Karl-Josef Kuschel
Keine Religion ist eine Insel
topos premium
Eine Produktion des Matthias Grünewald Verlags
Karl-Josef Kuschel
Vordenker des interreligiösen Dialogs
topos premium
Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
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Lahn-Verlag, Kevelaer
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ISBN 978-8367-0010-8
E-Book (PDF): 978-3-8367-5025-7
E-Pub: 978-3-8367-6025-6
2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
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Herstellung | Friedrich Pustet, Regensburg
Angesichts der heutigen Weltsituation ist der Dialog der Religionen ein dringendes Erfordernis, religionstheologisch, aber auch gesellschafts- und bildungspolitisch. Das ist mittlerweile von vielen begriffen worden. Dialogführen aber setzt Dialogkompetenz voraus. Das zeigen gerade die vier Pioniergestalten und Vordenker, deren Geschichte ich in diesem Buch erzähle: Martin Buber, Abraham Joshua Heschel, Louis Massignon und Hans Küng. Sie spiegeln die Welt von Judentum, Christentum und Islam und stehen für kühne Konzeptionen einer Theologie des Anderen, die sie oft gegen heftige Widerstände von innen und außen haben entwickeln und verteidigen müssen. „Dialog“ als Lebensform und Auftrag? Nichts war selbstverständlich. Im Gegenteil: Die Geschichte der drei monotheistisch-prophetischen Religionen wurde lange Zeit im Ungeist wechselseitiger Ausgrenzung, Verwerfung oder Überbietung geschrieben. Das Judentum? Von Christentum und Islam wurde es jahrhundertelang als „beerbt“ betrachtet, seinerseits oft nur auf sich selbst konzentriert, in die eigene Orthopraxie verschlossen. Das Christentum? Das Judentum als vorchristliche Offenbarungsreligion meinte man durch die Kirche „ersetzt“ und „überboten“ zu haben, den Islam als nachchristliche als häretisch verurteilen zu können. Der Islam? Judentum und Christentum sind zwar vom Koran her als legitime Buchreligionen anerkannt, aber, weil defizitär, durch den Islam als definitive, letztgültige Offenbarung Gottes abgelöst.
Dieser Geschichte haben die vier Vordenker sich gestellt und Neues zu denken gewagt. Nicht aus Zeitgeistreiterei oder einem vagen Toleranzgefühl heraus, sondern durch eine Neubewertung ihrer eigenen Heiligen Schriften, aus der Mitte ihrer großen Ur-Kunden und Überlieferungen heraus. Nicht also aus falsch verstandenem „Liberalismus“, sondern aus Gottesleidenschaft. Es waren die Erzählungen der Chassidim, die Martin Buber (1878–1965) als Erster aus dem Dunkel der Vergessenheit geholt und zu einem Schatz der Weltliteratur gemacht hatte, die ihn den Satz formulieren ließen: „Alle Menschen haben Zugang zu Gott, aber jeder einen anderen. Gerade in der Verschiedenheit der Menschen, in der Verschiedenheit ihrer Eigenschaften und Neigungen liegt die große Chance des Menschengeschlechts. Gottes Allumfassung stellt sich in der unendlichen Vielheit der Wege dar, die zu ihm führen, und von denen jeder einem Menschen offen ist. Als etliche Schüler eines verstorbenen Zaddiks zum ‚Seher‘ von Lublin kamen und sich darüber wunderten, dass er andere Bräuche als die ihres Lehrers hatte, rief er: ‚Was wäre das für ein Gott, der nur einen einzigen Weg hätte, auf dem man ihm dienen kann!‘ Aber indem jeder Mensch von seinem Punkt aus, von seinem Wesen aus zu Gott zu kommen vermag, vermag, auf allen Wegen vordringend, das Menschengeschlecht als solches zu ihm zu kommen.“
So wurde Buber zu dem Philosophen des Dialogs schlechthin, der mit seinen beiden Schriften „Ich und Du“ (1923) und „Zwiesprache“ (1930) Maßstäbe für dialogisches Denken gesetzt hat. Er selber hat es einmal auf die Formel gebracht: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ und sein Vermächtnis im Blick auf die Religionen so zusammengefasst: „Die geschichtlichen Religionen haben die Tendenz, Selbstzweck zu werden und sich gleichsam an Gottes Stelle zu setzen, und in der Tat ist nichts so geeignet, dem Menschen das Angesicht Gottes zu verdecken, wie eine Religion. Die Religionen müssen zu Gott und zu seinem Willen demütig werden; jede muss erkennen, dass sie nur eine der Gestalten ist, in denen sich die menschliche Verarbeitung der göttlichen Botschaft darstellt, –dass sie kein Monopol auf Gott hat.“
Es ist der in der Hebräischen Bibel verankerte Glauben an die Gottesebenbildlichkeit eines jeden Menschen, unbeschadet aller Unterschiede von Rassen, Klassen, Kulturen und Religionen, die den großen jüdischen Denker Abraham Joshua Heschel (1907– 1972) zu einer Überzeugung brachte, die im Zeitalter der politischen und religiösen Spaltungen nach dem 2. Weltkrieg sein Vermächtnis wurde: „Keine Religion ist eine Insel. Wir alle sind miteinander verbunden. Verrat am Geist auf Seiten eines von uns berührt den Glauben aller. Ansichten einer Gemeinschaft haben Folgen für andere Gemeinschaften. Religiöser Isolationismus ist heute eine Illusion.“ Mit dieser Forderung nach einem vernetzten ökumenischen Denken wird Heschel einer der wichtigsten Gesprächspartner auch für Christen und Muslime. Davon erzähle ich im entsprechenden Kapitel ausführlich, auch von der Tatsache, dass kein jüdischer Denker vor Heschel je einen derart großen Einfluss auf den Text eines Konzils der Katholischen Kirche gehabt hat. Durch sein überragendes theologisches Werk ein hochangesehener Repräsentant des Judentums in den USA geworden, hatte Heschel durch seine Verbindung zum damaligen Chef des „Einheitssekretariates“ der römischen Kurie, Kardinal Augustin Bea, Einfluss auf eine Erklärung, die das Verhältnis der Katholischen Kirche zum Judentum nach der Schoah auf neue Grundlagen stellen sollte. Bea hatte von Papst Johannes XXIII. genau diesen Auftrag erhalten und sich Beratung auch bei angesehenen Vertretern des Judentums geholt. Die dramatische Geschichte des Textes „über die Juden“, am Ende der Konzilsberatungen Abschnitt Nr. 4 in der epochalen „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ („Nostra aetate“), und die Rolle Heschels in diesem Prozess, ist Teil des hier vorgelegten Porträts.
Von ähnlicher Dramatik ist die Geschichte eines weiteren Abschnittes von „Nostra aetate“: des Abschnitts Nr. 3 über den Glauben der Muslime. Noch nie in ihrer Geschichte hatte sich die Katholische Kirche in Gestalt ihres höchsten Lehramtes zum Islam geäußert. Die Abwehrreflexe und theologischen Vorbehalte sind – historisch bedingt – noch zur Konzilszeit beträchtlich. Die politischen Widerstände gegen eine respektvolle, theologisch konstruktive Erklärung über den Islam gerade auch von Kirchen aus dem Nahen Osten sind gewaltig. Aber auch hier ist es einem großen Vordenker und seinen Schülern zu verdanken, dass man den Islam erstmals theologisch überhaupt hat würdigen können. Konzilstexte entstehen bekanntlich nicht „spontan“, sind nicht Einfälle des Augenblicks. Sollen sie mehrheitsfähig sein, braucht es dafür seriöse, theologisch fundierte Vorarbeit. Die hatte denn auch im Blick auf den Islam der französische Islamwissenschaftler Louis Massignon (1883–1962) geleistet, der durch seine überragenden Arbeiten zur islamischen Mystik („Sufismus“) in West und Ost großes wissenschaftliches Ansehen erworben hatte.
Massignon war einer der Ersten, der die abrahamische Wurzel von Judentum, Christentum und Islam freigelegt und daraus Konsequenzen für eine „kopernikanische Wende“ im Verhältnis von Judentum, Christentum und Islam gezogen hat. Dass alle drei monotheistisch-prophetischen Religionen in Abraham den „Stammvater“ ihres Glaubens verehren, war für Massignon nicht nur eine schöne Erinnerung an eine erbauliche Geschichte, sondern ein Auftrag für Gegenwart und Zukunft. Die Berufung auf Abraham kann nicht folgenlos bleiben, sie verpflichtet. Juden, Christen und Muslime sind in einer Art „abrahamischen Ökumene“ verbunden. Wer das ernst nimmt, bekämpft den Ungeist von Judenfeindschaft, Christendiskriminierung und Antiislamismus und tritt für einen Geist der Geschwisterlichkeit ein. Ist Abraham doch für Juden, Christen und Muslime „unser aller Vater vor Gott“. Auf diesen Einsichten habe auch ich später aufbauen können, als ich 1994 mein Buch „Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt und was sie eint“ schrieb und hierin den Entwurf einer Theologie der „abrahamischen Ökumene“ vorgelegt habe. Ich habe seither ein trilateral vernetztes Denken zwischen Juden, Christen und Muslime gefordert, das ich dann noch einmal vertieft habe durch eine „Theologie des Trialogs“ auf biblischer und koranischer Grundlage in meinem Buch „Juden – Christen – Muslime: Herkunft und Zukunft“ (2007).
Dabei konnte auch ich mich auf Geist und Buchstaben der Konzilserklärung „Nostra aetate“ berufen. Aber ohne Massignons entscheidende Einsichten in die von Abraham ausgehende spirituelle Kraft von Gastfreundschaft und Gebet, ja ohne seine theologische Neubewertung der Bedeutung des Abraham-Sohnes Ismael, Urvater des Islam, schon in der Hebräischen Bibel (Gen 16,17 u. 21) sind Sätze des Konzils wie die folgenden undenkbar. In der „Dogmatischen Konstitution“ des Konzils „über die Kirche“ („Lumen Gentium“) heißt es: „Die Heilsabsicht Gottes umfasst aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslime, die, indem sie bekennen, dass sie am Glauben Abrahams festhalten, mit uns den einzigen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird.“ (Nr. 16) Undenkbar auch das, was dann in die Erklärung „Nostra aetate“ eingegangen ist: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslim, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Sie mühen sich, auch seinen verborgenen Ratschlüssen sich mit ganzer Seele zu unterwerfen, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat, auf den der islamische Glaube sich gerne beruft.“ (Nr. 3) Mehr dazu im Porträt zu Massignon, in dem ich auch über seine dramatische Lebensgeschichte berichten muss. Franz von Assisi und Charles de Foucauld spielen dabei eine wichtige Rolle.
Hans Küng (geb. 1928) ist ebenfalls ein Erbe des Konzils, an dem er seinerzeit selber als Berater hatte teilnehmen können und dessen Reform-Vermächtnis er sich mehr als andere in den folgenden Jahrzehnten verpflichtet fühlt. Ich erzähle im Porträt über ihn, wie er die religionstheologischen und dialogischen Impulse des Konzils aufgenommen und in seiner Theologie praktisch verwirklicht hat. Schon in seinem Buch „Christ sein“ (1974) fordert er programmatisch ein „Christ sein“ vor dem ständigen Horizont der Weltreligionen, einen christlichen Glauben also, der sich auch im Gespräch mit Glaubensalternativen angefragt und zu behaupten weiß. Dazu ist ein breites Wissen vom Glauben „der Anderen“ vonnöten. Um das zu erlangen, haben Theologie und Religionswissenschaft im Interesse von Religionsvergleich und Religionsdialog eine enge Verbindung einzugehen. Wie sehr Küng selber das in seinem Werk ernst genommen hat, will das Porträt im Einzelnen zeigen.
Zugleich hat Küng eine Einsicht aufgenommen und zu einer eigenen Konzeption ausgebaut, die ebenfalls schon in „Nostra aetate“ zu finden ist, hier aber eher unscheinbar und unspektakulär daherkommt. Zwei Sätze sind es, die Zukunftspotential in sich tragen, wenn man sie wie Küng ernst nimmt. Der eine lautet: „Gemäß ihrer Aufgabe, Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern, fasst sie vor allem das ins Auge, was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt.“ Mit „sie“ gemeint ist die Kirche. Diesem Text zufolge betrachtet die Kirche es also als ihre Aufgabe, nicht die Menschheit in egoistischer Interessenwahrnehmung zu spalten, sondern das Gemeinsame aller Menschen, das Verbindende untereinander bewusst zu machen. Wenige Zeilen später fordert die Kirche in derselben Erklärung dazu auf, dass Christen „mit KIugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern.“
Im Klartext: Die gegebenen Werte der Anderen sollen anerkannt, gewahrt und gefördert werden! Das ist ein anderer Ton von Seiten der Kirche als „Wahre Werte haben nur wir!“. Küng hat das ernst genommen und sich dabei auf ein ganzes Arbeitsprogramm eingelassen. Das zusammenfassende Schlüsselwort bei ihm heißt „Weltethos“. Darunter versteht Küng keine Moral jenseits aller gewachsenen Religionen, kein bodenloses Abstraktum. Das Wort will bewusst machen, dass die großen Religionen der Welt schon jetzt in ihren normativen Überlieferungen gemeinsame „geistliche und sittliche Güter haben“ oder auch gleiche „soziokulturelle Werte“, die es gemeinsam „anzuerkennen, zu wahren und zu fördern“ gilt. Dabei gelingt es Küng, die Weltethos-Programmatik nicht nur in theologischen und religionsvergleichenden Diskursen zu verankern, sondern auch für andere Diskurse interdisziplinär anschlussfähig zu machen: für Philosophie, Pädagogik, Wirtschafts-, Politik- und Literaturwissenschaft. Grundlage dafür ist seine programmatische Schrift „Projekt Weltethos“ (1993). Mehr noch: Mit der von ihm ausgearbeiteten „Erklärung zum Weltethos“, verabschiedet durch das Parlament der Weltreligionen in Chicago 1993, hat Küng erstmals einen Text vorgelegt, der von Vertretern aller großen Weltreligionen unterschrieben werden konnte. Er wurde zum Basisdokument vielfacher religionsdialogischer Begegnungen und praktischer Anwendungen bis auf die Ebene der Gemeinden und Schulen, gefördert nicht zuletzt durch eine seit 1995 in Tübingen existierende „Stiftung Weltethos“. Mehr dazu im entsprechenden Kapitel zur Religionstheologie von Hans Küng.
Der Porträtcharakter des Buches wird die Lektüre erleichtern. Man kann im Prinzip bei jedem Porträt einsteigen. Jedes ist in sich abgeschlossen und kann aus sich heraus verstanden werden. Geschichte im Spiegel von Geschichten. Und diese Geschichte zeigt: Nicht den Traditionswächtern gehört die Zukunft, sondern den Kühnen und Mutigen. Sie gehört Menschen, die zusammenbringen, was früher getrennt; die Lebenswege gehen, die früher versperrt waren. Menschen somit, die zu Wandlungen und Weiterentwicklungen fähig sind. Vor-Denkern eben, die anderen voraus sind in Problembewusstsein und Lösungsversuchen. Ihre Geschichte offenlegen heißt eine Geschichte der Hoffnung erzählen, deren Pointe lautet: Neue Wege zu gehen ist möglich, allen Konflikten, Widerständen, Verurteilungen und Ausgrenzungen zum Trotz. Es hat Menschen gegeben, die diese Wege gegangen sind, Menschen – so der frühere Bundespräsident Roman Herzog –, „die zwischen den Kulturen wandern und über sie Wissen vermitteln, die bereit und imstande sind, sich auch in fremde Begrifflichkeiten und Erfahrungswelten hineinzudenken und das so Gelernte weiterzuvermitteln, die auf diese Weise Brücken des Vertrauens bauen.“ (Wider den Kampf der Kulturen, Frankfurt/M. 1999, S. 28)
Eine editorische Notiz ist hier noch am Platz. Die vier Porträts sind meinem Buch „Leben ist Brückenschlagen. Vordenker des interreligiösen Dialogs“ entnommen, das 2011 im Patmos Verlag erschienen ist. An den Texten wurde nichts verändert. Doch möchte ich die Leserinnen und Leser dieses Buches auf Publikationen aufmerksam machen, die aus heutiger Sicht für die jeweiligen Kapitel noch von Bedeutung sind.
2010 bereits erschien der Band „Nostra Aetate und die Muslime. Eine Dokumentation“, herausgegeben von einem der wichtigsten Promotoren des gegenwärtigen christlich-islamischen Dialogs auf katholischer Seite, von P. Hans Vöcking. Dieses Buch enthält über das von mir zur Bedeutung Massignons für „Nostra aetate Nr. 3“ Gesagte hinaus noch wichtige Analysen und Hintergrundinformationen zur Geschichte und Bedeutung dieses besonderen Konzilstextes. 2013 erschien bei Oxford University Press eine lesenswerte Studie zu Heschel: „Beyond the walls: Abraham Joshua Heschel and Edith Stein on the significance of empathy for Jewish-Christian dialogue“. Verfasser ist Joseph Redfield Palmisano. Auch zu Martin Buber gibt es vertiefende Literatur. 2015 habe ich selber die Bedeutung dieses großen jüdischen Denkers für den jüdisch-christlichen Dialog in einer eigenen Monographie noch einmal herausgearbeitet. In diesem breiteren Rahmen war es noch einmal ganz anders möglich, Bubers Anliegen aus der Mitte seines Werkes heraus zu profilieren und seinen Anfragen im Detail nachzugehen: „Martin Buber – seine Herausforderung an das Christentum“ (Gütersloher Verlagshaus). Schließlich sei noch auf den dritten Band von Hans Küngs Lebenserinnerungen „Erlebte Menschlichkeit“ (2013) hingewiesen, der zu Küngs Begegnung mit den großen Religionen der Welt und zu seinem „langen Weg zum Weltethos“ informative und authentische Passagen enthält.
Tübingen, im Oktober 2015
Karl-Josef Kuschel
Er gilt als der „Dialogiker“ schlechthin, praktisch und theoretisch. „Das dialogische Prinzip“, so einer seiner Buch-Titel – es ist „sein“ Prinzip, mit seinem Namen unverwechselbar verbunden. Mehr als andere Denker des 20. Jahrunderts hat er „Dialog“ geübt und theoretisch durchdacht, er, der jüdische Gelehrte, der – bei allen Anregungen von außen – aus nichts anderem denn aus den Quellen des Judentums heraus denken und glauben wollte. Was verstand er unter „Dialog“? Wie praktizierte er ihn in einer Welt, die für ihn, in Wien geboren, nun einmal vom Christentum geprägt ist? Viele haben ein harmonisierendes Bild von Bubers Beziehung zum Christentum im Kopf. Man erinnert sich gern an ein Buber-Wort über Jesus, den er, Buber, stets als seinen „großen Bruder“ empfunden habe, ein Wort, das umso schwerer zu wiegen scheint, als es 1950, nach der Shoa, geschrieben wurde, und zwar in seinem zusammenfassenden Werk „Zwei Glaubensweisen“. Aber Harmonie ist damit nicht gemeint. Überblickt man Bubers ganze Geschichte, erlebt man einen Mann, der sich auch entschieden abzugrenzen versteht von christlichen Bekenntnissen und deutschchristlichen Zumutungen. Die Bekenntnisse betreffen Glaubensdifferenzen zwischen Juden und Christen, die Zumutungen Zugriffe auf die gesellschaftliche Stellung von Juden in der deutschchristlichen Mehrheitsgesellschaft. Von beidem muss die Rede sein. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Und wir müssen zuerst den Kämpfer Buber kennenlernen, der für eine eigenständige und authentische jüdische Identität streitet, bevor wir den Dialogiker wahrnehmen können.
Wie hat alles angefangen? Buber wird 1878 in Wien geboren, wächst aber ab dem Alter von vier Jahren – die Eltern hatten sich getrennt – bei seinen Großeltern im galizischen Lemberg auf. Heute heißt der Ort Lwiw und ist in der Ukraine gelegen. Ein providenzielles Ereignis nicht nur in biographischer, sondern auch in geistiger Hinsicht. Großvater Salomon Buber ist nicht nur ein erfolgreicher Kaufmann, sondern als Privatgelehrter einer der wichtigsten Forscher und Sammler auf dem Gebiet der chassidischen Tradition des osteuropäischen Judentums. Sein Enkel Martin wird wie kein anderer dieser Tradition im Westen Anerkennung verschaffen.
Über Bubers Schulzeit in Lemberg wissen wir wenig. Umso kostbarer ein Dokument, das Buber 1960, fünf Jahre vor seinem Tod, selbst preisgibt. Der damals 82-Jährige legt „autobiographische Fragmente“ vor, darunter einen Text unter dem Titel „Die Schule“. Ein bemerkenswertes Signal nach einem ereignisreichen Leben und jahrzehntelangen Bemühungen um einen Dialog mit Christen. Der Altgewordene will offenbar der Öffentlichkeit noch einmal signalisieren, wo er herkommt und welche Erstbegegnung mit der christlichen Welt sein Leben geprägt hat.
Die geschilderte Szene spielt im Kaiser-Franz-Joseph-Gymnasium zu Lemberg, das Buber in den Jahren 1888 bis 1896 besucht. Die Unterrichtssprache ist Polnisch, sind doch die Mitschüler zum größten Teil Polen katholischer Konfession. Juden sind nur als kleine Minderheit präsent. Persönlich kommen die Schüler gut miteinander aus, aber beide Gemeinschaften wissen – so Buber – „fast nichts voneinander“.
„Vor 8 Uhr morgens mussten alle Schüler versammelt sein. Um 8 Uhr ertönte das Klingelzeichen; einer der Lehrer trat ein und bestieg das Katheder, über dem an der Wand sich ein großes Kruzifix erhob. Im selben Augenblick standen alle Schüler in ihren Bänken auf. Der Lehrer und die polnischen Schüler bekreuzigten sich, er sprach die Dreifaltigkeitsformel und sie sprachen sie ihm nach, dann beteten sie laut mitsammen. Bis man sich wieder setzen durfte, standen wir Juden unbeweglich da, die Augen gesenkt.
Ich habe schon angedeutet, dass es in unserer Schule keinen spürbaren Judenhass gab; ich kann mich kaum an einen Lehrer erinnern, der nicht tolerant war oder doch als tolerant gelten wollte. Aber auf mich wirkte das pflichtmäßige tägliche Stehen im tönenden Raum der Fremdandacht schlimmer, als ein Akt der Unduldsamkeit hätte wirken können. Gezwungene Gäste; als Ding teilnehmen müssen an einem sakralen Vorgang, an dem kein Quentchen meiner Person teilnehmen konnte und wollte; und dies acht Jahre lang Morgen um Morgen: das hat sich der Lebenssubstanz des Knaben eingeprägt.
Es ist nie ein Versuch unternommen worden, einen von uns jüdischen Schülern zu bekehren; und doch wurzelt in den Erfahrungen jener Zeit mein Widerwille gegen alle Mission. Nicht bloß etwa gegen die christliche Judenmission, sondern gegen alles Missionieren unter Menschen, die einen eigenständigen Glauben haben. Vergebens hat noch Franz Rosenzweig mich für den Gedanken einer jüdischen Mission unter Nichtjuden zu gewinnen gesucht.“ (Begegnung. Autobiographische Fragmente, 20f.)
Eine kleine Szene zwar, aber sie ist von geradezu obsessiver Mächtigkeit. Hier sich bekreuzigende katholisch-polnische Schüler; hier christliche Gebete mit der Dreifaltigkeitsformel, laut gesprochen, und ein übermächtig-großes Kruzifix, welches das Katheder des Lehrers ins geradezu Metaphysische steigert – und dort die jüdischen Schüler: stumm, unbeweglich, die Augen gesenkt. Szenischsymbolisch-körperlich kann Ausgrenzung kaum intensiver, kaum bitterer erfahren werden. Es braucht in der Tat die direkte Diskriminierung nicht, keinen „spürbaren Judenhass“, keine „Akte der Unduldsamkeit“, um Erfahrungen mit der Welt des Christlichen traumatisch werden zu lassen. Juden sind unter Christen „gezwungene Gäste“. Die jüdischen Schüler müssen einem religiösen Akt beiwohnen, ohne mit einem „Quentchen“ ihrer Person teilnehmen zu können. Denn ihre Anwesenheit wird kalt ignoriert, als gäbe es sie nicht.
Acht Jahre lang erlebt Buber Morgen für Morgen diese Szene, für die er das Wort „Fremdandacht“ prägt. Eine bemerkenswerte Wortschöpfung. Sie bringt die Entfremdungsgeschichte zwischen Juden und Christen „vor Gott“ plastisch ins Bild. Bubers Verhältnis zum Komplex „Christentum“ als soziokulturelle Größe ist mit dieser Erfahrung ein für alle Mal vorgeprägt. Sie hat sich in die „Lebenssubstanz“ des Knaben ebenso eingeprägt wie der Widerwille „gegen die christliche Judenmission“, ja, „gegen alles Missionieren unter Menschen“ überhaupt, „die einen eigenständigen Glauben haben“. Kein Zufall somit, dass der alt gewordene Martin Buber diese Szene ganz bewusst noch einmal der bleibenden Erinnerung überliefert. Und man versteht von daher auch das Zeugnis eines polnischen Mitschülers von Buber aus den Lemberger Jahren besser, von Witold O., der 1962 auf die Zusendung der „Autobiographischen Fragmente“ Bubers in einem Brief festhält:
„Das Christentum, in dem ich so tief verwurzelt war, Dir war es verhasst. Wie gut erinnere ich mich noch an Deinen Ausspruch: Schade um die schönen Glockenklänge für diese christliche Religion!“ (B III, 551)
Für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zeichnen sich zwei gegenläufige Bewegungen in Bubers Entwicklung ab. Zum einen eignet er sich vor allem durch Universitätsstudien in europäischen Zentren wie Wien, Leipzig, Zürich und Berlin ein breites Wissen der europäisch-christlich geprägten Geistes- und Kulturgeschichte an, namentlich in Philosophie, Geschichte, Psychologie und Kunstgeschichte. Den „Autobiographischen Fragmenten“ zufolge haben auf Buber vor allem Immanuel Kants „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik“ sowie Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ nachhaltigen Eindruck gemacht. Insbesondere die Nietzsche-Lektüre „bemächtigt“ sich seiner derart, dass Buber sich entschließt, den „Zarathustra“ ins Polnische zu übersetzen, ein Plan, der über Anfänge nicht hinauskommt und schließlich fallen gelassen wird. Bezeichnend auch: Unter dem Stichwort „Wien“ gibt es in den „Autobiographischen Fragmenten“ Fingerzeige vor allem auf das „Burgtheater“: auf die Welt der hier zu findenden Dramen, des „‚richtig‘ gesprochenen Menschenworts“, „der Fiktion aus Fiktion“. All dies schlägt den jungen Buber in seinen Bann.
Sichtbarer Ausdruck dieser frühen Auseinandersetzung mit der europäisch-christlich geprägten Kultur ist Bubers 1904 an der Universität Wien in den Fächern Philosophie und Kunstgeschichte abgelegte Promotion. Die eingereichte Dissertation über zwei christliche Denker (Nikolaus von Kues und Jakob Böhme) trägt den Titel: „Beiträge zur Geschichte des Individuationsproblems“. Vor allem aber seine seit 1904 erfolgenden Studien zur Geschichte der Mystik zeigen, wie breit Buber in dieser Zeit kultur- und religionsgeschichtlich orientiert ist. Das findet seinen besonderen Ausdruck in zwei Publikationen. 1909 erscheint eine Sammlung mystischer Texte unter dem Titel „Ekstatische Konfessionen“. Überraschend hat Buber hier nicht nur Zeugnisse klassischer europäisch-christlicher Mystik vom 12. bis zum 19. Jahrhundert aufgenommen, sondern auch Texte aus der Welt Indiens, Chinas und des Orients. Mehr noch: 1910 erscheint eine Sammlung von „Reden und Gleichnissen“ des taoistischen Klassikers Tschuang-Tse (um 370 – um 300 v. Chr.). Buber präsentiert sie nicht aus dem chinesischen Original, entnimmt sie vielmehr einer englischen Ausgabe. Seine dem Buch als Nachwort mitgegebene Abhandlung „Die Lehre vom Tao“ allerdings ist ein Meilenstein deutschsprachiger Taoismus-Rezeption (Werke I, 1021–1051).
Zum anderen setzt bei Buber gleichzeitig vor dem ersten Weltkrieg eine neue Hinwendung zum Judentum ein. In der Zwischenzeit hatte der Wiener Publizist Theodor Herzl (1860–1904) seine programmatische Schrift „Der Judenstaat“ (1896) erscheinen lassen und damit der Bewegung des Zionismus gewaltigen Auftrieb gegeben. Buber schließt sich bereits als Student in Leipzig 1898/99 der Bewegung des Zionismus an, ohne sich aber völlig mit dessen politischen Zielen zu identifizieren. Angesichts vielfacher geistiger Auszehrung jüdischer Identität liegt sein Schwerpunkt auf einer kulturellen Erneuerung. Die geistigen und ethischen Werte des jüdischen Volkes gilt es zu revitalisieren. Zionismus als Bewegung zur Gewinnung einer jüdischen Identität ja, aber Kulturzionismus, das ist Bubers Schwerpunkt von Anfang an. Dabei ist Buber nicht gegen die Schaffung einer Heimstadt des jüdischen Volkes in Palästina, worauf dem politischen Zionismus alles ankommt. Aber wenn schon, soll dessen Ausstrahlung eine Renaissance des jüdischen Geistes in der Diaspora befördern. Dem Kulturzionismus geht es um „Gegenwartsarbeit“: um die Stärkung des jüdischen Gemeinschaftsbewusstseins und die Förderung einer eigenständigen kulturellen Identität in Deutschland.
Der Anschluss an die zionistische Bewegung kommt für Buber einer „Befreiung“ gleich, der Befreiung aus einem wurzellosen europäischen Intellektualismus, der über alles reden kann und sich an nichts bindet. Buber selbst spricht in der Rückschau („Mein Weg zum Chassidismus“, 1917) von einer „Wiederherstellung des Zusammenhangs“, von einer „erneuten Einwurzelung in die Gemeinschaft“, von einer „rettenden Verbindung mit einem Volkstum“. Keiner bedürfe all dessen so sehr „wie der vom geistigen Suchen ergriffene, vom Intellekt in die Lüfte entführte Jüngling; unter den Jünglingen dieser Art und dieses Schicksals aber keiner so sehr wie der jüdische“ (Werke III, 966). In der Tat ist insbesondere der Chassidismus eine der großen Entdeckungen Bubers im Prozess kulturzionistischer Erneuerung: eine mystisch-charismatische Frömmigkeitsbewegung im osteuropäischen Judentum seit dem 18. Jahrhundert. Hier glaubt er, die noch unverbrauchte geistige Kraft des Judentums gefunden zu haben. „Urjüdisches“, wie er meinte, sei ihm in den Texten der chassidischen Meister aufgegangen, Urjüdisches, das „im Dunkel des Exils zu neubewusster Äußerung aufgeblüht“ sei: die „Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Tat, als Werden, als Aufgabe gefasst.“ „Urjüdisches“, das für Buber zugleich „Urmenschliches“ ist, „der Gehalt menschlichster Religiosität“ schlechthin. (Werke III, 967f.) 1906 beginnt Buber mit einer ersten Edition chassidischer Texte: „Die Geschichten des Rabbi Nachman“, gefolgt 1908 von „Die Legende des Baalschem“. Und mit diesen Dokumenten „im Rücken“ geht Buber nun auch in die Auseinandersetzung mit dem Komplex „Christentum“. Sie haben sein Selbstbewusstsein als genuin jüdischer Denker in besonderer Weise gestärkt.
Erster Höhepunkt einer durch Buber nun programmatisch vollzogenen „jüdischen Renaissance“ sind die drei in Prag 1909 und 1910 gehaltenen „Reden über das Judentum“ (MBW 3, 219–256). Und wir registrieren: Die geistige Neubestimmung des Judentums ist bei Buber zugleich eine Auseinandersetzung mit den Ursprüngen des Christentums. Erstmals finden wir in diesen Reden programmatische Äußerungen zum Urchristentum und zur Gestalt Jesu, und zwar in scharfer Abgrenzung zu dem, was Buber schon hier und künftig pauschal „das Christentum“ nennt. Er versteht darunter einen vom jüdischen Wurzelboden abgelösten, unter den Bedingungen der hellenistisch-römischen Kultur gewachsenen geschichtlichen Komplex. „Ur-Christentum“ und die Gestalt Jesu aber werden von Buber jetzt und künftig ausschließlich von ihren jüdischen Voraussetzungen her verstanden. Ur-Christentum müsse eigentlich „Ur-Judentum“ heißen, erklärt Buber in seiner dritten Prager Rede, denn es habe „mit dem Judentum weit mehr als mit dem zu schaffen, was man heute als Christentum“ bezeichne. (MBW 3, 247) Buber spitzt seine mittlerweile gewonnenen Einsichten in dieser Rede so zu:
„Was an den Anfängen des Christentums nicht eklektisch, was daran schöpferisch war, das war ganz und gar nichts anderes als Judentum. Es war jüdisches Land, in dem diese Geistesrevolution entbrannte; es waren uralte jüdische Lebensgemeinschaften, aus deren Schoße sie erwacht war; es waren jüdische Männer, die sie ins Land trugen; die, zu denen sie sprachen, waren – wie immer wieder verkündet wird – das jüdische Volk und kein anderes; und was sie verkündeten, war nichts anderes als die Erneuerung der Religiosität der Tat im Judentum. Erst im synkretistischen Christentum des Abendlandes ist der dem Okzidentalen vertraute Glaube zur Hauptsache geworden; im Mittelpunkt des Urchristentums steht die Tat […] Und können wir nicht denen, die uns neuerdings eine ‚Fühlungnahme‘ mit dem Christentum anempfehlen, antworten: Was am Christentum schöpferisch ist, ist nicht Christentum, sondern Judentum, und damit brauchen wir nicht Fühlung zu nehmen, brauchen es nur in uns zu erkennen und in Besitz zu nehmen, denn wir tragen es unverlierbar in uns; was aber am Christentum nicht Judentum ist, das ist unschöpferisch, aus tausend Riten und Dogmen gemischt, –und damit – das sagen wir als Juden und als Menschen – wollen wir nicht Fühlung nehmen. Freilich dürfen wir dies nur antworten, wenn wir den abergläubischen Schrecken, den wir vor der nazarenischen Bewegung hegen, überwinden und sie dahin einstellen, wohin sie gehört: in die Geistesgeschichte des Judentums.“ (MBW 3, 247.248f.)
„Abergläubischer Schrecken vor der nazarenischen Bewegung“! „Nicht Fühlung nehmen“! Die Sprache ist kämpferisch. Der frühe Buber setzt sie gezielt ein, und ihre psychologische Funktion ist offensichtlich. Vergessen wir nicht: Adressat der Reden ist ein jüdisches Publikum im Prozess des Ringens um eine eigene Identität. Wer wie Buber „Schrecken“ beschwört, weiß um die Angst von Minderheitskulturen in Mehrheitsgesellschaften. Wer „das Christentum“ zur „nazarenischen Bewegung“ verkleinert, auf einen unschöpferischen, weil angeblich synkretistischen Mix aus „tausend Riten und Dogmen“ reduziert und in seinen Ursprüngen „in die Geistesgeschichte des Judentums“ verweist, der tut das, weil das Gegenüber von geschichtlicher Übermächtigkeit ist.
Bubers Jesus-Bild muss vor dem Hintergrund dieser kulturgeschichtlich folgenreichen Entwicklung gesehen werden. Schon 1914 formuliert er Einsichten und Überzeugungen (MBW 9, 76), an denen er – bei allen Wandlungen in Ton und Stil – der Sache nach auch künftig festhalten wird:
1.Das Urchristentum ist eine radikaljüdische Bewegung. Sie ist Buber wichtig, nicht weil, sondern obwohl sie im Christentum mündete, in einem Christentum, in dem „alle jüdischen Elemente nicht entfaltet, sondern entstellt“ worden seien.
2.Zu unterscheiden ist zwischen Jesus als glaubendem Menschen, als Subjekt seiner eigenen Religiosität, und Jesus als Objekt von Religiosität, als „Gegenstand“ des Glaubens. Jesu Religiosität ist für Buber tief geprägt vom Judentum seiner Zeit, so wie die des Sokrates vom Griechentum und die des Buddha vom Indertum. Insofern ist sie Juden tief vertraut. Die „Objektivierung“ Jesu als Glaubensinhalt und -gegenstand dagegen bezeichnet Buber schon 1914 als für Juden als „auf immer unüberwindlich fern und fremd“. Das lässt sich auf die Formel bringen: Ernstnehmen der Botschaft Jesu ja, ein Bekenntnis zu ihm als jüdischem Messias (griechisch: der Christus) oder Sohn Gottes – nein. Eine Christologie, sei sie paulinischer oder johanneischer Provenienz, bleibt Buber ein für alle Mal „fern und fremd“.
3.Die unüberwindliche Ferne und Fremdheit wird von Buber in dieser Zeit unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg mit geradezu militärischen Bildern zum Ausdruck gebracht: kein „Frieden“, kein „Waffenstillstand“. Ein scharfer Antagonismus kommt herein zwischen „reinen und ganzen Juden“ sowie der „weltbeherrschenden christlichen Kirche“. Ein Antagonismus, der dadurch entsteht, dass Buber der Kirche die „Usurpation jüdischen Urbesitzes“ vorwirft. Mit dem neu gewonnenen Selbstbewusstsein jüdischer Gläubigkeit hält er diesem Verständnis den „ewigen Anspruch“ des Judentums entgegen, „die wahre Ekklesia, die Gemeinde Gottes zu sein“.
Dieses demonstrative Selbstbewusstsein hat mit dem ständig neu geforderten Legitimationsnachweis jüdischer Denker angesichts einer christlichen Mehrheitskultur zu tun. Es ist ein „Schrei“ nach Anerkennung, der freilich vielfach „ins Leere“ (Ch. Wiese) geht, weil er von der Gegenseite überhört oder nicht ernst genommen wird. Jüdische Denker sind immer wieder neu gezwungen – so Christian Wiese zu Recht –, „gegen Vereinnahmung, missionarische Intentionen und exklusive Wahrheitsansprüche“ ihr eigenes zu setzen.1
Mehr noch: Juden in Deutschland sind immer wieder neu lauernden Fragen ausgesetzt, ob sie sich als Juden wirklich dem deutschen Staat vollgültig zugehörig fühlen. Müssen Juden ihr Judentum nicht ablegen und sich zum Christentum bekehren, um gleichberechtigte deutsche Bürger zu sein? Buber muss noch gegen Ende des Ersten Weltkriegs zu solchen Fragen Stellung nehmen – 100 Jahre Judenemanzipation in Deutschland zum Trotz („Der Preis“, 1917, in: MBW 9, 77–83) Solch ständig lauerndes Misstrauen, solche Bekehrungserwartung und solcher Loyalitätsdruck machen die Stellung von Juden in Deutschland nach wie vor prekär.