Rumjana Zacharieva
Die geliehenen Strapse
Kurzgeschichten
FISCHER E-Books
Rumjana Zacharieva, 1950 in Bulgarien geboren, dort 1964 erste Veröffentlichungen. Besuch des Englischsprachigen Gymnasiums in Rousse, Canettis Stadt der »geretteten Zunge«. 1970 Übersiedlung nach Deutschland. Bis dahin keine Kenntnisse der deutschen Sprache. Studium der Anglistik und Slavistik in Bonn. 1978 erster deutschsprachiger Gedichtband, 1979 Förderpreis des Landes NRW. Es folgten die Romane »Eines Tages Jetzt...« und »Sieben Kilo Zeit«, ein Kinderbuch, Hörspiele, Features und Übersetzungen aus dem Bulgarischen. In der Reihe Avlos erschien 1993 der Gedichtband »Am Grund der Zeit«, der einen Überblick über Zacharievas lyrisches Schaffen von 1978 bis 1993 gibt.
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Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560755-8
Wir sind eingeladen. Zum Abendessen. Ich liebe es, eingeladen zu werden. Leute zu besuchen. Mich vorzubereiten für den Besuch. Vor allem, mich vorzubereiten. Von der Autobahn her höre ich dumpfes Brodeln. Lauter Lastwagen brodeln bedrohlich hin und her. Was ist das eigentlich für ein Wort: „brodeln“, das mir gerade eingefallen ist? So was Ähnliches wie die Tage mal „Sternenjagd“. So was fällt mir sogar ein, wenn mir gar nicht nach Besuch zumute ist. Und man beleidigt ist, wenn ich auf die Einladung pfeife.
Du sitzt also da, schaust dir die Milchstraße an durchs Fenster hinaus, und gehst auf Sternenjagd. Statt zu Besuch. Mit anderen Worten: du träumst. Und wenn dein Mann zufällig die Abwesenheit in deinen Augen bemerkt und dich hinterhältig fragt: „Wo warst du eben?“, zuckst du zusammen und antwortest: „Auf Jagd. Nach Sternen.“
„Wo, bitte sehr?!“
„Auf Sternenjagd.“
Von nun an bleibt ihm nichts anderes übrig, als darauf zu achten, daß er seine Krawatte richtig bindet. Besonders heute abend, wo wir doch eingeladen sind.
Der Winter klappert mit Zähnen unter meinem Fenster. Wenn ich nur wollte, könnte ich durchs Fenster schauen und eine Hecke sehen. Eine Dornenhecke. Die für die Bulgaren lebendiger Zaun bedeutet und für die Deutschen – frisierte Grenze. Zum Nachbarn. Eine ganz gewöhnliche Hecke. Dornig. Egal. Besuch. Mach dich einmal auf den Weg durch die Grenze, egal ob frisiert oder lebendig, und du kannst was erleben! Der Gang nach Canossa. Oder zu Besuch. Kommt aufs Selbe hinaus. Auf Sternenjagd sein ist wiederum etwas ganz anderes.
„Ich bin so weit!“ ruft er mir fröhlich zu. „Ich warte im Auto.“
Du kannst warten, bis du schwarz wirst, denke ich und übersetze laut: „Ich aber nicht, mein Schatz!“
Brodeln. Lastwagen brodeln nicht. Wenigstens auf Bulgarisch nicht. Auch nicht auf Deutsch. Aber das Brodeln an sich, das gibt es. Weder plätschern sie noch köcheln. Und am wenigsten brüllen. Aber ich höre es, dieses Brodeln von der Autobahn her. Und die Sternenjagd, die gibt es auch.
„Entschuldige, mein Schatz, aber es bleiben uns nur noch zehn Minuten bis zur Abfahrt, wenn du nichts dagegen hast!“ sagt er plötzlich und stellt sich vor mich hin. Keineswegs bedrohlich. Nur leicht warnend. Elegant (schwarzer Anzug, graue Weste), charmant (halb lächelnd, halb gereizt), aufgeputzt, bereit. In Hauspantoffeln. „Jetzt sind’s nur noch acht Minuten!“
Deutsche Pünktlichkeit.
Soll ich ihm sagen oder nicht, daß er noch Hausschuhe anhat? Ich sag es ihm nicht. Er hält sich für unfehlbar und verachtet meinen Balkanschlendrian, der, übertragen ins Bulgarische, viel harmloser klingt als im Deutschen: Sorglosigkeit oder so ähnlich …
Der Wind schlägt seine verschneite Stirn gegen das Wohnzimmerfenster. Rennt gegen die unverrückbare Wand des Wochenendhauses an (schwedisches Patent, der Bulgare nennt so was eine Villa), fällt zu Boden, kriecht ums Haus herum, heult vor Wut und Ungeduld. Tja, es ist überhaupt besser, in der Heimat zu leben als hier, in Deutschland. Da gilt noch ohne jede Einschränkung: Haste was, biste was. Wenn du auf dem Balkan ein Schrebergartenhäuschen besitzt, da hast du sofort eine Villa. Auch wenn es nur einen Meter fünfzig hoch ist, und das Grundstück sechzehn Quadratmeter groß. Und wenn du bei uns in der Heimat eine Würstchenbude betreibst oder einen Gemüsestand auf dem Markt, oder bloß Schnürsenkel verkaufst, da bist du schon Präsident. Und wenn man dich fragt, was machen Sie so beruflich, dann sagst du, ich bin Präsident! Präsident der Firma „Radieschen & Co.“ oder „Schnürsenkel & Co.“ Wenn man mich in der Heimat fragt, was sind Sie von Beruf, und ich antworte: Schriftstellerin, das sitzt, als hätte ich gesagt: die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika. Oder mindestens Premierminister. Stellst du dich in Deutschland als Schriftstellerin vor, weiß jeder, daß du eine arme, möglicherweise arbeitslose Sau bist, deren Höchstluxus darin besteht, zwei Jahre lang für einen Besuch beim Friseur zu sparen. Und in den getragenen Hosen und Röcken der längst verstorbenen Großmutter auf Lesungen aufzutreten. Es reicht schon, daß du als Putzfrau im Westen arbeitest, damit sie in der Heimat wissen, daß du eine Millionärin bist …
Gott bewahre, daß Ost und West aneinander geraten! Aber damit sie überhaupt aneinander geraten können, muß erst einmal die frisierte Grenze beziehungsweise der lebendige Zaun übersprungen oder – noch schlimmer – durchschritten werden. Dann kannst du mal sehen, was es bedeutet, dornige Wege zu beschreiten!
Brodeln.
Er wartet. Er brodelt nicht. Aber er kocht. Und der eisige Wind kriecht ums Haus herum. Soll ich ihm sagen, daß er noch in Hausschuhen steckt? Nein, ich sag es ihm nicht.
„Noch fünf Minuten!!“
Wollte er nicht im Auto auf mich warten? Sternenjagd. Und ich habe nicht einmal den Rock an. Keinen Lippenstift auf. Stehe in Straps und Unterrock vorm Spiegel und wundere mich, warum die Deutschen Hecke sagen und die Grenze frisieren und die Bulgaren – lebendiger Zaun. Und mein Mann wiederum ist zauberhaft. Besonders wenn er ahnt, daß wir uns verspäten werden. Außerdem bringen ihn meine Strapse aus dem Konzept. Nach so vielen Jahren Eheleben! Es kann sein, daß er mich gerade wegen etwas zur Sau gemacht hat oder ich ihn, es kann sein, daß ich ihm schon wieder zum Halse raushänge und daß er mich zum Teufel geschickt hat, was in seiner Sprache auch etwas mit dem Kuckuck zu tun hat … Alles ist möglich, nur mit meinen Strapsen kann er nicht böse werden! Es ist zwar ein wenig unbequem, mit Strapsen zu schlafen, aber was macht frau nicht um der friedlichen ehelichen Koexistenz willen. Vor allem, wenn sie mit ihm zusammen eingeladen ist und er auf sie wartet. Und gehen muß. Möglicherweise in Hauspantoffeln.
„Hast du den Haustürschlüssel mit?“ frage ich und ziehe den Rock über, während ich nebenbei seine Hosentaschen betaste, mal die linke, mal die rechte, mal dazwischen … Er hat einfach keine Chance, sich zu besinnen. Die Pantoffeln stehen ihm gut … „Gehen wir!“
Wir machen uns auf den Weg. Mit dem Auto. Zu Fuß in diesem Regen – das geht nicht. Aber ob mit dem Auto oder zu Fuß, Hauptsache, wir sind unterwegs zu unseren Gastgebern. Für ihn ist das nicht die Hauptsache. Er sagt nie, wir machen uns auf den Weg irgendwohin. Es gibt keinen Deutschen, der sich einfach auf den Weg macht. Seine Sprache erlaubt es ihm nicht. Entweder fährt er oder fliegt, oder er geht zu Fuß. Und sollte er aus Versehen sowas wie „Gehen wir!“ sagen, wirst du zwei Worte später erfahren, was für ein Fortbewegungsmittel er zu benutzen gedenkt: normalerweise ein Auto, selten das Fahrrad, und so gut wie nie die eigenen Füße. Bloß auf dem Balkan geht man einfach. Man geht, weil man inzwischen kein Geld hat, um die Benzinpreise zu bezahlen. Gehen tut man sogar, wenn man sich den Luxus erlauben kann, Auto zu fahren oder Zug, oder sogar zu fliegen. Woraus man ersehen kann, wie wichtig das Besuchen und das Eingeladenwerden für den Balkanesen ist. Es ist geradezu eine innere Notwendigkeit. Ich als Bulgarin nehme das Auto und gehe, nehme den Zug, das Schiff, das Fahrrad, die eigenen Füße und sogar das Flugzeug und gehe. So frei bin ich. Meine Muttersprache erlaubt es mir. Sogar wenn das Benutzen eines modernen Fortbewegungsmittels ein Traum bleibt, meine balkanesische Seele ist ungebunden!!!
Die Menschen in meinem Lande besuchen einander einfach so. Per Auto, ohne Auto, zu Fuß. Wenn es dir grad mal einfällt, gehst du jemanden besuchen. Schickst dich an und lädst dich selber ein. Oder empfängst, wenn’s gerade kommt. Man klingelt, klopft an, und ehe du’s dich versiehst und dir einfällt, daß du immer noch in Straps und Unterrock dahockst, sind sie schon im Wohnzimmer. Du stehst da gänzlich unvorbereitet, in Unterhosen, und freust dich. Vielleicht sitzen die deutschen Männer und Frauen deswegen zu Hause in ihren Hausmänteln und Hausanzügen und nicht in Unterhemd, Unterhose oder gar in Unterrock wie bei uns – vor lauter Angst, jemand könnte plötzlich vom Balkan antanzen und sie im Negligé antreffen respektive in Unterhosen. Oder aus Angst, der Nachbar, Herr Meyer, könnte sie am Sonntag um 10.57 Uhr besuchen statt um 11.00 Uhr, wie vereinbart. Aber dem Nachbarn Meyer würde es nicht im Traum einfallen, dich um 10.57 Uhr zu besuchen, denn um 10.57 Uhr zieht er gerade seinen Hausmantel aus, damit er pünktlich um 11.00 Uhr an deiner Tür klingeln kann in der Hoffnung, daß du nicht mehr in Unterhosen auf ihn wartest.
Ich setze mich ins Auto. Dezember. Die Früchte des lebendigen Zauns, orangerote Schneeflocken auf den gestutzten Ästen des Weißdorns, leuchten im Dunklen und warten auf richtigen Schnee. Der aber schmilzt, sobald er versucht, sie vor dem Zugriff des Windes zu schützen.
Wann wird er merken, daß er immer noch in Hausschuhen steckt? Langsam die steile Straße herab, gleitend, ohne Motor. In Richtung Autobahn. Brodeln. Der Himmel schweigt. Es lohnt sich nicht, nach Sternen zu jagen. Am Himmel gibt es heute keine Sterne. Nur die Finger seiner rechten Hand flackern kurz auf dem Steuerrad, dann suchen sie Zuflucht unter meinem Rock. Also, was zog noch mal Nachbar Meier am Sonntag morgen um 11.00 Uhr an, nachdem er seinen Hausmantel abgelegt hatte? Ein Hemd. Aber was für eins? Was soll’s, Hemd ist Hemd. Denkste! Bei uns auf dem Balkan ist das Hemd ein Hemd. Der Deutsche zieht nicht einfach ein Hemd an. Dem Deutschen siehst du am Hemd das Wochenende an, oder den Chef! Auf jeden Fall aber die Frau. Genaugenommen, siehst du es einem Balkanesen auch an, daß das Wochenende gekommen ist, aber nicht am Hemd, sondern an der Harke, die er entschlossen über der Schulter trägt, Richtung Selbstversorgungsgrundstück. Dem Nachbarn Meier sieht man das Wochenende am blankpolierten BMW an, was ihm, ich meine dem Herrn Meier, wiederum etwas höchst Menschliches, Liebenswürdiges, ja geradezu Balkanesisches verleiht.