9783958130319-300-2400.jpg

Wutentbrannt

Brigitte Lamberts
Annette Reiter

edition oberkassel
2016

Für meine Eltern in liebevoller Erinnerung
von Brigitte

Für Bärbel
von Annette

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Ein Großteil der gastronomischen Ausflüge des Hauptkommissars spielt an realen Orten, die als Empfehlung zu verstehen sind.

Das Team

Otto Kreutz – Kriminalrat, Leiter des Morddezernates

Clemens von Bühlow – Hauptkommissar, Leiter der Ermittlungen

Maria Esser – Hauptkommissarin

Hendrik Flemming – Kommissar, Aktenführer, Rechercheexperte

Christian auf der Heide – Oberkommissar

Sonja Melchior – Kommissaranwärterin

Florian Schmidt – Kommissaranwärter

Rainer Steinbeißer – Hauptkommissar

Pia Cremer – Oberstaatsanwältin

Dr. Wolfgang Hummel – Gerichtsmediziner

Armin Schoeller – Leiter der Kriminaltechnik

Jochen Mönnekes – Pressesprecher des Polizeipräsidiums

Alexander Langenberg – Psychologe, Clemensʼ bester Freund

Prolog – Mai 2011

Montagvormittag Hotel am Carlsplatz. Die junge Servicekraft schiebt den Buffetwagen den langen, nur spärlich beleuchteten Flur entlang. Heute hat sie mal wieder den Wagen erwischt, dessen Räder sich gerne quer stellen. Noch hat sie den Trick nicht raus, wie sie mit ihm umgehen muss, damit er sich gut bedienen lässt. Mühsam kämpft sie sich über den dicken Teppich vorwärts. Es ist erstaunlich ruhig auf dieser Etage. Niemand ist zu sehen.

Zuvor hat sie in der Hotelküche den Bestellzettel vom vorherigen Abend für Zimmer 211 gewissenhaft mit dem bereitgestellten Frühstück verglichen: zwei helle Brötchen, zwei Mehrkornbrötchen, zwei Croissants, Butter, Marmelade, Wurst und Käse, zwei Spiegeleier, zwei Gläser Orangensaft, ein Ei im Glas, zwei Kännchen Kaffee, Milch, Sahne und Zucker.

Vor dem Zimmer mit der Nummer 211 hält sie an und klopft leise an die dunkle Holztür. Keine Reaktion. Verunsichert betrachtet sie das Schild, das am Türknauf hängt: ›Bitte nicht stören‹. Die junge Frau klopft ein weiteres Mal, jetzt etwas beherzter. Immer noch nichts. Nervös schaut sie sich um. Es ist gerade ihre zweite Woche als Auszubildende im Hotelfach und es gibt genügend Situationen, in denen sie nicht weiß, wie sie sich zu verhalten hat. Wie serviert sie ein Frühstück, das für elf Uhr bestellt ist, obwohl dieses Schild das Gegenteil sagt? Sie entschließt sich zu einem weiteren Vorstoß und klopft erneut, diesmal ist es fast ein Hämmern. Das dumpfe Geräusch schallt merkwürdig laut durch den Flur. »Zimmerservice, ich bringe Ihr Frühstück!« Ihre Stimme klingt zittrig. Doch auch jetzt hört sie keinen Laut. Sie schaut sich erneut um und entdeckt am Ende des Flurs den Wäschewagen der Zimmermädchen. Ihre Kolleginnen haben offensichtlich schon fast alle Gästezimmer auf diesem Stockwerk gereinigt. Nur wenige Türen stehen noch offen, das Licht aus den Zimmern wirft Lichtstreifen in den hinteren Teil des Flures. Der zweite Stock des Hotels ist in einem angenehmen Blaugrau gehalten. Vergangenen Freitag sind in allen Etagen neue Bilder von Absolventen der Kunstakademie aufgehängt worden. Alle drei Monate werden die Bilder gewechselt. Auf diese Weise erhalten junge Künstler die Chance, ihre Arbeiten zu präsentieren. Die Auszubildende nimmt die Servierhaube von einem der Teller und prüft mit der flachen Hand die Temperatur der Spiegeleier. ›Die sind schon fast kalt, das gibt Ärger.‹ Vor Aufregung beißt sie sich auf die Lippen. Was tun? Dann erblickt sie erleichtert die Hausdame, die eilig den Gang betritt. Schnell setzt sie die Haube auf die Eier, geht ihrer Vorgesetzten drei Schritte entgegen und fragt sie verlegen um Rat.

Doch auch die resolute Hausdame schafft es nicht, die Gäste aus Zimmer 211 zum Öffnen zu bewegen, obwohl ihr ener­gisches Klopfen durch den ganzen Flur dröhnt und die Zimmermädchen aus den Zimmern kommen, um nach der Ursache für die Aufregung zu schauen. Kurz entschlossen holt sie die Generalkarte aus ihrer Jackentasche und führt sie durch den Schlitz. Ein leises Klick und schon öffnet sich die Tür. Die beiden Frauen betreten das Doppelzimmer. Die Geräusche vom Markt auf dem Carlsplatz und der Lärm der Autos dringen gedämpft durch die schallisolierten Fenster. Verwundert bemerkt die Hausdame das ordentlich gemachte Bett. Sie dreht sich zum Badezimmer um, klopft auch hier an die Tür. Vielleicht hat der Gast in der Nacht noch ausgecheckt oder ganz früh am Morgen. Kaum hat sie die nur angelehnte Badezimmertür aufgeschoben, hört sie einen lauten Schrei. Sie wirbelt herum. Die Auszubildende steht am Fenster, starr vor Schreck, Entsetzen im bleichen Gesicht. Mit schnellen Schritten ist sie bei ihr. Und sieht ihn auch: Auf dem Boden hinter dem Bett liegt ein Mann, blutüberströmt. Beherzt bückt sie sich und greift ihm an den Hals. Nur Sekunden später richtet sie sich wieder auf. Nichts zu machen, der Mann ist tot.

1.

Montagvormittag Polizeipräsidium. In einem Nebenraum der Kantine machen sich die Kollegen über das kalte Buffet her. Sichtlich entspannt wird gescherzt und geplaudert, nachdem sie mehr als eine Stunde die Abschiedsreden ihrer Vorgesetzten für Hauptkommissar Rainer Steinbeißer über sich haben ergehen lassen müssen. Es hätte nicht viel gefehlt und Hauptkommissar Clemens von Bühlow wäre bei der Rede des Polizeipräsidenten, vorgetragen mit einer sehr sonoren Stimme, eingeschlafen. Aber seine Kollegin Maria Esser hat rechtzeitig seinen Arm berührt, sodass sie Schlimmeres verhindern konnte. Die Rede von Kriminalrat Otto Kreutz hingegen war ein Genuss, herzlich und humorvoll und mit der einen oder anderen Anekdote aus fast vierzig Jahren Polizeidienst gespickt. Besonders viel Beifall bekam Kreutz, als er von einem Vorfall erzählte, bei dem Steinbeißer und er – beide noch ganz jung – auf Streife waren. »Unser Steinbeißer war mal ganz schlank und in seiner Uniform ein echt gutaussehender Kerl. Damals war er noch eitel, aber das hat sich mit den Jahren ausgewachsen. Was ich eigentlich erzählen wollte, ist eine Sache, die wir damals erlebt haben. Unser Revier war die Altstadt. Eines Abends torkelte aus dem Uerigen eine Gestalt heraus und drohte, uns vor die Füße zu fallen. Steinbeißer war sehr reaktionsschnell und fing den Betrunkenen auf. Der hat ihm als Dank auf die Uniform gekotzt. Das Gesicht von Rainer hättet ihr sehen sollen. Angewidert und erbost fauchte er den Betrunkenen an: ›Wohl sturzbetrunken oder was?‹ ›Ja‹, sagte der Typ, ›aber jetzt nicht mehr‹, und zeigte auf die besudelte Uniform. Sichtlich nüchterner machte er sich auf den Weg nach Hause. Das Gezeter während der restlichen Dienststunden könnt ihr euch nicht vorstellen. Und gestunken hat unser lieber Steinbeißer, ich kann es kaum beschreiben.« Der Saal brüllte vor Lachen, der Jubilar ebenfalls.

Gerade ist Rainer Steinbeißer, der sich für den Anlass extra einen neuen dunkelblauen Anzug zugelegt hat und mal nicht in seiner verbeulten Jeans herumläuft, im Gespräch mit dem Polizeipräsidenten und dem Oberbürgermeister. Beide haben es sich nicht nehmen lassen, bei der Verabschiedung ihres dienstältesten Hauptkommissars am Jürgensplatz vorbeizuschauen. Fast alle Kollegen, mit denen Steinbeißer über die Jahre zusammengearbeitet hat, sind gekommen und stehen in Grüppchen zusammen.

Dr. Hummel steuert zielstrebig auf Oberstaatsanwältin Pia Cremer zu, um sie aus den Fängen ihres Kollegen Helmuth ­Fischer zu befreien, der unaufhörlich auf sie einredet. Sie lächelt den breitschultrigen Gerichtsmediziner an und nickt Staatsanwalt Fischer zum Abschied kurz zu. Hummel schlendert mit ihr auf die langen, mit weißen Papiertischdecken überzogenen Biertische zu, auf denen das kalte Buffet appetitlich angerichtet ist. Die Kommissaranwärter Sonja Melchior und Florian Schmidt stehen bei Armin Schoeller und fragen dem drahtigen Kriminaltechniker Löcher in den Bauch. Oberkommissar Christian auf der Heide, der zurzeit Urlaub hat, ist ebenfalls dabei und hält an jeder Hand eine seiner kleinen Töchter, die Jüngste hat er zuhause gelassen. Sein Blick schweift über die Leckereien auf den Tischen. Sein Kollege Hendrik Flemming geht auf ihn zu und schnappt sich eine der Töchter. Schon sind sie bei den großen Platten mit kaltem Braten, Hähnchenkeulen und Kartoffelsalat und langen tüchtig zu. Jochen Mönnekes, der Polizeisprecher, hält sich ständig in der Nähe des Oberbürgermeisters auf, um den geeigneten Zeitpunkt zu erwischen, sich dem Gespräch anschließen zu können. Und Otto Kreutz versucht, ohne zu kleckern die heiße Gulaschsuppe zu löffeln und dabei interessiert der Unterhaltung von Hauptkommissar Eiler vom Dezernat Raub mit dessen Kollege Völler von der Bereitschaft zuzuhören. Wie so oft ist das Thema der personelle Notstand in ihren jeweiligen Abteilungen.

Maria Esser schaut belustigt zu, wie Clemens von Bühlow schwungvoll eine Roastbeefscheibe mit Remoulade und ein Stück Leberpastete auf seinem Teller balanciert, als sein Handy klingelt. Umständlich fischt er es mit der rechten Hand aus der Brusttasche seines Hemdes, ohne den Blick von dem Teller in seiner linken Hand zu nehmen, der durch diese Aktion in bedrohliche Schieflage gerät.

»Wird nichts mit der Schlacht am kalten Buffet. Gerade hat eine Streife uns verständigt. Wir haben einen Toten in einem Hotel am Carlsplatz. So wie es aussieht, hat der schwer eins auf die Mütze bekommen«, meldet sich der Pförtner, der nur wenige Schritte entfernt in seinem Glaskasten sitzt.

»Sie brauchen niemanden zu benachrichtigen, sind ja alle hier«, antwortet Clemens sogleich. Kaum hat er aufgelegt, erhebt er seine Stimme. Sofort wenden sich ihm die Köpfe und erstaunte Gesichter zu. »Liebe Kolleginnen und Kollegen, tut mir leid, aber man gönnt uns auch heute keine gemütliche Feier. Wir haben einen Toten. Dr. Hummel, darf ich Sie bitten? Und Armin, kannst du mit deinem Team ausrücken?« Dann wendet er sich an Pia Cremer, die gerade an einem Stück Braten kaut. »Könnten Sie den Fall übernehmen?«

Er blickt kurz zu Otto Kreutz hinüber, der per Kopfnicken seine Zustimmung gibt, denn mit dieser Teamzusammenstellung überschreitet Clemens ganz klar seine Weisungskompetenz. Doch für den Hauptkommissar ist das die Chance, die Kolleginnen und Kollegen direkt anzusprechen, mit denen er bisher am besten zusammengearbeitet hat. Schon hat er die Aufmerksamkeit der Menge verloren, die meisten widmen sich wieder ihrem Essen. Clemens schaut sich suchend um, dann geht er auf Steinbeißer zu und legt ihm die Hand auf die Schulter.

»Möchtest du mitkommen? Ich weiß, es ist dein vorletzter Arbeitstag, aber vielleicht willst du noch einmal einen Tatort erleben?«

Die Augen des kleinen, eher dicklichen Kollegen leuchten auf. »Ja, ich komme sofort. Ich muss nur noch schnell etwas erledigen.« Er verabschiedet sich von dem Polizeipräsidenten und dem Oberbürgermeister und eilt in Richtung Casino­küche.

Maria wirft die große Sacktasche über die Schulter, greift nach ihrer Lederjacke und ist schon dabei, die Feier zu verlassen, da schnappt sie sich noch schnell eine der köstlichen kleinen Frikadellen und schiebt sie in den Mund. Auf dem Weg nach draußen kommt Clemens an seinem Chef Otto Kreutz vorbei und spricht ihn an: »Kann ich dich nachher mal kurz unter vier Augen sprechen?«

Der Kriminalrat bejaht.

2.

Montagvormittag Carlsplatz. Clemens und Maria sind die Ersten, die am Hotel am Carlsplatz eintreffen. Seinen alten Porsche hat Clemens direkt auf dem Bürgersteig vor dem Hotel abgestellt, nicht ohne noch schnell das Schild ›Polizei im Einsatz‹ hinter die Windschutzscheibe zu legen.

An der Rezeption erwartet sie schon der aufgeregte Hotelmanager, auf dessen Namensschild General Manager steht.

»Sind Sie der Kommissar, der hier das Sagen hat?«, wendet sich der Mann sofort an Clemens, ohne sich vorzustellen. Der kann diese Aufregung verstehen. Ein Toter in einem Hotel ist immer unangenehm, steht ein Hotel doch für Service, Komfort und Entspannung. Da will man mit Toten nichts zu tun haben. Er stellt sich und Maria Esser kurz vor, kann aber nicht zu dem aufgewühlten Mann durchdringen.

»Bitte kein Aufsehen, so etwas ist für ein Haus unserer Klasse über Jahre hinaus rufschädigend«, stößt dieser zwischen seinen vor Nervosität zusammengepressten Lippen hervor.

»Gibt es einen Nebeneingang?«, fragt Clemens sofort.

»Ja, vom Parkplatz aus haben wir einen Lieferanteneingang und einen Notausgang«, antwortet der Manager, schon etwas entspannter. Offensichtlich versteht dieser Ermittler das Prekäre der Situation.

Clemens schaut Maria an, die sofort das Handy aus der Tasche ihrer Lederjacke zieht und Schoeller bittet, das Hotel mit seinem Transporter von hinten anzufahren. Doch Hummel ist schon da. Mit eiligen Schritten betritt er die Lobby, bereits im weißen Overall, auf dem Rücken der deutlich zu lesende Schriftzug ›Rechtsmedizin‹. Wie immer ist er schwer bepackt mit Tatortkoffer und Laptop.

Clemens rettet die Situation. »Führen Sie uns schnell zu dem Zimmer«, fordert er den Manager auf und schiebt den Gerichtsmediziner mit beiden Händen vor sich her. Der dreht sich verwundert zu dem Hauptkommissar um, da er ihn als zurückhaltenden Menschen kennt, der selten Nähe zulässt. Schon gibt es neugierige Blicke von einer japanischen Reisegruppe, die in das Hotel strömt. Der Manager schaut verzweifelt Clemens an, der nur mit den Schultern zuckt: »Tut mir leid.« Maria gibt ihrem Kollegen schnell ein Zeichen, dass sie sich in der Eingangshalle noch etwas umsehen möchte. Schon ist die kleine Gruppe im Aufzug verschwunden.

Kaum im zweiten Stock angekommen, sehen die drei in einigen Metern Entfernung zwei uniformierte Kollegen vor einer Tür stehen, Schoeller erreicht ebenfalls gerade mit seinen Leuten über die Nebentreppe den Flur. Der Kriminaltechniker öffnet seinen Koffer und zieht für Clemens einen Overall heraus.

»Hab noch etwas Geduld, die Zimmer sind bestimmt nicht so groß. Wir verschaffen uns lieber erst einmal alleine einen Überblick.« Clemens ist einverstanden.

»Ich schließe Ihnen das benachbarte Zimmer auf, das ist frei. Da können Sie solange warten«, bietet der Manager an. Es ist ihm deutlich anzumerken, dass er die Polizei so schnell wie möglich vom Flur weghaben will. Er eilt durch den immer noch diffus beleuchteten Gang und schließt das anliegende Zimmer auf, Clemens und Hummel folgen ihm.

Hummel stellt seinen schweren Tatortkoffer im Nebenzimmer ab und setzt sich in einen der Sessel. Interessiert betrachtet er die moderne Inneneinrichtung, die in allen Hotels vom selben Hersteller zu kommen scheint. Clemens wendet sich an den Manager.

»Was können Sie mir über den Toten sagen?«, beginnt er seine Befragung.

»Sein Name ist Nikolaj Smirnow. Er war häufiger bei uns zu Gast, meistens in Begleitung von Herrn Sebastian Lechner. Auch gestern Abend war das Zimmer für diese beiden Herren reserviert. Sie buchen immer nur für eine Nacht und gehen am Abend in unser Hotelrestaurant.«

»Waren sie gestern Abend auch zum Essen dort?«, will Clemens wissen.

»Darüber bin ich nicht informiert. Aber der Restaurantchef und der Concierge werden Ihnen mehr sagen können.«

»Sie sagten, dass Nikolaj Smirnow oft mit Herrn Lechner hier war. Hat er auch mit anderen Personen hier gegessen oder übernachtet?«

»Ja, ab und an. Wissen Sie, wir haben nicht nur eine ausgezeichnete Küche, sondern auch einen luxuriösen Wellness-Bereich. Den schätzen vor allem viele Geschäftsleute.«

Es klopft an der Tür und Schoeller gibt Hummel ein Zeichen, dass er sich nun den Toten anschauen kann.

Clemens, kurz abgelenkt, wendet sich erneut dem Hotelmanager zu. »Wo ist dieser Herr Smirnow denn gemeldet?« Sofort greift der Manager in seine Jacketttasche und holt einen Anmeldezettel heraus. Offensichtlich hat er ihn bereits herausgesucht. Er reicht dem Kommissar das Formular.

›Mühlengasse‹, liest Clemens und blickt verwundert auf. »Das ist doch ganz in der Nähe.«

Auf dem Flur begegnet er seinem Kollegen Steinbeißer, der sich von einem Pagen das Hotel zeigen lässt. Er nickt ihm kurz zu und öffnet dann die Tür zum Zimmer 211. Hummel ist gerade dabei, die Rektaltemperatur des Toten zu messen. Clemens wendet sich schnell ab. Konzentriert schaut er sich um. Es ist nichts Auffälliges zu sehen, ein ganz normales Hotelzimmer, sauber und aufgeräumt. Schoeller grantelt vor sich hin, da ihm zu viele Leute im Weg stehen. Als er Clemens vorwurfsvoll ansieht, verlässt dieser eilig den Raum.

»Und?«, fragt Maria, die gerade von der Lobby heraufgekommen ist.

»Wegen Überfüllung geschlossen. Aber Hummel ist gleich fertig, dann sehen wir weiter.«

»Der Concierge, der gestern Nachtdienst hatte, ist schon verständigt, der kommt gleich.«

Der große, kräftige Gerichtsmediziner quetscht sich durch die nur halb geöffnete Zimmertür. »Viel kann ich Ihnen noch nicht sagen. Er hat eine massive Wunde am Hinterkopf, aber erst die Obduktion wird zeigen, ob die auch todesursächlich war.«

»Todeszeitpunkt?«, fragt Clemens knapp.

»Mindestens zehn Stunden her, wenn nicht noch länger.«

Clemens blickt auf seine Armbanduhr. »Also gestern am späten Abend oder in den frühen Morgenstunden.«

»Falls er gestern hier im Restaurant war, besorgen Sie mir bitte die Rechnung. Vielleicht hilft mir das, die Todeszeit präziser einzugrenzen.«

»Wann obduzieren Sie?«

»Kann ich noch nicht sagen, kommt darauf an, wann er bei mir eintrifft.«

Kaum hat Hummel seinen Satz beendet und sich von Clemens und Maria verabschiedet, läuft der Manager auf sie zu. Mit hochrotem Kopf zischt er den Hauptkommissar wütend an: »So geht das nicht! Das untersage ich Ihnen! Ich habe hier das Hausrecht!«

»Was ist denn passiert?«, bemüht sich dieser um einen gelassenen Ton, damit die Situation nicht weiter eskaliert.

»Der Bestatter hat seinen Leichenwagen direkt auf dem Bürgersteig vor dem Hotel abgestellt. Und jetzt will er sogar mit dem Blechsarg durch mein Haus. Durch das ganze Hotel! Mit einem Sarg! Das geht auf gar keinen Fall, hören Sie?!«

In diesem Moment biegt Rainer Steinbeißer in den Flur und wird sofort vom Manager mit einer wütenden Salve begrüßt. »Wie können Sie es wagen, den Bestatter am Hoteleingang vorfahren zu lassen? Wir sind ein seriöses Haus mit einem hervorragenden Ruf in der Branche und bei unseren Gästen! Dafür zeige ich Sie an!«

»Bitte beruhigen Sie sich. Wir haben festgestellt, dass die Treppen, die zum Nebeneingang und zum Notausgang führen, zu eng sind. Da bekommen wir den Sarg nicht durch«, erwidert Steinbeißer emotionslos.

»Dann nehmen Sie den Aufzug.«

»Das geht auch nicht. Wir können den Sarg nicht hochkant stellen.«

»Und warum nicht? Passieren kann dem Toten doch nichts mehr. Er ist doch schon tot.«

Steinbeißer seufzt und bleibt geduldig. »Doch, dem Toten kann immer noch etwas passieren.«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

Clemens mischt sich ein, den der aufgebrachte Manager nun doch langsam nervt. Wenn er sie ihre Arbeit tun lassen würde, könnten sie schon fast wieder weg sein, mit dem Toten. »Hören Sie, Herr, wie war noch Ihr Name?« Der Mann reagiert nicht.

»Also gut. Erstens macht es für Sie keinen Unterschied, ob wir die Haupttreppe oder den Aufzug nehmen. In beiden Fällen müssen wir durch die Lobby. Zweitens kann die Leiche auch jetzt noch Verletzungen davontragen, und zwar durch den Transport. Das würde uns die Arbeit erschweren. Verstehen Sie das?«

»Aber bitte doch nicht durch das ganze Hotel«, kommt es fast weinerlich zurück. »Was sollen denn unsere Gäste denken?«

Clemens hat eine Idee: »Wir können für kurze Zeit die Lobby und den zweiten Stock sperren, wir beeilen uns auch. Dann sieht uns niemand. Sagen Sie, es würden Filmszenen gedreht. Rainer, übernimmst du das?«

Ohne ein weiteres Wort lassen Clemens und Maria den Manager stehen und gehen die geschwungene Treppe hinab zum Hotelrestaurant. In dem kleinen Speiseraum mit dem Blick auf den Carlsplatz sitzen vereinzelt Gäste und warten auf ihr Mittagessen. Ein aufmerksamer Ober kommt auf sie zu und bittet sie, in einem kleinen Separee Platz zu nehmen.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«

»Gerne, für mich bitte einen doppelten Espresso.« Clemens schaut zu Maria, die verneinend den Kopf schüttelt.

Kaum hat er den ersten Schluck genommen, begrüßt sie ein kleiner, kräftiger Mann. Sein schwarzer Anzug sitzt zu eng und lässt ihn noch beleibter erscheinen. Nachdem er sich als Res­taurantchef vorgestellt hat, fragt er sogleich: »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Sagt Ihnen der Name Nikolaj Smirnow etwas? War er öfter hier zu Gast?«

»Ja, mindestens einmal die Woche.«

»Und immer in Begleitung von Sebastian Lechner?«

»Nein, das wechselte, aber die beiden Herren waren oft bei uns.«

»So auch gestern?«

»Ja, sie hatten einen Tisch für neunzehn Uhr bestellt.«

»Wie lange sind sie geblieben?«

»Herr Lechner blieb bis ungefähr einundzwanzig Uhr dreißig und Herr Smirnow trank noch ein oder zwei Glas Wein. Er hat so gegen zweiundzwanzig Uhr das Restaurant verlassen.«

Clemens blickt den Restaurantchef erstaunt an. »Sie haben das Restaurant nicht zusammen verlassen?«

»Herr Lechner bekam einen Anruf auf seinem Handy. Danach schien die Unterhaltung der beiden Herren nicht mehr so harmonisch zu sein.«

»Das haben Sie aber sehr diplomatisch ausgedrückt, könnten Sie da bitte etwas genauer werden?«, mischt sich Maria Esser in die Befragung ein.

Er lächelt sie höflich an. »Diskretion ist das oberste Gebot in unserem Beruf.«

»Das verstehe ich, aber hier geht es um eine Mordermittlung. Wir gehen davon aus, dass Herr Smirnow keines natürlichen Todes gestorben ist. Daher bitte ich Sie, Ihre Beobachtungen klar und deutlich zu schildern«, erhebt Clemens seine Stimme.

»Ermordet?«

Der Restaurantchef blickt die Hauptkommissare entgeistert an.

»Bitte berichten Sie weiter«, fordert Maria ihn auf.

»Ja, also …« Er stockt. »Wo war ich stehen geblieben?«

»Herr Lechner bekam einen Anruf«, hilft ihm Maria auf die Sprünge.

»Ja, genau. Das Handy von Herrn Lechner klingelte. Da er ziemlich laut sprach, habe ich ihn mit einer Geste gebeten, nach draußen zu gehen, um die anderen Gäste nicht zu stören. Dieser Bitte ist er auch sofort nachgekommen. Als er dann zurückkehrte, haben die beiden Herren heftig diskutiert, mit leiser Stimme zwar, aber es war nicht zu überhören, dass sie aneinandergeraten sind.«

»Und dann?«

»Nichts weiter. Sie haben zu Ende gegessen und Herr Lechner ist recht bald aufgebrochen.«

»Die Gemüter haben sich also wieder beruhigt?«

»Ja, schon, doch die Stimmung war gestört. Herr Lechner wirkte nervös und Herr Smirnow war deutlich verärgert.«

»Mit wem hat Herr Lechner telefoniert?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das Einzige, was ich mitbekommen habe, waren Gesprächsfetzen wie ›Darüber reden wir in aller Ruhe‹ oder ›Was soll ich denn machen?‹.«

Die Hauptkommissare verabschieden sich von dem Restaurantchef. Als Clemens seinen Espresso bezahlen will, winkt der zuvorkommend ab.

»Eine letzte Sache noch. Können Sie mir die Rechnung der beiden Herren von gestern Abend geben?«

»Die dürfte der Concierge haben.«

Schon ist der Restaurantleiter mit leisen Schritten davongeeilt.

In der Lobby gehen die beiden zielstrebig auf die zwei Hotelangestellten hinter dem Empfangstresen zu. Nachdem sie sich kurz vorgestellt haben, fragt Clemens, wer von den beiden gestern Dienst hatte. Ein schlanker junger Mann, dessen Hemdkragen auffällig von seinem schmalen Hals absteht, meldet sich: »Ich hatte gestern Spätdienst.«

»Dann erzählen Sie uns doch bitte, was Sie gestern beobachtet haben«, fordert ihn Maria auf. In diesem Moment kommt eine weitere Reisegruppe durch die automatische Eingangstür und umstellt umgehend die Rezeption. Diesmal sind es Chinesen, die sich erwartungsvoll in der Lobby umsehen. Marco Frei, der junge Concierge, gibt seiner Kollegin mit einer Geste zu verstehen, dass er sich kurz zurückzieht, und bittet Maria und Clemens in das kleine Nebenzimmer direkt hinter dem Empfang.

»Geht es um den Toten?«

»Ja, um Nikolaj Smirnow«, erwidert Maria.

»Schrecklich! Wie ist er zu Tode gekommen?«

»Herr Frei, bitte Ihre Eindrücke von gestern«, kommt es ungehalten von Clemens.

»Entschuldigung. Also die beiden Herren sind öfter bei uns. Deswegen werden sie auch als Stammgäste behandelt.«

»Was bedeutet das genau?«, will Maria wissen.

»Weniger Formalitäten und bevorzugte Behandlung bei allem.«

Ihr fragender Blick veranlasst den jungen Mann, fortzufahren.

»Wenn beispielsweise alle Tische im Restaurant reserviert sind, dann finden wir für unsere Stammgäste trotzdem noch einen Platz.«

»Und wie war das gestern Abend?«

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja«, erwidert Maria, »war etwas anders als sonst?«

»Ja. Herr Lechner hat zwischendurch in der Lobby telefoniert, er war aufgebracht und schien mir verzweifelt.«

»Wissen Sie, worum es ging?«

»Es sah so aus, als hätte er Beziehungsstress.«

»Worauf führen Sie das zurück?«, fragt sie nach.

»Er stand dort am hintersten Fenster der Lobby.« Marco Frei zeigt durch die Tür des kleinen Raumes zum Eingangsbereich hinüber. »Viel konnte ich von dem Telefonat nicht hören, aber immer wieder sagte Herr Lechner: ›Wir reden darüber‹ und ›Gib mir Zeit‹.«

»Hm. Und was geschah nach dem Telefonat?«

»Er kehrte in das Restaurant zurück und verließ später das Hotel. Er wirkte sehr angespannt und ging, ohne sich von mir zu verabschieden, was ich bei ihm noch nie erlebt habe.«

»Wissen Sie noch, um wieviel Uhr das war?«

»So gegen einundzwanzig Uhr dreißig.«

»Was geschah danach?«, fragt Clemens.

»Einige Zeit später kam Herr Smirnow ebenfalls aus dem Restaurant, holte sich bei mir seine Codekarte für das Zimmer ab und ging nach oben.«

»Verließ er in der Nacht das Hotel?«

»Während meines Dienstes nicht. Es hat sich auch niemand nach ihm erkundigt, sich telefonisch verbinden lassen oder ihn aufgesucht.«

»Sind Sie sich da sicher?«

Der junge Mann nickt.

»Ja, kurz nach zehn Uhr abends, das war die Zeit, zu der Herr Smirnow in sein Zimmer ging, wird die Eingangstür abgeschlossen. Dann müssen die Gäste klingeln und ich lasse sie herein.«

»So früh schon?« Clemens ist erstaunt.

»Ja, hier am Carlsplatz kann es abends zu unschönen Situationen kommen, Betrunkene aus der Altstadt, die Randale machen zum Beispiel.«

»Und Sie waren den ganzen Abend an der Rezeption?« Der Hauptkommissar will es genau wissen.

»Ja, bis 23 Uhr, es gab noch viel Papierkram zu erledigen.«

»Gehen Sie manchmal hier in das kleine Zimmer, um Pause zu machen?« Diesmal kommt die Frage von Maria.

Marco Frei zuckt kaum merklich zusammen. »Ja, aber nur ganz kurz. Es wird nicht gern gesehen.«

»Und was machen Sie dann hier?«, fragt sie weiter.

»Nicht viel. Kurz die Augen schließen, etwas trinken oder wenn gar nichts los ist, schon mal ein Spielchen zur Entspannung.«

»Am Computer?«

»Ja, aber wirklich nur ganz kurz.«

»Dann könnte eine Person, ohne dass Sie sie sehen, an der Rezeption vorbeigehen, wenn Sie sich in diesem Raum befinden. Also auch gestern Abend oder in der Nacht«, konstatiert Clemens.

»Ja schon, aber die Eingangstür ist dann längst versperrt, es kommt also niemand hinaus oder herein, ohne dass ich es bemerke«, erwidert der Concierge.

»Wann wurden Sie denn abgelöst?«, ist seine nächste Frage.

»Um dreiundzwanzig Uhr hat mein Kollege Jens Kleinhaupt die Nachtschicht übernommen.«

»Wie erreichen wir diesen Kollegen?«

»Ich habe Ihrer Kollegin seine Telefonnummer bereits gegeben«, erwidert der Concierge freundlich. Und Maria erinnert Clemens daran, dass Jens Kleinhaupt bereits angerufen wurde und bald im Hotel eintreffen dürfte.

»Könnte jemand über den Lieferanteneingang oder durch die Nottür hereingekommen sein?«, fragt Clemens nach. Marco Frei überlegt kurz, dann schüttelt er verneinend den Kopf.

»Das ist sehr unwahrscheinlich. Denn wenn sich jemand an der Nottür zu schaffen macht, löst das sofort ›stillen Alarm‹ aus, der bei mir an der Rezeption eingeht. Die Lieferantentür ist nicht so abgesichert, aber immer abgeschlossen. Einen Schlüssel dafür haben nur der Restaurantchef, der Hotelmanager, die Hausdame und einer ist an der Rezeption hinterlegt.«

»Wo gehen Sie zum Rauchen hin?«, fragt Maria unvermittelt.

»Bei uns rauchen nur der Restaurantchef und mein Kollege Jens Kleinhaupt. Ganz selten genehmige ich mir auch eine Zigarette. Dann gehen wir durch die Küche in den Hof.«

»Und was ist mit der Hoftür?«, hakt Clemens nach.

»Die steht meist offen, wird aber nachts ebenfalls abgeschlossen.«

Clemens blickt Maria an, die ohne ein Wort sofort versteht, was ihr Kollege will. Sie dreht sich um und begibt sich erneut ins Restaurant.

»Nun möchte ich von Ihnen wissen, wer gestern nach zweiundzwanzig Uhr das Hotel betreten hat.«

»Alles nur Hotelgäste«, antwortet der Concierge.

»Ich hätte gern eine Liste mit den Namen und die Restaurantrechnung von Herrn Smirnow.«

Marco Frei ist mittlerweile nervös geworden, als ob ihm das Gespräch unangenehm ist. Kleine Schweißperlen sammeln sich auf seiner hohen Stirn. Er verlässt das kleine Büro, geht zu den Fächern, die sich an der Rückwand der Rezeption befinden, und nimmt einen Zettel aus dem Fach mit der Aufschrift ›Zimmer 211‹.

»Hier ist die Rechnung.«

»Können Sie mir die zweimal kopieren?«, bittet Clemens, der dem Concierge gefolgt ist.

Marco Frei legt das Blatt auf den Kopierer, der direkt neben dem Empfang steht.

»Die Liste der Hotelgäste«, er stockt und überlegt, »ich glaube, die kann ich Ihnen nicht so einfach herausgeben, da brauche ich die Genehmigung des Hotelmanagers.«

»Dann bitten Sie ihn hierher.«

Kurze Zeit später steht der immer noch aufgeregte Manager abermals vor Clemens. Als er von dem Wunsch nach der Gästeliste erfährt, läuft sein Gesicht erneut rot an.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, zischt er Clemens an.

»Wenn Sie auf einer richterlichen Anordnung bestehen, haben Sie die in einer Stunde vorliegen«, reagiert dieser ungehalten.

»Ja, ich möchte Sie bitten, den offiziellen Weg einzuhalten.«

»Gut, sehr gerne. Wir werden uns nochmals unterhalten müssen und dann würde ich es sehr begrüßen, wenn Sie etwas kooperativer wären. Ich weiß, das Ganze ist für Sie keine angenehme Situation, aber wenn Sie mir meine Arbeit schwer­er machen als nötig, kann auch ich unangenehm werden.«

Gerade als Clemens sich fragt, ob das Gesicht des Managers noch roter werden kann, hört er Schoellers Stimme vom oberen Treppenabsatz: »Wir sind hier fertig.«

»Ist gut«, ruft er zurück und bittet den offensichtlich wieder gefassten Manager: »Würden Sie bitte kurz mitkommen.« Die beiden gehen wortlos hinauf in die zweite Etage. An der Tür zu Zimmer 211 fordert er den Hotelmanager auf, den Raum zu betreten.

»Muss das sein?«, fragt dieser zurück. Es ist ihm deutlich anzusehen, wie unangenehm ihm diese Aufgabe ist.

»Ja, ich will von Ihnen wissen, ob etwas fehlt.«

Nach nicht einmal einer Minute kehrt der Manager zurück. »Nichts fehlt«, berichtet er kurz angebunden.

»Dann warten Sie bitte vor der Tür auf mich.« Und schon ist Clemens im Zimmer verschwunden. Konzentriert blickt er sich um. Die Tasche von Nikolaj Smirnow hat Schoeller mitgenommen, aber er erinnert sich, dass sie ungeöffnet auf der Kofferablage gestanden hat. Auch im Bad ist alles noch unberührt, die Seifen in Papier, die Zahnputzgläser in Plastikfolie eingewickelt und die Handtücher unbenutzt. Lediglich eine kleine geöffnete Mineralwasserflasche und ein benutztes Glas, das er vorhin auf dem Schreibtisch gesehen hat, lassen erkennen, dass sich jemand in diesem Raum aufgehalten hat. Plötzlich stutzt er. ›Die Zimmer dürften von der Ausstattung her identisch sein. Im Nachbarzimmer stand auf dem Schreibtisch eine Lampe, hier nicht‹, überlegt er. Clemens öffnet die Tür und schaut dem Manager direkt in die Augen.

»Hier fehlt die Tischlampe.«

»Kann nicht sein, jedes Zimmer hat eine.«

»Schauen Sie selbst.«

Der Manager wirft erneut einen schnellen Blick in das Zimmer.

»Stimmt, die fehlt.«

»Sind die Lampen identisch?«, fragt Clemens.

»Ja, gleiches Modell, gleicher Hersteller.«

»Gut, dann bitte ich Sie, mir eine dieser Lampen für kurze Zeit zur Verfügung zu stellen.«

In diesem Moment klingelt sein Handy. »Maria, was ist los?«

»Pia Cremer holt mich gleich ab, wir übernehmen zusammen die Obduktion, das ist dir doch recht, oder?«

»Ja, aber warte, ich habe noch etwas für dich, das du bitte für Hummel mitnimmst. Wenn wir Glück haben, ist das zwar nicht die Tatwaffe, aber ein Pendant.«

Clemens muss lächeln, denn er kann sich Marias verdutzten Gesichtsausdruck gut vorstellen. ›Spätestens jetzt spielt sie sicher wieder mit ihrem übergroßen Silberring.‹

Auf dem Weg nach draußen bleibt er kurz an der Rezeption stehen. Die Reisegruppen sind mittlerweile eingecheckt, nur zwei Gäste sitzen in den Ledersesseln im Foyer und lesen Zeitung.

»Herr Frei, noch eine letzte Frage. Hatte Herr Lechner eine Reisetasche bei sich?«

Der junge Mann denkt kurz nach. »Nein, nicht dass ich wüsste. Normalerweise holt er seine Tasche immer erst nach dem Essen aus seinem Auto.«

»Dieser Herr Lechner«, Clemens beugt sich etwas vor, »hat er auch eine Codekarte ausgehändigt bekommen?«

»Ja. Er ist viel früher als Herr Smirnow im Hotel eingetroffen. Herr Lechner hat eingecheckt, die Codekarte an sich genommen und das Hotel dann wieder verlassen.«

»Wann kam er, wissen Sie das noch?«

»Das muss so gegen siebzehn Uhr gewesen sein und dann wieder kurz vor neunzehn Uhr.«

»Ist Herr Lechner sonst auch immer so früh gekommen?«

»Nein, meistens sind die Herren zeitgleich eingetroffen.«