Das Buch
»Ich möchte, dass mein Vater nicht vergessen wird – und alle unterstützen, die für die Freiheit in Russland kämpfen.«
Am 27. Februar 2015 wurde der russische Oppositionspolitiker Boris Nemzow in Moskau auf offener Straße erschossen. Dafür trägt Putin die politische Verantwortung, sagt Schanna Nemzowa, seine älteste Tochter. Sie stand ihrem Vater besonders nahe. Hier erzählt sie, warum er sterben musste und wofür sie politisch kämpft.
Die Autorin
Schanna Nemzowa, Jahrgang 1984, ist Journalistin und Börsenexpertin. Sie war bis Mai 2015 Moderatorin beim russischen Wirtschaftssender RBK in Moskau. Im Juni 2015 ist sie ausgereist. Seit August 2015 arbeitet sie für die Deutsche Welle.
Schanna Nemzowa wurde für ihr politisches Engagement mit dem polnischen Solidarność-Preis ausgezeichnet. Ende 2015 hat sie die »Boris-Nemzow-Stiftung für die Freiheit« gegründet. Sie lebt in Bonn.
Schanna Nemzowa
Russland wachrütteln
Mein Vater Boris Nemzow und sein politisches Erbe
Aus dem Russischen
von Boris Reitschuster
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1324-5
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Für Dina Nemzowa
Ich kenne keinen einzigen Menschen, der etwas Wichtiges oder Progressives für Russland getan hat und dafür nicht mit seinem Leben bezahlt hätte. Alexander II. hat viel für Russland getan und wurde umgebracht. Ich glaube, dass Stolypin Russland zu einem großen Land hätte machen können, aber er wurde umgebracht.1
Boris Nemzow
Als mein Vater ein kleines Kind war, durfte er immer erst an den Strand, wenn die Sonne untergegangen war – weil seine Mutter ihn vor der prallen Sonne schützen wollte. Mein Vater freute sich den ganzen Tag auf den Strand, und so waren die ersten Worte, die er als zweijähriges Kind aussprechen konnte: »Solnze selo«, auf Deutsch: »Die Sonne ist untergegangen«.
Nach dem Mord an meinem Vater habe ich mich entschlossen, dass ich ihm ein Denkmal setzen und sein Werk fortsetzen möchte. Mein erster Gedanke war, seine Beiträge auf Facebook als Buch zu veröffentlichen. Wegen der Zensur war das soziale Netzwerk fast das einzige Medium, in dem er unzensiert mit den Menschen in Russland kommunizieren konnte. Doch schon bald verstand ich, dass diese Beiträge allein ihm nicht gerecht werden. Es wäre wieder nur die »offizielle« Seite von meinem Vater sichtbar geworden. Ich will auch den Menschen abseits der Nachrichten und der Politik zeigen: den besten Vater, den ich mir vorstellen kann. Den Vater, den ich so geliebt habe und liebe, wie ich nie jemanden geliebt habe und sicher auch nicht werde lieben können. Einen Menschen, der auch über seinen Tod hinaus andere zusammenbringt: Immer wieder treffe ich auf Bekannte und Freunde von ihm, die ich gar nicht oder kaum kannte und die mir etwas zurückgeben wollen von dem, was mein Vater ihnen gegeben hat.
Die Arbeit an diesem Buch war nicht nur für mich eine wichtige Trauerarbeit. Sie war es auch für meine Familie. Meine Großmutter Dina Nemzowa, die am Tag der Beerdigung ihres Sohnes, das war der 3. März 2015, ihren 87. Geburtstag hatte, war völlig gebrochen und niedergeschlagen. Sie hatte kaum noch Lebensenergie. Als ich ihr von diesem Buch erzählte, schöpfte sie plötzlich wieder ungeahnte Reserven: Sie entschloss sich, ihre Erinnerungen an ihren Sohn, meinen Vater, aufzuschreiben. Und sie ging völlig auf in dieser Aufgabe.
Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch nicht nur meiner Großmutter und mir neue Lebenskraft gibt, sondern auch den vielen Menschen, die in und außerhalb von Russland zuweilen verzweifeln an dem, was in meinem Land passiert. Dass die immense Tatkraft, die meinen Vater auszeichnete, über den Umweg dieses Buches weiterwirkt. Seinen Körper konnten sie zerstören. Aber nicht seinen Geist. Nicht seine Ideen. Nicht sein Werk. Nicht seinen Kampf für die Freiheit. Mein Vater ist lebendig.
Die schrecklichste Nacht meines Lebens
Seit jenem Freitag im Februar 2015 ist nichts mehr in meinem Leben so, wie es vorher war. Ich war zu Hause in meiner Wohnung, im Zentrum von Moskau, nicht weit vom Kreml entfernt. Ich bin gegen Mitternacht zu Bett gegangen, weil ich am nächsten Morgen mit meiner Mutter in den Urlaub fahren wollte; die Koffer waren schon gepackt, wir waren mit den Gedanken schon so gut wie in Italien. Da weckten mich plötzlich schreckliche Schreie, solche, wie ich sie niemals zuvor gehört hatte. Meine ersten Gedanken waren: Ich habe vergessen die Tür zu schließen, wir werden überfallen, da sind sicher Einbrecher in der Wohnung.
Ich rannte aus meinem Zimmer und sah meine Mutter auf dem Sofa sitzen. Sie konnte kaum reden. »Vater wurde getötet«, sagte sie. Ich fragte sie, wer ihr das mitgeteilt habe. Sie sagte, Olga habe sie angerufen. Das ist eine Freundin meiner Mutter. Ich fragte: »Wo?« Und sie gab mir zur Antwort: »Tot. Erschossen. Auf der Bolschoi-Moskworezki-Brücke, auf dem Heimweg.«
Wenn meine Mutter nicht gewesen wäre, hätte ich die Nachricht bis zum Morgen nicht erfahren. Ich schalte mein Handy über Nacht immer aus, damit mich nicht irgendein zufälliger Anruf oder irgendeine Nachricht aus dem Schlaf holt. Dennoch konnte ich nicht sofort glauben, was meine Mutter gesagt hatte. Ich machte mein Telefon an, dann sah ich, dass es da bereits viele Beileidsbekundungen von Freunden und Kollegen gab. Aber ich wollte es immer noch nicht glauben. So ging ich ins Internet auf die Seite von CNN und da wiederum auf die Nachrichtenseiten. Und danach auf die Seite von RBK, dem Fernsehsender, bei dem ich damals noch arbeitete. Es gab keine Zweifel, leider.
Ich zog mich an, so schnell es ging. Zum Ort des Geschehens wären es zu Fuß fünfzehn Minuten gewesen, aber es regnete, und so nahmen wir ein Taxi. Unterwegs fragte uns der Taxifahrer, was auf der Bolschoi-Moskworezki-Brücke geschehen ist. Ich antwortete ihm, dass Boris Nemzow umgebracht wurde. Er zuckte mit den Schultern und sagte so etwas wie »Na und?«. Ich antwortete ihm, dass es doch irgendwie merkwürdig sei, wenn er sich so ausdrücke, denn es sei schließlich ein bekannter Mensch im Zentrum von Moskau umgebracht worden. Dann fügte ich noch hinzu, dass es sich um meinen Vater handle. Unsere Unterhaltung war damit abrupt zu Ende, aber ich werde mich immer an sie erinnern.
Fünf bis sieben Minuten später waren wir schon da, direkt gegenüber vom Kreml und der Basilius-Kathedrale mit ihren bunten Zwiebeltürmen. Mein Vater wohnte auf der anderen Seite des Moskwa-Flusses, gar nicht weit von meiner Wohnung entfernt, und wenn er im Zentrum war, dann ging er meist zu Fuß nach Hause. Die Strecke vorbei an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten Russlands ist schön, romantisch und sehr russisch. Mein Vater liebte sie, so oft wie möglich lief er da entlang. Und so auch in jener Nacht auf den 28. Februar, wie sich später herausstellte.
Mein Vater war bei Echo Moskaus, dem letzten Radiosender in Moskau, der noch halbwegs kritisch berichtet. Dort gab er ein Interview über den großen Marsch des Frühlings, der für den 1. März 2015 in Marino geplant war, einer Trabantenvorstadt von Moskau, weil die Behörden der Opposition verboten hatten, ihn im Zentrum der Stadt abzuhalten. Mein Vater war einer der Organisatoren dieser Protestaktion. Nach dem Interview unterhielt er sich noch auf dem Flur und im »Wartezimmer« von Echo Moskaus mit Journalisten – eine alte Tradition bei dem Sender. Anschließend fuhr er vom Neuen Arbat weiter zum Manege-Platz, der direkt an den Roten Platz angrenzt. In dem alten Kaufhaus GUM, einem Konsumtempel des neuen Russlands und einem Denkmal historischer russischer Architektur, ist das Bosko-Café, eines seiner Lieblingslokale in Moskau – nicht zuletzt wegen der malerischen Kulisse, direkt am Roten Platz, gegenüber der Kreml-Mauer. Dort hatte sich mein Vater mit Anna Durizkaja, seiner ukrainischen Lebensgefährtin, zum Abendessen verabredet. Nichts deutete zu diesem Zeitpunkt auch nur im Geringsten darauf hin, dass es sein Henkersmahl werden sollte.
Als sie fertig gegessen hatten, gingen sie zu Fuß nach Hause. Über den Roten Platz, vorbei am Lenin-Mausoleum, das er immer mit großer Distanz betrachtete, dann weiter zur Basilius-Kathedrale, vorbei am Spasski-Turm des Kremls. Und dann, fast parallel zur Kreml-Mauer, hinunter zur Bolschoi-Moskworezki-Brücke, die hinüberführt in den historischen Stadtteil Samoskworetschie, was auf Deutsch so viel bedeutet wie »Hinter dem Moskwa-Fluss« und in dem sich unter den Zaren einst die Händler angesiedelt hatten.
Wahrscheinlich wurde mein Vater damals vom Geheimdienst beschattet. Vor Massenprotesten wie dem Marsch des Frühlings geraten Oppositionsführer, das hatte er selbst immer gesagt, verstärkt in den Fokus. Dass ihre Handys abgehört und auch als Mikrofon verwendet werden, um persönliche Gespräche aufzunehmen, ist keine Ausnahme, sondern die Regel. So wurden etwa die persönlichen Telefongespräche meines Vaters im Dezember 2011 in dem Boulevard-Medium Lifenews.ru veröffentlicht, was nach Ansicht vieler im Auftrag des Kremls geschah.
Nachdem mein Vater mit Anna die Brücke betreten hat, fährt auch eine Kehrmaschine auf die Brücke, wie auf Aufnahmen einer Überwachungskamera, die öffentlich gemacht wurden, zu sehen ist. Das Fahrzeug ist recht laut und fährt langsam. Es überholt die beiden, so dass sie für die Kamera nicht mehr sichtbar sind. Auf der Fahrbahn neben dem Paar, wo gerade noch reger Verkehr herrschte, sind auf einmal keine Autos mehr unterwegs. Bis auf einen Wagen, der weiß oder hellgrau ist. Auf der Videoaufzeichnung ist das schwer zu unterscheiden, da es schon dunkel war und zu dem Zeitpunkt Schneeregen fiel. Darüber hinaus war die Kamera in weiter Entfernung platziert. Dieses Auto nun fährt sehr langsam und bremst gleich hinter der Kehrmaschine. Dann geht alles ganz schnell: Jemand springt ins Auto, dieses fährt umgehend los, die Kehrmaschine bewegt sich weiter nach vorne und gibt so den Blick auf den Täter frei. Der muss offenbar meinem Vater hinterhergelaufen sein – und zwar vom Café aus – und auf den richtigen Moment gewartet haben. Und der richtige Moment war dann wohl der, als die Kehrmaschine aufgetaucht ist.
Anna erinnerte sich später, dass sie nicht sofort verstanden hatte, was passiert war. Sie hörte plötzlich Töne, die sie an Silvesterkracher erinnerten, und schaute nach unten, weil sie glaubte, sie würden zwischen ihren Beinen explodieren. Als sie wieder nach oben guckte, stürzte mein Vater bereits zu Boden. Anna dachte, dass er gestolpert sei oder sich schlecht fühle. Sie hörte sein Röcheln und setzte sich neben ihn. Dann war ihr klar, was geschehen war.
Sie rannte sofort los, um Hilfe zu holen, entdeckte die Kehrmaschine weiter vorne und versuchte, sie zu erreichen. Auf der Videoaufzeichnung ist zu sehen, dass sie einige Minuten neben der Kehrmaschine stehen bleibt.
Ihren Worten zufolge wollte der Fahrer der Kehrmaschine nicht helfen, gab ihr aber die Telefonnummer der Polizei. Die Videoaufzeichnung zeigt, dass mehrere Menschen vorbeigehen und -fahren. Einige bleiben stehen: Eine Frau im Pelzmantel etwa kommt näher heran, bückt sich und läuft dann sofort weiter; ein Auto bremst, ein Mann springt heraus, fragt offenbar irgendetwas und fährt dann weiter. Danach rennen zwei Personen zum Tatort, beugen sich so über meinen Vater, als würden sie etwas prüfen, und laufen dann zu einer Treppe, die von der Brücke nach unten führt. Danach kommen sie wieder. Wahrscheinlich sind das die Geheimdienstmitarbeiter, die meinen Vater zu diesem Zeitpunkt beschatten.
Zwölf Minuten nach den Schüssen trifft die Polizei ein. Eine schnelle Reaktionszeit für Moskauer Verhältnisse, ließe man den Ort des Geschehens außer Acht. Wenn Journalisten in unmittelbarer Nähe des Kremls eine TV-Kamera aus der Tasche holen und zu filmen anfangen, ist binnen weniger Augenblicke ein Beamter des Kreml-Sicherheitsdienstes da, meistens kommen sogar zwei, um sich nach der Identität des Kameramanns und nach dessen Dreherlaubnis zu erkundigen. Dass auf der Bolschoi-Moskworezki-Brücke, einen Steinwurf von der Kreml-Mauer und vielleicht zwei, drei Minuten Fußmarsch vom nächsten Stützpunkt des Kreml-Sicherheitsdiensts am Spasski-Turm entfernt, wo die Gegend nur so gespickt ist mit Überwachungskameras – dass also an einem der bestüberwachten Orte der Welt mitten in der Nacht mehrere Schüsse fallen und so langsam reagiert wird, das ist völlig unglaubwürdig.
Desgleichen ist es nicht nachvollziehbar, dass der FSO – der Föderale Wachdienst – keine Videoaufzeichnungen vom Tatort hat. Für alle sichtbar gibt es sehr viele (insgesamt mehr als zwanzig) Kameras auf dieser Brücke. Auf Nachfrage erklärte ein Mitarbeiter des FSO, dass alle Kameras auf das Innere des Kremls gerichtet seien. Dabei sind auf der Brücke und auch auf den Kreml-Mauern selbstverständlich Kameras, die in Richtung Brücke gerichtet sind. Der erste Chef der Ermittlungsgruppe sagte mir, dass die Kameras an jenem Tag nicht funktioniert hätten. Auch eine sehr seltsame Version.
Als erster von den Freunden und Weggefährten meines Vaters erreichte Ilja Jaschin den Tatort. Er hielt sich gerade zufällig im Stadtzentrum auf. Wenig später kam auch Wadim Prochorow, der seit vielen Jahren nicht nur ein treuer politischer Mitstreiter meines Vaters war, sondern auch sein Anwalt. Er streifte auch in diesem Moment nicht den nüchternen Blick des Juristen ab und wunderte sich, dass der Bauch meines Vaters aufgedunsen und kein Blut auf dem Asphalt zu sehen war. Später erklärten die Ärzte, dass die Schussverletzungen offenbar zu inneren Blutungen geführt hatten, das ganze Blut also in den Bauch meines Vaters gelaufen war.
Eine gute Viertelstunde nachdem die ersten Sicherheitsbeamten am Tatort eingetroffen waren, sperrte die Polizei ihn ab. Kurz darauf kamen meine Mutter und ich an der Brücke an. Die Beamten ließen uns zunächst nicht durch.
»Ich bin seine Tochter«, flehte ich sie an.
»Ihre Pässe!«, lautete die Antwort.
Meine Mutter und ich gaben ihnen unsere Papiere – ein Mensch ohne Pass ist in Russland kein Mensch, hieß es schon zu Sowjetzeiten, und leider trifft dieser Satz unter Wladimir Putin wieder zu. Als uns die Beamten endlich passieren ließen, war die Leiche meines Vaters bereits weggeräumt. Ich konnte nicht mehr Abschied nehmen von ihm. Ich starrte lange auf die Stelle, an der er gelegen hatte. Hier traf ich auch den langjährigen Freund meines Vaters Wladimir Kara-Mursa junior.
Während ich meinen Vater am Tatort nicht mehr zu Gesicht bekam, konnten Millionen russische Fernsehzuschauer Bilder von seinem halbentblößten Leichnam und seinem völlig aufgedunsenen Bauch sehen. Später wurde ein Plastiksack mit der Leiche meines Vaters gezeigt.
In dieser Nacht machte ich mir große Sorgen um meine Großmutter. Wie konnte ich sichergehen, dass sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes nicht aus der Zeitung oder dem Radio erfuhr, sondern von Verwandten? Außerdem wünschte ich mir, dass sie jemand persönlich informierte und nicht telefonisch. Gott sei Dank ging die Schwester meines Vaters ans Telefon. Sie weckte meinen Cousin und fuhr mit ihm zusammen noch um vier Uhr nachts zu meiner Großmutter. Beide warteten dort, bis sie aufwachte. Nachdem meine Großmutter die Todesnachricht erhalten hatte, entschied sie sofort, noch am selben Tag nach Moskau zu reisen.
Das ist Tradition in unserer Familie: Wenn etwas Tragisches passiert, dann müssen wir uns beschäftigen, dann müssen wir etwas tun. Ich bin stolz auf meine Großmutter, auf ihren starken Charakter und Willen und darauf, dass sie beim Trauermarsch dabei war und drei Stunden mitgelaufen ist.
Der Trauermarsch fand am 1. März 2015 statt – an Stelle von dem eigentlich geplanten Frühlingsmarsch. Die Behörden genehmigten die Kundgebung im Zentrum von Moskau. Das war das große Verdienst von Michail Kassjanow, dem ehemaligen Premierminister unter Wladimir Putin. Kassjanow ist heute einer der wichtigsten Kremlkritiker und war mit meinem Vater gemeinsam Vorsitzender der Oppositionspartei RPR-Parnassus. Er half uns auch sehr bei der Organisation der Beerdigung.
Die Trauerfeier war am 3. März im Moskauer Sacharow-Zentrum, das mein Vater zu Lebzeiten immer wieder unterstützt hatte. Ich entschied, die Presse bei den Feierlichkeiten zuzulassen. Mein Vater war ja kein verschlossener Mensch, und deshalb hätte ich es falsch gefunden, die Anwesenheit von Journalisten bei der Trauerfeier zu verbieten. Darüber hinaus hätten sie sich sowieso heimlich Zugang verschafft.
Ich bedauere noch immer, dass wir für die Trauerfeier nur vier Stunden eingeplant hatten. Ja, nur. Denn die Warteschlange vor dem Gebäude war Hunderte Meter lang, und so konnten sich viele nicht persönlich von meinem Vater verabschieden. Meine Großmutter stand die gesamten vier Stunden neben dem offenen Sarg ihres einzigen Sohnes. Ich hätte diesen Anblick nicht noch einmal ertragen können, es hatte mir schon in der Leichenhalle das Herz zerrissen. Wie er da vor mir lag. Leblos. Er, der für mich immer der Inbegriff von Lebendigkeit gewesen ist.
Ich stellte mich so weit wie möglich vom Sarg weg, um ihn nicht zu sehen. Ich war wie in Trance. Es fühlte sich so an, als geschähe das alles ohne mich. Wahrscheinlich wollte ich einfach nur, dass es sich so anfühlte.
Als der Sarg mit der Leiche aus den Räumen ins Auto getragen wurde, applaudierten die Menschen auf der Straße und skandierten: »Helden sterben nicht!« Dank des Moskauer Bürgermeisteramts wurde die Strecke zum Friedhof, die werktags üblicherweise sehr verstopft ist, freigehalten, so dass wir innerhalb von zwanzig Minuten dort waren. Alle Autos hupten, und zwar nicht wegen der zusätzlich entstandenen Staus, sondern aus Solidarität und zu Ehren meines Vaters. Dieser Mord hat viele Menschen in Russland und im Ausland schockiert.
Zunächst wollten sogar die großen Fernsehkanäle Nachrufe über meinen Vater bringen, in denen er nicht postum noch verleumdet werden sollte. Sogar Sergej Briljow, einer der bekanntesten Fernsehjournalisten vom Kanal Rossija, rief meine Mutter an und bat sie um ein Interview. Sie antwortete ihm: »Ich kenne Sie nicht!« Was der Wahrheit entspricht, denn meine Mutter schaut kein russisches Fernsehen. In Deutschland wäre das in etwa so, wie wenn jemand Günther Jauch nicht kennt. Abgesehen davon war meine Mutter sowieso fest entschlossen, prinzipiell kein Interview zu geben.
So eine Reaktion der Leute auf den Mord war nicht zu erwarten. Eine der renommiertesten Zeitungen in Russland, »Wedomosti«, schrieb: »Wie beliebt Nemzow war, wurde erst nach seinem Tod klar.«2 Die große Anzahl der Menschen, die am Trauermarsch teilnahmen, veränderte jedoch die Pläne der Kremlmedien. Kurz nach der Absage meiner Mutter sendete das russische Fernsehen Verleumdungsgeschichten, und das, obwohl mein Vater noch nicht einmal beerdigt war. Da waren sie wieder, all diese Lügengeschichten. Von seinem angeblichen Luxusleben, von seinem angeblichen Verrat an Russland, und Frauengeschichten; es war so, als hätte es einen Wettbewerb um die unappetitlichste Geschichte gegeben, um die größte Niedertracht.
Die Journalistin Nina Swerjewa, die vor Jahren einen Film über die Zeit meines Vaters als Gouverneur gemacht hat und heute keineswegs eine große Kremlkritikerin ist, war so angewidert von der Berichterstattung, dass sie auf Facebook am 2. März Folgendes schrieb:
»Das Programm Prjamoj Efir (auf Deutsch Live auf Sendung) habe ich mir nachträglich im Internet angesehen, nachdem ich viele Kommentare dazu gelesen hatte. Ich musste mich dazu zwingen, zehn Minuten lang gelang es mir, mehr schaffte ich nicht. Der Sender Rossija-1, der wichtigste staatliche Sender in Moskau, erklärt einen Menschen, noch bevor seine sterblichen Überreste der Erde übergeben sind, zu einem Verräter, ergötzt sich an Details seiner Beziehung zu einem ukrainischen Fotomodell und übertrifft an Niederträchtigkeit den Sender NTW noch um Welten. Und ich weiß, warum. Weil die Machthaber erschrocken sind über den gestrigen Trauerzug, einen Marsch von Tausenden mit klugen Gesichtern und traurigen Augen. Noch einen Tag zuvor war von oben der Befehl gekommen, Nemzow wie einen würdigen Politiker zu verabschieden. Doch dann kam ein neuer Befehl, ihn zu erniedrigen bis zum Letzten und dabei alle verfügbaren Mittel anzuwenden. […]
Das ist nicht mal mehr Propaganda, das ist so, wie wenn man Benzin schüttet in ein Feuer von Gemeinheiten und Intoleranz gegen einen beliebigen, ›politisch nicht zuverlässigen‹ Menschen. Nein, sie haben nicht nur nicht begriffen, dass es genau dieser Hass ist, der Boris umgebracht hat, durch wessen Hände auch immer, sondern sie wollen offenbar auch noch, dass weiter getötet wird. Das ist eine blutige Corrida, und das Volk schreit und fordert Blut. Leute, wie können wir das stoppen?«
Nina Swerjewa hat es auf den Punkt gebracht: Nach dem Mord an meinem Vater wurde ein zweiter Mord begangen – die Erinnerung an ihn wurde zerstört. Nachdem Putin mitbekommen hatte, wie viele Menschen zu dem Trauermarsch für meinen Vater gekommen waren – es waren 50 000, wie selbst die Stadtverwaltung schätzte –, ist er offenbar erschrocken. Mein Vater wurde zwar physisch umgebracht, aber sein Geist lebt weiter. Und dieser Geist ist gefährlich für das Regime. Denn mein Vater hat viele Menschen dazu inspiriert, gegen diesen Unrechtsstaat zu kämpfen. Sein Name ist zum Symbol für ein freies Russland geworden. Und weil viele Menschen in meinem Vater einen Helden sehen, fühlen sich die Machthaber gezwungen, ihn auch über seinen Tod hinaus zu diskreditieren.
Und zwar aus purer Angst. Aus Angst vor Demonstrationen. Was fürchtet Putin am meisten? Dass sich Menschen gegen ihn zusammenschließen, dass es Massenproteste gibt. Deshalb tut Putin alles dafür, um das schon im Ansatz zu verhindern.
Auch Peter Pomerantsev, britischer Propaganda-Forscher mit russischen Wurzeln, ist zu dem Schluss gekommen, dass insbesondere autoritäre Regime Angst haben vor jeglicher Art der Selbstorganisation von Menschen – vor einer politischen Partei, die spontan ohne ihre Kontrolle entstehen könnte, genauso wie vor einer Bürgerinitiative gegen Baumfällungen in irgendeiner Kleinstadt. Wenn sich Menschen zusammenschließen gegen den Staat, gegen die Behörden, wird das in Russland als existentielle Bedrohung empfunden. In Westeuropa ist das anders: Auch hier sind Beamte und Politiker über Widerstand sicher nicht gerade glücklich, aber sie fühlen sich eben nicht in ihrer Existenz bedroht.
Bürgersprechstunde
Sechs Tage nach der Beerdigung flog ich nach Deutschland, zu Alfred Koch, einem der engsten Freunde meines Vaters. Er war früher Vizepremier von Russland, hatte meinen Vater damals kennengelernt und sogar eine Zeitlang bei ihm gewohnt, als er gerade nach Moskau gezogen war. Meine Mutter und ich sollten damals erst etwas später hinterherkommen. Heute ist Koch einer der prominentesten Gegner Putins und lebt als Russlanddeutscher in Bayern. Ich brauchte Abstand.
Mein Vater war immer stolz darauf, dass die vier Kinder von ihm, dem Kremlkritiker, den die Regierungspropaganda ständig als vaterlandslosen Gesellen und »Nationalverräter« darstellte, in Russland lebten, während die Kinder der Mächtigen als ihren Lebensmittelpunkt ausgerechnet den Westen vorziehen – den die von ihren Vätern gesteuerten Medien als Hort der Dekadenz und des Niedergangs diffamieren.
Ich dachte damals, dass es nur ein kurzer Aufenthalt im Westen sein würde, und war fest entschlossen, wieder nach Russland zurückzukehren. Ich konnte noch nicht ahnen, dass dies nur ein frommer Wunsch bleiben und sich mein Leben auf den Kopf stellen würde.
Immer wieder werde ich gefragt, warum ich keine Angst habe, warum ich mir das alles antue. Mein Vater hat gesagt, ich sei mutig. Vielleicht hat er recht gehabt. Zumindest ein bisschen. Aber ich bin nicht so mutig wie er.