Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2016
Das Porträt erschien zuerst im Band «Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde» unter der Überschrift «Das Mädchen aus der Fremde: HANNAH ARENDT und das Leben auf lauter Zwischenstationen», Copyright © 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann
Umschlagabbildung Hannah Arendt Bluecher Literary Trust, New York
Konvertierung Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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ISBN E-Book 978-3-644-05461-5
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-05461-5
Joachim Fest
oder Das Mädchen aus der Fremde
Der amerikanische Historiker Gordon A. Craig erzählte gern von einer Reise mit der Bundesbahn, auf der die Fahrgäste über den Lautsprecher mit den Worten begrüßt wurden: «Ich heiße Sie herzlich willkommen an Bord des ICE 573 ‹Hannah Arendt›. Wer immer Hannah Arendt war!, wünsche ich Ihnen auf der Fahrt von Stuttgart nach Hamburg eine gute Reise.» Kurz darauf meldete sich die Stimme noch einmal: «Ich habe einen Nachtrag vorzunehmen: Hannah Arendt war, wie ich soeben erfahre, eine erfolgreiche, jüdische Schriftstellerin.» Etwas später gab der Zugschaffner eine weitere Verbesserung durch, die Hannah Arendt als «Politikwissenschaftlerin» ausgab, und schließlich, noch einmal eine Viertelstunde danach, kam eine letzte Auskunft: «Ich höre soeben, wie es sich, der Behauptung eines Fahrgasts zufolge, tatsächlich verhält: Hannah Arendt war eine Philosophin, die 1933 emigriert ist. Ich bitte alle Mitreisenden, von weiteren Berichtigungen abzusehen.»
Die Pointe der kleinen Episode ist, daß die im einzelnen eher schiefen Bezeichnungen aufs Ganze ein ziemlich zutreffendes Bild ergeben. Hannah Arendt war Schriftstellerin, Politikwissenschaftlerin und Philosophin. Trotz aller Entschiedenheit im Auftreten und Meinen ging etwas schwer Bestimmbares von ihr aus. Es äußerte sich in der Breite und Vielfalt ihrer Vorlieben sowie der Erregbarkeit ihrer Interessen. Sie besaß eine leidenschaftliche Wachheit, die sich bis zum Eindruck ständig gefährdeter, unschwer erschütterbarer emotionaler Balance steigerte. Ihre enge Freundin, die Schriftstellerin Mary McCarthy, hat von Hannah Arendts großer Verletzlichkeit gesprochen, ihrem Getriebensein, dem sie den Anschein zu geben versuchte, sie sei zu ständig neuen Aufbrüchen unterwegs. Gleichwohl ist sie jeweils die ganze Wegstrecke zu Ende gegangen, die ein Gedanke verlangte, und oftmals in provokantem Mutwillen über das Ziel hinaus. «Denken muß man mit Haut und Haaren», äußerte sie in einem unserer frühen Gespräche. «Oder man läßt es bleiben.»
Mit der Mischung aus Scharfsinn, Übermut und empfindungsstarker Verwegenheit hat sie nach vielen Seiten Anstoß erregt und sich nicht nur Gegner, sondern häufig auch Feinde gemacht. Der oftmals gebieterische Ton, in dem sie ihre Überlegungen vortrug, tat ein übriges, bei zunehmend öffentlichem Ruf einen leeren Raum um sie herum zu schaffen. Doch hat sie die Isolierung, in die sie schon früh geriet, als Preis der Freiheit bereitwillig in Kauf genommen. Zu keiner Zeit jedenfalls hat sie sich jener widersinnigen Larmoyanz anheimgegeben, die so viele im öffentlichen Provokationsgeschäft Tätigen offenbaren, wenn die Provozierten sich tatsächlich getroffen zeigen und zur Wehr setzen. Man dürfe, hat sie bei einem Zusammensein bemerkt, niemals aufgrund von Unwahrhaftigkeit in die Vereinsamung geraten; aus Furchtlosigkeit sei es unvermeidlich.
Nach ihrer auffälligsten Eigenschaft befragt, hat ihr Verleger William Jovanovich gesagt, mehr als alles andere bewundere er Hannah Arendts Tapferkeit, und als ihr die Äußerung hinterbracht wurde, hat sie mit der burschikosen Ironie, die sie einmal «mein schönstes deutsches oder eigentlich berlinisches Erbteil» nannte, gesagt: «Ich raufe nun mal gern!» Doch der eigentliche Grund für die Gegnerschaften, die sie wieder und wieder auf sich gezogen hat, kam aus der Unbedingtheit ihres Denkens. Erst in der äußersten Zuspitzung werde der Gedanke er selber, behauptete sie einmal, sonst bleibe er ein bloßes Dafürhalten. Kürzer und zugleich schlagender drückte es Dolf Sternberger aus, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband: «Sie war zu kühn, um weise zu sein.»
Im «kleinen Eckladen des Denkens», den sie «querab von der Zeit» betrieb, wie sie mit Vorliebe sagte, war sie glücklich über jeden Beistand, der ihr zuteil wurde, doch mußte er aus der Freiheit des Urteilens kommen: «Wo von geistigen Lagern die Rede ist, herrscht meistens der Ungeist», versicherte sie. Sie sei weder links noch rechts, weder liberal noch prinzipienstreng und glaube nicht einmal an irgendeinen Fortschritt – sei es in der Moral, sei es im Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Selbst als Außenseiter habe sie niemals gelten wollen, sondern immer nur vertreten, was ihr das Richtige schien. Aus diesem Grund habe sie keine Theorie entwickelt und werde, zum Kummer vieler Freunde, auch keine hinterlassen. Theorien seien, ergänzte sie ein andermal, «pompöse Masken für dürre Köpfe, die auf dem intellektuellen Karneval herumspringen. Ich gehe da nicht hin. Die Aufgabe, die mich in Anspruch nimmt, lautet ganz einfach: die Welt und die Menschen zu verstehen.» Es gebe da keine Verbotsschilder. Nach allem, was das Jahrhundert der Welt angetan hat, verlange gerade das Böse die ganze Erkenntniskraft. Wer da mit dem Kopf kapituliert, sei auch im Wirklichen nicht weit davon weg.
Wer ihr Leben überblickt, stößt denn auch immer wieder auf abgebrochene, oft in Verstimmung endende Zugehörigkeiten, weil sie nicht bereit war, den Gedanken irgendeiner taktischen Überlegung anzupassen oder gar zu unterwerfen. Nicht wenige hielten sie aus diesem Grund für unberechenbar, und ein gemeinsamer Freund äußerte bei Gelegenheit, sie sei für eine Philosophin allzu launisch. Als Hannah Arendt davon hörte, ließ sie ihm eine Notiz zukommen, wonach der Gedanke, der sich selber treu bleibe, in einer Zeit der alles beherrschenden Opportunismen in der Tat wie eine Laune wirken müsse; sie lasse sich davon aber nicht irremachen.
Doch war das nicht die ganze Antwort, und zu der ungemeinen Anziehung, die Hannah Arendt auf so viele übte, gehörte nicht zuletzt, daß der offene Rest des Rätsels, das sie darstellte, jederzeit spürbar blieb. Ich selber notierte nach unserem ersten, annähernd drei Tage währenden Zusammentreffen im Herbst 1964, daß sie bei aller «selbstentäußernden Verve», wie ich das nannte, einen «seltsam ortlosen Eindruck» mache. Womöglich ging diese Überlegung nicht zuletzt darauf zurück, daß sie im Verlauf unseres ausgedehnten Gesprächs über Heimat, Emigrationsverlust und neu erworbene Heimat sagte, sie sei sich durchaus bewußt, wie tief und unverbesserlich deutsch sie sei: «In meiner Art zu denken und zu urteilen komme ich noch immer aus Königsberg. Manchmal verheimliche ich mir das. Aber es ist so. Amerikanerin bin ich sozusagen nur und zugleich von ganzem politischem Herzen.» Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: «Genaugenommen war und bin ich, wohin ich auch kam, immer das Mädchen aus der Fremde gewesen, von dem ein Gedicht Schillers spricht – in Deutschland nur ein bißchen weniger fremd als in Amerika. Und hier wie da, am wenigsten noch im geliebten Italien, hat mich die Angst begleitet, ich könnte zuletzt mir selber verlorengehen.»