzeichnungen der alten Fabrik waren gröber als Sandpapier, wodurch die historische Prüfung eine echte Herausforderung wurde.«
»Kann ich mir vorstellen. Norsicol schien ihren Kram ja nie so recht beisammen zu haben.«
»Tja, die meisten ihrer Aufzeichnungen fehlten, und als die Fabrik dichtmachte, wanderten sämtliche technischen Aufzeichnungen zusammen mit den Hochöfen, Kompressoren, Bottichen und anderen Geräten nach China.«