Rumjana Zacharieva
Eines Tages jetzt oder Warum verändert Elisabeth Schleifenbaum ihr Leben
Erzählung
FISCHER E-Books
Rumjana Zacharieva wurde 1950 in Balčik (Bulgarien) geboren. Veröffentlichungen in Bulgarien seit 1964. 1970 Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland, Studium der Slawistik und Anglistik. Seit 1975 publiziert sie in deutscher Sprache (u. a. den Roman »7 Kilo Zeit«, 1990, und den Gedichtband »Am Grund der Zeit«, 1993). Sie lebt in St. Augustin bei Bonn.
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560802-9
Die Frau in der Gesellschaft
Herausgegeben von Ingeborg Mues
Ein Sicherheitskeller! Das war es! Es durchfuhr sie blitzhaft, Sicherheitskeller, und dröhnte in ihren Ohren. Elisabeth griff nach dem Hörer, riß ihn ruckartig vom Kopf, und während einige gelb-graue Haarsträhnen an ihm hängen blieben, konnte sie ihren Blick vom Fernseher nicht abwenden. In ihrer Aufregung hatte sie auf die mit dem Minuszeichen versehene Taste der Fernbedienung gedrückt. Jetzt stand sie da, vom Schwyzer-Deutsch des Reporters und dem aufdringlichen Sing-Sang des Wortes Si-cher-heits-keller erfüllt, ein hohler Raum in ihr und um sie herum, an dessen Vorderwand der stimmlose Reporter vor schneebefleckter Alpenlandschaft mit der langen Schnur des Mikrophons hantierte.
Isch hann et! – sagte sie laut und ließ sich schwerfällig in den fast durchgesessenen schwarz-grünen Sessel fallen. –
Ene Sischehetskeller! Si-cher-heits-keller!
Sie versuchte das Wort richtig auszusprechen, indem sie die Aussprache des Reporters nachahmte und einen Augenblick lang den sicheren Boden ihres geliebten Rheinisch-Platt verließ. Ihre Hände zitterten, die Finger gehorchten ihr nicht mehr, und es dauerte eine Ewigkeit, bis sie die richtige Taste fand. Das Gesicht des Reporters, mit dem stimmlosen Schwyzer-Deutsch versehen, beruhigte sich schließlich, nachdem es Elisabeths fieberhafte Suche nach der richtigen Taste überstanden hatte. Die Stimme fand zu den Lippen, synchron. Der Mann widmete jetzt sein höfliches Gesicht einem mit Zement- und Backsteinstaub gepuderten Schweizer, der trotz Mangel an staatlicher Unterstützung an seinem eigenen, privaten, gegen radioaktive Strahlen geschützten Bunker unverdrossen weiterbaute.
Elisabeths Finger lösten die am Kopfhörer hängenden Haare. Im Unterschied zu ihrer älteren Schwester, die mit 84 fast kahl gestorben war, trug sie mit 81 immerhin eine noch recht füllige, stufig geschnittene Frisur und spielte mit dem Gedanken, das bläulich schimmernde Lindin-Haarwasser auszuprobieren, das »ein ungetrübt silbriges Grau« versprach, »schimmernd wie Ihr festliches Geschirr, das Sie nur zu Weihnachten und Silvester aus dem Schrank holen«. Elisabeth hatte zwar kein silbernes Geschirr, fühlte sich aber durch diese Reklame recht persönlich angesprochen. Bald war Weihnachten und sie hatte vor, sich selbst mit dem bläulichen Fläschchen Lindin-Haarwasser zu überraschen.
Man moss sisch hin un widder mol selver verwenne! – lächelte sie in sich hinein,
während sie den Kopfhörer vorsichtig auf die Leinendecke legte und dem zementgepuderten Schweizer zustimmend zunickte. Er war gerade dabei, dem höflichen Reporter eine Nische zu zeigen, in die später eine Vorrichtung eingebettet werden sollte. Er erklärte, daß dies eine Art Aufbereitungsanlage für die Exkremente sei, die den unangenehmen Ausscheidungen erst das Wasser, schließlich die Feuchtigkeit entzöge und sie geruchlos verbrennen ließe, so daß sich das Verlassen des Bunkers aus diesem für Elisabeths Ohren fast peinlichen Anlaß hundertprozentig erübrigte. Diese Aufbereitungsanlage sei zwar noch nicht auf dem Markt, aber der zementgepuderte Schweizer hatte darüber gelesen und sie schon eingeplant.
Elisabeth wartete das Ende der Sendung ab, die mit dem Versprechen des Reporters schloß, nächstes Mal über die Vorratskammer eines solchen privaten Bunkers zu berichten; sie drückte vorsichtshalber alle Tasten der Fernbedienung auf einmal und schaltete das Gerät aus.
Jo, die Schweiz! – seufzte sie und dachte nach.
Die Stille im Zimmer kam ihr herausfordernd vor. Sie preßte die Augenlider, als wollte sie die Stille ausschließen, stellte aber fest, daß sie dadurch noch unheimlicher wurde.
Ne-e-e! – sagte Elisabeth laut und stand beschwingt auf, d.h. sie unternahm den Versuch, beschwingt aufzustehen.
De Ischjas! – flüsterte sie dann und verharrte, halbaufgerichtet, die linke Hand an ihre schmerzende Hüfte gepreßt, – de Ischjas … und ene Sischehetskeller! – wiederholte sie nochmals, preßte ihr Gebiß zusammen und richtete sich endgültig auf.
In solchen Augenblicken dachte sie doch noch mit Dankbarkeit an den lieben Gott, der ihr mit einundachtzig die Beschwerden einer 60jährigen verlieh, und vergaß niemals den krummen Stahlnagel in der Hüfte ihrer mit vierundachtzig verstorbenen Schwester Katharina. Diese war der Inbegriff der Unvernunft, die sie dann auch am eigenen Leibe zu spüren bekommen hatte.
Elisabeth, Liesje, Liesel oder dat Liß hatte immer auf Katharina gehört. Katharina dagegen nicht.
Sie het och nie op misch jehört! – sagte Elisabeth laut und humpelte zum Vogelkäfig.
Wann immer sie an ihre Schwester Katharina dachte oder früher mit ihr zusammen war, sprach Elisabeth Katharinas Sprache, die auch die Sprache ihrer Eltern war. Elisabeths Schwester war, in ihren besten Zeiten jedenfalls, »ene rischtije kölsche Jeck«. In Köln hatte sie, seit ihrer komischen Heirat mit einem noch schlimmeren »kölsche Jeck« als sie selbst, gelebt, drei Kinder gekriegt und bis zum Stahlnagel jedes Jahr Karneval gefeiert. Nie hatte sie die Hoffnung aufgegeben, im Karneval »ene rischtije Mann für dat Liesje« zu finden. Elisabeth hatte sich öfters hinreißen lassen, doch den richtigen Mann hatte sie nie gefunden.
Unfenünftisch, datt wor sie, Hans-Peter! – sagte Elisabeth deutlich und streichelte den Wellensittich mit dem Zeigefinger.
Normalerweise nannte sie ihn Hänschen. Katharina hatte ihn so genannt und ihr dann den Vogel geschenkt, da sie, wie sie immer wieder beteuerte, »jenuch mit de Kinder« zu tun hätte. Daß Elisabeth den Vogel heute Abend mit Hans-Peter anredete, verriet nur ihre innere Aufgewühltheit.
Mit achtzig ließ sie sich den Stahlnagel in die Hüfte reinhauen, die Katharina, weil sie immer zu schwer getragen hatte. Jeden Morgen trug sie ihr ganzes Bettzeug bis ans Fenster, zum Lüften. Manch eifriger Verehrer des Doms, der ihn mehrere Male in seinem Leben besichtigte, durfte sicher sein, daß er, egal an welchem Tag er kam, jeden Vormittag von acht bis elf unter anderem auch Katharinas Bettzeug bestaunen durfte. Ihre Fenster blickten nämlich auf das Hauptportal. Die Matratzen schleppte sie auch dauernd nach draußen.
Elisabeth kehrte vorsichtig den Sand auf die winzige Schaufel, schüttete neuen hinein, wechselte das Wasser, strich dem Hans-Peter über das blau-weiße Gefieder und deckte den Käfig zu mit zwei alten, von ihr selbst im Alter von siebzehn bestickten Kopfkissenbezügen.
Schlof jot! – wünschte sie dem Vogel, während sie innerlich mit der Katharina schimpfte.
Isch loss mir doch nit mit achtzisch Johr de Najel in de Höfte jerinhaue, damit isch ihn mit fünefunachtzisch Johr selver krombeije! Un datt ob Frischlufmatratzesuch!
Fünf Jahre lang nach der Operation hatte die Katharina, frischbenagelt, das Bettzeug weiter ans Fenster geschleppt, die Matratzen auch. Bis der Nagel krumm wurde. Elisabeth humpelte zum Spiegel, der über dem Waschbecken hing und hinter dem großzügig orange-geblümten Vorhang versteckt blieb, und besah sich aufmerksam.
Mir könnt datt nit passiere! – sagte ihr Blick, während sie pedantisch die Warzen am Nasenrücken prüfte und keinerlei Veränderung feststellte. – So’ne Bunker, datt is watt!
Mit fünfundsiebzig hatte ihr Gesicht aufgehört sich zu verändern. Die Falten und Fältchen, die ihre kleinen wässerigen Augen damals umstrahlten, weigerten sich, tiefer und zahlreicher zu werden. Die Warzen am Nasenrücken wuchsen und entzündeten sich nicht mehr, obwohl sie sie hin und wieder beunruhigten. Das Haar war endgültig grau-weiß-gelblich geworden. Das violett-bläuliche Netz der Aderchen überspannte ihre Wangen genauso wie vor zehn Jahren, das Doppelkinn hing gutmütig oberhalb des bescheidenen Spitzenkragens, den sie schon mit zwanzig getragen hatte. Die Bluse, mit einem Kleinblümchenmuster versehen, in dem die Farben rosa und grau harmonisch einander ergänzten, war trotz des vergangenen Tages immer noch frisch. Elisabeth sah um zehn Uhr abends genauso aus wie um zehn Uhr morgens, kurz nach dem Frühstück, obwohl sie im Laufe des Tages manchen Weg und manche selbstauferlegte Aufgabe gemeistert hatte.
Ihre Besorgungen hatte sie schon am Vormittag erledigt. Normalerweise blieb sie immer auf dem linken Bürgersteig, innerhalb der Fußgängerzone, und kaufte in den Geschäften ein, die sie zu Fuß erreichen konnte. Sie haßte Ampeln und Zebrastreifen und mied sie. Während der letzten drei, vier Jahre hatte sie aufgehört, den Bürgerpark zu betreten, weil er durch zwei hintereinander folgende Ampeln von ihrem Bürgersteig getrennt war.
Ein einziges Mal hatte sie sich in diesem Jahr zum Überqueren der Straße verleiten lassen.
Mein Jott! – sprach Elisabeth mit dem Spiegel. – Datt wor watt! Isch muss verrök jewesen sin!
Sie sagte das laut und säuberte die fettige Hautpartie um die Nase herum mit einem duftenden Wattebäuschchen. Sie hatte unbedingt den Lieblingskaffee ihres Beichtvaters besorgen wollen. Er hatte sich bei ihr zum jährlichen Hausbesuch angekündigt und sie hatte ihn zum Kaffee eingeladen.
Plötzlich sausten ihre Ohren wie damals vor Aufregung. Als die Ampel grün blinkte, kam sie sich wie am Rande des Dreimeterbretts vor, damals, in der Schule.
Spring doch, Liesel! – hatte man ihr zugerufen und sie hatte sich nicht getraut. Da wurde sie von hinten geschubst, und sie flog in die Tiefe mit gespreizten Schenkeln und hochgerissenen Armen; beschämt und hilflos platschte sie auf das Wasser, paddelte und schnaufte, kam an den Rand des Beckens und erst dann verlor sie endgültig das Bewußtsein. So erging es ihr, als sie am Rande des Bürgersteigs stand und die grün blinkende Ampel ansah. Jemand schubste sie von hinten, und sie betrat im letzten Moment mit rasendem Herzen und sausenden Ohren den Gehstreifen. Dann blinkte die Ampel wieder und ihr Auge, rotunterlaufen, schaute sie zornig an. Sie wußte nicht ein noch aus – sollte sie zurückgehen, sollte sie stehen bleiben. Sie vernahm die Motoren zu ihrer Rechten, drohend kündigten sie den Start an.
Schwimm weiter! – hörte sie die wütende Stimme ihrer Lehrerin und stürzte humpelnd dem anderen Bürgersteig entgegen. Eine Hand packte sie im letzten Moment, während die röhrende Flut der Fahrzeuge hinter ihr zusammenfloß. Sie kam sich schwer und nutzlos vor – ein ausgeleiertes Boot, das im Straßenverkehr nur noch zum Untergehen verurteilt war.
Den Lieblingskaffee ihres Beichtvaters hatte sie in der teuersten Konditorei gekauft und mahlen lassen, hatte Sacher-Torte, originalverpackt, mit nach Hause genommen und stand wieder an der Ampel, das wütende Knurren der Autos zu ihrer Linken wahrnehmend … Diesmal hatte sie unmerklich den Gepäckträger eines Fahrrads gefaßt, das von einer flotten jungen Frau mit Knickerbocker und Negerzöpfchen geschoben wurde. So war sie sicher auf die andere Seite gelangt und hatte seitdem jede Ampel gemieden.
Isch muss woll verrök jewesen sin!
Elisabeth zog langsam ihre Bluse aus und betrachtete ihre milchig schimmernde Schulter, die mit großflächigen Sommersprossen versehen war. Die Haut war noch relativ glatt, die Falten fingen erst im tiefen Dekolleté an, flossen zwischen die schweren Brüste, die in einem wertvollen hautfarbenen Mieder sorgfältig aufbewahrt wurden. Und doch waren es die Brüste einer 60jährigen.
Isch kann misch noch … immer noch! – schmunzelte Elisabeth, sie konnte sich noch sehen lassen, aber sie drehte dem Spiegel den Rücken zu …
Sie genierte sich vor dem Spiegel und zeigte ihm nur selten ihre Brüste.
Nach der Abendtoilette trank sie im Bett sitzend einen Becher warme Milch und spürte, wie sich schluckweise eine besondere Entschiedenheit in ihr ausbreitete. Sie wollte nichts mehr als einen eigenen Bunker.
Ene Sischehetskeller, so’ne Bunker! Datt leiste isch mir! Jawoll!
Sie flüsterte diesen Satz, während sie sich unter dem Bild des polnischen Papstes bekreuzigte, und schlupfte langsam unter die Decke, das kühle Laken mit allen Gliedern genießend, es fröstelte sie ein wenig. Sie griff nach der Wärmflasche, die sie auf dem Nachttischchen in ein blaßrosa Frotteetuch eingewickelt hatte, und dankte noch mal dem lieben Gott, daß es so eine Erfindung wie die Wärmflasche auf der Welt gab. Im Dunkeln hörte sie immer noch den Sing-Sang des Schweizers mit dem zementgepuderten Gesicht und den des höflichen Reporters. Endlich wußte sie, wofür sie ihr ganzes Leben lang gespart hatte!
Voller Zuversicht hatte Elisabeth noch während der Lehrjahre bei Karl Pelzer in Klein B., den alle Verkäuferinnen Pelzers Karlchen nannten, jeden Groschen zur Seite gelegt, den ihr die Mutter heimlich zusteckte. Dem Lehrling Liesel, wie sie sie alle in Pelzers »Kolonialwarengeschäft und Manufaktur« nannten, stand ja kein Geld zu. Damals war sie noch die dicke, kugelrunde Liesel gewesen, deren Busen fast horizontal die kleingeblümten Blusen füllte. Irgendwie nahm jeder, der mit ihr damals sprach, erst Liesels Busen wahr, dann die kleinen, rundlichen und besonders unruhigen Hände, die mitredeten, flatterten … Erst dann blickte man in ein kurvenreiches, lockenumrandetes, fast wie die Haut einer Trommel gespanntes Gesicht mit zwei listig-aufmerksamen, kühlen Augen, grau-blau-wässerig … Doch sobald sich der kleine spitze Mund auftat, war jeder Zuhörer zum Fliehen bereit. Es hagelte lauter einander verschlingende Worte, meist in Rheinisch-Platt, da Elisabeth erst mit den Jahren gelernt hatte, ihre eigene Sprache an die ihres Gesprächspartners anzupassen. Ein Busen, der lockte, zwei Hände, die festhielten und ein Mund, der vertrieb – das war Liesel noch vor 65, vor 60, vor 55 Jahren. Alles, aber auch alles an ihr und in ihr hatte sich seit damals verändert. Eins blieb ihr erhalten – die Jungfräulichkeit. Elisabeth war Jungfrau geblieben, seit jenem Tage, als sie im Zeichen der Jungfrau die Welt erblickte. Mit 25 Jahren hatte sie zum ersten Male einem ihrer Verehrer gestattet, ihren Busen zu streicheln, durch die zugeknöpfte Bluse natürlich. Mit 42 faßte sie sich ein Herz und war bereit, das kleine Jungfernhäutchen einem ihrer letzten Verehrer zu schenken. Aus dem Geschenk wurde nichts. Dem Auserkorenen fehlte das nötige Durchhaltevermögen und die Härte, so daß er unmittelbar vor den Toren ihrer Jungfräulichkeit kehrt machte. Dann schloß Elisabeth das Tor und dachte nur noch mit Abscheu an jedes männliche Wesen. Kurz darauf wurde ihre Gallenblase entfernt, sie durfte nur noch wenig und mehrere Male am Tage essen. Sie fing an noch mehr zu sparen. Das Sparen wurde zu ihrem Hobby. Sie hatte fast keine Verwandten, sie lebte im sanierungspflichtigen Häuschen am Rande der Fußgängerzone in Groß B. und sparte. Das Häuschen hatte ihr ihre Mutter hinterlassen, nachdem sie mit 78, zwei Jahre nach Kriegsende, in der Obhut der Schwester Oberin, die Elisabeth heute noch verehrte, gut versorgt gestorben war. Gespart hatte Elisabeth schon immer: als Mädchen für alles bei Pelzers Karlchen, kurz nach dem Umzug ihrer Eltern aus Köln nach Klein B. in der Eifel, als Verkäuferin in der Kurzwaren-Abteilung bei den jüdischen Geschwistern Wormser in Groß B., zum Schluß auch im Kaufhaus L., nachdem das jüdische Geschäft arisiert worden war. Doch wofür sie gespart hatte, wußte sie nicht. Bis zum heutigen Abend.
Einen Farbfernseher hatte sie sich geleistet und den Lieblingskaffee ihres Beichtvaters, mit der Sacher-Torte dazu – das waren die einzigen Eskapaden der letzten fünfzehn Jahre. Das Fernsehgerät war unentbehrlich geworden. Sie pflegte zu ihm eine besonders innige, beinahe intime Beziehung. Seitdem es ihr Zimmer vor zwanzig Jahren betreten hatte – damals war es noch schwarz-weiß –, hatte ihre Einsamkeit eine besondere Anziehungskraft bekommen. Dem Fernsehen war es eigentlich zu verdanken, daß sie vor allem während der letzten drei, vier Jahre zu der Einsicht gekommen war, diese Welt gehe zu Grunde. Elisabeth verfolgte jede Sendung, jede politische Sendung sogar und war immer erbost, wenn zwei gleichzeitig ausgestrahlt wurden.
Als Reagan an die Macht kam, glaubte sie, ein Jugendtraum von ihr sei in Erfüllung gegangen. Sie kannte ihn doch aus seinen frühen Filmen! Sie sah ihn als mutigen Reiter mit dem ihn so gut kleidenden Cowboyhut, sie glaubte nachträglich sogar, sie habe es ihm schon damals ansehen können, daß er in wildem Ritt eine ganze Nation hätte in die Zukunft führen können … Ja, Elisabeth glaubte sogar fest daran, daß sie es schon damals gewußt habe, er und kein anderer würde eines Tages das Weltgeschehen in seiner Hand halten. Nach anfänglicher Begeisterung für ihn (noch am 21. Februar 1981 fand sie seinen Aufruf zur Mehrung der Rüstungsausgaben atemberaubend und mutig), nach den Aufregungen, verbunden mit dem Attentat am 30. März, als ihre Bewunderung den Höhepunkt erreichte, erfuhr Elisabeths Beziehung zu Reagan eine für sie recht plötzliche und unerwartete Wendung. Das Papst-Attentat war es, das ihren Glauben an Reagan zutiefst erschütterte.
Sie saß am 13. Mai vor dem Fernseher, als die ihrer Meinung nach viel zu unbeteiligte Stimme des Sprechers das Attentat auf seine Heiligkeit verkündete.
– Datt kann doch nit wohr sin! – hatte Elisabeth entrüstet gestöhnt, hatte alle Tasten der Fernbedienung auf einmal gedrückt und war ans Fenster gegangen. Nach Luft hatte sie gerungen, und ihre Augen klammerten sich am Stahlring neben ihrem Fenster fest, an dem früher die Kirchenfahne befestigt wurde, während die Fronleichnamsprozession unter dem Fenster, feierlich und bunt, dahingeströmt war. Der Stahlring der Kirchenfahne war leer gewesen. Die Fußgängerzone – leer. Nur einige Tauben schissen ungerührt auf den Gehsteig und musterten die Wand der gegenüberliegenden Kneipe mit mörtelähnlichen Streifen. Der furchterregenden Nachricht zum Trotz blühten auf der Terrasse des kinderlosen Ehepaares, Elisabeths Fenster gegenüber, japanische Kirschen und späte Mandeln.
Elisabeth hatte lange nach Luft gerungen. Dann war sie wieder zum Fernseher gestürzt, hatte alle Tasten gleichzeitig gedrückt und wollte mehr wissen. Keiner sagte ihr was. Eine Quizsendung lief, oder so was Ähnliches.
Datt is datt End’ de Welt! Isch kann nit meh!
Sie stürzte zum Bild an der Wand und betete vor ihrem geliebten Papst, betete um ihn länger als eine halbe Stunde. Der Kuckuck an der Wand sagte ihr unvoreingenommen, daß es acht Uhr geschlagen hatte. Sie stand vom Bett auf und setzte sich wieder vor den Fernsehapparat. Ihr Blick fiel auf die aufgeschlagene Tageszeitung: Reagan! Die alte Frau hatte noch mal nach Luft ringen müssen. Er war es, er war schuld! Wütend war sie, böse und enttäuscht. Er hatte sie glauben lassen, daß er die Welt schützen würde, und sie hatte ihm geglaubt. Sie hatte ihn verehrt, hatte seine blankgeputzten Schuhe genauso wie seine modischen Anzüge bewundert, seine Höflichkeit und Witzigkeit – alles umsonst! Es gab nichts auf der Welt, was sie ihm nicht hätte verzeihen können, nur das nicht! Er hätte ihren Papst schützen sollen, und wenn er nicht mal dazu im Stande war, dann war er nicht am rechten Platz. Elisabeths Urteil war unerbittlich und unwiderruflich.
Nach diesem erschütternden Vorfall wandte sie ihren hoffnungsvollen Blick gegen Osten. Der Begriff »russische Seele« war es, an den sich Elisabeth klammerte. Breschnews in letzter Zeit durch die Krankheit noch mehr als sonst aufgequollene Nase und die fülligen Lippen wurden für sie der Ausdruck und Inbegriff dieser »russischen Seele«, von der sie noch vor dem Ersten Weltkrieg so viel Romantisches gehört hatte. Die Russen. Die Russen, dachte Elisabeth nach ihrer Sinnesveränderung, würden es nicht zulassen, daß die Welt untergeht. Sich selbst würden sie doch gar nicht bedrohen wollen, die russische Seele läßt so was nicht zu.
Reagans Entschluß, die Neutronenbombe bauen zu lassen, erschütterte sie zutiefst, gab ihr den Rest. Jetzt betete sie täglich, daß der liebe Gott den Breschnew erhalten möge. Seine russische Seele schien ihr dem Cowboyhut gewachsen zu sein, er war es, dem sie all ihre Hoffnung für eine bessere Zukunft anvertraute.
Breschnews Tod überrumpelte sie, traf sie völlig unvorbereitet, obwohl sie ja damit hätte rechnen müssen. Das glatte, besonders intelligente, so untypisch kühle und verschlossene Gesicht seines Nachfolgers, dem sogar das primitive Zeichen der russischen Seele, die Knollennase nämlich, fehlte, ließ sie jedes Mal schaudern. Mit diesem Gesicht wußte sie gar nichts anzufangen. Seine Anzüge und Schuhe waren mindestens genauso korrekt wie die von Reagan. Elisabeth war jedoch ein gebranntes Kind. Nie mehr würde sie jemandem wegen seiner Glanzpolitur trauen, das wußte sie ganz genau! Sie empfand die Lage als hoffnungslos.
Die Welt jeht unger! dachte Elisabeth jeden Abend vor dem Schlafen, nachdem sie sich vor ihrem Papst bekreuzigt hatte. – Watt kann isch nur don? –
Nichts – antwortete der Papst von der Wand – außer … lieben. »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!«
Lieben? – flüsterte Elisabeth zurück. – Wen soll isch dann lieben? Isch han kin Kinner, ming Motter und minge Vatter sin schon lang dut …
Gott sollst du lieben und vertrauen! – antwortete der Papst.
Isch liebe Jott ja, – betonte Elisabeth und schob die Wärmflasche unter ihre schmerzenden Hüfte, – äwwe … isch liebe Jott un han dem Reagan vertraut. Bede han disch och nit jeschütz! – sagte sie halblaut und bekreuzigte sich. – Ob disch de Breschnew jeschütz het? Wer schütz misch dann, wenn enes Tajes …
Mein Jott! – war ihr letzter Gedanke. – Wer schützt dann disch, leve Jott, wenn enes Tajes …
Und sie versank in einen schweren, unruhigen Schlaf, in dem blankpolierte Schuhe, modische Anzüge, Cowboyhüte, rasende Pferde, Knollennasen und Särge mit roten Sternen versehen einander jagten und drohend gegen ihr naß geschwitztes Haupt flogen. Während dieser Nacht mußte sich Elisabeth zweimal umziehen – das Nachthemd war klatschnaß wie in den Wechseljahren.
Der Tag hatte Hans-Peters Gefieder übergeworfen und unternahm den Versuch, aus dem Nachtkäfig auszubrechen. Er flog immer wieder gegen die linke Seitenwand, regte das Spielglöckchen auf, ließ sich erschöpft auf dem Sandboden nieder, vergeblich. Elisabeth hatte verschlafen. Zum ersten Mal während der letzten 39 Jahre hatte sie verschlafen. Hans-Peter kriegte es plötzlich mit der Angst zu tun. Das Dunkle um ihn herum verursachte ihm Magenschmerzen, wo es doch schon längst hätte hell sein müssen. Er schiß dreimal hintereinander neben die winzige Wasserschüssel, die er vor lauter Aufregung umgekippt hatte und piepste wie um sein Leben. Elisabeths wimpernlose Augenlider flatterten bei dem schrillen Gepiepse und nahmen die Verzweiflung des Wellensittichs auf, ehe sie die Ohren bewußt gespitzt hatte. Wenigstens kam es ihr so vor, als wäre der Laut erst durch ihre offenen Lider in sie hineingedrungen.
Watt is dann, Hänsje! – murmelte sie irritiert und versuchte den linken Lammfellpantoffel zu erwischen, während sie ihren Angorahausmantel anzog.
Elisabeth stürzte zum Käfig und verharrte, vornübergebeugt, die Hand an die linke Hüfte gepreßt, der Ischias. Sie war viel zu eilig, viel zu plötzlich und unvorsichtig auf die linke Ferse aufgetreten, der Schmerz riß sie buchstäblich entzwei.
Schei…!
Elisabeth preßte beide Hände an ihren Mund und blickte verstohlen zum Papst hinüber.
Heilije Mutter Jottes!
Langsam trat sie auf die linke Ferse, verlagerte das Gewicht vorsichtig, so daß der Schmerz nur nach und nach vergrößert wurde und sie sich daran gewöhnen konnte, und schaffte es mit festgebissenem Kiefer, sich dem Vogelkäfig zu nähern. Mit einer ungeduldigen, viel zu heftigen Geste streifte sie die handgestickten Kopfkissenbezüge vom Käfig herab, das Gepiepse des Wellensittichs hörte sofort auf. Der Tag trat ein. Der holzgeschnitzte Kuckuck an der Wand rief neun Uhr in den Raum.
Datt kann doch nit wohr sin! – stöhnte Elisabeth und humpelte irritiert zum Bett.