Erwin Thoma
DIE GEHEIME SPRACHE DER BÄUME
Erwin Thoma
DIE GEHEIME SPRACHE DER BÄUME
Und wie die Wissenschaft sie entschlüsselt
Erwin Thoma
Die geheime Sprache der Bäume
Und wie die Wissenschaft sie entschlüsselt
4. Auflage
© 2012 Ecowin Verlag, Salzburg
Lektorat: Dr. Arnold Klaffenböck
Illustrationen: Elisabeth Thoma
Gesamtherstellung: www.theiss.at
Gesetzt aus der Sabon
Printed in Austria
ISBN 978-3-7110-5087-8
www.ecowin.at
DIE GEHEIME SPRACHE DER BÄUME
Einleitung
Du begleitest mich
Mondholz
Christbäume und Mondreisig
Japan – uraltes Wissen für neues Leben
Eine Forschungsreise
Die Wetterfichte
Die Sprache der Bäume
Alle Feuer dieser Erde
Der Sesselkreis
Ein Traum
Vom Traum zum Versuch
Es brennt nicht
Der Specht im Baum
Von der Holzzelle zur Hochtechnologie
Holz und Gesundheit
Bäume und ihre Heilwirkung
Dank und Service
Wir alle bekommen sie von klein auf geschenkt. Sie sind einfach da, begleiten uns und leben mit uns. Bäume – im Park, im Garten, am Wegrand, wie gerne stellen Eltern den Kinderwagen unter einen Baum. Kinderaugen schauen in die Krone. Ob es die Blüten eines Kirschbaumes sind, das Blättermeer des Ahorns oder der Nadelzweig einer Tanne ist, der tief genug hängt: Die Babyhand aus dem Kinderwagen greift danach und ertastet ihn, den Baum, den Freund, den Begleiter für ein Leben lang.
Es ist ganz normal, dass wir im Alltag die guten Dinge und Wesen, die einfach da sind, die uns still und verlässlich dienen, meistens nicht mehr bewusst sehen. Sogar mit lieben Menschen passiert uns das manchmal. Mit unseren Bäumen ist es nicht anders.
Dennoch beschirmen sie uns, das Holz ihrer mächtigen Stämme wärmt uns und umgibt uns. Ihre Wurzeln wachsen tief in unser Herz hinein. Jeder, der es einmal erlebt hat, wie ein mächtiger Baum gefällt wird, hat dabei auch erlebt, wie sehr uns das bis in unser Innerstes bewegt. Das Fallen eines in Jahrhunderten gewachsenen Riesen ist uns Menschen niemals gleichgültig. Das Schwanken einer himmelhohen Baumsäule, die sich erst langsam neigt, um dann mit voller Wucht auf dem Boden aufzuschlagen, dringt tief in uns ein. Wir sahen ihn ja wachsen. Sie berühren uns – unsere Baumbrüder. Ja, und neuerdings werden sie noch wichtiger für uns Menschen. Die unendlichen Wälder der Erde, aus Bäumen gebildet, zeigen uns das Konzept der perfekten Kreislaufwirtschaft. Gleichzeitig verschwinden Ängste und Worte wie Mangel, Müll und Zukunftssorgen aus unserem Leben. Das Beispiel der Wälder gibt uns Mut. Früher war es uraltes Handwerkerwissen, das sorgfältig von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Unser Großvater lehrte mich noch, die Geheimnisse des Mondholzes zu nutzen, um dauerhaftes und gutes Konstruktionsholz für unsere Holzhäuser zu erhalten.
Heute beginnt mehr und mehr die Spitzenwissenschaft, die Angebote und den Zauber der Bäume zu erforschen. Erstaunliche Ergebnisse kommen zutage.
Das Mondholzgeheimnis wurde nach kontroversen Debatten an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich bestätigt. Grazer Wissenschaftler aus der Medizin rund um Prof. Maximilian Moser weisen plötzlich nach, dass hölzerne Räume unser Herz stärken, die Herzvariabilität verbessern, den Pulsschlag im Schlaf beruhigend senken, das Immunsystem stärken und letztlich unser Leben nicht nur verlängern, sondern bis ins hohe Alter gesund halten. Bruder Baum, Du schenkst uns so vieles. Wie können wir Menschen Dir dafür danken?
All diese wunderbaren Möglichkeiten bekommen wir von den Bäumen geschenkt. Sie verlangen nichts dafür. Das Einzige, was wir tun müssen, ist, unsere Zeit und unsere Aufmerksamkeit wieder mehr der Natur und ihren Möglichkeiten zuzuwenden.
Zu einem Baum gehen, dort einen Augenblick der Stille finden, ihn fühlen, ihn lieben und seine Geheimnisse erfahren – das ist der einfache, aber so wirkungsvolle Schritt, der die Weisheit und Kraft der Natur in unser Leben trägt: Das Prinzip sorgfältiger Ernte, die Raum für neu gesätes Leben schafft. Die Heilkräfte der Bäume, die unsere Gesundheit neu herstellen.
Das Holz selbst, dieser wunderbare Werkstoff, der als Tisch und Haus, als Geige und Tanzboden, als Werkzeug und Kunstgegenstand fröhlich und kraftvoll unser Dasein bereichert: Es ist viel mehr als nur ein genialer, durch die Evolution endlos optioniertes Material. Holz ist der große Überbringer aller Baumenergie und Weisheit.
Dieses Buch wird Sie dorthin begleiten. Die Geheimnisse der Bäume helfen uns, qualitätsvoller und intensiver zu leben und gleichzeitig diese Welt für unsere Kinder zu erhalten. Eine Welt, die wir als Organismus verstehen sollen. Als Körper, in dem alles zusammenhängt. Diese Mutter Erde beuten wir Menschen aus. Wir schinden sie zu sehr. Seit dem ersten „Club of Rome“-Bericht haben Wissenschaftler und Denker alle wichtigen Philosophien und Wirtschaftstheorien zur Lösung dieser Probleme auf den Tisch gelegt. Allein an erfolgreich gelebten Beispielen fehlt es uns.
Das in diesem Buch vorgestellte Konzept der Bäume ist ein Beispiel für die umgesetzte Kreislaufwirtschaft, für energieautarke Industrien, die keinen Müll mehr verursachen, für das Leben mit nachwachsenden Rohstoffen, für erneuerbare Energien, mehr Gesundheit und Fröhlichkeit. Das Modell unserer Wälder ist mehr als ein vereinfachendes Patentrezept. Es zeigt uns exemplarisch, wie wir alle Bereiche unseres Lebens durchdenken und neu gestalten können. Zu unserem besseren eigenen Leben und zum Vorteil für alle Wesen auf unserer Erde.
Viel Freude auf einer ungewöhnlichen Reise in die Natur und viele persönliche Anregungen wünscht Ihr
Erwin Thoma
Als Kind habe ich den Wald als Ort der Abenteuer, aber auch als Nahrungsquelle und Wärmespender kennen- und liebengelernt. Wärme und Köstlichkeiten in mehrfacher Hinsicht gab es dort für uns Menschen. Hinter dem Elternhaus in Bruck an der Glocknerstraße plätscherte der Wildbach. Erlen und Traubenkirschen befestigten seine Ufer. Dieses Bächlein lehrte uns sehr früh, dass in unserer Bergwelt die Idylle mitunter ganz schnell in die brutal entfesselten Vernichtungskräfte der Naturgewalten umschlagen kann. In Zeiten trockenen Wetters murmelten die Wässerchen aus dem Hundsbachgraben gemütlich über rund abgeschliffene Bachsteine. Durch spiralig ausgeschliffene Hohlwege im dunklen Grundgestein glitt das klare Wasser geschmeidig dem großen Fluss entgegen. Doch wehe, wenn im schwülen Hochsommer die Wolken plötzlich tiefschwarz vom Hundstein herzogen. „De Hundstoawetter sand de ärgsten!“, predigte unser alter Nachbar, der Lackner Robert, immer wieder. Tatsächlich ließen solche Unwetter das Bächlein oft in nur wenigen Minuten zum brodelnden, losgelassenen Strom anwachsen, der metergroße Steinblöcke inmitten der braunen Wassermassen durch das enge Bachbett schob, sie gegeneinander schleuderte, dass wir es aus der Wildbachgischt nur so krachen hörten. Schaudernd liefen wir auf dem Weg neben dem Bachbett und beobachteten die hemmungslose Kraft. Der Berg selbst, so schien es, mit all dem Geröll, den Steinen und Erdmassen wollte durch den engen Graben rasen. Sobald uns Erwachsene am Rand des tobenden Wildbaches erblickten, wurden wir verscheucht wie die Fliegen und heim gejagt. Viel zu gefährlich war es dort. Wer ausrutscht und in die steilen Fluten stürzt, ist rettungslos verloren.
Genauso unerwartet, wie sie kamen, waren die Wassermassen dann auch wieder verschwunden. Oft genug zeigte sich am nächsten Morgen keine Wolke am blauen Himmel. Harmlos gurgelte es wieder aus dem Hundsbach zum Elternhaus herauf. Diese Morgen waren die Tage der vollzogenen Veränderung. Nicht nur unsere kleinen Bauwerke, manche Staumauer oder das selbst gebastelte Wasserrad waren verschwunden. Nein, auch ganze Tümpel waren weg. Anderswo lagen Felsblöcke, die neu das Wasser stauten. Zwischen den beiden steilen Bachböschungen bildeten sie jetzt die künftigen Barrieren, die das ewig fließende Wasser zu überwinden hatte.
Sonderbar genug erscheinen mir heute noch die steilen Böschungen, die all die Jahre dem Wildbach Einhalt gebieten konnten. Da war meistens kein harter Fels zu finden. Vielmehr gab es dort weiche Erde, den einen und anderen Stein dazwischen. Eigentlich ein verwundbares Gefüge, viel zu weich für einen tobenden, Steinblöcke speienden Wildbach. Das Geheimnis für den dennoch wundersamen Halt der Bachböschungen wurde an vielen Stellen sichtbar. Ein Labyrinth von Baumwurzeln füllte sorgsam jeden Erdenraum aus. Steine wurden von ihnen schlangenförmig umrundet, Felsspalten innig Halt findend ausgefüllt. Im Weichen, in der tiefbraunen Erde, wuchsen sie Pfähle bildend metertief hinein. Nach allen Richtungen breiteten sich die Seitenarme mit immer feineren Verzweigungen kunstvoll aus. Im Erdreich der Bachböschungen gab es eine Wurzelwelt, die an Verzweigung und kunstvoller Formenvielfalt den Kronendachlandschaften der Uferbäume in nichts nachstand.
Woher wissen kleine Buben über Wurzeln Bescheid?
Nicht überall konnten wir zum Bach hinunterklettern. Es waren steile Pfade zwischen Stauden und Bäumen, an denen wir uns hinunterhangelten. Auf dem abschüssigen Boden wanden sich verknotete Wurzelstränge. An Großvaters Hände erinnerten ihre Bahnen. Diese Adern im Erdreich waren die Haltepunkte für unsere kletternden Hände und Füße. Meist unverrückbar verwachsen, manchmal auch von der Erde losgelöst und elastisch, bildeten die Wurzeln unsere Leitern über die Bachböschungen. Ganz unten dann, wo sich der Bach bis zum Felsgrund durchgefressen hatte, gab es eine Stelle, an der es dem Wasser gelang, eine Lücke am Stein entlang unter den Wurzelfilz in die Böschung hineinzugraben.
Diese Höhle führte uns in die verborgene Welt unter den Wurzelstöcken der Bäume. Sonst nur in den Wülsten erkennbar, die von den Baumanläufen ins Erdreich führten, konnten wir beim unterspülten Baum sein verborgenes Haltesystem plötzlich von unten betrachten. Es sei nur nebenbei erwähnt, uns Buben zog es weniger wegen des Studiums der Wurzelstöcke so oft in diese Höhle. Vielmehr war das eines der besten Verstecke im ganzen Dorf. Solange es einem dort nicht zu feucht, zu eng oder zu dunkel war, blieben wir vollkommen unauffindbar, vom Boden wahrhaft verschluckt. Erst nach einiger Zeit in der Höhle gewöhnte sich das Auge an das spärliche Licht. Das Gewirr der Holzwindungen über dem Kopf wurde nun nach und nach sichtbar. Im scheinbaren Durcheinander tauchte unerwartet die Ordnung der Wurzeln verschiedener Grade von den starken Haltewurzeln bis hin zur zwirnsfadenfeinen, Nährstoff gewinnenden Haarwurzel auf. Alles, was wir oben beim Kraxeln in den Kronen erlebt hatten, der verzweigte Weg vom großen Stamm in das immer Kleinere, spiegelte sich im dunklen Erdreich wider. Der wilde Hundsbach, hineingefressen und eng begrenzt durch die dicht bewachsenen Böschungen, war ein Paradies für uns, die Abenteuer suchende Kinderbande.
An schönen Sommertagen tauchten meine Brüder und ich, die Thoma-Buben, also in den Schutz der Blätterwälder ein. In den grünen Kronen über uns verschwanden die Singvögel, duckten sich in der Hitze des Bergsommers. Darunter standen wir mit den kurzen Lederhosen im Wasser und untersuchten Tümpel für Tümpel. Wir wussten, unter welchen Steinen die Forellen stehen konnten. Sie stiegen auf, von der Salzach kommend, in unseren Hundsbach hinauf. Sobald wir eine rot getupfte Bachforelle im Tümpel aufspürten, sperrte einer von uns den Bachlauf nach oben ab, die Hände des Zweiten bildeten mit gespreizten Fingern den Rechen nach unten. Und der Dritte jagte den Fisch im Tümpel, bis er in einer Felsnische unter Wasser Zuflucht suchte. Dort konnten dann die Bubenhände geschickt hinter den Kiemen den glitschigen Leib fassen. Natürlich war das ein verbotenes Treiben. „Schwarzfischen“ hieß es, aber wohl keine Bubengeneration vor uns im Dorf, die das nicht ausprobiert hätte. Und die verlässlichsten Verbündeten, die uns deckten und verhüllten, waren die Bäume, die erwähnten Erlen und Traubenkirschen. Dazwischen wuchsen immer wieder knorrige Holunderstämme. Wir kannten sie alle. Nicht einer, an dem wir noch nicht hochgeklettert waren.
Früh habe ich gelernt, auf morsche Äste zu achten. Nicht nur einmal bin ich samt dem abgebrochenen Ast einige Meter heruntergefallen. Abgeschürfte Arme und Beine merkt man sich besser als jede gut gemeinte Erklärung der Mutter. Als Drittgeborener musste ich mich ohnehin besonders anstrengen, galt es doch immer, mit den beiden größeren Brüdern mitzuhalten.
Unsere solcherart erworbene Fähigkeit, auf beinahe jeden Baum zu steigen, wurde auch von den Erwachsenen genutzt.
Viel mehr als heute waren die Bäume der Landschaft damals Nahrungs- und Heilquellen. „Wenn Du beim Hollerbaum vorbeigehst, dann musst Du jedes Mal den Hut ziehen, so heilsam und wertvoll ist dieser Baum.“ Das hörte ich oft von meiner Mutter.
Im Juni pflückten wir die weißen, doldenförmigen Holunderblüten. Ein Teil wurde getrocknet und im Winter als fiebersenkender Schwitztee verabreicht. Der größere Teil kam in Fünflitergläser mit Zitronenscheiben und Wasser. Dort gärte dann im Sonnenlicht herrlich erfrischender „Hollerpunsch“. Gekaufte Limonade kannten wir damals ja nicht. Das Angebot und der Geschmack unseres Essens und Trinkens ergaben sich aus dem, was gerade draußen wuchs und reifte. Niemals durften wir von einem Hollerbaum alle Blüten abreißen. So blieb ein Teil bis zum Sommer. Tiefblaue Beeren reiften nun heran. Diese wurden jetzt im Wettlauf mit Amseln und Staren von uns gepflückt. „Hollerbeerensirup gegen Husten ist viel besser und hilft schneller als das ganze Zeug vom Doktor!“ Da war sich Mutter sehr sicher. Und das Hollerkoch, ein Brei mit Hollerbeeren, gehörte zum Standardessen im Spätsommer. Damit war die Nahrungsgewinnung an den Holunderbäumen aber noch lange nicht abgeschlossen.
Der Holunder ist ein kurzlebiger Baum. Mit 20 Jahren beginnen oft schon erste Äste einzutrocknen, und je nach Boden und Standort sind Holunderbäume mit einigen Jahrzehnten auf dem Buckel bereits am Ende ihrer Lebenszeit. In den letzten Jahren lässt dann die Blühkraft nach, die Beeren an den Zweigen werden immer weniger und kleiner. Unsere Mutter aber ließ sich davon nicht beirren. „Diese alten Bäume bieten etwas ganz Besonderes!“ Sie lehrte uns, den Anlauf des Baumstammes abzusuchen. Dort wuchsen ab dem fortgeschrittenen Alter braune Stockschwämme. „Die Menschen kennen nur Herrenpilze und Eierschwammerl. Dabei sind die Stockschwämme vom Holler in einer Suppe der feinste und beste Pilz, den man sich nur vorstellen kann.“
Im Herbst suchten wir daher die Hollerstämme ab und trugen Körbe gefüllt mit Stockschwämmen heim. Diese wurden auf dem Dachboden getrocknet. So konnten wir den ganzen Winter über Gemüse- und Kartoffelsuppen verfeinert mit herrlich knusprigen Stockschwämmen genießen.
Ja, und nicht nur die Mutter in ihrer Fürsorge für unsere gute Ernährung wurde beim Holler fündig. Auch wir Buben konnten aus diesem Baum ein weiteres, allerdings verbotenes Gerät gewinnen.
Die Äste des Hollers sind hohl oder mit einem weichen Mark gefüllt, das sich mühelos herauskratzen lässt. Da war es für uns ein Leichtes, aus derart ausgehöhlten Hollerästen eine große Pfeife zusammenzubauen. Damit wurden dann alle möglichen getrockneten Blätter und Gräser geraucht. Natürlich schmeckte der beißende Rauch keinem von uns. Aber mit der Bubenschar in einem Versteck zu sitzen und verbotenerweise an einer Pfeife zu ziehen, dem konnten wir freilich nicht widerstehen.
Wie gut war es doch, dass sie nur knarrten, im Wind manchmal stöhnend ächzten und auch das ewige Rauschen der Kronen nur wenig von dem verraten konnte, was sie sahen. Auf sie konnten wir uns immer verlassen. Sie sahen alles und plauderten nichts aus, die großen Bäume, in deren Wurzelanläufen wir unsere Lager aufschlugen.
Einige Jahre später, als sich an unseren lang gewachsenen Gliedmaßen die Muskeln bildeten und mehr Kraft in den schlaksigen Bubenkörpern wuchs, wurden wir zur Waldarbeit eingeteilt. Selbstverständlich noch nicht zur gefährlichen Ernte der ganz großen Stämme. Zuerst galt es für uns, sich um das Brennholz zu kümmern.
Was für eine Möglichkeit, in das Innere der großen Waldwesen zu blicken, tat sich da auf! Bis dahin war ja jeder Baumstamm eine dieser undurchdringbaren Säulen, die trutzig aus dem Boden ragen. Natürlich hatten wir längst untersucht, wie verschieden diese Formen mit ihren umhüllten Rindenmänteln sein konnten. Der alte Apfelbaum vor dem Haus war wohl der von uns meistbestiegene. Auf jeden größeren Ast sind wir geklettert, bis er sich unter unserer Last bedrohlich bog. Wer da noch weiter steigt, der spürt es übel am eigenen Leib. Vom brechenden Ast stürzend auf der Wiese liegen zu bleiben und durch den Aufprall keine Luft zu bekommen, das ist noch das Geringste, was geschehen kann. Das Wort Gehirnerschütterung lernten wir bei so einer Gelegenheit ebenfalls kennen.
Wir haben die Rinde kennengelernt. Die Schuppen der alten Bäume, die beim Wegbrechen helle Flecken hinterlassen. Die tiefen Rillen an der großen Eiche, sie konnten sogar als Kletterhilfe verwendet werden. All die Moose, verborgen in einer Astgabel, beginnen sie mit ihrer Besiedelung, bis sie manch schattig gelegenen Astarm grün gepolstert haben. Wie schön zum Anschauen, weich und fein präsentierten sich diese grünen Felle für uns Kletterer. Wer am moosigen Stamm Halt sucht, gleitet ganz leicht aus. Es gibt keine feste Verbindung zum harten Holz. Vielmehr ist das Moos daran interessiert, sich eine dünne Humusschicht auf dem Holz heranzuziehen. Das ist die Gleitschicht, die wir fürchteten. Und die Flechten, im Trockenen rau und spröde, sobald sie feucht werden, sind sie das glitschigste Auflager, das man sich denken kann. Alles Leben, das auf dem Lebewesen Baum stattfindet, war uns recht geläufig. Nur in das Innere des Baumes schauen konnten wir bis dahin nicht. Immerhin, jedes Stück musste jetzt beim Herrichten des Brennholzes auf die kurze Ofenlänge abgesägt werden. So konnte ich plötzlich alle 25 oder 30 Zentimeter auf die Stirnfläche der Jahresringe eines Stammes blicken. Auf die Jahresringe eines Baumes sehen: Was gibt es da zu sehen? Bäume schreiben treu ihr Tagebuch. Wer auf die Jahresringe schaut, der öffnet diese Seiten.
Ring um Ring wächst dem Stamm jedes Jahr eine neue Holzschicht dazu. Im Frühling, sobald die Säfte nach ihrer Winterstarre rasch zu fließen beginnen, trägt dieser Strom alle Nährstoffe erneut durch die winzigen Kapillarröhrchen hoch hinauf bis zum letzten Zweiglein in der obersten Krone. Augenblicklich beginnt das Wachstum ungestüm. Zelle um Zelle entsteht so, bis in den Sommer hinein, eine ganze neue Holzschicht, die ein, zwei oder mehrere Millimeter dick die Baumgestalt jedes Jahr, heimlich und von uns Menschen unbemerkt, unter der Rinde einhüllt. Kein Wunder, dass die Rinde immer wieder aufbricht, reißt, borkig und schuppig dem innen anschwellenden Holzleib nachgeben muss. Nicht ganz so ungestüm, wie das Zellwachstum im Frühjahr beginnt, kündigt sich sein Ausklingen bereits in den heißen Augusttagen an. Ende dieses Monats stellt der Baum seinen Saftstrom ein. Der Nachschub an Nährstoffen für die Zellproduktion im Kambium, der untersten Rindenschicht, versiegt mehr und mehr.
Was macht der Handwerker, der gerade seinen schönen, großen Schrank getischlert hat, mit den letzten, übrig gebliebenen Materialresten? Er fertigt daraus noch ein kleines Möbelstück, ein Schränkchen vielleicht oder ein Eckregal.
Das Gleiche tut der Baum im Herbst. Mit weniger Nährstoffen baut er jetzt eben kleinere bis kleinste Zellen, die nun im Vergleich zu den großen Frühholzzellen entstehen. Dieses Spätholz, die letzten Zellen jeden Jahres, sind dichter, dunkler und zeichnen so den markanten Abschluss eines jeden Jahresringes auf die abgeschnittene Stammscheibe.
Ring um Ring vom Kern, dem ehemaligen Wipfeltrieb weg bis an den Rand wird ein Bild, der ganz persönliche Lebensbericht eines jeden Baumes, gezeichnet.
Werden die Ringe plötzlich eng, so berichten sie von Trockenjahren und Schwierigkeiten, die der Baum beim Wachsen hatte. Sind einseitig die Ringe viel dunkler, erkennen wir, dass der Baum an dieser Seite viel mehr Druck, meist vom Wind aus der Hauptwindrichtung, aushalten musste. Zu seiner Abstützung konstruierte er hier dickwandigere, stärkere Zellen. Der Wind spielt für die Statik der Stämme eine wichtige Rolle, ist er doch eine der größten Bedrohungen für die unbeweglich im Boden verwurzelten Lebewesen unserer Wälder. Ein Stamm, dessen Kern genau in der Mitte liegt und die Jahresringe sich gleichmäßig mild um ihn herumlegen, hatte nie viel Winddruck gespürt. Der Betrachter erkennt so einen Baum, der in einer windgeschützten Mulde gelebt hat. Der windzerzauste Baum am Bergesrücken hingegen bekommt einen ovalen Stamm, dessen Kern an eine Seite gedrückt ist. Er muss ja an der Druckseite wirkungsvolle Abstützungen bauen.
Der nächste Maler des Jahrringbildes ist das Licht. Im Schatten wachsen Bäume ganz langsam. Gerade bei Tannenbäumen, die im Schatten aufwachsen, kann man daher oft genug Stämme sehen, die in der Mitte fünf bis zehn Zentimeter im Kreis ganz feine, mit dem freien Auge kaum zählbare Ringe bilden. Es gibt Tannen, die auf diese Weise 30, 50 oder noch mehr Jahre im Schatten ihrer Vorfahren ausharren und kaum wachsen. Plötzlich kommt der Tag, da die Alten wegbrechen oder geerntet werden. Volles Licht trifft nun den Ausharrenden. Auf einen Schlag sind die Jahresringe jetzt mehrere Millimeter breit. Das neue Leben zeichnet sich so unverwechselbar in die Baumscheibe ein.
Jahresringe spiegeln Wuchsbedingungen eines jeden Jahres, Trocken- und Feuchteperioden sowie Klimaänderungen so präzise wider, dass Wissenschaftler heute von jedem Stück Holz anhand der Jahresringe, der Abstände zueinander, sagen können, in welchem Jahrhundert, bei welcher Wetterabfolge der Baum gewachsen ist, von dem dieses Holz stammt. Es gibt also typische Jahresringbilder für mehrere tausend Jahre zurück. Mit modernen Mikroskopen und Computersoftware kann jedes Holzstück der richtigen Epoche genau zugeordnet werden. Dendrochronologie wird diese Wissenschaft genannt. Es ist die Entschlüsselung der Tagebücher unserer Bäume. Dieses Wissen dient aber nicht nur der Erforschung unserer Bäume. Oft genug können ganze archäologische Funde erst durch die dendrochronologische Altersbestimmung beiliegender Holzstücke der richtigen Zeit zugeordnet werden.
Damals, als junger Bursch beim Brennholzhacken, staunte ich zuerst einmal, wie verschieden nicht nur die Bilder der Jahresringe sein konnten. Auch der Widerstand, den einzelne Stämme meiner Arbeit entgegensetzten, war grundverschieden.
Denn jedes größere Stück wurde gespalten. Mit der Axt, mit Schwung, mit Übung sollte die Schneide dort in die Faser eindringen, wo sie zum Mark, zum Herz des Holzstückes, zielte. Wenn dieses richtungsgenau getroffen wurde, spritzten die gespaltenen Stücke meist mit einem Schlag auseinander. Aber wehe, wenn die Schneide daneben längs zu den Jahresringen ins Holz fuhr oder sich gar an einem verwachsenen Ast festklemmte! Das Werkzeug herauszuziehen, ging nicht mehr, also musste man mit Gewalt durch. Viele Schläge mit dem Holzstück, festgebissen an der ohnedies metallschweren Axt, wurden jetzt erforderlich, schweißtreibend und, noch schlimmer, manchmal vom Spott der großen Brüder begleitet. Tausende und Abertausende Stücke wurden gespalten. Sicherer und sicherer hieb die Spalthacke auf die Faser nieder. Das Gefühl für die gewachsene Faser jeden Stammes wurde immer untrüglicher. Die Drehwüchsigen, die Krummwüchsigen, die ganz Schlichten und Geraden, die Gewimmerten und Verknorpelten, alle Charaktere, die aus Erde und Humus herauswachsen, zeigen sich plötzlich unverhüllt. Weg ist die Rinde, der Schutz nach außen. Das Innere gibt sich unmittelbar preis. Die Farbe, der Geruch, den Holz zu bieten hat, strömt auf den schwitzenden Menschen ein.
Die ganze Schwere, das Gewicht der Bäume erlebten wir am eigenen Leib. Die Erlen, die Birken oder eine dürr gewordene Fichte – am Bergwaldhang schnitten wir in ihre Stämme, legten die Keile an und brachten sie zu Boden. Damit hat die eigentliche Arbeit erst begonnen. Nach dem Entasten wurden die Stämme mit einfachem Handwerkzeug, dem Zappel, zum nächsten Waldweg hinuntergezogen und in Bahnen aus Hölzern polternd auf die Rutschbahn geschickt. Dann galt es, die Stämme zum ersten Mal auf Meterlängen abzuschneiden, zu spalten und am Wegrand zum Trocknen aufzustapeln.
Im Winter ging es dann wieder hinauf in den Bergwald. Eingespannt im Hanfgeschirr, zogen wir Schritt für Schritt den Schlitten nach oben. Für eine Stunde oder gar zwei Stunden wurden wir zum Zugtier vor dem Brennholzschlitten, bis erlösend das aufgestapelte Brennholz mit der dicken Schneehaube auftauchte. Es wurde verladen, mit Ketten festgezurrt, und mit „Ho ruck!“ setzte sich die Fuhre in Bewegung.
Der hölzerne Schlitten ächzte und knarrte bei jeder Unebenheit des schneebedeckten Weges. Im Rücken die Scheiter, die schwere Last gewinnt an Fahrt. Das Gewicht lässt den Schlitten stöhnen. Die erste Kurve taucht auf. Beide Hände liegen an den Tatzen. Das sind hölzerne Hebel, an den Kufen angeschraubt mit geschmiedeten Bremsklauen am Ende. Tatzen hochziehen heißt, die Klauen knirschend in den eisigen Grund hineinzubeißen. Die Finger umklammern fest diese Stiele. Nur nicht auslassen. Ich wäre verloren, wenn die Tatze entgleitet. An einem Schlittenbock unlenkbar ins Tal zu donnern, mit einer Viertel oder halben Tonne rasendem Gewicht im Rücken, nicht auszudenken. Wie verletzbar, weich und wehrlos ist der Menschenkörper gegen die schweren, kantigen, harten Meterscheiter.
In unserer Beziehung zu den Bäumen war alles geklärt. Sie waren fest verwurzelter Bestandteil unseres Lebens.
In der Försterei konnte ich es mir einrichten, dass ich die meisten Tage in meinen Tälern und Bergwäldern draußen verbrachte.
Sie hatten schon Motorsägen, aber einen Helm oder sonstige Schutzbekleidung gab es noch nicht. Auch der Leistungsdruck begann erst allmählich Einzug zu halten. Nach jedem gefällten Baum hielten die Holzknechte inne, nahmen die Axt und hieben in die Schnittfläche des zurückbleibenden Stockes drei Kreuze hinein. Dankbarkeit, dass immer alles gut geht, gehörte in dieser Lebenswelt zu den Männern wie auch eine heute selten anzutreffende Schweigsamkeit.
Das Heimgehen wollten sie so lange wie möglich hinauszögern. Hier in der Holzknechthütte rochen sie eine andere Welt als im behüteten Kinderzimmer daheim im Forsthaus.
Mein Forsthaus hingegen war aus dicken, vollen Stämmen gezimmert. Aus heutiger Sicht hatte es einen schlechten Dämmwert (U-Wert), schlechter als die Holzknechthütten mit dem leichten Dämmstoff, aber es war eben ein Holzmassivbau.
Über diesen Unterschied wurde nicht viel nachgedacht. „Wir müssen halt jedes Loch aufreißen und die ganze Nacht über offen lassen, sonst könnten wir in diesem Backofen nicht schlafen!“, meinten die Holzknechte dazu. Unbewusst erlebte ich so meine ersten Bauphysiklektionen, die später für mich überaus wichtig waren.
Da waren die Geigenbauer aus Mittenwald. Zwei junge Männer klopften eines Tages an mein Forsthaus. Im Karwendel, in den hoch gelegenen Tälern, müssten einzelne dieser sagenumwobenen Geigenstämme wachsen. Oft eignet sich nur ein einziger Baum unter einer Million Artgenossen. Haselfichten werden diese seltenen Exemplare genannt, weil ihre Faser nicht gerade wie bei normalen Fichten verläuft, sondern gewellt ist. Man sagt dazu auch gehaselt, geriegelt oder gewimmert. Auch Boden und Klima des Standortes, an dem diese Bäume wachsen, müssen noch ganz besondere Voraussetzungen bieten. So ein Traumstamm muss unter anderem an einem völlig windgeschützten Ort aufwachsen. Jede Unregelmäßigkeit, jedes Druckholz im Inneren zerstört die begehrten Klangeigenschaften.
Bis dahin habe ich das Holz meines Waldes vorschriftsmäßig an ein Großsägewerk geliefert. Dort wurden die Stämme zwar mit beeindruckenden Hochleistungsgeschwindigkeiten von den modernen Maschinen hineingefressen. Für die beste Wertschöpfung, das Ernten, Beobachten und Auswählen der besten Möglichkeit, die jeder Baum uns Menschen bietet, war in der Großindustrie aber keine Zeit mehr.
Die beiden erzählten mir vom Mythos, dass angeblich sogar Stradivari für seine Geigen Holz im Karwendel gefunden hätte. Eine Geige von Stradivari gehört heute zu den größten Kunstschätzen der Welt. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, in der Massenverarbeitung so manchen Traumstamm achtlos untergehen zu lassen.
Zwei Jahre später besuchte er mich. „Aus dem Stamm konnte ich Rohlinge für eine ganze Reihe von Geigen herausspalten. Normalerweise werden die jetzt viele Jahre gelagert, bevor sie verarbeitet werden. Aber eine einzige Geige wollte ich jetzt schon daraus bauen. Hier ist sie!“
Bäume können so vielfältig zu uns Menschen sprechen. Die Geige gibt ihnen eine besonders innige und schöne Stimme.