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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Der deutsche Text erschien zuerst unter dem Titel «Blumen im Regen» Copyright © 1992 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Flowers in the Rain» Copyright © 1991 by Rosamunde Pilcher

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Kathrin Blum

Umschlaggestaltung AMMA Kommunikationsdesign, Stuttgart

Umschlagabbildung Masterfile Royalty Free

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-8052-0537-6 (5. Auflage 1994)

ISBN E-Book 978-3-644-56631-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-56631-6

Der Brombeertag

Der Nachtzug verließ Euston Station und strebte nach Norden. Claudia, die schon in Nachthemd und Morgenmantel war, schob das Rollo hoch, setzte sich auf die Kante der schmalen Schlafkoje und betrachtete die vorbeigleitende Stadt, Lichter und trübe Straßen und Wohnhochhäuser wichen zurück in die Vergangenheit. Es war ein bedeckter Abend, Millionen Straßenlaternen färbten die Wolken bronzefarben, und während sie so schaute, teilten sich die Wolken ganz kurz, und da kam der Mond angesegelt, ein Vollmond, rund und leuchtend wie ein polierter Silberteller.

Sie knipste das Licht aus, kletterte in ihre Koje mit den frischen, festgestopften Baumwolllaken nach Krankenhausart, lag da, sah den Mond an und ließ sich von dem sanften, zunehmend schnelleren Tempo des Zuges einwiegen. Unweigerlich fielen ihr andere Reisen vor langer, langer Zeit ein, und sie dachte zum ersten Mal an morgen, und zum ersten Mal verspürte sie so etwas wie Aufregung. Endlich hatte sie sich zu etwas aufgerafft, und es war kein fauler Kompromiss. Nicht das Nächstbeste.

Es war Balsam auf ihre Seele, für ihr angeschlagenes Selbstwertgefühl und half, wenigstens die bange Ungewissheit zu verdrängen. Die war zwar immer noch da und würde auch bleiben, würde dicht unter der Oberfläche des Unbewussten lauern, doch hier und heute erlaubte sie sich den Luxus, zu glauben, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand.

Sie war unendlich müde. Der Mond schien ihr ins Gesicht. Sie drehte sich auf die andere Seite, weg von seinem beunruhigenden Schein, barg das Gesicht im Kissen und schlief erstaunlicherweise ein.

***

In Inverness stieg sie aus dem Zug, und schon war das Klima so anders, dass der Nachtzug sie nicht nur nach Norden, sondern ins Ausland gebracht haben könnte. Es war ein Samstag im September, und sie hatte London an einem Abend, so warm wie Juni, verlassen, die Luft hatte gestanden und war muffig gewesen, der Himmel bedeckt. Jetzt kam sie in eine Welt, die im Frühlicht glitzerte, und über ihr wölbte sich ein hoher und wolkenloser Himmel von einem hellen und klaren Blau. Viel kälter war es auch. Frost lag in der Luft, und die Blätter an den Bäumen färbten sich bereits herbstlich golden.

Hier musste sie ein, zwei Stunden auf den Bummelzug warten, der sie an diesem Morgen weiter nach Norden bringen würde. Sie schlug die Zeit damit tot, dass sie ins nächste Hotel ging, frühstückte und dann zum Bahnhof zurückschlenderte. Inzwischen hatte der Zeitungsstand aufgemacht, und so kaufte sie sich eine Illustrierte und ging auf den Bahnsteig, wo ein kleinerer Zug bereits wartete und sich allmählich mit Passagieren füllte. Sie suchte sich einen Platz, verstaute ihr Gepäck, und schon bekam sie Gesellschaft, denn eine nett aussehende Frau nahm ihr gegenüber am Tisch Platz. Sie trug einen Tweedmantel mit einer Cairngorm-Brosche am Aufschlag und einen weichen grünen Filzhut. Zu ihrer Reisetasche mit Reißverschluss gesellten sich eine Reihe Einkaufstüten aus Plastik, von denen eine ein deftiges Frühstück zu enthalten schien.

Ihre Augen trafen sich über den Tisch hinweg. Claudia lächelte höflich. Die Frau sagte: «Oje, was für ein kalter Morgen! Ich musste auf den Bus warten. Hab mir fast die Füße abgefroren.»

«Ja, aber auch schön.»

«O ja, so richtig schön. Immer noch besser als Regen, sag ich immer.» Eine Pfeife schrillte, Türen schlugen zu. «Es geht los. Auf die Minute. Wollen Sie weit?»

Claudia, die schon zu ihrer Illustrierten gegriffen hatte, ergab sich in ihr Schicksal, legte sie wieder weg und unterhielt sich.

«Lossdale.»

«Da will ich auch hin. Ich bin ein, zwei Tage bei meiner Schwester gewesen. Zum Einkaufen. Sie haben da einen schönen Marks & Spencers. Hab meinem Mann ein Hemd gekauft. Wollen Sie in Lossdale bleiben?»

Das war keine Neugier, sondern schlicht menschliche Anteilnahme. Claudia sagte: «Ja, nur eine Woche.» Und weil sie sicherlich weiterfragen würde, ergänzte sie aus freien Stücken: «In Inverloss, bei meiner Cousine Jennifer Drysdale.»