José Luis Sampedro
Das etruskische
Lächeln
Roman
Aus dem Spanischen
von Roberto de Hollanda

Die kalabresischen Ausdrücke in meiner Erzählung stammen aus dem Werk »Catanzaro d’altri tempi« (E. P. per il Turismo di Catanzaro, 1982), dessen Autor Domenico Pitelli ich meinen Dank dafür aussprechen darf, nicht zuletzt auch für das Vergnügen, das er mir als seinem Leser bereitet hat. Denn dieses Buch, das mit Liebe und nicht nur mit Gelehrsamkeit geschrieben wurde, bewahrt auf seinen Seiten lebendig die Ausstrahlung einer edlen Stadt und ihrer Traditionen. Mögen die alten Götter Kalabriens dies dem Caballero Pitelli reichlich lohnen. J. L. S.)
Im Etruskischen Museum Villa Giulia dreht der Wärter in Abteilung V seine Runde. Der Sommer ist vorbei, die Touristenströme sind verebbt, die alte Eintönigkeit hält wieder Einzug. Heute aber hat ein bestimmter Besucher seine Aufmerksamkeit geweckt, und er kehrt mit wachsender Neugier zu dem kleinen Raum mit dem »Ehepaar« zurück. Ob er noch da ist? Er beschleunigt den Schritt und wirft einen Blick hinein.
Da ist er. Er sitzt immer noch auf der Bank vor dem etruskischen Sarkophag aus Terrakotta in der Mitte der Grabanlage. Das Prachtstück des Museums, ausgestellt wie in einem Schmuckkästchen in dem ockerfarbenen Raum, der der ursprünglichen Grabkammer nachempfunden ist.
Ja. Da ist er. Seit einer halben Stunde sitzt er reglos da, genau wie die beiden aus Feuer und Zeit gebrannten Figuren. Der braune Hut und das wettergegerbte Gesicht erinnern an eine Büste aus Ton. Diese ragt aus einem weißen, krawattenlosen Hemd, wie es bei den Alten im Süden Brauch ist. In den Bergen von Apulien, oder vielleicht auch in Kalabrien.
›Was sieht er bloß in der Statue?‹, fragt sich der Wärter. Da er es nicht versteht, bleibt er unschlüssig stehen, falls plötzlich etwas passiert an diesem Morgen, der wie ein gewöhnlicher Morgen begann und doch ganz anders ist. Aber hinein wagt er sich auch nicht, zurückgehalten von einer unerklärlichen Scheu. So steht er am Eingang und beobachtet den Alten, der, ohne ihn wahrzunehmen, den Sarkophag mit dem menschlichen Paar betrachtet.
Die Frau liegt auf den linken Ellbogen gestützt, ihr Haar ist zu zwei Zöpfen geflochten, die über ihre Brust fallen. Die rechte Hand ist anmutig dem Gesicht mit den vollen Lippen zugewandt. Hinter ihr ruht in derselben Pose ein spitzbärtiger Mann mit lüsternem Mund und hat seinen rechten Arm um ihre Schulter gelegt. Die rötliche Färbung der beiden Terrakottakörper reflektiert den dunklen Hintergrund, dem die Jahrhunderte nichts anhaben können. Unter den schmalen, schräg stehenden Augen leuchtet in beiden Gesichtern dasselbe unbeschreibliche Lächeln. Weise und geheimnisvoll, sanft und sinnlich.
Verborgene Lichtquellen setzen die beiden Figuren kunstvoll in Szene; durch das Spiel von Licht und Schatten wirken sie faszinierend lebendig. Dagegen erscheint dem Wärter der versteinerte Alte im Halbdunkel wie eine Statue. ›Wie verzaubert‹, denkt er unwillkürlich und redet sich dann schnell ein, alles sei ganz normal, um sich zu beruhigen. Der Alte ist nur müde, und da er für den Eintritt bezahlt hat, will er sich auch hinsetzen. So sind die Leute vom Land nun mal. Nachdem eine Weile nichts passiert, geht der Museumswärter weiter.
Die Atmosphäre schließt sich noch dichter um die drei Gestalten in der Grabanlage, den Alten und das Paar. Die Zeit vergeht.
Bis die Verzauberung von einem jungen Mann aufgelöst wird, der auf den Alten zugeht.
»Endlich, Vater! Gehen wir. Tut mir Leid, dass Sie warten mussten, aber dieser Direktor …«
Der Alte sieht ihn an. ›Der arme Junge‹, denkt er, ›immer nur Hetze und Entschuldigungen! Und das soll mein Sohn sein?‹
»Warte mal! Was ist das?«, fragt er ihn.
»Das da? Das ›Ehepaar‹. Ein etruskischer Sarkophag.«
»Ein Sarkophag? Eine Kiste für die Toten?«
»Ja, aber jetzt müssen wir wirklich gehen.«
»Hat man sie tatsächlich in dem Ding beerdigt, das wie ein Diwan aussieht?«
»Ein Triklinium. Die Etrusker haben im Liegen gegessen, wie die Römer. Eigentlich wurden sie auch nicht beerdigt. Man hat ihren Sarkophag in eine Grabkammer gestellt und sie von innen bemalt, wie ein Haus.«
»Wie die Gruft der Grafen Malfatti in Roccasera?«
»Ja, genau. Andrea kann es Ihnen sicher besser erklären. Ich bin kein Archäologe.«
»Deine Frau? Gut, ich werde sie fragen.«
Sein Sohn sieht ihn überrascht an. »So sehr interessiert es Sie?« Er wirft erneut einen Blick auf die Uhr.
»Bis Mailand ist es weit, Vater. Bitte.«
Der Alte steht langsam von der Bank auf, ohne den Blick von dem Paar zu wenden.
»Beim Essen hat man sie beerdigt!«, murmelt er verwundert und folgt widerwillig seinem Sohn.
Am Ausgang wechselt der Alte das Thema.
»Es ist nicht besonders gelaufen beim Direktor, stimmt’s?«
Sein Sohn schneidet eine Grimasse.
»Na ja. Das Übliche, Sie wissen schon. Große Versprechungen, und dann … Er hat Andrea sehr gelobt, das ja. Er hatte sogar ihren letzten Artikel gelesen.«
Der Alte erinnert sich, wie er kurz nach Kriegsende mit Ambrosio und einem anderen Partisanen (wie hieß er noch, der Albaner, der so gut schießen konnte? Verfluchtes Gedächtnis!) nach Rom kam, um einen Parteifunktionär von der Agrarreform für die Region der Kleinen Sila zu überzeugen.
»Hat er dich zur Tür gebracht und dir auf die Schulter geklopft?«
»Ja, sicher. Er war wirklich sehr nett.«
Sein Sohn lächelt, während der Alte die Stirn runzelt. ›Wie damals‹, sagt er sich. ›Erst nachdem es drei Tote gegeben hatte bei dem Protestmarsch von Melissa, in der Nähe von Santa Severina, sind die Politiker in Rom aufgewacht und haben etwas unternommen.‹
Sie kommen zum Parkplatz und steigen in den Wagen. Der Alte legt den Sicherheitsgurt an. »Alles nur Geldmacherei«, brummt er leise vor sich hin. »Nicht mal mehr sterben kann man, wie man will!«
Sie verlassen Rom auf der Autostrada del Sole. Kurz nachdem sie die Autobahngebühr bezahlt haben, dreht der Alte sich gemächlich eine Zigarette und kommt auf sein Thema zurück.
»Hat man sie tatsächlich zusammen beerdigt?«
»Wen, Vater?«
»Dieses Paar. Die Etrusker.«
»Keine Ahnung. Kann sein.«
»Wie denn? Sie sind doch nicht gleichzeitig gestorben, oder?«
»Nein, das wohl nicht. Ich weiß es nicht. Wenn Sie auf den Knopf da drücken, springt der Anzünder raus.«
»Ach, hör mir auf mit deinem Anzünder! Wo bleibt denn da der Reiz?«
In der hohlen Hand zündet er fachmännisch ein Streichholz an, wirft es aus dem Fenster und nimmt langsam den ersten Zug. Die Stille wird nur vom Geräusch des Motors, dem Summen der Reifen und hin und wieder einem aufdringlichen Hupen unterbrochen. Der Geruch nach schwarzem Tabak, der sich im Wagen ausbreitet, weckt in seinem Sohn Erinnerungen an die Kindheit. Unauffällig lässt er das Fenster ein wenig herunter. Der Alte sieht ihn an. Er hat sich nie an die feinen Gesichtszüge seines Sohnes gewöhnt, ein mütterliches Erbe, das mit den Jahren immer deutlicher hervortritt. Er ist ein verantwortungsvoller Fahrer, ganz auf die Straße konzentriert. O ja, verantwortungsvoll war er schon immer.
»Warum haben sie nur so … na ja, so komisch gekichert? Noch dazu auf ihrem eigenen Grab?«
»Wer?«
»Na, wer schon! Die Etrusker, Junge, die aus der Grabkammer! Was hast du denn gedacht?«
»Mein Gott, die Etrusker! … Woher soll ich das wissen! Außerdem haben sie nicht gekichert.«
»Und ob! Als wollten sie sich über etwas lustig machen. Hast du es nicht gesehen? Auf eine ganz seltsame Art … mit geschlossenen Lippen, aber gekichert haben sie. Und was für Münder! Vor allem sie, wie …« Er hält inne, um nicht den Namen zu nennen, der sich plötzlich mit Macht in sein Bewusstsein drängt, Salvinia.
›Was für eine Manie‹, denkt sein Sohn gereizt. ›Ob die Krankheit sein Gehirn schon angegriffen hat?‹
»Sie haben nicht gekichert, Vater. Nur gelächelt. Selig gelächelt.«
»Selig? Was soll das denn heißen?«
»So wie die Heiligen auf den Bildchen, wenn sie zu Gott aufblicken.«
Der Alte lacht laut.
»Heilige, die zu Gott aufblicken? Die Etrusker? Schwachsinn!«
Seine Überzeugung duldet keinen Widerspruch. Ein großer schneller Wagen mit einem Chauffeur in Livree überholt sie. Auf dem Rücksitz das flüchtige Profil einer eleganten Frau. ›Wann wird mein Sohn endlich erwachsen‹, denkt der Alte.
»Die Etrusker haben gekichert, glaub mir. Sie haben sich noch auf dem eigenen Sargdeckel amüsiert. Ist dir das nicht aufgefallen? Was für Schlawiner!«
Er zieht an seiner Zigarette.
»Was ist eigentlich aus diesen Etruskern geworden?«
»Die Römer haben sie unterworfen.«
»Die Römer! Die müssen wohl immer ihre Hand im Spiel haben«
Sie fahren weiter Richtung Norden. Der Alte versinkt in Gedanken an alte Zeiten, die Diktatur, den Krieg und die Politiker, die danach kamen.
Die Sonne steht im Zenit und wärmt die herbstlichen Felder. Auf einem der Hügel ist die Weinlese noch im Gang, während in Roccasera längst der Most gärt. Dem Alten fallen die unregelmäßigen Furchen der Äcker auf. ›Wenn einer meiner Leute so schlampig arbeitete, würde ich ihn im hohen Bogen rauswerfen‹, denkt er. Jedes noch so kleine Detail der Landschaft verrät ihm etwas, obwohl sie hier im fremden Norden sanfter und grüner ist als zu Hause.
»Das ganze Land hier gehörte früher den Etruskern«, erzählt der Junge, als wollte er seinen Vater aufmuntern.
Dem Alten kommen die Felder plötzlich fruchtbarer vor, als sie sind. Nach einer Weile sagt er:
»Kannst du bei nächster Gelegenheit kurz anhalten, mein Junge? Ich muss mal. Du weißt schon, die Schlange.«
Bekümmert denkt der Sohn an die schwere Krankheit seines Vaters. Ihretwegen bringt er ihn zu den Ärzten nach Mailand. Er macht sich Vorwürfe, weil er sie über seinen eigenen Sorgen einfach vergessen hat. Sicher, die mögliche Versetzung seiner Frau nach Rom ist wichtig, aber immerhin geht es mit seinem Vater zu Ende. Liebevoll wendet er sich an den Alten.
»Natürlich, sobald es geht. Ich könnte auch einen Kaffee vertragen, damit ich nicht einschlafe.«
»Ich kann warten. Lass dir ruhig Zeit.«
Sein Sohn sieht ihn von der Seite an. Das Profil eines Adlers mit deutlich sichtbarem Adamsapfel, als hätte er einen Kieselstein verschluckt, und tief in den Höhlen liegenden Augen. Wie lange noch wird er dieses unverwundbare Gesicht betrachten können, das ihm immer das Gefühl von Geborgenheit vermittelt hat? Das Leben hat sie voneinander entfernt und in verschiedene Welten verschlagen, und doch wird er den schützenden Schatten dieser alten Eiche vermissen. Die Furcht ist wie ein stechender Schmerz. Doch wenn er jetzt spräche, könnte der Vater seine Angst bemerken, und das würde ihm nicht gefallen.
Sie halten an einer Tankstelle an. Als der Sohn den Wagen geparkt hat und in die Bar kommt, sitzt sein Vater bereits vor einer dampfenden Tasse.
»Aber Vater! Hat der Arzt es nicht verboten?«
»Und wenn schon! Man muss ja schließlich noch leben.«
»Eben!«
Der Alte lächelt wortlos und nippt genüsslich seinen Kaffee. Dann dreht er sich eine neue Zigarette.
Kurz nachdem sie weitergefahren sind, sehen sie einen Hinweis. Die nächste Ausfahrt ist Arezzo.
»Das war eine bedeutende etruskische Stadt«, erklärt der Sohn, als sie an der Beschilderung vorbeifahren.
Arezzo, merkt sich der Alte.
In einer Raststätte essen sie eine Kleinigkeit und kehren dann auf die Autobahn zurück. Wie ein Vorbote der Nacht senkt sich der Nebel über die Poebene und verhüllt mit seinen dichten Schwaden die schnurgeraden Pappelreihen. Der Alte nickt allmählich ein. Diese immer gleiche sanfte Landschaft und die abgezeichneten Felder langweilen ihn.
›Armer Vater‹, denkt sein Sohn, ›er ist völlig erschöpft. Ob er hofft, wieder gesund zu werden? Und wenn nicht, warum ist er dann gekommen? Dass er sein geliebtes Roccasera verlassen würde, hätte ich nie gedacht.‹
Als der Alte aufwacht, ist es Nacht. Die grünlich leuchtende Uhr auf dem Armaturenbrett zeigt zehn nach zehn. Er schließt erneut die Augen, als wollte er es gar nicht wissen. Es ärgert ihn, dass er nach Mailand zurückkehren muss. Das vorige Mal, kurz nach dem Tod seiner Frau, hat er es keine zwei Wochen ausgehalten, obwohl die Kinder ihn für ein paar Monate eingeplant hatten. Alles war unerträglich: die Stadt, die Mailänder, die winzige Wohnung, seine Schwiegertochter. Und jetzt, wieder! ›Ich würde viel lieber zu Hause sterben‹, denkt er. ›Verfluchter Cantanotte! Warum hat es nicht ihn erwischt?‹
»Sie sind eingeschlafen?«, fragt sein Sohn, als der Alte sich schließlich regt. »Es ist nicht mehr weit, wir sind gleich da.«
Ja, richtig, gleich schnappt die Falle zu. Für den Alten waren Städte schon immer gefährliche Fallen für ahnungslose Menschen. Bürokraten, Polizisten, Bonzen, Geschäftemacher und andere Parasiten haben es hier auf die Armen abgesehen, und das Mauthäuschen an der Ausfahrt, wo man den Wisch abgibt, ist die Falltür.
Als sie durch die Vorstädte fahren, sieht sich der Alte argwöhnisch um. Mauern, Fabrikhallen, geschlossene Werkstätten, schäbige Behausungen, unbebaute Grundstücke, Pfützen … Rauch und Dunst, Schmutz und Schutt, vereinzelte trübe Straßenlaternen. Alles trostlos, schmutzig und abweisend. Als er das Fenster einen Spalt öffnet, steigt ihm ein muffiger Gestank nach Müll und Chemierückständen in die Nase. Erleichtert löst er den Gurt. Jetzt ist er wenigstens nicht mehr so eingezwängt und kann auf Gefahren schneller reagieren.
›Zum Glück ist die Rusca heute friedlich‹, tröstet er sich. Die Krankheit, die ihn von innen zerfrisst, nennt er Rusca, nach einem Frettchenweibchen, das ihm sein Freund Ambrosio nach dem Krieg geschenkt hatte. Im ganzen Dorf gab es keinen besseren Kaninchenjäger. ›Du nimmst Rücksicht auf mich, was, Rusca? Du verstehst, dass Mailand schon schlimm genug ist. Du kannst mir glauben, wenn es nicht sein müsste, wären wir beide auf unserem Fleckchen Erde geblieben.‹
Er erinnert sich an das weiche Schnäuzchen, hinter dem sich messerscharfe Reißzähne verbargen. Einer von Cantanottes Hunden hatte das Frettchen getötet. Bei der Erinnerung muss der Alte grinsen. Aus Rache hatte er dem Hund den Schwanz abgeschnitten, und dem Cantanotte war nichts anderes übrig geblieben, als die Beleidigung zu schlucken. Kurz darauf hatte er obendrein die Nichte seines alten Rivalen entjungfert. Concetta.
Mittlerweile drängen sich Häuser und Mauern dicht an dicht, als wollten sie den Wagen immer tiefer in die Falle locken.
Die Ampeln regeln stur den kaum vorhandenen Verkehr. Leuchtreklamen blinken mechanisch wie zum Hohn. Hin und wieder eine unangenehme Überraschung: das grelle Läuten einer Klingel, die niemanden erschreckt, das plötzliche Rattern eines Zuges auf der eisernen Überführung, unter der sie gerade hindurchfahren, das Brüllen eines Rinds oder der unerklärliche Gestank nach Dung – hier, mitten in der Großstadt.
»Der Schlachthof«, sagt sein Sohn und zeigt auf die Mauern rechts von ihnen. »Da kaufen wir Innereien für die Fabrik.«
Also auch für Tiere eine Falle.
Sie biegen in eine breite Straße ein. Was leuchtet da drüben so hell, und was machen diese Frauen ringsum? Sie sehen aus wie Hexen um einen Scheiterhaufen.
Der Wagen hält an einer roten Ampel. Eine der Frauen kommt auf den Wagen zu, reißt ihre Jacke auf und zeigt ihre nackten Brüste.
»Na, wie wär’s, Jungs? Habt ihr Lust? Die reichen für zwei!«
Die Ampel springt auf Grün; sie fahren weiter.
»Eine Schande!«, murmelt der Sohn, als wäre es seine Schuld.
›Nicht übel‹, denkt der Alte verschmitzt. ›Wenigstens haben sie hier richtigen Speck in der Falle.‹
Das Labyrinth schließt sich immer dichter um sie. Wenig später parkt der Sohn seinen Wagen zwischen den anderen am Straßenrand schlafenden Autos. Verwundert liest der Alte das Schild an der Ecke: Viale Piave.
»Ist es hier?«, fragt er. »Ich kann mich gar nicht erinnern.«
»Die andere Wohnung war zu klein für uns drei geworden«, erklärt sein Sohn und öffnet den Kofferraum. »Das Viertel hier ist besser. Aber wir können uns die Wohnung nur leisten, weil sie nach hinten geht, auf die Via Nino Bixio. Andrea ist begeistert.«
›Das Kind, natürlich‹, denkt der Alte und schämt sich, dass er nicht selbst darauf gekommen ist. Aber seit dem Tod seiner Frau und dem Ausbruch seiner Krankheit muss er an so vieles denken …!
Sie gehen durch die Eingangshalle mit Sitzgruppe und Spiegel und bleiben vor dem Aufzug stehen. Der Alte hasst Aufzüge, verzichtet aber darauf, die Treppe zu nehmen, als er hört, dass die Wohnung im achten Stock liegt. ›Rusca würde in die Luft gehen‹, denkt er.
Oben schließt sein Sohn behutsam die Tür auf, schaltet eine schwache Lampe an und bittet den Alten, leise zu sein, weil der Kleine schläft. Am Ende der Diele taucht eine Silhouette auf.
»Renato?«
»Ja, Liebling. Wir sind es.«
Der Alte erkennt Andrea wieder. Den schmalen, strengen Mund, die hervorstehenden Wangenknochen, den grauen Blick. ›Hatte sie nicht früher eine Brille?‹
»Willkommen zu Hause, Papa.«
»Hallo, Andrea.«
Er umarmt sie. Ihre Lippen streifen seine Wange. Ja, sie ist es. Er kann sich noch an die knochigen Schultern und die flache Brust erinnern. ›Und sie nennt mich immer noch Papa, auf ihre geschraubte Art‹, sagt sich der Alte missmutig. Er ahnt nicht, wie schwer es ihr gefallen ist, diese heilige Begrüßungsformel auszusprechen, um die Renato sie inständig gebeten hat, denn sie erinnert sie an die beiden schrecklichen Wochen, die sie kurz nach der Hochzeit in der kalabrischen Wildnis verbrachten, wo jeder sie wie ein Insekt unter die Lupe nahm. Die Frauen waren sogar unter irgendwelchen Vorwänden in den Innenhof gekommen, um die feine Unterwäsche der Mailänderin zu inspizieren, die zum Trocknen auf der Leine hing!
»Warum habt ihr so lange gebraucht?«
Er erkennt auch ihren scharfen Ton wieder. Renato gibt die Schuld dem Nebel, aber sie hört schon gar nicht mehr hin, sondern geht den Flur entlang, in der Gewissheit, dass sie folgen werden. Sie schaltet das Licht an, lässt den Alten in das Zimmer vorgehen und zeigt auf den Wandschrank, wo sie die Wäsche für die Bettcouch aufbewahren.
»Ich hatte keine Zeit, das Bett zu machen. Der Kleine wollte einfach nicht einschlafen. Entschuldigen Sie mich bitte, Papa, ich muss morgen sehr früh im Seminar sein. Gute Nacht.«
Der Alte bedankt sich, und Andrea verlässt das Zimmer. Während Renato den Schrank öffnet, schweift der Blick des Alten durch das winzige Zimmer. Verspielte Gardinen vor dem Fenster, ein Nachttischchen mit Lampe, ein abstruses Bild an der Wand, das offenbar Vögel zeigt, ein Stuhl …
Nichts sagt ihm etwas, aber das überrascht ihn nicht weiter.
Er zuckt im Geist die Achseln. Es ist nicht sein Haus, also ist es ihm egal.
Die Bettcouch lässt sich nicht aufklappen. Sein Sohn versucht es mit Gewalt, und der Alte weiß nicht, wie er ihm helfen soll. Außerdem will er nichts zu tun haben mit diesem Mechanismus, der so ganz anders ist als das hohe, massive Bett, in dem er seit seiner Hochzeit schläft. Wie ein Berg beherrscht es das Schlafzimmer. Das Kopfende aus poliertem Kastanienholz ist der Gipfel, die beiden weichen Matratzen aus Wolle auf einer Rosshaarmatratze, wie es sich für einen ordentlichen Haushalt gehört, sind die Wiesen. Klar und eindeutig zum Lieben, Gebären, Schlafen und Sterben bestimmt! Er denkt an andere Nachtlager seines bewegten Lebens. Den harten Boden der Schäferhütten, die Strohsäcke in der Kaserne, das trockene Heu in den Scheunen, das über dem steinigen Boden der Höhlen ausgestreute Gras, als er bei den Partisanen war, die Bauernmatratzen aus Maisstroh, die beim wilden Liebesspiel rasselten wie Schellen. Eine völlig andere Welt als diese Zelle hier mit dem Zwitterding, dessen gespannte Federn an Wolfsfallen erinnern.
Endlich gibt der Mechanismus nach, und die Bettcouch klappt fast ruckartig auf. Der Sohn breitet die Laken aus und legt nur eine Decke auf das Bett – weil das Haus eine Heizung hat, erklärt er. Dem Alten soll es egal sein. Er hat seine eigene Decke dabei, die nach einem halben Jahrhundert Gebrauch ziemlich zerschlissen ist. Er konnte sie unmöglich zu Hause lassen, sie ist seine zweite Haut. Sie hat ihn vor Regen und Schnee geschützt, die schönsten und schrecklichsten Stunden seines Lebens mit ihm durchschwitzt und ist sogar mit einem Einschuss ausgezeichnet worden. Eines Tages wird sie sein Leichentuch sein.
»Brauchen Sie noch etwas?«, fragt Renato schließlich.
Brauchen, brauchen … Alles und nichts! Was er sieht, braucht er nicht, trotzdem würde er sich vieles wünschen! Vor allem sehnt er sich nach einem ordentlichen Schluck Rotwein, aber es müsste der starke, herbe aus dem Süden sein, einer für Männerkehlen. Der aus Mailand ist bestimmt nur Chemie. Womit könnte er den schlechten Geschmack im Mund loswerden? Etwas Natürliches. Er hat eine Idee.
»Hast du Obst im Haus?«
»Wunderbare Birnen. Aus Jugoslawien.«
Sein Sohn verlässt das Zimmer und kehrt mit zwei prächtigen Birnen und einem Messer auf einem Teller zurück, die er auf den kleinen Nachttisch stellt. Danach zeigt er seinem Vater vom Gang aus die Küche – »im Kühlschrank finden Sie alles« – und etwas weiter, das Bad.
»Versuchen Sie, leise zu sein, wenn Sie sich waschen und der Kleine noch schläft. Sein Zimmer ist direkt nebenan. Sie können ihn morgen sehen. Sonst wecken wir ihn noch auf. Er ist ein süßer kleiner Kerl und sieht Ihnen sehr ähnlich.«
»Ja, lieber morgen«, sagt der Alte und ärgert sich über die Schmeichelei. ›Unsinn! Neugeborene sehen niemandem ähnlich. Es sind bloß Säuglinge, nichts als plärrende Bündel.‹
»Gute Nacht, Vater, fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Sobald der Alte allein ist, reißt er die Gardinen auf. Er hasst dekorativen Firlefanz vor dem Fenster. Er sieht auf den Hof und die geschlossenen Fenster der Hauswand gegenüber. Dann öffnet er das Fenster und lehnt sich hinaus. Über ihm ein niedrig hängender Himmel, das, was in Mailand der Nachthimmel ist: ein Baldachin aus Nebel und Rauch, in dem sich das kalte violette Neonlicht der Straße spiegelt. Unter ihm ein schwarzes Loch, aus dem der Geruch nach kaltem Essen, feuchter Wäsche, Abflussrohren und Abgasen aufsteigt.
Als er das Fenster schließt, wird ihm bewusst, dass er es instinktiv, aus einem Reflex heraus geöffnet hat, wie damals im Krieg, wenn er einen Fluchtweg suchte. Ergebnis: negativ. ›Wie bei der Gestapo in Rimini … als sie mich um ein Haar an die Wand gestellt hätten, wenn ich sie nicht hinters Licht geführt hätte, damit sie mich laufen lassen. Gott sei Dank hat Petrone dichtgehalten und kein Wort gesagt, trotz der Folter! Armer Petrone! ‹
Birnen auf dem Nachttisch gab es allerdings nicht im Gefängnis von Rimini. Er nimmt eine und zieht sein Klappmesser aus der Tasche, ohne das andere zu beachten. Dann fängt er an, sie zu schälen. ›Nichts, kein Aroma!‹ Er probiert. Die prächtige Frucht ist eiskalt und schmeckt nach nichts. ›Diese Eiskisten verderben sie.‹ Er schält auch die zweite, ohne sie zu probieren, nur damit Renato morgen die Schalen sieht. Dann öffnet er das Fenster und wirft die Birnen in die Tiefe. Er hört, wie sie unten nacheinander auf ein Blechdach prallen.
›Nicht zu glauben, dass sie aus Jugoslawien sein sollen!‹, staunt er und schließt das Fenster. Bei Jugoslawien muss er an Dunka denken. ›Dunka! Ihr Körper duftete wirklich so süß wie eine Frucht!‹ Ihre Haut war nie kühl, sondern warm und lebendig, unvergessliche Gefährtin des Kampfes und seiner Lust … ›Ach Dunka, Dunka!‹ Die Erinnerung an ihren Körper ist in der letzten Zeit verblasst, aber sie hat nach wie vor einen wichtigen Platz in seinem alten Herzen inne, und jedes Mal, wenn sie aus der Vergangenheit auftaucht, schlägt es schneller.
Während er sich auszieht, streichelt er wie jeden Abend den kleinen Brustbeutel mit seinen Amuletten, die ihn vor dem bösen Blick schützen sollen. Dann breitet er seine Decke aus und klettert ins Bett. Er schaltet das Licht aus und stopft sich das unter der Decke liegende Betttuch um den Hals, bis er daliegt wie in einem Schlafsack.
›Ich bin auch lebendig, Dunka … lebendig!‹, wiederholt er und lässt das Wort im Mund zergehen. Dann fällt ihm das Erlebnis von heute Morgen ein. ›So lebendig wie das Pärchen im Museum. Tolle Idee, ein Sarg aus gebranntem Ton, statt Holz, das verfault doch nur! Etwas Dauerhaftes, wie das Öl in meinen Tonkrügen.‹
Er überlässt sich ganz der Erinnerung an Dunka und treibt auf einem Meer von Bildern.
›Nicht auf einer Bettcouch, nein, in einem richtigen Bett haben wir zu Abend gegessen, genau wie das Paar von heute Morgen. Sie und ich und der Mond als einzige Beleuchtung aus Angst vor den Flugzeugen und den Patrouillen der Gestapo. Der Mondschein lag über dem Meer wie ein gerader Weg zu uns. Mehr Licht brauchten wir nicht, um uns zu umarmen und zu küssen! Und wie wir uns geküsst haben, Dunka!‹
Und noch während er in Erinnerung daran lächelt, umfängt ihn der Schlaf.
Wie immer wird der Alte vor dem Morgengrauen wach. Zu Hause würde er sofort aufstehen und seinen morgendlichen Rundgang machen. Er würde über die vom Tau der Nacht benetzte Erde gehen, die kühle Luft einatmen, zuschauen, wie sich die Morgenröte am Himmel ausbreitet, den Vögeln lauschen. Zu Hause, ja, aber hier …
›Wahrscheinlich steht Rosetta auch gerade auf. Eine Menge Tränen hat sie gestern beim Abschied vergossen, aber ihr Mann wird sie bestimmt getröstet haben, der Taugenichts. Ein Schlappschwanz, dieser Nino, und falsch wie Zigeunergold! Wie konnte meine eigene Tochter sich so hoffnungslos in diesen Kerl verlieben? Was findet sie an ihm? Frauen, Frauen! Gott sei Dank haben sie keine Kinder, sie würden sie nur verziehen. Meine Rosa hat mir nur wenige geschenkt. Dass sie aus einer reichen Familie kam, hat sie nicht gerade fruchtbar gemacht. Fehlgeburten, ja. Jedes Jahr eine, aber nur drei gesunde Kinder. Und Francesco zählt nicht, der ist so gut wie verloren, seit er in New York lebt. Ich habe nur Renatos Sohn, wie hieß der Kleine noch? Sie haben mir die Einladung zur Taufe geschickt, aber damals hatte ich keine Zeit und habe es vergessen, so sehr hatte ich mit der Gerichtsverhandlung gegen den Cantanotte wegen Soto Grande zu tun. Bestimmt Maurizio oder Giancarlo, irgendein hochgestochener Name, der Andrea gefällt. Na ja, wenigstens hat sie mir einen Enkel geschenkt, während Nino …‹
Über den Flur hört er das Weinen eines Kindes, als hätten seine Gedanken es geweckt. Es klingt weder zornig noch jammernd, eher rhythmisch und gleichmäßig, wie das Leben selbst. ›Gefällt mir‹, denkt der Alte. ›Wenn ich weinen würde, dann so. Und die Schritte? Andrea? Nein, sie hat nicht eine so sanfte Stimme, es ist Renato … Komisch! Sonst wird man im Alter taub, mein Gehör dagegen wird immer feiner. Ich kann jetzt besser hören als früher, als ich im Spähtrupp bei den Partisanen war. Und Renato spielt Kindermädchen, was für eine Schande! In Mailand gibt es keine richtigen Männer, und jetzt hat Andrea auch aus meinem Sohn einen Schlappschwanz gemacht. ‹
Die Schlange regt sich in seinem Innern und besänftigt ihn. ›Ja Rusca, du hast ja Recht, jetzt ist sowieso alles egal. Du hast Hunger, nicht wahr, Geduld! Was für einen kräftigen Biss sie hatte, die andere Rusca, die tote! Wenn Renato wieder in seinem Zimmer ist, werde ich uns etwas zu essen machen. Vielleicht schreit das Kind, weil es Hunger hat. Wird auch Zeit, dass Andrea aufsteht und ihm die Flasche gibt, etwas anderes wird diese Frau ja nicht zu bieten haben.‹
Das Weinen verstummt, und er hört, wie Renato sich wieder ins Bett legt. Der Alte steht auf, zieht die Hose an und geht in die Küche. Er will nicht entdeckt werden und begnügt sich deshalb mit dem schwachen Licht der Straße. Er öffnet den Schrank. Aus seiner Vorratskammer zu Hause schlüge ihm jetzt eine Woge von Gerüchen entgegen, nach Zwiebeln, Salami, Öl und Knoblauch. Hier gibt es nur Einmachgläser, Dosen, Schachteln mit bunten Etiketten, manche auf Englisch. Er nimmt eine Packung. Die Aufschrift verspricht Reis, aber sie enthält nur halb geröstete Körner, die nach nichts schmecken.
Der gelbe Käse im Kühlschrank ist weich und ebenfalls ohne Geschmack. Zum Glück kann er ihn mit einigen Zwiebelstückchen zubereiten, die er in einer luftdicht verschlossenen Plastikschachtel gefunden hat. Der Wein stammt aus der Toskana und ist obendrein eiskalt. Und das Brot aus der Fabrik: panetto … Was würde er jetzt für eins von Marios Broten geben, frisch aus dem Ofen! Statt dieser ungenießbaren Pampe! Und das Schwarze in dem durchsichtigen Zylinder muss Kaffee sein. Aber wie macht man ihn heiß?
Plötzlich klingelt der Wecker in einem der Zimmer. Das Haus erwacht. Renato kommt in die Küche und sagt leise »Guten Morgen«. Er schaltet die Kaffeemaschine ein und holt ein weiteres Wunderding aus dem Schrank, steckt den Stecker in die Dose, wirft zwei Scheiben panetto hinein und verschwindet im Bad. Man hört, wie das Wasser läuft. Schließlich taucht Andrea auf und fragt unfreundlich:
»Aber Papa! Wieso sind Sie schon so früh auf?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verlässt sie die Küche wieder und trifft im Korridor auf ihren Mann. Die beiden flüstern miteinander. Die Geräusche vervielfältigen sich: Wasserhähne rauschen, Abflüsse gurgeln, Fläschchen klirren, der Rasierer summt, die Dusche. Dann kommen die beiden in die Küche und behindern sich gegenseitig bei der Vorbereitung des Frühstücks. Der Alte trinkt eine Tasse von dem dünnen Kaffee, den sie ihm anbieten, und verschwindet im Bad, um sich zu waschen. Kurz darauf kommt Renato ins Bad.
»Aber Vater, wir haben doch warmes Wasser!«
»Ich will kein warmes Wasser. Es macht nicht frisch.«
Er erklärt seinem Sohn nicht, dass kaltes Wasser ihm von Bergbächen erzählt, vom Duft eines frisch angezündeten Holzfeuers, von Ziegen, die das vom Raureif bedeckte Gras knabbern. Die beiden gehen leise zwischen Küche und Schlafzimmer hin und her, ziehen sich an und essen dabei ihren Toast.
»Kommen Sie, Vater, und sehen Sie sich den Kleinen an. Wir wickeln und füttern ihn jetzt.«
›Ob aus Andreas Brustwarzen tatsächlich Milch kommt?‹, fragt sich der Alte. Er hat nicht gesehen, dass sie eine Flasche bereitet hätten. Neugierig und skeptisch folgt er Renato in das kleine Zimmer, wo Andrea das Kind auf einem weich gepolsterten Wickeltisch gerade fertig angezogen hat.
Der Alte bleibt verblüfft stehen, starr vor Staunen. Das ist kein Baby, sondern ein richtiger Junge, der bereits sitzen kann und seinerseits von dem Mann, der eben das Zimmer betreten hat, fasziniert ist. Mit beiden Händen wehrt er den Löffel voller Brei ab, den seine Mutter ihm hinhält, und starrt aus runden dunklen Augen den Alten an. Der Kleine quengelt, fuchtelt noch ein wenig mit den Händchen herum und lässt sich schließlich herab, den Mund zum Essen aufzumachen.
»Schon so groß ist er!«, sagt der Alte schließlich.
»Ja, nicht wahr, Papa!«, erwidert seine Schwiegertochter voller Stolz. »Und erst dreizehn Monate alt!«
›Dreizehn Monate schon‹, denkt der Alte, der sich noch nicht von seiner Überraschung erholt hat. ›Mein Enkel, mein Blut, so plötzlich. Wieso habe ich es nicht früher erfahren? Ein prächtiges Kerlchen! Und wieso sieht er mich so ernst an und fuchtelt dabei mit den Händen? Was will er mir sagen? Waren meine Kinder auch so, Renato und die anderen? Jetzt lächelt er. Was für ein Schlitzohr!‹
»Schau, Brunettino, dein Großvater. Er ist gekommen, um dich kennen zu lernen.«
»Brunettino?«, fragt der Alte noch überraschter und fährt mit der Hand zu seinem Brustbeutel, der einzigen Erklärung für dieses Wunder. »Wieso habt ihr ihn Brunettino getauft? Warum?«
Sie sehen ihn betreten an, während der Kleine lächelt. Renato entschuldigt sich.
»Verzeihung Vater! Ich weiß, dass der Erstgeborene immer nach seinem Großvater genannt wird. Ich hatte auch vor, ihn Salvatore zu nennen, wie Sie. Dann hatte Andrea diese Idee, und der Pate, mein Kollege Renzo, wollte partout nicht davon ablassen. Er meinte, Bruno klingt kraftvoller, ernster … Verzeihung, es tut mir Leid.«
Der Alte ist gerührt und sagt mit brüchiger Stimme:
»Da gibt es nichts zu verzeihen! Ich finde das großartig. Ihr habt ihn tatsächlich nach mir benannt!«
Andrea sieht ihn erstaunt an.
»Renato, du müsstest doch wissen, dass mich die Partisanen Bruno nannten. Hat Ambrosio es dir nicht tausendmal erzählt?«
»Ja, aber Sie heißen doch Salvatore.«
»Blödsinn! Den Namen Salvatore haben mir andere verpasst, aber Bruno habe ich selbst ausgesucht. Das ist mein Name … Brunettino!«, flüstert der Alte und lässt sich die Koseform auf der Zunge zergehen. Was für ein guter Stern, der Andrea auf diese Idee gebracht hat. Wenn er den verschmitzten Ausdruck des Kleinen sieht, hat er das Gefühl, das Kind verstünde alles. Wieso auch nicht? Alles ist möglich, wenn einem das Glück hold ist!
Er streicht mit dem Finger schüchtern über die Wange des Kleinen. Er kann sich nicht erinnern, jemals die Haut eines so kleinen Wesens berührt zu haben. Wenn er seine eigenen Kinder auf den Arm nahm, dann nur, wenn sie hübsch herausgeputzt waren, um sie seinen Freunden zu zeigen.
Das winzige Fäustchen greift wie ein gieriges Adlerjunges im Nest nach dem rauen Finger und führt ihn zum Mund. Der Alte lächelt beglückt. Was ist der kleine Gauner kräftig! Verwundert stellt er fest, dass der Junge Muskeln und Nerven hat. ›Die Welt steckt voller Überraschungen‹, denkt er.
Der Kleine lässt den Finger los. Er ist von dem Alten so fasziniert, dass er sich nicht füttern lassen will.
»Komm schon, Schätzchen, iss noch etwas«, bettelt die Mutter und sieht auf die Uhr. »Für den Großvater.«
Dieser Morgen steckt wirklich voller Überraschungen. Sogar Andreas Stimme ist zärtlich! Trotzdem wendet der Kleine energisch den Kopf ab und spuckt plötzlich eine weiße Flüssigkeit aus.
»Ist er krank?« fragt der Alte besorgt.
»Aber Vater!«, lacht Renato. »Nur Luft, ein Bäuerchen. Sehen Sie. Schon isst er weiter. Haben Sie nicht selbst Kinder gehabt?«
›Nein, ich hatte keine‹, sagt sich der Alte, weil ihm klar wird, dass er niemals das erlebt hat, was er jetzt sieht. ›Auf dem Land haben wir Männer keine Kinder. Wir haben Neugeborene, mit denen wir bei ihrer Taufe angeben, vor allem, wenn es Jungen sind, aber danach verschwinden sie bei den Frauen. Obwohl sie in unserem Zimmer schlafen und weinen, geht es nur die Mutter etwas an. Später sind sie einem lästig, wenn sie auf allen vieren durchs Haus krabbeln, sie zählen erst, wenn wir sehen, wie sie den Esel am Strick zur Tränke führen oder die Hühner im Hof füttern. Dann fangen wir an, sie zu lieben: aber nur, wenn sie weder vor dem Esel noch vor dem Hahn Angst haben. Schlimmer noch die Töchter. Die werden einem erst geboren, wenn sie jeden Monat bluten, und dann muss man mit Luchsaugen auf ihre Ehre aufpassen. Und du, Brunettino, bist der Erstgeborene und stehst im Rampenlicht, sogar deine Eltern vergessen ihre Eile.‹
»Wollen Sie ihn mal halten?«
»Jetzt gleich?«
Ehe der Alte sich versieht, spürt er das Federgewicht in den Armen, aber es ist schwer, den Kleinen zu halten. ›Madonna, wie packt man so was an?‹
»Nehmen Sie ihn etwas höher, so.« Sie legen ihm den Kleinen in die Arme. »Aber nein, halten sie die Arme locker!« Der Alte kommt sich wie ein Tollpatsch vor. »Den kleinen Kopf auf Ihre Schulter.« Wie beim Tanzen, Wange an Wange. »So kann er aufstoßen, und hier, das Handtuch auf Ihre Jacke, damit sie keine Flecken bekommt. Nicht weinen, mein Schatz. Das ist dein Großvater, und er hat dich lieb. Bewegen Sie sich vor und zurück, Vater. Sehen Sie, wie er sich beruhigt?«
Der Alte wiegt sich vorsichtig hin und her. Andrea ist bereits verschwunden. Renato geht aus dem Zimmer – die alte Hektik ist wieder da –, und der Alte ist völlig verwirrt. Was für seltsame Gefühle. Zum Glück sieht ihn niemand aus dem Dorf, man würde ihn auslachen. Aber was macht ein Mann in so einem Fall, ganz allein?
Er nähert seine Wange der des Kleinen, doch der schreckt zurück. Aber die kurze Berührung genügt, um zu spüren, dass seine Haut weicher ist als die einer Frau. Und was für ein unbeschreiblicher Geruch den Alten einhüllt. Weich, milchig, warm, ein süßsaurer Hauch nach lebendiger Gärung, wie die Kelter aus der Ferne. Ein feiner Duft, süßlich und dennoch berauschend, ja Besitz ergreifend!
Von sich selbst überrascht, drückt er den winzigen warmen Körper an die Brust und lockert dann erschrocken die Umarmung, aus Angst, ihn zu ersticken, um ihn gleich wieder an sich zu pressen. Nicht dass er ihm runterfällt. Das Lämmchen hier zittert nicht, aber es ist so schwer wie der kleine Jesus auf den Schultern des heiligen Christophorus. Einer der wenigen Heiligen, die dem Alten gefallen, weil er groß und stark war und durch die Flüsse gehen konnte.
Plötzlich strampelt der Kleine und tritt dem Alten leicht in den Magen. Dieser wird von abergläubischer Furcht gepackt, denn es ist genau die Stelle, wo die Schlange ihn immer beißt. Ob der Kleine auch das versteht? Er wendet hastig den Kopf, um sein Gesichtchen zu sehen, streift dabei erneut die Wange des Kleinen und ist ganz durcheinander, als das Kind zu weinen anfängt.
»Es ist Ihr Bart, Signore«, hört er eine unbekannte Stimme, und zugleich wird er von der leichten Last befreit. »Ich bin Anunziata, die Haushälterin. Die Signori sind gerade gegangen.«
Die Frau legt das Kind geschickt in sein Bettchen.
»Er ist müde. Gleich schläft er ein. Wenn Sie erlauben, werde ich jetzt weiterputzen.«
Etwas stimmt nicht. Ach ja. Wieso ist er nicht schon vorher darauf gekommen?
»Schläft der Kleine hier?« Die Frau nickt. »Auch nachts?«, fragt er entsetzt. »Schlafen in Mailand die Kinder denn nicht bei den Eltern? Wer passt auf sie auf?«
»Das war früher, als ich noch Kindermädchen war. Heute raten die Ärzte dazu, die Kleinen allein schlafen zu lassen.«
»Wie grausam! Und was ist, wenn sie weinen oder ihnen etwas passiert?«
»In diesem Alter nicht mehr … Wirklich, besser als die Signora kann man sich gar nicht um ein Kind kümmern. Sie misst es, wiegt es, bringt es zum besten Arzt. Und außerdem hat sie ein Buch mit lauter Bildern, wo alles erklärt wird!«
›Ein Buch‹, denkt der Alte verächtlich, während die Frau das Zimmer verlässt. ›Wenn man dazu Bücher braucht, wie sollen dann all die guten Mütter, die nicht lesen können, ihre Kinder großziehen? Die werden ja gerade deshalb nicht zu Rabenmüttern. ‹
Das schläfrige kleine Gesicht und die Hand, die sich am Zipfel des Lakens festklammert und unruhig zuckt, erregt sein Mitleid. ›Wie schutzlos er da liegt!‹ Der Alte reibt sich die Wange. Der Bart kratzt tatsächlich.
›Armes Kerlchen, die ganze Nacht allein! Er kann doch noch nicht sprechen! Was, wenn sie ihn nicht weinen hören? Was, wenn er Bauchweh bekommt und niemand da ist oder er unter der Decke keine Luft kriegt? Was wäre, wenn er von einer Schlange oder einer Ratte gebissen würde? Wie der Große von Piccolitti? Na schön, hier gibt es keine Schlangen, die können in Mailand gar nicht überleben, dafür aber eine Menge anderer Dinge. Wahrscheinlich wimmelt es hier nur so von Hexen mit dem bösen Blick! Armes verwaistes Kerlchen.‹
Er starrt auf dieses wundervolle Geheimnis, das in dem Bettchen schläft. Nach so vielen Jahren, nach drei eigenen Kindern zu Hause und wer weiß wie vielen in fremden Nestern, wurde ihm der erste Sohn geboren. Und nun?
Mit einem Mal schlägt Brunettino die Augen auf und sieht ihn aufmerksam an. ›Ob er meine Gedanken lesen kann? Unsinn, aber dieses Kerlchen …‹ Die beiden dunklen Knopfaugen schüchtern den Alten ein, der sich vor diesem drohenden Finger des Schicksals zurückzieht. Dann fallen dem Kleinen langsam die Äuglein zu, und er lächelt. Er hat Vertrauen gefasst und schläft ruhig ein.
Erleichtert atmet der Alte auf. Er ist immer noch überrascht, dass Andrea nichts wusste und trotzdem unter so vielen Namen ausgerechnet diesen ausgesucht hat.
»Du bist also Brunettino«, flüstert er. »Und bald wirst du Bruno sein.«