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Kurt Oesterle
Der Wunschbruder

Kurt Oesterle

DER WUNSCHBRUDER

Roman

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Wohl dem, dem die Geburt den Bruder gab,
Ihn kann das Glück nicht geben! Anerschaffen
Ist ihm der Freund, und gegen eine Welt
Voll Kriegs und Truges steht er zweifach da!

Friedrich Schiller, Die Braut von Messina

Inhalt

Erstes Kapitel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Zweites Kapitel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Drittes Kapitel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Viertes Kapitel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Schluß

Erstes Kapitel

1

Vor einigen Monaten begegnete mir zum ersten Mal nach sehr langer Zeit jener Mensch wieder, der in der Kindheit mein Wunschbruder gewesen war und der mich damals fast umgebracht hätte.

»Max! Ist das … Max Stollstein?«, rief er vom nahen Uferweg herüber. Ich saß wie jeden Vormittag während dieser kurzen, allein unternommenen Urlaubsreise an meinem Lesetisch auf der noch menschenleeren Terrasse des Restaurants »Stern«, den Blick in die Zeitung gesenkt, daneben griffbereit zwei, drei Bücher und ein wenig Schreibwerkzeug. Es war ein hoher, wolkenlos blauer Sommertag am Bodensee, kein Tag fürs Erinnern geschaffen.

Er nannte sich Wolfgang. Früher hatte er Wenzel geheißen, ausgeschrieben Wenzeslaus, mit Nachnamen Bogatz, und war für einige Jahre der Pflegesohn meiner Eltern gewesen. Als mein Vater ihn hinauswarf, sagte er ihm zur Begründung: »Weil du den umbringst!« – und zeigte dabei schroff auf mich. Ich erschrak, und auch Wenzel erschrak; wir verstanden nicht, ahnten wohl nicht einmal, was mein Vater genau meinte mit »umbringen«. Dieses Erschrecken war unsere letzte Gemeinsamkeit gewesen. Noch am selben Tag fuhren wir ihn der Reihe nach zu seinen Verwandten, doch keiner wollte ihn, alle schickten ihn weg. Wir fuhren wieder nach Hause und verständigten telefonisch das Jugendamt; dann stellten mein Vater und ich ihn auf dem nächsten Bahnhof ab. Da stand er, knapp siebzehnjährig, zwischen seinen Habseligkeiten, darunter, im schwarzen Kasten, sein Saxophon, und wartete auf den Zug, der ihn fortschaffen sollte.

Seit diesem Tag im Frühsommer 1972 hatte ich ihn nicht mehr gesehen, fünfunddreißig Jahre lang, ein halbes biblisches Leben. Wenn mir während dieser Zeit jemand gesagt hätte, er sei tot, hätte ich geantwortet: Klar, der ist am Gift seiner Herkunft verreckt, meine Familie hat einmal versucht ihn zu retten, wir sind aber elendig gescheitert und mußten am Ende froh sein, daß sein Gift nicht auch uns …

Ja, so hätte ich wahrscheinlich geredet.

Wenzel war nicht vergessen, keineswegs, doch er kam mir auch nicht mehr oft in den Sinn. Anfangs hatte ich ihn immer wieder allein auf dem Bahnsteig stehen sehen, ein flackerndes Bild, das nicht so schnell verschwunden war. Wie lange dauerte es wohl, bis ich nicht mehr denken mußte: Heut ist sein Geburtstag? Mittlerweile gehörte Wenzel zu jenem Trupp von Halbvergessenen, die jeder Lebensspur folgen, sich mal verständlich, mal unverständlich zu Wort melden und wieder verstummen. Nie, niemals hätte ich aber geglaubt, daß er eines Tages zurückkommen könnte, und auf den ersten Blick auch noch entgiftet. Schon bald sollte ich mich darüber wundern, wie reich meine Erinnerung an Wenzel tatsächlich war.

Er sprang auf die Terrasse und schritt rasch auf mich zu, ein Mann in meinem Alter, breite Schultern, ein bißchen schwerfällig und um die Hüfte schon behäbig geworden, der mir völlig fremd war; seine ungekämmten Haare hatten dieselbe Farbe wie meine: »mausblond« (so drückte meine Frau es aus). Er trug eine Brille – viel zu fein für sein rundes und kräftiges, frisch von der Sonne verbranntes Gesicht, das an diesem Morgen noch unrasiert war. Ein helles Freizeithemd hing ihm über den Hosenbund heraus, die Hemdsärmel waren weder zugeknöpft noch umgeschlagen, sondern schlackerten um die Handgelenke; in diesem Aufzug mochte er erst kürzlich vom Bett aufgestanden sein, einer, der mit der Unordnung auf gutem Fuß zu stehen schien. Auch als er sich vor meinem Tisch aufbaute und noch einmal zudringlich laut meinen Namen aussprach, erkannte ich ihn nicht. Er mußte sich selbst vorstellen.

Ich war nicht geistesgegenwärtig genug, ihm zu antworten:

»Sie täuschen sich!«

Statt dessen fragte ich in schrillem, unwilligem Ton:

»Aber wie hast du mich denn erkannt?«

»I hob ollweil an di deenkt«, sagte er, das letzte Wort betonend und übermäßig dehnend. Er zuckte mit den Schultern und lachte, als wäre dies die einzig mögliche Antwort auf die Frage, wie es ihm gelungen sei, ein Bild von mir zu bewahren, das fünfunddreißig Jahre später noch nicht falsch war. Doch daß ich vor ihm saß, gab seiner Methode recht, und er war sichtlich stolz darauf.

Wenzel setzte sich an meinen Tisch. Wir schoben Wiedersehensfloskeln hin und her; ihm gelang es, der Überraschtere zu sein. Inzwischen schien er den bayerischen Dialekt angenommen oder sich antrainiert zu haben. Der volle Brustton, mit dem er ihn sprach – ein wahres Mannesdröhnen –, wirkte unecht und lachhaft auf mich; das Lachen freilich verbiß ich mir. Erst später, noch immer aufgewühlt von unserer Begegnung, fiel mir ein, daß er schon früher gern Bairisch gesprochen hatte, aber nur im Umgang mit mir, nicht mit meinen Eltern. Es war vor allem die Mundart seiner Mutter gewesen, doch damals hatte er sie nur brockenweise gebraucht, sie eher zitiert und nachgeahmt als wirklich gesprochen. »Kimm, kimm!«, konnte er rufen, wenn ich bei unseren Gängen zu langsam hinter ihm herkam, zwei lockende Vogellaute, ehe er wieder in unser rauhbauschiges Waldschwäbisch verfiel, das in der Jugend auch seine Umgangssprache war. Am Bairisch seiner Mutter hatte er sich nur kurz erwärmt.

Über den Zufall, der uns jetzt wieder aufeinandertreffen ließ, sagte er:

»Soist wissen, doß mi dees narrisch g’frait!«

Keiner schien dem andern zu grollen oder setzte zu einer Entschuldigung an. Ich sprach wenig. So gelang es mir, freundlich zu sein. Aber vor allem unterließ ich es, ihn bei einem seiner beiden Vornamen zu nennen. Er redete viel, schwitzte dabei und wurde immer aufgeregter. Seine Hände flatterten und ballten sich abwechselnd zur Faust. Das Gesicht rötete sich noch mehr, und die Augenlider zwinkerten wie bei einem Erwachenden. Allmählich, dachte ich, kommt ihm zu Bewußtsein, wen oder was er da wiedergefunden hat.

Wenzel Bogatz war der Sohn von Vertriebenen, die bei uns im Dorf früher nur Flüchtlinge genannt wurden, wahrscheinlich weil »Flüchtling« mehr nach Selbstverschulden klang als »vertrieben«. Seine Familie hatte bei Kriegsende im Sudetenland ihre Heimat verloren und hier keine neue gefunden, nicht einmal eine richtige Wohnung. Wenzels Eltern tranken entsetzlich, geradezu selbstmörderisch, vor allem die Mutter, eine Schnapserin. Jahrelang lebte der Junge mit ihnen in einer einzigen Kammer zusammen. Tagsüber konnte man ihn durchs Dorf laufen sehen, auf der Suche nach seiner Mutter, während der Vater arbeitete, als Stallknecht, als Schwellenleger, auch auf dem Bau. Oder Wenzel schaute zu, wie die Mutter am hellen Mittag volltrunken in einer Schubkarre heimgebracht und vor die Tür gekippt wurde wie ein Haufen Viehfutter. Wir waren Klassenkameraden und hatten täglich ein Stück weit denselben Weg zur Schule, schließlich wurden wir Freunde. Doch das genügte mir nicht, ich wünschte mir einen Bruder, weil ich kein Einzelkind mehr sein wollte, und Wenzel war zu haben wie kein zweiter im Dorf, niemand brauchte oder wollte ihn, so schien es zumindest, man mußte nur seinen Heimweg ein bißchen in meine Richtung ändern.

Ich bekam meinen Bruder.

Um mir damals seinen Namen vertrauter zu machen, sagte ich ihn oft laut vor mich hin. »Wenzel« schien aus dem Niemandsland zwischen »Werner« und »Hansl« zu stammen (Werner hieß ein Kriegskamerad meines Vaters, Hansl ein Nachbarspferd). Wenn ich das zweite e deutlich mitsprach, kam der Name mir schön vor: mein Bruder namens Wenn-Zell.

Nach dem Tod seiner Mutter begann die Zeit der Rasereien. Er nahm allerlei Drogen (nur den Alkohol mied er), und mindestens einmal versuchte er, sich mit den Schlaftabletten aus unserem Küchenschrank das Leben zu nehmen. Nicht weniger furchtbar waren seine Fluchten. Alle paar Wochen floh er, schlug sich in die Wälder, schlief in Scheunen oder Erdhöhlen, lebte von grünen Äpfeln, Beeren, Tannenzapfen und Bucheckern, oder was die Wildschweine sonst noch übriggelassen hatten. Fliehend zog er mich hinter sich her, und ich lief ihm nach, tage- und nächtelang, um ihn zu finden, zu trösten, wieder heimzubringen. Aber nie holte ich ihn ein. Auch wartete er hinter keiner Wegbiegung auf mich, wie ich immerfort hoffte. Wenn Wenzel nicht vom Förster oder von der Polizei aufgegriffen wurde, kam er nach einigen Tagen oder Wochen freiwillig zu uns zurück. Wir, meine Eltern, meine Großeltern und ich, setzten uns dann um ihn herum, mit geneigten Köpfen und gefalteten Händen, demütig und gedemütigt zugleich. Es muß ausgesehen haben, als beteten wir ihn an. Nach jeder Rückkehr war er völlig ausgezehrt und selber fassungslos über sein Weglaufen, sein »Auf-und-davon«, wie er es nannte und von dem er sagte, es sei gar nicht bös gemeint. Nie machte er uns Vorwürfe – anscheinend quälte er uns grundlos. Meine Mutter und meine Großmutter servierten ihm Berge von Nudeln, im Duett trugen sie auf. Auch fing Wenzel in unserem gemeinsamen Zimmer, der sogenannten Bubenkammer, sofort wieder an, auf seinem Saxophon zu üben, Ländler, Märsche und Polkas, um den Anschluß im Musikverein nicht zu verlieren. Doch kaum war er bei Kräften, türmte er wieder.

Wie ich das Suchen von ihm lernte! Auch das Warten und Fürchten, das Wachbleiben unter der Decke, das Knirschen und Verdammen, das Lauschen auf den eigenen, einsamen Herzschlag und das Hoffen, den Geflohenen mit der bloßen Macht meiner Gedanken wieder heimwärts lenken zu können. Ich durfte nicht loslassen, mußte aus meiner Betthöhle heraus die Verbindung zu ihm halten, und so flüsterte ich wie im Krampf vor mich hin: Wenn du einschläfst, ist er verloren, wenn du einschläfst …

Wenzel wollte nicht mein Mitleid, er wollte mein Mitleiden, vielleicht sogar bis in unseren gemeinsamen Tod. Das mußte mein Vater befürchtet haben, als er ihm auf den Kopf zu sagte: »… weil du den umbringst!«

Ich beugte mich diesem Urteil, ohne es recht zu verstehen. Wir sprachen nicht oft darüber. Auch ich schwieg lieber, meine Familie brauchte nicht zu wissen, was ich mit Wenzel in unseren letzten gemeinsamen Wochen alles erlebt hatte, in der Schiffschaukel zum Beispiel, hoch über dem nächtlichen Festplatz. Erst viel später begann ich zu ahnen, was meinen Vater, der die Gabe besaß, sich auch vor sich selbst zu fürchten, im Innersten umgetrieben haben mochte, ehe er Wenzel verstieß: Wie gefährlich ist dieser Findling? … so fragte mein Vater sich wohl. Gefährlich für uns, für unseren Sohn? Verführt er ihn: zum Rauschgift, zum gemeinsamen Selbstmord, zur Flucht aus dem Elternhaus? Warte ich zu lange? Bin ich zu geduldig? Falls ja – werde ich dem Findling eines Tages etwas antun müssen und sein Gesicht an der Hauswand zerreiben. Davor muß ich mich, muß ich uns schützen. Schluß mit dem Händeringen! Fort mit ihm! Und wenn er untergeht …

»Wie geht es deinen Eltern?«, fragte Wenzel mich auf der Terrasse am See. Sein Bairisch hatte sich verflüchtigt, nur eine leichte Färbung war davon geblieben.

»Meine Eltern sind tot«, antwortete ich.

Er schwieg, nickte kaum merklich, schwieg weiter. Es fiel ihm nicht ein, mir zu kondolieren. Er strich sich mit der Hand über die Wange, wirkte mit einem Schlag müde und enttäuscht.

»Wann … sind sie gestorben?«

Ich nannte die beiden Jahreszahlen. Jetzt wollte er auch den jeweiligen Todestag noch wissen. Und als ich ihm, leicht übertölpelt, die beiden Sterbedaten mitteilte, fuhr er beim Datum meines Vaters auf:

»Am 9. April 2000«, rief er, »da ist auch mein Vater gestorben. Genau, genau an diesem Tag! Unglaublich!« Er schien ehrlich überwältigt von so viel Zufall und ließ den Mund offenstehen. Als er merkte, daß ich keineswegs überwältigt war, beruhigte er sich und machte den Mund wieder zu. Ich hatte nicht vor, etwas mit ihm zu teilen, schon gar nicht das Todesdatum meines Vaters. Wenzel war dabei, mich mißtrauisch zu machen. Doch da begann er bereits wieder zu sprechen, ja, er hielt sogar eine Rede. Und so wie er zu reden anfing, zögernd, aber auch zielstrebig, fürchtete ich, daß er mit mir, mit meiner Familie doch noch abrechnen wollte: als der große Wolfgang im Namen des kleinen Wenzel. Denn auch mir dämmerte allmählich, wer oder was mich da wiedergefunden hatte, obwohl er von mir überhaupt nicht sprach, oder nur ganz nebenbei und auch diesmal wieder mundartfrei und in einem Deutsch, das ich ihm nicht zugetraut hätte.

Seine Rede ging ungefähr so:

»Ich hab deinen Vater und deine Mutter immer Onkel und Tante genannt. Sie waren meine Pflegeeltern – feines Wörtchen: Pflegeeltern«, sagte er, das Wort beinahe buchstabierend, »wenn’s Leute sind wie deine Eltern, Max. Sie haben mich nur kurze Zeit erzogen, doch das genügte. Was ich von ihnen mitbekam, hat mich vor dem Untergang bewahrt, später. Ich hab es erst gefunden, als ich es brauchte, und als ich es brauchte, war’s da. Ist das nicht die beste Erziehung: die man gar nicht spürt? So möcht ich meine Kinder auch erziehen. Hast du Kinder, Max? Ich hab vier, meine Große und die drei Kleinen. Deine Eltern waren für mich so … so wichtig … mein fremdes … eigen Fleisch und Blut. Was für ein Vater dein Vater gewesen ist, siehst du auch daran, daß er mich rausgeschmissen hat, um seine Familie zu schützen; warum ich so gefährlich für euch gewesen sein soll, hab ich übrigens nie begriffen … aber du, Max, du bist unvergessen …

Pflegebruder – ein komisches Wort. Wer pflegt da wen?

Ich trauere sehr um deine Eltern.«

Seine Offenheit verblüffte mich. Wenzel spürte es und bat um Verzeihung dafür. Unter heftigem Nicken, aber in nüchternem Ton fügte er noch an, daß es richtig gewesen sei, ihn hinauszujagen und gründlich ins Unglück zu stürzen, nur so habe er es schaffen können, zu sich selbst zu finden, sich zu festigen und ein freier Mensch zu werden. Psychologie aus der Hausapotheke – aber ich ließ es ihm durchgehen und wollte nicht nörgeln, geschweige denn streiten (Streit verbindet mehr als gemeinhin angenommen).

Ohne uns eine Pause zu lassen, sagte er noch:

»Gell, wenn ich dein richtiger Bruder gewesen wär, hättet ihr mich nicht so leicht ausschaffen können!?«

Ich hob langsam die Achseln.

Während Wenzels Ansprache war mir etwas aufgefallen oder geradewegs ins Auge gesprungen, eine winzige Geste nur, doch sie hatte genügt, mich tiefer und umfassender an Vergangenes zu erinnern, als mir lieb war, altertümlich gesprochen, sie schlug mich in Bann. Wenzel hatte sich nämlich kurz und kaum bemerkbar mit den Fingerspitzen an den Mund getippt – so vertraut war er mir also noch, so ganz gegen meinen Willen nah, daß dieses äußerst flüchtige Zeichen mir nicht entging. Und jetzt sah ich ihn vor mir: als Kind, das sich mal zart, mal grob gegen die eigenen Lippen schlägt, wenn es ins Stottern gerät, das mit tastenden, suchenden Fingerbewegungen den störrischen Mund beschwört, ihm den Dienst nicht zu versagen; denn wie gern redet der kleine Wenzel flüssig, wie freut er sich, wenn ihm Wörter und Sätze gelingen, wenn sie nicht zerstückelt werden und stückweise im Hals hängen bleiben, wie strahlt er, wenn er sich ungebremst reden hört. Und ich sah auch, wie ich selbst versuche, mit allerlei Kindermitteln die Stotterqual abzuwenden oder wenigstens zu lindern, wie ich Wenzel den Hals streichle, Zaubersprüche dazu brabble, Buchstaben aus dem Brot schneide und an ihn verfüttere, und das alles, um den Wunschbruder zu heilen, ihm die Furcht zu nehmen, daß er verstummen müsse und nie wieder sprechen könne.

Doch Wenzel war noch nicht fertig mit mir. Mein Schweigen schien ihn gereizt oder ermutigt zu haben. Und so fragte er mich, den Kopf verräterisch geneigt – nein, er fragte überhaupt nicht, sondern teilte mit, was für ihn bereits festzustehen schien, nämlich daß jetzt sicher ich, meine Frau, meine Kinder das große Haus bewohnten, samt dem schönen Garten mit seinen Zwetschgen-, Birn- und Apfelbäumen. Gefaßt, ein wenig lauernd sogar, erwartete er, daß ich ihm mein Glück bestätigte.

Das Haus, das Wenzel meinte, hatte unmittelbar vor der Vollendung gestanden, als wir ihn hinauswarfen, die Fenster waren bereits eingesetzt. Es gab in diesem Haus auch ein Zimmer, das allein für ihn bestimmt gewesen war: gleich unter dem Dach, nach Osten gelegen, hoch und lichtvoll, mit eigenem Balkon und nur um ein weniges kleiner als mein Zimmer, das gegenüber lag. Er hätte dieses Zimmer nach seinem Geschmack einrichten dürfen, genau wie ich meines und ebenfalls auf Rechnung meiner Eltern; ein weiterer Schritt zu seiner Gleichstellung mit mir und sicher nicht der letzte, der geplant war. Doch statt die Chance zu nutzen und vollends heimisch zu werden bei uns, hinterließ er in dem neuen Haus ein nie bezogenes Zimmer – das Museum seiner Abwesenheit, in dem ich mich noch oft auf den kahlen Boden setzen würde, den Kopf zwischen den Händen, um an der Frage zu kauen, ob ich jetzt traurig sein sollte oder froh. Denn besonders hier, in diesem Raum, fanden Wörter zu mir, die schmerzhaft genau aussagten, was wir eigentlich getan hatten, nämlich: »ausgetrieben«, »fortgejagt«, »vor die Türe gesetzt«, »hinausgeschmissen«, »weggewiesen«, »verstoßen«, »verbannt« …

Wie doch die Wörter gegen einen aufstehen können!

Endlich sagte ich zu Wenzel: »Ich habe alles verkauft.«

Er staunte entsetzt, brachte keinen Ton hervor. Bis er ausrief, darauf brauche er einen Schnaps. Er bestellte, trank das Glas aber nicht in einem Zug leer und legte, als er es wieder abgesetzt hatte, ein Zwei-Euro-Stück daneben, wobei er sich kurz nach links und nach rechts umschaute, so als gäbe er jemandem Zeichen. Dann wandte er sich mir wieder zu und zählte mit lauter, unverschämt beschwörender Stimme auf, was meine Familie alles besessen hatte: die großväterliche und die väterliche Werkstatt mitsamt den Maschinen darin (die älteste, eine Hobelmaschine der Marke Aldinger, stammte aus dem Jahr 1926, selbst das wußte er noch!); außer dem Hauptgarten, in dem das neue Haus stand, noch den von Nachbarn hinzugekauften Dietrichsgarten mit der windschiefen, efeu-umrankten Laube sowie einem Brennholzschober, zwei kleine Wälder, ein paar obstbaumbestandene Wiesen, darunter Pfingstweide und Haarbühl, außerdem die steingefaßte Quelle am Immensitz sowie den vom Wetter gegerbten Holzlagerschuppen, in dem mein Vater, der Schreinermeister, immer auch einige von ihm selbst gezimmerte Särge vorrätig gehalten habe; doch auch andere Plätze und Namen fielen ihm noch ein, mühelos, wie es schien, und nicht einer von ihnen war falsch.

Dieser Wolfgang besaß ein Gedächtnis wie ein Grundbuch.

Nach einer Pause sagte er:

»Haamet, so sog i d’rzue!«

Dazu klopfte er mit den Fingerknöcheln hart auf den Tisch. Wenzel bebte, wirkte ergriffen. Diesmal hatte er den breitesten Dialekt aus unserem Waldtal zu Hilfe genommen, so als fürchte er, sich mir anders nicht mehr verständlich machen zu können. Er beherrschte ihn noch immer, diesen inzwischen fast verklungenen Dialekt (ein Schwäbisch, dem die Franken die Doppellaute geklaut haben: für »breit« sagte man bei uns »braat«, nicht »broit«; auch nicht »Rauchfloisch«, sondern »Raachflaasch«) – beherrschte ihn erpresserisch gut, unseren einstigen Dialekt; der Mann kannte sich aus mit der Macht einschüchternden Erinnerns.

Außerdem rief Wenzel mir ins Gedächtnis zurück, daß der einzeln stehende Nußbaum im Hauptgarten einer Walnuß entsprossen war, die mein Vater aus einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Oberösterreich mitgebracht hatte. Wenzel tat es wie beiläufig. Doch danach hob er den Ton, um die Schönheit all der (meist schon lange gefällten) Bäume zu preisen, die einmal unser Eigentum gewesen waren, indem er sie der Reihe nach herbeizählte und vor mir aufmarschieren ließ wie Birnams Wald, damit sie stumm bezeugten, welchen Verrat ich an meinem Eigensten begangen hatte.

Ich weiß, auch vor meinen Eltern und Großeltern hätte ich schlecht dagestanden – und die Toten entschuldigen nichts. Es gelang mir immer weniger, gefaßt zu bleiben. Ich lächelte um Erbarmen.

»Was hätt ich denn tun sollen?«, rief ich, »auch andere haben mir zum Verkauf geraten, durchaus vernünftige Leute! Ich bin doch schon so lange fort und wäre nie wieder zurückgekehrt, verstehst du, nicht einmal … zum … Sterben.« Das Sterbens-Wort! Noch nie hatte ich mich auf den Tod berufen, um die Endgültigkeit meines Abschieds von daheim zu begründen. Eigentlich wollte ich sagen: nicht einmal, wenn ich bankrott – arbeitslos, pleite, geschieden – wäre, aber diese Angst, mit der ich erst Bekanntschaft gemacht hatte, als ich zum Erben geworden war, sollte ihm verborgen bleiben.

Wenzel nickte und lächelte ebenfalls, nicht unzufrieden.

»Du befreist mich von einer Last«, sagte er ruhig.

Ob er denn glaube, daß es mir leicht gefallen sei, die schon über zweihundert Jahre dauernde Existenz meiner Sippe in diesem Dorf zu beenden? Mein einziger Trost dabei: daß es gar nicht anders möglich, daß es unausweichlich war. Und wieso? Weil schon meine Vorfahren sich gegenseitig ein Versprechen auf Bildung gegeben hätten, höhere Bildung, für die man das Dorf verlassen mußte. Dieses Bildungsversprechen konnte aber lange nicht eingelöst werden, zu oft kam etwas dazwischen: ein Krieg, ein Staatsumsturz, Geldklemmen aller Art. Also blieben sie zu Hause und warteten, den Blick auf den Ausgang gerichtet. Nie sei das Versprechen zurückgenommen worden, sagte ich, jede Generation habe es erneuert, selbstlos, und damit die Sehnsucht wachgehalten bis in unsere Zeit. Alle, zumindest in meiner Familie, hätten hinaus gewollt aus dem Waldtal, besonders die jungen Männer. Doch erst in meiner Person sei es ihnen gelungen, vorher nicht; ich durfte fort, ich mußte – und wurde so zum Nutznießer der ersten dauerhaft gefestigten Demokratie in unserem Land. Gymnasial- oder Universitätsbildung war für einen von meiner Herkunft zuvor noch nie erreichbar gewesen. Jetzt war sie es, was einigen im Waldtal gar nicht paßte.

Das alles, unvorstellbar, sagte ich zu ihm, fast schreiend.

Doch er antwortete mir nur kühl: »Dann hast du dort gar nichts mehr und kannst nicht mehr heim.«

Ich blieb stumm.

Zögernd hängte er die Frage an, ob ich vielleicht eins meiner Erbstücke entbehren könne, für ihn, zur Erinnerung. Er denke da an eine Küchen- oder Wohnzimmeruhr, und sie brauche nicht einmal zu funktionieren. Außerdem erbitte er ein Foto meiner Eltern aus späteren Jahren, dazu vielleicht noch eine Vase, einen alten Mostkrug oder auch gern etwas aus der Werkstatt meines Vaters, einen Hobel, einen Hammer oder die feine kleine Handsäge namens Fuchsschwanz; sein Bedarf an Erinnerungen sei unermeßlich.

Und zur Übergabe könne man sich ja nochmals treffen.

Bewegliche Besitztümer hatten meine Eltern nach vierzig Jahren Wohlstand nicht gerade wenige hinterlassen. Nicht drei Generationen war es vorher gelungen, zusammen dermaßen viel Besitz anzuhäufen, obwohl meine Eltern immerfort behauptet hatten, nichts zu wollen, nichts zu brauchen, nichts zu begehren. Um nach der Ausräumung ihres Hauses alles unterzubringen, hätte ich eigens eine Wohnung anmieten müssen, mindestens fünfmal so groß wie die unsrige. Mir war nur die Wahl geblieben – keine grausame Wahl, meistens nicht einmal eine schmerzliche; der Respekt vor den Dingen nimmt ab, wenn die Dinge selbst überhand nehmen.

Von den größeren Möbeln konnten meine Frau Irene und ich lediglich einen Schrank aus rotbraun schimmerndem Kirschbaumholz mit hohen schlanken Glastüren für uns behalten, das Meisterstück meines Vaters, angefertigt in den ersten Jahren nach dem Krieg. Das dazu nötige Holz hatte er sich seinerzeit bei einem der Waldbauern unserer Gegend »schwarz« beschafft. Vaters Herz hing sehr daran, und zwar nicht allein, weil dieses Stück den Neuanfang nach Krieg und Kriegsgefangenschaft bezeugte, den kaum erhofften Beginn eines zweiten Lebens, sondern auch, weil der Schrank für den Traum von einer tüftelig-originellen Möbel- und Modellschreinerei stand, den mein Vater jedoch schon bald für eine harte Notwendigkeit hatte aufgeben müssen: die Einsicht nämlich, nur zu überleben, wenn er auf halbindustrielle Fensterproduktion umstellte, auf »Staubfresserei von früh bis spät«, wie er sagte.

Diesem Meister-Erbstück mußte unsere für die erste gemeinsame Wohnung erworbene Möbelmarkt-Kommode auf den Sperrmüll weichen; lange sahen wir sie nachher durchs Fenster in einem nicht allzu fernen Asylantenwohnheim stehen – man blieb sich verbunden.

Aus dem Strom der kleineren Dinge hatte ich nach dem Arche-Noah-Prinzip ausgewählt: höchstens zwei von jeder Art (Stühle, Gläser, Aschenbecher … keine Uhren, keine Hämmer, aber natürlich die beiden Hochzeitsbibeln meiner Eltern und Großeltern, den Meisterbrief meines Vaters von 1948 und den meines Großvaters von 1922; außerdem rettete meine Frau den kohlrabenschwarzen, halbmeterlangen Haarzopf, den meine Mutter sich um vierzig, rechtzeitig vor dem Ergrauen, selbst abgeschnitten und über Jahrzehnte in einer mit Seidenpapier ausgeschlagenen Schachtel aufbewahrt hatte. Ich hätte diesen Zopf vor lauter Arche-Noah-Eifer vermutlich übersehen).

Ja, jawohl! Dieser Wenzel sollte sein Erbstück erhalten – ich sagte mit Bedacht »Souvenir«, er schluckte das Wort trocken hinunter, daß es im Kehlkopf krachte –, und welches, wußte ich auch schon, ließ ihn aber wissen, daß er sich gedulden müsse, es sei kompliziert.

»Gib mir doch deine E-Mail-Adresse!«

Er war einverstanden.

Auf jeden Fall wollte ich verhindern, daß wir unsere Postanschriften austauschten. Es interessierte mich nicht, wo genau er wohnte (die Angabe »zwischen München und Regensburg« hatte mir vollauf genügt), und er sollte nicht erfahren, wo ich wohnte (meine Aussage »nicht mehr daheim, aber auch nicht sehr weit von daheim entfernt«, war mir ausreichend erschienen). E-Mail-Kontakt, mehr sollte es nicht sein; jener Kontakt im Nirgendwo, der über keinen zuviel verrät. Ich hoffte, daß Wenzel mein Abstandsbegehren bemerkte und respektierte. Und wie zum Zeichen, daß er begriffen habe, schrieb er mir lediglich seine E-Mail-Adresse auf einen Bierdeckel – überreichte also kein Visitenkärtchen mit der üblich gewordenen Litanei aus Privat- und Firmenanschrift, Homepage, Postfach, mehreren Telefonbucheinträgen und mindestens einer kometenschweiflangen Mobiltelefonnummer.

Danach verabschiedete er sich mit einem allzu oft wiederholten »Adé!« und drückte mir obendrein noch die Hand, warm und trocken und nicht ohne Herzlichkeit. Er wolle nun schleunigst zurück zu seiner Familie, die ihn auf dem Campingplatz erwarte, sagte er. Zum Brötchenholen sei er ausgeschickt worden, und eigentlich müsse er mich jetzt bitten, ihn zu seiner Frau und seinen Kindern zu begleiten – seine Kinder nannte er wahlweise auch »die Kameraden« –, damit er ihnen glaubhaft erklären könne, wo er so lange gesteckt habe.

Er lachte bemüht sarkastisch, wenn auch mit einem bitteren Unterton, der echt klang.

»Aber das lassen wir besser! Sie wissen nichts von dir. Ich muß sie erst auf dich vorbereiten, auf meinen (er lachte lauter) Fastbruder …« – grad als hätten wir beide einmal demselben Hungerorden angehört.

Bevor er hinter den Uferweiden verschwand, pfiff er scharf nach mir herüber.

2

Wenzel Bogatz und ich besuchten von 1962 an die Grundschule meines Geburtsorts Rotach im Wald, der in einem der engen, kühlen, bis nah an die Flußläufe herab bewaldeten Täler zwischen Schwaben und Franken liegt. Wir gingen drei Jahre lang in dieselbe Klasse und waren gleich nach der Einschulung auch zu Weggefährten geworden. Wenzel hatte sich mir angeschlossen, weil er noch nicht lange in unserem Dorf lebte und offenbar glaubte, ich, ein schon länger hier Eingesessener, kenne mich aus. Für gewöhnlich wartete er am Morgen auf mich und fädelte in meine Spur ein. Ich wohnte damals mit meinen Eltern und Großeltern noch in unserem alten, einem hundertjährigen Haus an der Straße zum Friedhof, nahe dem Ortsrand. Straßennamen gab es in diesem Teil des Dorfs keine, nur Hausnummern, und unsere war auf einem wappenförmigen Stein über der Tür zu lesen: 79. Wenzel wohnte mit seinem Vater und seiner Mutter nicht weit entfernt, bergab- und dorfeinwärts, im verwinkelten Anwesen einer alleinstehenden Bäuerin, die den Hausnamen »die Flaschnerin« trug und von zwei Kühen und einer Kriegerwitwenrente lebte. Die Familie Bogatz wohnte bei ihr zur Miete, ein Verhältnis, mit dem man zumindest im hinteren Dorf noch nicht viel anzufangen wußte, denn hier besaß man, was man bewohnte, und wer zur Miete wohnte, konnte nur heimatvertrieben sein. Das traf, außer auf Wenzel und seine Eltern, auch auf eine zweite Kriegerwitwe zu, auf Frau Nieder, die aus Ostpreußen stammte und jetzt gegenüber der Flaschnerin eine Heimstatt gefunden hatte, wo sie vollkommen einsam, ohne Angehörige und selbst ohne Tiere lebte. Sie lag fast den ganzen Tag im offenen Fenster auf ihrem Busen wie auf einem Sofakissen. Unter ihrem Blick trafen Wenzel und ich uns morgens auf dem Weg zur Schule, unter ihrem Blick trennten wir uns mittags wieder. Es war jedesmal belebend und ermutigend, von Frau Nieder angeschaut zu werden, im Gehen, ohne selbst zu ihr hinzusehen. Wenn meine Großmutter beim Abschied zu mir sagte: »Einer sieht dich immer«, dann mußte ich oft an diese Kriegerwitwe denken.

Die übrigen Vertriebenen, die nach dem Krieg bei uns im Tal angesiedelt worden waren, lebten inzwischen fast alle in einem stetig wachsenden Neubaugebiet, das »Vorstadt« hieß, obwohl Rotach im Wald nach wie vor ein Dorf war, und in der Vorstadt trugen die Straßen Namen. Die Flüchtlinge gehörten zu den ersten, die dort Häuser gebaut hatten, teilweise mit staatlichem Geld, das ihnen zum Ausgleich für die Verluste in der ehemaligen Heimat bezahlt worden war. Doch man neidete ihnen ihren neuen Besitz, man behauptete, daß er mit falschen Angaben über Gehöfte und Güter erschwindelt sei, weshalb mitunter der Satz zu hören war:

»Schau, der Mond ist auch ein Flüchtling, er hat einen Hof!«

Einige hausten noch in den umliegenden Weilern im Wald und auf den Höhen. Es waren vor allem alleinstehende Männer, die sich als Bauernknechte verdingen mußten, aber früher selbst einmal Bauern gewesen waren, was sie unter Schwüren beteuerten. Sie hatten im Wald, auf den Viehhöfen und in Sandgruben zu arbeiten. Einer von ihnen, ein Ungarndeutscher namens Samuel Kastner, verunglückte mit dem Pferdefuhrwerk: Bei der Fahrt den Berg hinab hätte er bremsen müssen, die Pferde konnten den Wagen alleine nicht halten, doch der Fuhrmann fand die Bremse nicht, weil er in den Ebenen Donauschwabens, so hieß es, eine Bremse nie benötigt hatte. Andere brachten sich um, hängten sich in der Knechtskammer auf oder sprangen vom obersten Heuboden der Scheune mit dem Kopf voraus auf die betonierte Tenne hinab, und mein Vater, der Schreiner, der immer einige selbstgemachte Särge im Schuppen bereit hielt, wurde geholt, um sie einzusargen, weil es damals im Waldtal noch kein Bestattungsinstitut gab.

Mein täglicher Gang zur Schule wurde zu einem berauschenden Erlebnis. Ich hatte keine Geschwister, war bis zu meiner Einschulung in Abgeschiedenheit aufgewachsen und rein häuslich erzogen worden, von gleich vier Erwachsenen. Die Kinderkirche hatten sie für kindisch erklärt und mich zum Hauptgottesdienst mitgenommen, wo ich mich unter noch mehr Erwachsenen wiederfand – seltsam, wie es da roch: nach Sägemehl und Zitrone. Und der Besuch des Kindergartens war mir verwehrt worden, weil mein Großvater die Kindergärtnerin für eine militaristische Hexe hielt. Doch in Wahrheit hatten Eltern und Großeltern mich aus Angst, aus Unsicherheit, auch aus Schuldgefühlen zurückbehalten.

Ein Einzelkind galt damals noch als Unglücksfall der Natur, gemäß der alten, mächtigen Bauernregel: »Volle Ställe, volle Stuben.« Und einen Zweiten von meiner Art gab es ringsherum in der Tat nicht. Dafür konnte man auf der Straße bedauert oder auch ein bißchen beleidigt werden. So wurde meine Sehnsucht geboren. Fortan hörte ich hinter jeder Hauswand Geschwister flüstern, bei jedem Einzelgänger, der uns begegnete, dachte ich dessen Brüder und Schwestern mit, zu jeder Spur im Schnee oder im Sand fand ich die Geschwisterspur.

Um mir weitere Kränkungen zu ersparen, hatten meine Erwachsenen mich eingelagert wie einen Boskop-Apfel für den Winter, damit ich reif werden und die Gemeinheiten der Welt auf lederfester Haut aushalten würde … oder sie hatten gehofft, Zeit zu gewinnen, Zeit, in der das Dorf mich und meinen Mangel vergäße. Umzäunt und eingehegt von vier Erwachsenen war auch mein starker, wenngleich sinnloser Geschwisterwunsch eingeschlafen, eingeschläfert worden. Oder hatten wir ihn nur betäubt? Was auch immer, ich selbst hatte dazu beigetragen, indem ich die unerfüllbare Bitte um Geschwister zornig aus meinem Nachtgebet tilgte.

Freilich war ich schon vor Beginn meiner Schulzeit mit Kindern zusammengekommen, bei Verwandtenbesuchen oder Familienfeiern, aber noch lange blieben sie schattenhafte und zuweilen unheimliche Wesen für mich. So wie der kleine König, der nach einem Konfirmationsessen am Tisch eingenickt war und den im Schlaf alle so nett gefunden hatten, außer mir – ich war der Ansicht gewesen, er sei tot oder zumindest ohnmächtig geworden. Noch nie hatte ich mit einem Kind eine Stunde allein in einem Zimmer verbracht, noch nie eines angefaßt, seinen Atem gespürt, seine Spucke gerochen. Im Alter von knapp sieben Jahren, als ich mit leichtem Bangen hinaustrat und mich auf das Schulabenteuer freute, war ich voll und ganz auf e gestimmt, e wie erwachsen.

Niemandem fiel es schwer, diese Saite anzuschlagen.

Und die Rechnung meiner Erwachsenen schien aufzugehen. Als Erstkläßler im Dorf unterwegs, erlebte ich eine Reihe prächtiger Überraschungen. Die Leute, wiederum lauter Erwachsene, fragten mich mit unruhigem Zeigefinger, wer ich denn sei, falls sie es nicht bereits ahnten oder im nächsten Moment errieten. »Max Stollstein«, antwortete ich in jedem Fall, und erfreut klatschten sie in die Hände, nannten mich »Sohn vom Fritz« oder »Enkel vom Paul« oder beides zusammen. Bald winkten Männer mit und ohne Schürzen mir schon von weitem zu und riefen mich beim Namen, von Viehfuhrwerken herab und aus offenen Werkstatt- oder Wirtshausfenstern. Frauen machten es ebenso, während sie hinter einem Zaun – bisweilen auch singend – Bohnen pflückten, auf der Haustreppe ein Huhn rupften oder Wasser aus einem Eimer quer über die Straße gossen, als hätte sie es nötig, gewaschen zu werden; denn bald sollte die Königin von England unsere Gegend besuchen, das war bekannt, und niemand wußte, durch welche Dörfer sie auf ihrem Weg nach Schloß Langenburg reisen würde, um dort, wie mein Großvater sagte, ihrer »buckligen Verwandtschaft« die Hand zu schütteln. Wie doch das Dorf sich danach sehnte, von der großen weiten Welt berührt zu werden!

Ich grüßte alle, die mich grüßten, krächzend vor Glückseligkeit, daß ich so beliebt und geachtet war. Das Erlebnis wiederholte sich täglich, wöchentlich und zu allen vier Jahreszeiten. Der Begrüßung folgte in der Regel das Lob des Herkommens: Man nannte meinen Vater fürsorglich, meine Großmutter tüchtig und meinen Großvater einen rechtschaffenen Mann, der fünf auch mal grade sein lasse. Und mich rühmte man unter Lachen, weil sich auch an mir die für meine Sippe typische Manneskopfform grandios und unverfälscht zeige. Vom Stolz verwirrt, fiel ich ins Duzen zurück und vergaß mein Ziel. Ich rannte in Häuser und Ställe hinein und schrie, daß ich Pfarrer werden würde oder Düsenjägerpilot, wozu man mich gleichermaßen beglückwünschte. Oft kehrte ich aus den Häusern mit einem Apfel in der Hand zurück, in den ich vor Aufregung meine Nägel grub. Doch wenn mir jemand den Rücken zukehrte, weil er am Straßenrand mit etwas beschäftigt war, sprang ich kurz in die Höhe und ließ meinen halbvollen Schulranzen klappern, damit man im letzten Augenblick doch noch bemerkte, wer da vorüberkam.

Mittags, auf dem Heimweg, wurde ich mit den Worten angefeuert:

»Die Mutter hat sicher was Gutes gekocht, lauf schneller!«

Es stimmte jedesmal.

Und beim Essen konnte ich erzählen, mit doppeltem Genuß.

Der Höhepunkt war erreicht, wenn ich an Berts Schmiede vorüberging. Der Meister, ein Freund und Feuerwehrkamerad meines Vaters, unterbrach sogar seine Arbeit, hob eigens für mich die Augen, wenn er ein glühendes Eisen ins Wasser tauchte oder im Hof ein Pferd beschlug – ja, selbst dann, bei einer so wichtigen Arbeit –, und er wedelte, oft brandschwarz von oben bis unten, mit dem Hammer, der für ihn so leicht wie ein Spielzeug zu sein schien, zu mir herüber. Mit jedem seiner Hammergrüße durfte ich mich tiefer beheimatet fühlen, und beim Erzählen und Essen daheim noch einmal.

Meine und Berts Familie besaßen seit mehr als zwei Jahrhunderten eine Art Freundschaftsstammbaum: Dieser Baum wuchs aus der gemeinsamen Wurzel dörflicher Handwerkerarmut, er hatte zwei Stämme, und seine Äste schlangen sich bis hinauf in die Krone munter und fest ineinander. Die einen waren Schreiner, die anderen Schmiede, was sich in den Augen meines Großvaters zwar nicht so gut ergänzte wie Bäcker und Metzger – aber man könne sich gegenseitig auch mit Witzen und guten Worten füttern. Es hatte noch keine Generation gegeben, in der zwischen den beiden Familien nicht mindestens eine lebenslange Freundschaft geschlossen worden war. Auch Liebschaften zwischen Söhnen und Töchtern hatten sich ergeben, wenn auch noch keine Heirat. Nur am 1. Mai 1933 enttäuschten sie einander, als der Schmied an seinem Hausgiebel die Hakenkreuzfahne, der Schreiner an seinem noch immer Schwarz-Rot-Gold flaggte. Erst der Schmerz vereinte sie wieder; denn jede der beiden Familien hatte im Krieg einen Sohn namens Gotthilf verloren, jeweils »Gottl« gerufen: Der eine war mit seinem Flugzeug auf den Äckern bei Wien zerschellt, der andere im Schlachtkessel von Stalingrad verschollen.

Wenn mich Wenzel begleitete, sagten die Leute manchmal:

»Ah, einen Kameraden hat er auch schon!«

Dabei lächelten sie zu mir herunter oder legten mir die Hand auf den Kopf. Ich wurde dafür gelobt, daß ich einen Kameraden hatte. Meinen Kameraden selbst sahen sie nur flüchtig an. Ich nannte den Namen des Jungen, der noch nicht lange im Dorf lebte – auch das konnte ich bereits: einen schwierigen Namen wie den seinen klar und deutlich aussprechen.

»Wenzel Bogatz!«

Sofort schauten sie noch einmal auf meinen Begleiter, ein kurzes Mustern, dann blickten sie mich wieder an, stutzend, fragend, beinahe vorwurfsvoll.

Worauf er auch mir gleich fremder vorkam.

So oder so ähnlich ging es oft.

Wenzel erhielt keine Grüße, keine Scherzworte, keine Zurufe und kein Händeklatschen. Er war niemandem aus dem Gesicht geschnitten, den man kannte, und darum selber niemand, also der leibhaftige Unterschied zu mir. Sein Name wurde, wenn überhaupt, dann nur verstümmelt ausgesprochen. Aber ich traute mich nicht, den Namen noch einmal zu sagen, um ihn dem Dorf mit ganzer Stimmkraft einzuschärfen, damit es ihn nie wieder falsch ausspreche. Ja, vielleicht wartete das Dorf nur darauf, mit Wenzel Bogatz bekannt gemacht zu werden, doch ich unterließ es, aus Mangel an Mut oder weil ich einfach zu beschäftigt war mit meinem Straßenruhm. Währenddessen stand Wenzel irgendwo in der Leere hinter mir oder neben mir. Ich fragte nicht danach, wie ihm zumute sei, fragte weder ihn noch mich. Sah nicht, spürte nicht, begriff nicht. War vollkommen blind und taub für ihn. Nicht einmal seine Bewunderung brauchte ich. Blickte nur großäugig hinauf in die Gesichter überragender Gestalten, die mir von knapp unterhalb der Sonne zunickten. Wenn wir unseren Weg fortsetzten, ging Wenzel still neben mir. Nie klagte er. Sagte gar nichts. Hin und wieder war er nach einem solchen Zwischenspiel auch verschwunden, und ich sah ihn erst im Klassenzimmer wieder, allerdings nur von fern, denn wir saßen nicht nebeneinander.

Trotzdem, spätestens am anderen Morgen wartete er auf mich.

3

Ohne unseren Lehrer Randolph Schumann wären Wenzel und ich keine Freunde geworden, geschweige denn Brüder; Schumann schaffte das mit einem einzigen Stockhieb. Doch dieser ungemein dicke Dorfschullehrer wurde nicht nur deshalb so bedeutsam für mein Leben, weil er mich in meine erste Gewissensnot stürzte, sondern weil er auch eine wichtige Entscheidung für meinen weiteren Bildungsgang traf. Mir versprach er eine Zukunft, Wenzel mißhandelte er. Ich muß ausführlich von ihm erzählen.

An einem Tag im dritten Schuljahr klopfte er, damals mein Klassenlehrer, abends bei uns daheim an der Tür, zog den Hut und sagte in seinem sonntäglichsten Sächsisch zu meinen Eltern:

»D’r Maxe kommt uff de Oberschul!«

Das war eine Empfehlung und ein Befehl zugleich.

Meine Eltern antworteten:

»Jaa! Er hat keine Geschwister. Er darf lernen …«

Dann redeten die Männer über den Krieg, und meine Mutter zog sich zurück. Ich durfte am Tisch sitzenbleiben. Die beiden tranken Most und rauchten Zigaretten; bald hatten sie mich in Qualm gehüllt und vergessen. Schumann, ein ehemaliger Frontoffizier, trug vor, wie in Rußland die Partisanen bekämpft worden waren. In seiner Reichweite hätte ich kein Partisan sein mögen, doch es überraschte mich, wie gut auch mein Vater sich mit dem Partisanenwesen auskannte.

Zeitlebens mußte ich immer wieder an Lehrer Schumann denken, doch nie mit Verachtung, vielmehr mit Vergnügen, zugleich mit Entsetzen und nur selten ohne Mitleid. Wenn ich ihn für längere Zeit vergessen hatte, rief er sich mir von selbst wieder in Erinnerung, mitunter auf kuriosen Bahnen. Sogar bei einer viel späteren Lektüre von »Moby Dick« kam er mir noch einmal in den Sinn. Zuerst als Hirngespinst mit Bart und Flossen, doch dann, allmählich, konnte ich ihn immer deutlicher, immer wahrer, immer körperlicher vor mir sehen: seine Hose bis fast zu den Achselhöhlen heraufgezogen über die mächtige Bauchwölbung, dafür hängt sie unten zu hoch über den Schuhen; der Krawattenknoten unter den Kinnwulst geschlüpft, das Haar des Mittfünfzigers bereits ausgebleicht, nur die oberste, hoch aufragende Strähne ist noch von spätem, verglimmendem Blond; die Hände groß, Patschhände, dauernd in Gefahr auszurutschen; der Mund oft verzerrt von Schmerz und Wut. Ja, er kann heftig sein, rauscht er am Sitzpult vorüber, spürt man den Luftzug. Doch neben Grobem findet sich auch Zartes: die Ohren rosig und flaumig; oder wie er beim Geigenspiel den kleinen Finger der bogenführenden Hand so kindlich einkrampft und beim Singen die Augen schließt.

Auch seine oft wiederholten Sprüche und Ausrufe in sächsischerzgebirgischer Mundart fielen mir wieder ein – man hätte die Poesiealben unserer Klasse damit füllen können:

Wenn er einen Schüler schlagen mußte, klagte er:

»O dieser Bittergeschmack!«

Bevor er auf ihn losschlug, drohte er:

»Ich hupp dir ’nan!«

Und wenn er ihn geschlagen hatte, schimpfte er:

»Mit den Senfdöppeln wieder fünf Minuten Zeit vermährt!«

Randolph Schumann unterrichtete uns während der ersten vier Schuljahre in mehreren Fächern, zuerst in Lesen, Rechnen und Schreiben, schließlich nur noch in Heimatkunde, der romantischen Disziplin, dem Fach aller Fächer in der alten Dorfschule, das so vieles in sich schloß: malen, zeichnen, basteln, wandern, Pflanzen und Tiere bestimmen, Gedichte und Lieder lernen und – natürlich – ein Heimatkundeheft führen.

Als wir in der dritten Klasse waren, brachte Herr Schumann einen riesigen Stempel samt passendem Stempelkissen in den Unterricht mit. Wir mußten antreten und einer nach dem anderen das Heimatkundeheft vor ihm auf den Schreibtisch legen, quer, geöffnet, eine weiße, unbeschriebene Seite nach oben. Er drückte den Stempel darauf, und als er ihn wieder fortnahm, blieb auf dem Blatt blauglänzend unser Landkreis zurück, maßstabsgerecht verkleinert auf Größe DIN A 4. Man sah einfache Schlangenlinien für Flußläufe und doppelte für Verkehrswege; Kästchen für große, Kringel für mittlere, Pünktchen für kleine Orte; dazu, fein gestrichelt, die Ränder von Berg- und Waldlandschaften und immer wieder winzige Fähnchen für Burgruinen.

Alles war zu sehen, aber nichts zu erkennen, bis Schumann mit uns Zentimeter um Zentimeter durch das Chaos wanderte. Er gab Hinweise, wir kombinierten. Er nannte Anfangsbuchstaben, wir vollendeten. Er korrigierte, wir wurden sehend und rollten die Augen. Nach den ersten Erfolgen fiel uns die Orientierung leichter, und in weniger als einer Schulstunde war die Karte mit Namen übersät und bunt bemalt. Was für ein Anblick! Aus dem flachen, blauen, namenlosen Geäder eines Tintenstempels hatte sich unsere Heimat gehoben.

Doch es fehlte etwas: der Limes. Er war in der Karte nicht vorgesehen. In der nächsten Stunde bestand unser Lehrer darauf, daß wir ihn trotzdem einzeichneten. Mit einer Skizze an der Wandtafel zeigte er uns, wie diese 1800 Jahre alte Staatsgrenze historisch exakt zu verlaufen hatte. Wir legten das Lineal an und zogen zielgenau einen roten Strich, vom Kartenrand links oben zum Kartenrand rechts unten, schräg durch die Mitte unseres Landkreises.

Schumann forderte uns auf, den Strich kräftig nachzuziehen, damit er gut sichtbar bliebe. Auch sollten wir mit dem Finger langsam daran entlangfahren, auf und ab, die Narbe fühlen. Unsere Entdeckungen durften nach vorn gemeldet werden, denn der Limes hat die Karte neu geordnet: Er schneidet die Bundesstraße – unsere B 14 – auseinander, er kappt die Bahnlinie Stuttgart-Nürnberg, er schießt über die Heimatgrenzen hinaus und zerteilt auch die Nachbarkreise. Ja, und der Limes verläuft nur zwei Fingerbreit von Rotach im Wald entfernt, unserem Dorf. Seht genau hin, schallt es aus Schumanns Mund! Auf welcher Seite liegt Rotach? Auf der rechten, das ist die östliche, die Germanenseite; gegenüber, im Westen, die Römerseite. Dazwischen dieser Limes – der wurde gebaut, um uns, die Germanen, die traurigen Bewohner des Ostens, aufzuhalten, damit wir nicht hinüberstürmen. Ein gewaltiges Bauwerk, fünfhundert Kilometer lang, geht durch halb Deutschland. Es besteht aus Holzpfählen, den Palisaden, zwei Meter hoch; dahinter folgt der Graben, zwei Meter tief; anschließend der Grenzwall, aufgeschüttet mit dem Erdreich, das beim Grabenbau ausgehoben wurde … außerdem Wachtürme, die Grenze rauf und runter, und auf den Türmen bewaffnete Posten. Germanen, da gibt’s kein Durchkommen! Ihr bleibt gefangen in euren Wäldern. Nie werdet ihr eure Kreisstadt sehen, die hinter dem Limes liegt, nie eure Landeshauptstadt, die noch weiter westlich liegt, niemals den Zoo namens »Wilhelma« besuchen, das Neckarstadion oder den Fernsehturm.

Wir waren dreiundzwanzig Schüler. Unser Lehrer war allein. Dennoch fühlten wir uns eingekreist. In der entstandenen Stille, die nicht vergehen wollte, befand Schumann uns reif für ein Diktat, und er diktierte die folgenden Sätze in unsere zittrigen Hände:

»Hier führte früher der Limes vorüber, der das Land der Römer vom Land der Germanen, unserer Vorfahren, trennte, so wie heute der Todesstreifen und die Berliner Schandmauer quer durch unser Vaterland laufen und die Bundesrepublik von der Ostzone (sowjetisch besetzt) trennen. Ein Unterschied besteht darin, daß der Limes eine Grenze zwischen zwei verschiedenen Völkern bildete, daß der heutige Todesstreifen zusammen mit der Berliner Schandmauer aber ein Volk trennt, Deutsche von Deutschen, Eltern von Kindern, Brüder von Brüdern, Schwestern von Schwestern. Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß damals Germanen gegen Römer kämpften, aber heute ›Deutsche‹ auf Deutsche schießen.«

Er stellte uns zudem noch eine Hausaufgabe. Bis zur nächsten Unterrichtsstunde sollten wir den Limes, die Schandmauer und den Todesstreifen in unsere Hefte zeichnen, alle drei; dazu Deutsche, die sich über den Zaun hinweg die Hände entgegenstrecken, einander aber nicht fassen können.

Ich entschied mich für einen Bruder und eine Schwester.

Das war das deutsche Leiden; daß es auch meines war, fiel mir gar nicht auf.