In Isfahan verliebt sich der Hofastronom Omar Chayyam in die Tochter eines Mannes, dessen rätselhaften Tod er aufklären sollte. Er kommt zu dem Schluss, dass ihr Vater vergiftet wurde. Aber durch wen? Chayyams akribische Recherchen erzeugen eine Atmosphäre obsessiver Verdächtigungen, erweisen sich als menschlich zerstörerisch, sind aber erfolgreich. Würde er seiner Liebsten sagen, wer ihrem Vater das Gift verabreicht hat, wäre ihre gerade aufkeimende Liebe am Ende. Wie also weiterleben?

Kurz darauf verdüstert sich der Horizont. Hofintrigen und soziale Spannungen bedrohen das Seldschukenreich von innen, während ihm Kreuzritter und Mongolen von außen gefährlich werden. Der Sultan lehnt die Gründung eines Nachrichtendienstes zur Gefahrenbekämpfung ab. Ein verhängnisvoller Fehler.

Als Omar Chayyam Jahrzehnte später Rechenschaft über sein Leben ablegt, ist das Reich zerfallen. Eine Terrororganisation, angeführt von einem früheren Weggefährten, versetzt die Gegend in Angst.

Mit epischer Kraft, den Scharfsinn und die Ohnmacht seiner Protagonisten im Blick, schildert der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan, wie der heraufziehende religiöse Fundamentalismus eine blühende, von geistiger Vielfalt und Toleranz geprägte Epoche zerstört.

Dževad Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, Erzähler, Dramatiker und Essayist, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Bosniens und wurde mit zahlreichen europäischen Preisen ausgezeichnet. Zu seinen wichtigsten Werken zählen die Romane Schahrijârs Ring (1997), Sara und Serafina (2000; st 4521) und Der nächtliche Rat (2006). Karahasan lebt in Graz und Sarajevo.

Katharina Wolf-Grießhaber, geboren 1955 in Stuttgart, promovierte über Danilo Kiš und lebt als freie Übersetzerin in Münster. Sie übersetzte u. a. Bogdan Bogdanović, Bora Ćosić, Dževad Karahasan und Danilo Kiš. 2008 erhielt sie zusammen mit Bora Ćosić den Albatros-Literaturpreis der Günter Grass Stiftung Bremen.

Dževad Karahasan

Der Trost des
Nachthimmels

Roman
in drei Teilen

Aus dem Bosnischen von
Katharina Wolf-Grießhaber

Suhrkamp Verlag

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

Što pepeo priča [Was die Asche erzählt] bei Simurg Media in Sarajevo. Die Originaltitel der drei Teile des Romans lauten:

Sjeme smrti, Utjeha noćnog neba, Miris straha

[Der Samen des Todes, Der Trost des Nachthimmels, Der Duft der Angst]

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner unter Verwendung einer Kalligraphie des 41. Vierzeilers aus den Rubaiyat von Omar Chayyam.

eISBN 978-3-518-74464-2

www.suhrkamp.de

Teil 1 Der Samen des Todes ~

1

Es gibt Tage, die besser nicht angebrochen wären. Aber wenn sie schon anbrechen müssen, wenn der Anbruch eines jeden Tages unabwendbar ist, müsste es eine Möglichkeit geben, den Tag, den man ganz gewiss nicht braucht, zu meiden, etwa indem man gar nicht erst aufwacht oder ihm sonstwie fernbleibt. Ohne diese Möglichkeit ist man nicht frei, ein Wesen, das nicht mindestens darüber entscheiden kann, was es nicht möchte, hat keinen freien Willen und wird nie einen haben.

Für Omar Chayyam war dieser Donnerstag, der 16. Schaban des Jahres 469, sicherlich so ein Tag. Der Morgen dämmerte schon, als er von Sali nach Hause kam, einem guten Bekannten, fast Freund, den er beim Sterben begleitet hatte, wohl wissend, dass er an diesem Tod nicht direkt schuld, aber auch nicht ganz unschuldig war. Vor seinem Haus traf er einen unbekannten Burschen an, der ihm mitteilte, die Karawane mit der Ausrüstung und den Büchern für das Observatorium, das er hier in Isfahan baute, sei überfallen und ausgeraubt worden. Verständnislos starrte er den Burschen an und redete sich ein, das sei Unsinn und demnach nicht möglich. Was sollten Räuber mit seinen Büchern und Astrolabien, Sternenatlanten und astronomischen Tafeln anfangen? Aber der Bursche stand unbeirrt vor ihm, und so schweigsam er auch war, bewies er ihm dadurch, dass er möglich und sogar wirklich war, ob das nun Sinn hatte oder nicht. Und dann gab es auf der Baustelle des Observatoriums eine Reihe von Gründen, diesen Tag zu meiden. Die Arbeiter standen in Grüppchen beieinander und beratschlagten, wie sie den Tag totschlagen und dabei so tun könnten, als arbeiteten sie, denn schon seit zwei Tagen hatten sie weder Material noch einen von den Leuten gesehen, die sie damit eindecken sollten. Chayyam spuckte aus und eilte Richtung Basar, in der Hoffnung, dort Feridun zu finden, einen jungen Unternehmer, der alle Arbeiten rings um den Bau des Observatoriums leitete.

Während er den Berg hinab dem Stadtzentrum zustrebte, ging er in Gedanken alle Vorfälle durch, die zu Salis Tod geführt hatten, wahrscheinlich weil er hoffte, etwas zu finden, was ihn von seiner Unschuld überzeugen oder ihn zumindest ein wenig von seinem Schuldgefühl entlasten würde. Am Dienstag, den 14. Schaban, hatte ihn Sali zu einem geselligen Beisammensein bei Yazdagird eingeladen, einem Anhänger von Zoroaster, dessen Teehaus die goldene Jugend von Isfahan zu einem ihrer Lieblingstreffpunkte gemacht hatte, Sali hatte einen großen Auftrag und einen entsprechend hohen Vorschuss bekommen, und das wollte er feiern, indem er eine erlesene Gesellschaft bewirten ließ.

Yazdagirds Teehaus lag inmitten eines weitläufigen Gartens, direkt am Ufer des Zayandeh Rud, ungefähr einen halbstündigen Ritt von der Stadt entfernt, und bestand aus zwei Räumen, von denen einer für jeden offenstand, weil dort Essen und erlaubte Getränke serviert wurden, während der andere, kleinere Raum, der sich zu einer Terrasse öffnete, die sich wiederum in einer Reihe kleinerer, sich zum Fluss hinunter erstreckender Terrassen fortsetzte, hauptsächlich für geschlossene Gesellschaften reserviert war, die den schönen Blick auf den Garten und den Fluss, aber auch Wein, Haschisch, Frauen und andere Dinge genießen wollten, die jedem verboten sind, der nicht genug Geld hat, um sie sich ungestraft leisten zu können. Als Omar und Sali eintrafen, erwartete sie in diesem Raum, an einem großen Tisch in der Ecke, schon eine Gesellschaft, die aus drei jungen Männern bestand. Zwei von ihnen kannte Omar vom Sehen, mit dem dritten und ältesten, dem sympathischen Sonderling Abu Said, einem Sufi, der verlangte, dass man ihn Prinz Seydo nannte, war er ziemlich gut bekannt, weil er sich mit ihm viel und gern über Poesie unterhielt. Wie andere Sufis trug Abu Said Kleidung aus grober Wolle, aber immer hatte er mindestens ein goldfarbenes Stück an, heute zum Beispiel einen Kaftan, der zugleich das eitle Gold und die grobe, kaum verarbeitete Wolle zu verspotten schien. Darin glich der Kaftan seinem Besitzer, der mit allem, was er sagte und tat, sich und seinen Gesprächspartner auch immer verspottete, mit dem, was er aussprach, und dem, was er verschwieg, wobei er gleichzeitig zu verstehen gab, dass er sowohl sich als auch den Gesprächspartner sehr ernst nahm. Zum Beispiel versicherte er gern allen, die ihm zuhören wollten, er sei glücklich und dankbar, dass die guten Männer, Sultan Malik Schah und der Großwesir Nizam al-Mulk, bereit seien, sich um das Diesseits zu kümmern, so dass er, Abu Said, das heißt Prinz Seydo, sich ganz den wichtigen Dingen widmen könne, vor allem der Sorge um das Jenseits und die damit verbundenen Dinge. So und ähnlich provozierte Abu Said gern jeden, ständig an der unbestimmbaren Grenze zwischen Scherz und Ernst, indem er allem, was er sagte und tat, Spott und Lob beimischte, und zwar zu gleichen Anteilen. Er brachte es fertig, einem Menschen, dessen Haus gerade brannte, begeistert ins Gesicht zu jubeln: »Ist das deins? Schön für dich, mein Bruder, freu dich und feiere, du Glücklicher«, um ihm dann lang und breit zu erklären, dass Gott nur jene, die er lieb habe, vor schwere Prüfungen stelle und schnell von aller unnötigen Last befreie. Und dann, wenn er normale Leute so weit hatte, dass sie ernsthaft an Selbstmord dachten, versicherte er laut allen um sich herum, besonders dem, der wahrhaftig daran dachte, sich umzubringen, das Leben sei überaus herrlich und wundervoll und diese Welt der richtige Ort, an dem man es verbringen solle. Und dennoch war es noch nie vorgekommen, dass ihn jemand verprügelt oder auch nur beleidigt hätte, dass ihm zum Beispiel ein verzweifelter Familienvater, der gerade das Dach über dem Kopf verloren hatte, gesagt hätte, was er dachte, oder ein wütender Soldat an ihm die stumpfe Seite seines Säbels ausprobiert hätte, im Gegenteil – er war und blieb in allen Kreisen der Isfahaner Gesellschaft beliebt.

Während Sali und Omar die Freunde, die sie angetroffen hatten, begrüßten und sich auf die um einen niedrigen Kupfertisch angeordneten Kissen niederließen, stellte die schöne Tochter von Yazdagird eine große Schüssel voller Kerne auf den Tisch, Kürbis- und Sonnenblumenkerne, Mandeln und Haselnüsse, und fragte, wer was trinken wolle. Abu Said und Omar wollten Wasser, mit Schnee gemischt und so gut gekühlt, dass es im Mund prickelte, und die drei anderen roten Schiraz. Sali erzählte ihnen, der Händler Rustem, der gerade unweit des Basars einen wahren Stadtpalast erbauen ließ, habe ihm angeboten, alle Keramikarbeiten an seinem künftigen Haus zu verrichten. Er, Sali, müsse also die Entwürfe für die Bodenmosaiken und die Ornamente zeichnen, welche die Wände zieren sollten, die Farben bestimmen und die Herstellung der Plättchen beaufsichtigen und dann am Ende die Verlegung dieser Plättchen und ihre Anordnung zu den von ihm entworfenen Mosaiken und Ornamenten leiten. Er sagte, er habe im Kopf bereits ein ziemlich klares Bild von den Ornamenten, erklärte die Unterschiede zwischen denen im Inneren und jenen, die den Palast von außen schmücken sollten, führte leidenschaftlich den Beweis, dass die Innen- und die Außenornamente an einem Gebäude nicht identisch sein dürften und oft nicht einmal ähnlich sein müssten, erkundigte sich eingehend, wer von den Anwesenden welche Mosaiken in seinem Haus haben wollte, wenn er in der Lage wäre, sich ein Haus mit Mosaiken zu leisten. Dabei trank er immer mehr und bestellte ständig neue Speisen, sprach immer schneller und immer lauter, offensichtlich fühlte er sich immer unwohler und wurde der Gesellschaft immer unangenehmer.

Wahrscheinlich hatte Yazdagird bemerkt, dass Sali eine Drangsal oder zumindest ein Unbehagen durch sein unmäßiges Reden und Bestellen überdecken wollte, und beschloss, ihn wenigstens bei Letzterem zu unterstützen, indem er immer neue Sachen anbot, die bestellt werden konnten. Irgendwann kam er an ihren Tisch, und leise, als vertraute er ihm ein wichtiges Geheimnis an, schlug er Sali vor, dieses wunderschöne Gastmahl mit in Wachtelschmalz gebratenen Lammzungen abzurunden, und schwor, keins der Lämmer sei älter als fünf Monate. Sali war sofort einverstanden und verlangte, dass Yazdagird diese Zungen für sie fünf zubereite, aber Abu Said mischte sich ein und erstickte jedes weitere Gespräch über neue Speisen, indem er bemerkte, man bewirte Menschen mit Gespräch und Gesellschaft, während Speis und Trank nur der Anlass für das Gespräch und die Gegenwart der Menschen seien, mit denen wir unsere Zeit verbringen. Sali bestand auf den Zungen und auf noch etwas Wein, erklärte, er werde alles bezahlen, weil er einen hohen Vorschuss für einen großen Auftrag bekommen habe, versicherte, es sei eine Freude und Ehre für ihn, diese Gesellschaft bewirten zu können, und wollte nach Abu Saids Hand greifen.

Mit einer Bewegung dieser Hand, die zu fassen Sali nicht gelungen war, entließ Abu Said Yazdagird, dann wandte er sich Sali zu und hielt ihm eine Rede, wie sie niemand von ihm erwartet hätte. Lange lobte er die Freigebigkeit als eine der schönsten Tugenden, bewies, dass ein Mensch ohne Freigebigkeit weder Vornehmheit noch Freude habe, weil ihn die anderen Leute zu Recht mieden, es aber ohne die anderen keine Freude gebe – weder der größte Narr noch der schlimmste Geizhals könnten sich an sich selbst erfreuen, er erinnerte an die Hadithe, die Freigebigkeit lobten, und an große Menschen, die Freigebigkeit unabhängig von den Hadithen lobten. Dann erwähnte er, dass jede Tugend widerwärtig werde, wenn jemand sie als Mittel einsetze, um sich darzustellen oder um Lob, Belohnung, Ansehen oder Ähnliches zu erlangen. Er schwor, ein Mensch, der schenke, um zu zeigen, wie viel er habe, sei schlechter als einer, der ängstlich auf seinem kleinen Besitz hocke, genauso wie ein netter Mensch, der allen schmeichele, damit sie ihn lobten, schlechter sei, als einer, der sich kurz angebunden gebe, um seine Ruhe zu haben. Heute habe Sali seine Freigebigkeit gezeigt und weise versucht, seine Freude mit den Freunden zu teilen, das sei klug, weil Freude in Einsamkeit schwerer zu ertragen sei als Trauer, aber es wäre schade, wenn sich seine Freigebigkeit nun in ein primitives Protzen mit Geld verwandeln würde oder in das Bestreben, von ihnen, seinen Gästen und Freunden, Lob, Dankbarkeit oder, Gott bewahre, Bewunderung einzuheimsen.

Erst gegen Ende seines Sermons kehrte Abu Said zu seiner charakteristischen Redeweise zurück, bis dahin hatte er hart und entschieden, ernst und selbstgewiss gesprochen, als wüsste er wirklich, was er sagte und was die Wahrheit war. Dann, als er wieder auf seine Art redete, mit unerwarteten Intonationswechseln und Pausen, in einem Ton, der dem Zuhörer nicht zu enträtseln erlaubte, ob Abu Said ernst sprach oder spottete, weil auch Abu Said selbst offenbar nicht wusste, ob er es ernst meinte und ob, was er aussprach, die Wahrheit war, redete er bereits von Dingen, die nicht in direktem Zusammenhang mit ihrem Abend und Salis Verhalten standen. Er sagte, der Mensch müsse etwas aus seinem Leben machen, der Schöpfer habe uns ja wohl nicht in die Welt gesetzt, damit wir sie schmückten, denn es gebe, Hand aufs Herz, schönere Dinge und Erscheinungen als den Menschen. Es ist klar, dass Er uns zu einer Aufgabe berufen hat, zu einem Zweck, den wir erfüllen müssen, und zwar jeder Einzelne von uns. Deshalb frage dich, wofür du gemacht bist und was dein Zweck sein könnte. Schön für dich, wenn du dich auf dieser Welt aufhalten kannst, als wärst du schon gestorben, ruhig und gesammelt, ganz dem Wichtigen und Unvergänglichen hingegeben. Doch solche gibt es wenig, selbst ihnen gelingt es nicht unbedingt immer, ihren Blick von den Erscheinungen dieser Welt zum Unvergänglichen hinzuwenden. Wenn du nicht sein kannst wie sie, und das kannst du nicht, weil du nicht Prinz Seydo bist, widme dich den Menschen, mit denen du leben musst, und verdiene an ihnen Gottes Lohn, verbreite Liebe in der Welt, tu so, als dientest du deinem Nächsten. Wenn du auch das nicht kannst, und du kannst es nicht, weil du nicht klug genug bist, um zu begreifen, dass du dir dienst, was immer du auch tust, gib dich den gemeinen Freuden hin und scheffle und spare Geld. Verdiene und häufe die Schätze dieser Welt an, mein Bruder Sali, sammle Reichtümer und gib sie aus für Gutes, auch das ist ein Zweck. Aber wenn du auch das nicht kannst, dann verdiene und spare nur, es wird sich schon jemand finden, der es für Gutes oder Schlechtes ausgibt; sammle an, häufe an und spare, wie lumpig es auch immer ist, auch das ist eine Freude und ein Zweck, darum widme dich ihm, damit du ihn erfüllst. Mach etwas aus deinem Leben, widme dich ihm, aber widme dich ihm wirklich.

»Bla-bla-bla«, winkte Sali ab. »Das Leben, mein lieber Prinz, ist Luft, daraus lässt sich nichts machen. Du weißt nicht, ob es in dir oder um dich herum ist, ob du es eingeatmet oder ausgeatmet hast, du hörst und siehst es nicht, während es je nach Laune einmal hier und ein anderes Mal dort ist … Reine Luft.«

Einer der jungen Männer, die Sali und Omar zusammen mit Abu Said angetroffen hatten, winkte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und gab dann Yazdagirds Tochter mit dem Daumen das Zeichen, seinen Krug mit Wein zu füllen. Ohne den Blick von dem Mädchen abzuwenden, sagte er, es sei am besten, dem Leben zuzuprosten und auf seinen Sinn zu trinken. »Begieße ihn gut, und du wirst sehen, wie schnell er wächst«, schloss er und griff dabei nach der Hand des Mädchens, die sie ihm geschickt entzog.

»Meinst du den Sinn? Wächst er bei dir etwa auch?«, fragte ihn der andere junge Mann mit einer zweideutigen Geste und wies mit dem Blick auf das Mädchen.

»Wie denn nicht?! Der Birnbaum wächst, wenn er gut gewässert wird, das Fohlen auch, warum dann nicht der Sinn und dergleichen Dinge?«, stimmte der Erste lachend zu und sah der schönen Tochter von Yazdagird nach.

»Das Blut«, entfuhr es Omar, Gott allein weiß, warum und wie.

»Wo? Welches Blut?«, fragte Sali, nachdem die drei die Gläser abgestellt hatten.

»Blut ist Leben, seine Grundlage, es trägt das Leben, verteilt es im Körper«, erklärte Omar und wunderte sich über sich selbst. Er hatte sich nicht in dieses Gespräch einmischen wollen, das ihm unangenehm war und ihn nichts anging, er hatte sich nicht wichtigmachen und nicht sein Wissen zeigen, nicht einmal seine Meinung äußern wollen, und doch hatte er zugelassen, dass ihm eine dumme Bemerkung über das Blut herausgerutscht war und er sich nun immer tiefer in das Gespräch verstrickte.

»Gut gesprochen, Hakim. Ja, ja, das Blut, beide fließen, wo gibt es eine bessere Grundlage des Lebens«, lachte Sali. Aber sein Lachen, und vor allem sein Gesicht, waren eher verkrampft als fröhlich.

»Das habe ich ernst gemeint«, bekräftigte Omar, »wo kein Blut fließt, gibt es auch kein Leben.«

»Das kannst du ja auch an der Pfirsichfrucht sehen«, wandte sich Abu Said an Sali. »Solange sie am Baum hängt, wird sie rot, weil sie voll von dem Blut ist, das durch sie fließt, aber wenn du sie pflückst, wird sie blass, weil sie ihr Leben verliert, die Arme.«

Durch das Lachen, das Abu Saids Bemerkung hervorgerufen hatte, drang Omars Stimme kaum durch.

»Schwer hat es, wer dich ernst nimmt, lieber Prinz Seydo«, antwortete ihm Omar, »weil du alles, aber auch alles, was nicht du gesagt hast, dem Spott preisgeben musst. Wenn ich jetzt sage, dass heute Dienstag, der 14. Schaban, ist, wirst du auch das leugnen und einen Witz auf meine Kosten reißen.«

»Nein, beileibe nicht, Hakim«, entgegnete Abu Said und tat, als redete er ernst. »Sag nur, dass heute Dienstag ist, und ich stelle dir, wenn dir daran liegt, schweigend eine schriftliche Bescheinigung aus, dass es so ist.«

»Beide fließen, das ist das Einzige, was das Blut und das Leben gemein haben«, wiederholte Sali still, fast konspirativ, als wäre es lebenswichtig für ihn, Omar von dieser wichtigen Wahrheit zu überzeugen.

Da passierte Omar das, was in ähnlichen Situationen jedem jungen Narren passieren würde, der von seinem außergewöhnlichen Verstand überzeugt ist: Er verspürte das Bedürfnis, seinen Gesprächspartnern das, was er behauptet hatte, zu beweisen oder sie zumindest davon zu überzeugen. Er vergaß, dass ihm seine unglückliche Behauptung über das Blut und das Leben zufällig entfahren war, er vergaß, dass auch er selbst es nicht ganz ernst meinte oder zumindest nicht überzeugt war, dass diese Behauptung stimmte, es fiel ihm nicht ein, dass man bei Gesprächen dieser Art einen guten Witz mehr schätzt als die heilige Wahrheit, weil ein Witz im Unterschied zur Wahrheit die Stimmung verbessert und Lachen hervorruft und solche Gespräche eben dazu dienen, die Menschen in gute Stimmung zu versetzen und zum Lachen zu bringen. Er vergaß auch das Wichtigste, was er bisher über solche Gespräche gelernt hatte, nämlich dass er sich nur dann gut in sie einfügte, wenn er die ganze Zeit schwieg. Alles vergaß er und fing an, Beweise für die Behauptung anzuführen, die ihm zufällig herausgerutscht war, als handelte es sich um den Grund seines Lebens.

»Ar-Razi hat, soviel ich weiß, als Erster die Überzeugung geäußert, dass Blut und Leben untrennbar miteinander verbunden sind. Er bemerkt, dass ein menschliches Glied abzusterben beginnt, wenn das Blut aufhört durchzufließen, während das Fleisch dieses Gliedes verfault und sich zersetzt, weil das Blut nicht mehr zu ihm gelangt und es nicht mehr am Leben erhält. Darauf gründet er seine Überzeugung, dass das Blut Grundlage und Quelle des Lebens ist. Ibn Sina zweifelte an der Richtigkeit dieser Überzeugung, weil er zu beweisen versuchte, dass das Blut den menschlichen Körper in einem geschlossenen Kreis durchfließt, während das Leben des Menschen von außen kommt und auch wieder aus ihm fortgeht. Das Leben öffnet den Menschen zur Außenwelt, hat Ibn Sina gesagt, während das Blut in ihm entsteht und in ihm gefangen bleibt. Aber weil er keine andere Quelle oder Grundlage des Lebens gefunden hatte, gestand er am Ende zu, dass ar-Razis Gedanke stimmen könnte. Und selbst das blinde Huhn, Hassan bin Ra’s, der unwürdige Schüler des großen Abu al-Qasim, ist zu dem Schluss gekommen, dass die Mutter ihrem Kind das Leben gibt, weil sie mit ihrem Blut den Embryo tränkt, den sie in sich trägt.«

Omar hielt kurz inne, um Atem zu holen und seinen Mund mit dem gekühlten Wasser zu erfrischen, genug, dass sich der junge Mann auf seiner rechten Seite, Sohn des Führers des großen Nomadenstammes der Bahtiyaren, der schon seit einem guten Jahr hier in Isfahan ein wichtiges Geschäft vorhatte und plante, mit der besorgten Frage in das Gespräch einmischte, was Omar denn Hassan bin Ra’s so verüble, dass er ihn in aller Öffentlichkeit ein blindes Huhn nenne.

»Du kennst Hassan bin Ra’s?«, fragte Omar mit sanftem Erstaunen zurück.

»Nein, ihn kenne ich nicht, aber dich«, antwortete Bahtiyar und begann als Erster laut zu lachen. Die anderen stimmten ein und hoben die Gläser, Sali trank seines leer und füllte es gleich von neuem. Man konnte ihm ansehen, dass ihm der Wein zu Kopfe stieg, er begann die Kontrolle über seine Muskulatur zu verlieren, so dass kurze Krämpfe seine Gesichtsmuskeln zu einem hässlichen, unwillkürlichen Lächeln verzerrten, während ihn Schulterzucken befiel. Angespannt wanderte sein Blick vom einen zum anderen, und als er sich ins Gespräch mischen wollte, gab er nur ein Gurgeln von sich, das nicht zu verstehen war.

Nachdem sie die Gläser abgestellt hatten, fragte der andere junge Mann Abu Said, was er von der ganzen Diskussion halte. Abu Said antwortete, indem er sich laut und mit trauriger Stimme fragte, wie der menschliche Verstand zu verstehen sei. Er wundere sich über den Tod und frage, woher er komme, wundere sich aber nicht über das wahre Wunder, nämlich das Leben, und frage nicht danach. Und wenn er sich doch danach fragt, wie es jetzt unser kluger Hakim Omar tut, dann denkt er, das Leben sei einfach wie der Tod und habe nur eine Quelle, eine Grundlage, eine Ursache. Er glaubt, dass ein Ertrunkener am Wasser gestorben sei, und im Einklang damit glaubt er, dass er zum Beispiel vom Wasser gelebt habe und sein ganzes Leben aus dem Wasser hervorgegangen sei. Wenn er dann noch denkt, das Leben sei das Gegenteil des Todes, kommt er womöglich auf die Idee, das Leben des Ertrunkenen sei aus dem Feuer hervorgegangen, weil es im Wasser endete. Er hat entdeckt, dass die Ursache einer Krankheit zum Beispiel eine verstopfte Halsader ist, aber daraus schließt er, die Ursache der Gesundheit sei, alle Adern, die du zu fassen bekommst, zu öffnen. Wie willst du ihm erklären, dass die Ursache der Gesundheit alles ist? Und die Ursache des Lebens alles und der Rest? Genauso ist es, ihr wisst, dass es so ist, weil ich es euch sage, wem könnten sich die Quellen des geheimen Wissens erschließen, wenn nicht Prinz Seydo.

»Im lebendigen Menschen schlägt das Herz«, sagte Omar in die Stille hinein, die unerwartet am Tisch eingetreten war. »Es schlägt die Stunden unseres Lebens, bestimmt seine Dauer und Geschwindigkeit, so wie es mit seiner Größe die Größe unseres Körpers bestimmt. Wenn wir ein Herz von der Größe eines Wasserbalgs hätten, wären wir mindestens so groß wie ein Elefant. Und dann würde das Herz einmal in der Stunde schlagen oder noch seltener.«

»Und wenn unser Gehirn wie eine Zwiebel wäre, wären wir alle so gelehrte Hakime wie unser Omar«, unterbrach ihn der andere junge Mann. Niemand lachte, nicht einmal Omar beachtete ihn, er redete nur, bemüht, konzentriert und verständlich zu sprechen.

»Wenn unser Herz einmal stündlich oder seltener schlüge, würden wir Menschen mindestens hundert bis hundertfünfzig Jahre oder länger leben. Und umgekehrt, wenn es die Größe einer Zwiebel hätte, müsste es zehn- oder zwölfmal schneller schlagen als das, welches wir haben, und wir hätten die Größe eines Hasen oder Huhns. Ich habe haargenau ausgerechnet, dass wir 800 Jahre leben würden, wenn unser Herz einmal täglich schlagen würde, und an Größe würden wir den Elefanten weit übertreffen. Dann sähen wir den Unterschied zwischen Tag und Nacht nicht, die Jahreszeiten wären für uns das, was jetzt die Tageszeiten sind … Wenn unser Herz hingegen 8000 Mal in der Stunde schlüge, könnten wir die Sonne am Himmel wandern und die Pflanzen wachsen sehen, wir könnten sehen, wie sich das Meer hebt und senkt, als atmete es, wir könnten sehen, wie der Tau auf die schlummernde Erde fällt. Alles würde sich ändern, und alles bliebe doch gleich, weil alles im Zeichen unseres schlagenden Herzens stünde. Dieses Herz treibt mit seinem Schlagen das Blut durch unseren lebendigen Körper, daran wollte ich euch erinnern.«

Eine unangenehme Stille trat ein, als hätte Omar gerade etwas Ungehöriges gesagt oder getan. Nur Sali streckte seinen Arm über den Tisch, zog Omar am Ärmel und flüsterte so durchdringend, dass es alle am Tisch hören mussten:

»Es fließt nur, mehr nicht.«

Obwohl er wusste, dass es unpassend war, hatte Omar das Gefühl, er sei schuld an dem Unbehagen und der Beklommenheit, die sie befallen hatten, und er müsse Sali antworten und alles erklären, was er im Laufe dieser Nacht gesagt hatte, weil er sich nur dadurch, dass er ihm eine gute Antwort gab, von der Schuld befreien oder sie wenigstens verringern könne.

»Ich verlange keine Gnade für mich, nur für die großen Lehrer«, antwortete Omar, bemüht, heiter zu klingen. »Erlaube ihnen, etwas zu wissen.«

»Da braucht es kein Wissen, das versteht sich von selbst«, antwortete Sali mit dicker Zunge und immer noch mit jenem durchdringenden Flüstern, das sicherlich auch im hintersten Winkel des Raums zu hören war.

Omar machte Anstalten zu antworten, hielt aber mitten im Atemzug inne und sackte dann vor aller Augen zusammen, die Arme hebend, als ergebe er sich. Er fühlte sich elend, aus gutem Grund, weil sein scheinbarer Sieg über Sali in logischer Hinsicht nichts wert war. In dieser Gesellschaft konnte man nicht ernsthaft all das darlegen, was er mathematisch im Zusammenhang mit dem Herzen, seiner Größe und Geschwindigkeit ausgearbeitet hatte. Deshalb hatte er diesen Gedankengang mitten im Satz abgebrochen, und alles andere, was er äußerte, war reines Geschwätz gewesen, das er nicht beweisen konnte, und so hatte er sich hinter Autoritäten versteckt.

»Bring uns Ayran«, rief Abu Said Yazdagird zu.

»Meine Ahnen haben das Dugh genannt«, bemerkte der junge Mann, der Chayyams Gehirn mit einer Zwiebel verglichen hatte.

»Und die Vorfahren eines Arabers haben es, nehme ich an, flüssigen, mild gesalzenen Joghurt oder so ähnlich genannt«, erklärte ihm Abu Said.

»Meine Ahnen sind zum Glück weder Türken noch Araber, sondern echte alte Perser. Und ich empfinde deshalb keine Trauer und keine Scham, das kannst du mir glauben«, fuhr der junge Mann fort.

»Warum auch? Du hast auch so noch hinreichend Gründe zur Trauer oder Scham«, lachte Abu Said.

»Du vielleicht nicht?«, fragte der junge Mann unnachsichtig.

»Wie könnte ich keine haben, mein Bruder?! Ich habe sie in Hülle und Fülle, glaub mir, ich bin doch ein Mensch.«

Yazdagirds schöne Tochter stellte eine große Keramikschüssel voll gesalzenen Joghurts und eine Kelle zum Eingießen auf den Tisch, dann ging sie zurück, um Gläser zu holen. Während sie die Gläser auf dem Tisch verteilte, lachte Abu Said los, schlug sich mit der Hand aufs Knie und verkündete:

»Jetzt werden unsere zwei Gelehrten entdecken, dass der Ayran der wahre Träger des Lebens ist: Er fließt, ist leicht salzig und fad – das wahre Leben.«

Mit Joghurt wurde Salis Feier beendet, und nachdem jeder so viel getrunken hatte, wie er wollte, machten sie sich auf den Weg zurück in die Stadt. Das war vorgestern gewesen, am Dienstag. Und gestern, am Mittwoch, hatten sie ihn aus dem Tiefschlaf geweckt, spät in der Nacht, damit er zu Sali komme, der ihn dringend brauche. Er traf ihn an der Grenze zum Jenseits an. Sali lag da, den rechten Arm zur Zimmertür ausgestreckt, so dass jedem, der eintrat, als Erstes die Hand mit dem zwischen Zeigefinger und Mittelfinger geschobenen Daumen ins Auge springen musste. So hatte es Sali persönlich inszeniert, als er noch bei vollem Bewusstsein gewesen war und befürchtete, die Burschen würden Omar nicht rechtzeitig finden und herbringen. Chayyam war sicher, dass sich ihre Blicke getroffen hatten, als er in der Tür stand, dass ihn Sali gesehen und erkannt hatte, bevor seine Augen erloschen, und dass er deshalb seine Zunge zwischen die Lippen geschoben hatte, um die Geste seiner rechten Hand zu wiederholen. Eine Geste, mit der er ihn, Chayyam, verspottete. Aber mit dem Mund war es ihm nicht gelungen, die rote Zungenspitze lugte kaum zwischen den weißen Lippen hervor, bevor Salis Leben und jede Fähigkeit erlosch – auch die Fähigkeit zu spotten. Ihn verwirrte das unnormale Rot von Salis Zunge, das mit dem übereinstimmte, was in den zwei Schüsseln und dem Glas neben Salis Bett zu sehen war. Das Rot von noch nicht geronnenem Blut.

Man erzählte ihm, Sali habe gleich nach Sonnenuntergang seine Freunde eingeladen und sich, während er auf sie wartete, die Pulsadern aufgeschnitten und sie recht locker verbinden lassen, damit das Blut in die Schüsseln tropfte, die er schon neben dem Bett bereitgestellt hatte. Als sich die Freunde versammelt und gestärkt hatten, verkündete Sali, er beabsichtige, sein eigenes Leben zu trinken. Und dann goss er das, was bis dahin in die Schüsseln getropft war, die bis zu diesem Moment keiner der Anwesenden wahrgenommen hatte, feierlich in sein Glas und trank es aus. Er beruhigte die aufgeregten Freunde, bat sie, ihn anzuhören, und betonte, er beabsichtige nicht, sich umzubringen und tue es auch nicht, sondern trinke lediglich sein Leben aus. Beharrlich verlangte er, sie sollten sich nicht aufregen und ganz normal essen und trinken, aber das gelang niemandem so recht. Als er nach dem zweiten oder dritten Glas Blut seine Kräfte schwinden fühlte, schickte er nach Chayyam. Da der Verlangte nicht erschien, er aber, Sali, sichtbar schwächer wurde, bat er sie, seine letzte Botschaft aufzuschreiben und sie Chayyam getreu auszurichten, wenn er erschiene. Die Botschaft lautete: »Beide fließen nur, mehr nicht. Hier hast du den Beweis.«

Lange blieb Chayyam bei Sali, obwohl es nichts mehr für ihn zu tun gab. Er stand allen im Weg und bot Hilfe an, die keiner brauchte, doch er blieb unbeirrt bei ihm, wohl in der irren Hoffnung, es könnte sich noch etwas ändern oder er könnte doch noch etwas tun. Möglich war weder das eine noch das andere, und so forderten sie ihn am Ende auf, bitte nach Hause zu gehen. Aber zu Hause, das heißt vor seinem Haus, traf er den Burschen an, der gekommen war, um ihm den Überfall auf die Karawane mit der Ausrüstung und den Büchern für sein Observatorium zu melden.

So begann der Donnerstag, der 16. Schaban, ein Tag, der, hätte man Omar Chayyam gefragt, gewiss besser nicht angebrochen wäre.

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In Isfahan, wie auch in anderen Städten, trafen sich die Geschäftsleute und die dem Hofe Nahestehenden, also die Beamten, Gelehrten, Ärzte, alle, die Zugang zum Hof hatten, aber keine Höflinge waren, auf dem Basar und saßen dann in einem der unzähligen Lokale in unmittelbarer Nachbarschaft. Eines der populärsten führte Basurmedschid, ein Mann, der hier geboren und aufgewachsen war, wie übrigens auch seine Eltern, und der sich dennoch als Jemenit vorstellte und fühlte, wahrscheinlich weil seine Vorfahren vor zwei Generationen von dort gekommen waren. Von seinen Eltern hatte er ein Teehaus an einem der besten Plätze der Stadt geerbt, ein eingeführtes Lokal, aber nicht beliebt genug, um gut davon leben zu können, weil es sich durch nichts von einem beliebigen anderen Lokal an einem beliebigen anderen guten Platz in der Stadt unterschied. Das ist zu wenig in Zeiten des Überflusses und der Maßlosigkeit, in solchen Zeiten kommt es darauf an, nicht nur gut, sondern etwas ganz Besonderes zu sein. So war es bis vor zwei, drei Jahren, als Basurmedschid seine Familie im Jemen besucht und Kaffee von dort mitgebracht hatte, hellgrüne Bohnen, nach denen unten alle Leute verrückt waren und aus denen er ein Getränk herzustellen begann, wie es hier nie jemand gesehen noch gekostet hatte. Dank dieses Getränks unterschied sich Basurmedschids Lokal von allen anderen, schnell eroberte es die Gunst der angesehenen Leute, und schneller, als der Wirt zu träumen gewagt hatte, wurde es zu den populärsten Treffpunkten in der Stadt gezählt und der Kaffee zu den unvermeidlichen Getränken der ernsthaften Leute.

Viele kamen und bestellten Kaffee nur, um zuzuschauen, wie Basurmedschids Bursche einem großen Sack löffelweise grünliche Bohnen entnahm, die Menge sorgfältig abwog, sie in ein Gefäß aus feinem dünnen Blech gab und dieses Gefäß dann über eine ständig brennende Ölflamme hob, wie die Anhänger von Zoroaster sie in ihren Tempeln hatten, und es über das Feuer hielt, um die Bohnen zu erhitzen. Der Bursche schüttelte das Gefäß und bewegte es ruckweise auf und ab und hin und her, und ein wundersamer Duft entströmte, mit dem sich nichts Bekanntes vergleichen ließ. Wenn er die Bohnen, die bereits eine dunkelbraune, beinahe schwarze Farbe angenommen hatten, ab und zu umrührte, verstärkte sich der Duft noch. Sobald ihm schien, dass die Bohnen genug geröstet waren, weil sie ihr Gewicht nahezu verloren hatten, ging der Bursche zu Basurmedschid und brachte ihm die Bohnen zur Kontrolle. Dieser saß auf einem niedrigen Podest in der Tiefe des Raums, schwer und dick, mit großem Bauch und langsamen Bewegungen, meist schweigsam und über die Maßen laut, wenn er zu sprechen begann, alles in allem – schon ein echter ernster Herr. Basurmedschid schüttete sich die Bohnen auf die Hand, warf sie hoch, um sich nicht zu verbrennen, roch daran und betrachtete aufmerksam, wie dunkel sie geworden waren, und dann erlaubte er dem Burschen mit einer kurzen Kopfbewegung weiterzumachen und tat die Bohnen wieder in das Gefäß zurück, das der Bursche die ganze Zeit in der ausgestreckten Hand hielt. Nachdem er die Erlaubnis bekommen hatte, kehrte der Bursche in den vorderen Teil des Lokals zurück, schüttete die Bohnen in einen Granitmörser und begann sie zu zerkleinern, indem er sie mit einem Granitstößel zerstieß und zermahlte. Das durch das Mahlen der Bohnen entstandene Pulver schüttete er in ein kleines Kupfergefäß, erhitzte es über jener Flamme, auf der er zuvor die Bohnen geröstet hatte, und goß dann siedendes Wasser darauf. Den ganzen Raum und alle Anwesenden durchströmte ein wahrhaft paradiesischer Duft, hoffen wir, eine der Belohnungen, die in der besseren Welt auf die Gerechten warten, während sich in der Kupferschale, die der Bursche auf die Flamme zurückstellte, rasend schnell der Schaum hob, der überzukochen drohte. Er kochte fast nie über, der geübte Bursche verstand es, die Schale im letzten Moment von der Flamme zu nehmen und siedendes Wasser beinahe bis an den Rand der Schale nachzufüllen, aber viele verfolgten immer aufs Neue gespannt seine Tätigkeit und fragten sich, ob der Schaum über den Rand der Schale laufen werde oder nicht. Man muss zugeben, dass viele das neue Getränk, für das sich schon der Name Kaffee eingebürgert hatte, genossen, aber viele tranken ihn ohne wirklichen Genuss, weil sie sich davon überzeugt hatten, dass er dem Magen bekam, die Kraft zurückbrachte und erfrischte. Aber seine Zubereitung, die Rituale, die Basurmedschids Bursche mit sichtlichem Genuss ausführte, und sein Spiel genossen mit Sicherheit alle, die hierher kamen.

Omar Chayyam ging auf Basurmedschids Lokal zu, für das sich in der Stadt die Bezeichnung Kaffeehaus eingebürgert hatte, wahrscheinlich nach dem Vorbild von Teehaus, überzeugt, dort Feridun zu finden, seinen Freund und Unternehmer, der das Observatorium baute. Sie trafen sich auf der Straße, ein paar Minuten vom Nordeingang des Basars entfernt.

»Wo steckst du denn bloß, ich suche dich seit gestern Nachmittag«, rief Feridun, als er den Freund sah.

»Damit du mir Material für den Bau aushändigen kannst?«, entgegnete Chayyam gereizt.

»Damit du meinen Vater rettest.«

Chayyam wich einen halben Schritt zurück und maß Feridun mit dem Blick, als wollte er sich vergewissern, ob er ihn verspottete. Um die Wahrheit zu sagen, musste die Aufforderung, jemanden zu retten, wie Spott in seinen Ohren klingen, besonders jetzt, unmittelbar nach dem Vorfall mit Sali, der ihm schmerzlich bewusst machte, wie sehr er dem Armen geholfen hatte, sich zu retten.

»Was ist denn passiert?«, fragte er, als er sich davon überzeugt hatte, dass Feridun sich nicht über ihn lustig machte.

Gestern habe ihm schon morgens der Kopf weh getan, begann Feridun seinen Bericht über die Krankheit seines Vaters Mirchond. Nicht schlimm, eher die Ankündigung eines Schmerzes als richtiger Schmerz, und so hätten sie angenommen, alles werde bei Basurmedschid in Ordnung kommen, weil man ja wisse, dass sein Kaffee bei Kopfweh helfe. Der Schmerz sei allerdings stärker geworden, sein Vater habe sich kaum dazu durchringen können, das Mittagsgebet zu beten, vielleicht hätte er es auch gar nicht gebetet, wenn er sich nicht geschämt hätte, es auszulassen. Von Anfang an habe dieses Kopfweh irgendwie mit den Augen zu tun gehabt, Druckbeschwerden wie nach einer Überanstrengung der Augen bei schwachem Licht, und kurz nach Mittag seien die Augen selbst zum Problem geworden, denn er habe nur schwach und ganz verschwommen sehen können, und das Sehen selbst sei eine Anstrengung für ihn gewesen.

»Aber warum stehen wir hier wie angewurzelt herum, ich kann dir alles auch unterwegs erzählen«, wunderte sich Feridun irgendwann und zog den Freund mit sich.

Sie schlugen die Richtung zum At Meydan ein, dem Pferdeplatz, einem mit jungen Zypressen eingegrenzten großen Park im östlichen Teil der Stadt, der ein paar Jahre zuvor in Mode gekommen war, so dass jetzt alle, die etwas auf sich hielten, von Zeit zu Zeit dort hingingen, um einander ihre wertvollen Pferde sowie ihr Können zu zeigen, das der Pferde und auch das eigene. Vor ein paar Jahren hatten die müßigen Söhne reicher Väter begonnen, sich auf dem Pferdeplatz zu versammeln, um in einem uralten, gefährlichen und anstrengenden Spiel miteinander zu wetteifern, wie geschaffen für übermütige junge Männer, die nur die Langeweile als wirkliche Bedrohung empfinden und sich vor ihr mehr fürchten als vor irgendetwas sonst: Mit langen Stäben, ähnlich wie Lanzen mit einem Fuß am Ende, kämpften sie um eine Holzkugel, die mit dem Stab in ein Tor geschlagen werden musste, markiert durch in die Erde gerammte Lanzen, wobei in diesem Kampf alles erlaubt war, außer abzusitzen oder den Gegner aus dem Sattel zu heben. In weniger als einem Jahr war die ganze Stadt verrückt nach diesem Spiel, und der Pferdeplatz wurde zum populärsten Stadtpark und zum Ort, an dem sich, wer etwas auf sich hielt, von Zeit zu Zeit zeigen musste. Unmittelbar hinter diesem Park, fast an seinem Rand, begann das kleine Anwesen von Feriduns Familie, wertvoll wegen seiner Lage, aber auch wegen seines Alters, denn es war sozusagen seit jeher in ihrem Besitz gewesen. Feridun gab ein höllisches Tempo vor, als hinge davon buchstäblich das Leben seines Vaters ab, und dennoch gelang es ihm, zusammenhängend und verständlich zu sprechen, so dass Chayyam alles erfuhr, was sein Freund über die Krankheit seines Vaters sagen konnte.

Mirchond hatte gestern bereits beim Frühstück, zu dem sich die ganze Familie versammelt hatte, über Kopfschmerzen geklagt, aber schon das bloße Gespräch darüber, ob er den Tag besser zu Hause verbringen solle, abgelehnt. (»Willst du das, um meinen Platz in der Weißen Moschee einzunehmen?«, fragte er Feridun, der ihm das vorgeschlagen hatte. »Nur keine Eile, dein Vater gehört noch nicht zum alten Eisen. Und dein Platz in der Weißen Moschee wird auf dich warten, er gehört seit eh und je unserer Familie, niemand wird ihn dir wegnehmen, mit welcher Geschwindigkeit die Stadt auch wächst und neue angesehene Leute auftauchen.«) So begaben sich Vater und Sohn gemeinsam in die Stadt und trennten sich vor dem Kaffeehaus von Basurmedschid, der Vater ging, um sich mit Leuten zu treffen, und Feridun zu der großen Ziegelei in der Vorstadt, um nachzusehen, warum man ihm die vereinbarte Menge an Ziegeln nicht lieferte. Sie trafen sich erneut bei Basurmedschid, kurz nach dem Mittagsgebet, auf den ersten Blick war zu sehen, dass es dem Alten nicht gut ging. Das Kopfweh hatte sich verschlimmert, und in der Zwischenzeit waren dumpfe Schmerzen in den Gelenken aufgetreten. Außerdem quälten ihn vorübergehende schwache Krämpfe in den Muskeln, er hätte nicht sagen können, ob das eine Folge der Schwäche in den Gelenken war oder nicht, so dass er es nicht wagte, nach seiner Tasse Kaffee zu greifen und sie zum Mund zu führen. (»Das hat mir gerade noch gefehlt, dass ich meinen Anzug oder, Gott bewahre, meinen Bart bekleckere. Und auch noch vor fremden Leuten«, erklärte Mirchond, warum das Getränk unberührt vor ihm stand, aber die Wut und das Entsetzen in seiner Stimme waren nicht zu überhören.) Irgendwann traten auch Probleme mit den Augen auf, eigentlich mit dem Sehen, die er nicht hätte beschreiben können und die vielleicht auch gar nicht die wahren Probleme waren, das heißt, nicht das Sehen, sondern etwas anderes … Es handelte sich darum, dass er nicht gut sah, das wäre, ganz kurz, das, was Mirchond erklären wollte. Er sieht einen Gegenstand und erkennt ihn, zum Beispiel die Schüssel mit den Haselnüssen, die vor ihm auf dem Tisch steht, vielleicht weil er noch weiß, dass hier schon vorher eine Schüssel mit Haselnüssen gestanden hat, aber vielleicht auch, weil er sie wirklich sieht und erkennt; doch schon kurz darauf hat sie begonnen zu verschwimmen, ihre Form und Konturen zu verlieren, das heißt nicht sie, sondern das Bild in meinen Augen, erklärte Mirchond am Ende.

»Alles in allem – ein Häufchen Elend«, schloss Feridun. »In weniger als einer halben Stunde hat sich ein so großer Mann, und auch noch ein so robuster, in eine Jammergestalt verwandelt.« Deshalb hatte er geglaubt, es handele sich um eine Grippe, nur eine Grippe, das habe ihn seine Erfahrung gelehrt, könne einen Menschen in so kurzer Zeit derart fertigmachen. Aber er hatte beschlossen, sehr besorgt zu tun und so die Angst des Vaters zu vergrößern, er würde sich ein wenig auf seine Kosten amüsieren und sich gleichzeitig wegen seines gereizten Tons vom Morgen an ihm rächen. (Mirchond war auch sonst übermäßig besorgt um sich und fürchtete sich vor der kleinsten Erkältung oder Magenverstimmung, aber dieses Mal, hatte er, Feriduns Meinung nach, alle Grenzen überschritten.) Er hatte außerdem beschlossen, viel Gewese um die Krankheit des Vaters zu machen, um ihm seine Sorge und Liebe zu zeigen, aber auch seine Fähigkeit, etwas vorzubereiten und in die Tat umzusetzen.

Deshalb hatte er einen der Müßiggänger, die immer im Kaffeehaus und davor herumlungerten, mit der Botschaft zum Arzt ihrer Familie geschickt, er solle sich gleich zu ihrem Haus aufmachen und sie dort erwarten, während er selbst sich um einen Wagen kümmerte, mit dem er den Vater nach Hause bringen wollte, wobei er betonte, dass der Alte in diesem Zustand reite, stehe für ihn gar nicht zur Diskussion. Als sie ankamen, wartete der Arzt tatsächlich auf sie und machte sich gleich an die Arbeit. Auch er glaubte, es handele sich um eine Grippe, entschied aber, eine eingehende Untersuchung vorzunehmen, wo er schon einmal gekommen war. Für den Anfang wollte er den Urin von Mirchond sehen, den er lange betrachtete, schüttelte und erhitzte, aus einem Gefäß in ein anderes goss, er roch daran, drehte das Gefäß und hielt inne, und dann schaute er, ob und was für eine Spur der Urin an der Wand des Gefäßes hinterließ. Am Ende schüttete er den Urin in drei kleinere Gefäße und goss in jedes ein paar Tropfen Flüssigkeit aus einem Fläschchen, das er mitgebracht hatte, und beobachtete lange und aufmerksam, wie der Urin darauf reagierte. Dann studierte er Mirchonds Augen, weitete seine Lider und sah ihm in die Augen, leuchtete hinein, indem er eine Kerze fast bis ans Auge führte, und verfolgte, wie sich die Pupille verhielt, verlangte, dass er das Auge nach links oder rechts bewegte, und danach widmete er sich den Nägeln an Händen und Füßen, drückte darauf und maß, wie schnell ihre alte Farbe zurückkehrte, betrachtete und beklopfte sie, erkundigte sich, wie der Patient all das empfand. Die Untersuchung zog sich hin und wurde von Brechanfällen, die ohne Ankündigung einsetzten, und von schrecklichen Kälteanfällen unterbrochen, die wahrscheinlich als Folge des Erbrechens und der Erschöpfung auftraten. Die gewöhnlichste Sache, wie die Untersuchung des Bauchs durch Abtasten seiner einzelnen Teile, dehnte sich unabsehbar aus, weil der Patient vor Kälte nicht ertragen konnte, dass man seinen Bauch auch nur für kurze Zeit aufdeckte.

Nach all den Qualen der Untersuchung empfahl der Arzt, ihm heiße Milch zu geben und ihn gut zu wärmen. Er erklärte, er sei sich in nichts sicher, weil ihm so etwas bisher noch nicht begegnet sei. Gerade diese Probleme, die Mirchond habe, so gelagert und in dieser Intensität – all das entspreche keiner der ihm bekannten Krankheiten. Das Erbrechen und die Krämpfe seien in Ordnung, wenn man etwas Verdorbenes gegessen oder sich über das erträgliche Maß hinaus angestrengt und Bauchkrämpfe bekommen habe; aber das dürfe nicht zusammen mit Kopfweh, Schmerzen in den Gelenken und Sehstörungen auftreten, weil die Augen nicht durch Bauchkrämpfe oder verdorbenes Essen in Mitleidenschaft gezogen werden sollten. Wenn sich jemand erbricht und Sehstörungen hat, ist er mit ziemlicher Sicherheit vergiftet, und wir würden ihn von den Giften heilen, wenn nicht das Kopfweh und die Gelenkschmerzen wären, die mit Vergiftung nicht unbedingt zu tun haben müssen, dafür aber fast immer auf eine Grippe hinweisen. Außerdem zeigt sich das Gift immer zuerst im Urin, aber sein Urin ist ganz rein und gesund wie bei einem Kind. Ein Körper, der Gift aufgenommen hat, kann keinen solchen Urin haben, und deshalb kann ich ihn nicht von Giften heilen. Kopfweh, mit dem Kälteanfälle einhergehen, ist völlig in Ordnung, es ist ein Zeichen für eine Grippe oder eine Erkältung, aber was hat Erbrechen damit zu tun, wenn keine Geschwülste im Bauch sind, er nicht aufgebläht und nicht verletzt ist? Deshalb habe er es mit der Therapie nicht eilig, eine falsche Therapie töte sicherer als jede Krankheit, und alle Therapien seien falsch außer der einzig richtigen. Diese richtige Therapie kannst du allerdings nur bestimmen, wenn du weißt, woran der Patient erkrankt ist. Von heißer Milch und Wärme kann es einem schwerlich schlechter gehen, deshalb ist das sicher keine falsche Therapie, sondern ein vorübergehender Notbehelf, und die richtige Therapie werden wir bestimmen, wenn wir entdeckt haben, woran er erkrankt ist. Ich bin vorerst überzeugt, dass es sich um eine Entzündung handelt; wenn er, sagen wir, einen roten oder stinkenden Urin hätte, wäre es eine Blasenentzündung; wenn er starke Schmerzen im Unterleib hätte, wäre ich mir sicher, dass es sich um Blinddarmentzündung handelt. Aber er hat einen reinen Urin und keine Schmerzen im Bauch, sondern im Kopf, wer soll daraus klug werden!?